FU Berlin
FB Politische Wissenschaft
HS 32 511 Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentInnen: Margit Mayer, Stefan Schneider
Susi Amersberger
Interview mit einem Mitglied des Obdachlosenprojektes "Die Ratten 07"
Um die - im Rahmen des Seminares "Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland" geführte - theoretische Diskussion und Reflexion durch ein konkretes Beispiel zu beleben, sowie aufgeworfene Fragen zu beantworten und empirisch zu überprüfen, habe ich ein Interview mit Abel, Mitglied des Theaterprojektes von und mit Obdachlosen "Die Ratten 07", geführt. Ich habe dieses Projekt gewählt, weil mir der Zugang dazu durch die persönliche Bekanntschaft mit Abel erleichtert war und weil ich die provozierende These eines Seminarteilnehmers entkräften wollte, bei diesem Projekt handele es sich nur um ein Karriereprojekt für einige wenige aus der großen Masse der in Deutschland von Obdachlosigkeit Betroffenen.
Nach der, nur um wenige Fragen meinerseits ergänzten, freien Darstellung Abels nimmt das Projekt folgende Form an:
Das Projekt wurde 1993 von 7 Leuten gegründet - daher der Zusatz "07" an den Namen des Projektes.
Vorgeschichte war, daß der englische Regisseur Jeremy Wellers - bekannt für Randgruppentheater - Camus' "Die Pest" mit Obdachlosen einstudieren wollte und dazu Menschen aus Obdachlosenheimen und von der Straße holte. Den an diesem Stück Beteiligten eröffnete sich eine neue Perspektive, ein Lebensinhalt bzw. eine positive Veränderung ihrer bisherigen Situation. So konnten sie sich nach der Absetzung des Stückes nicht damit abfinden, wieder auf der Straße zu stehen. Aus dem einmal geweckten Bewußtsein heraus schlossen sie sich zu dem Projekt "Die Ratten 07" zusammen und fanden Leitung und Hilfe bei dem Regieassistenten Roland Brus und der australischen Schauspielerin Anne Cheer, die nach Abels Aussage ihre eigentliche Schauspiellehrerin war.
Die ersten Aufführungen fanden in besetzen Häusern und dem Mulack-Keller statt, bis Frank Castorf die Ratten schließlich an die Volksbühne holte, die auch heute noch finanzielle und materielle Hilfe gewährleistet, dem Obdachlosenprojekt sozusagen "Obdach gewährt".
Natürlich wären die "Ratten" lieber unabhängig, mit eigenen Proberäumen und Finanzbudget, zumal da sie in den Hierarchien, die auch am Theater herrschen, zahlreichen Schikanen ausgesetzt sind. Es sind vor allem die kleinen Angestellten, Hausmeister, Masken- und Bühnenbildner, Beleuchtungstechniker, die die Obdachlosen nicht ernst nehmen, ihnen deutlich zeigen, daß sie ihrer Meinung nach am Theater nichts zu suchen haben - was sich darin bemerkbar macht, daß wochenlang um bestimmte Kostüme, Scheinwerfer und technische Geräte gebettelt werden muß, gleichzeitig aber die Beobachtung gemacht wird, daß andere Regisseure, die im selben Raum proben, sofort mit allem Nötigen versehen werden. Ein weiteres Beispiel ist der Proberaum, eine ehemalige Requisitenkammer, die von den Projektmitgliedern selbst ausgeräumt und mit Linoleumboden ausgelegt wurde, nun aber plötzlich ihrem ursprünglichen Zweck wieder zugeführt werden soll.
Abel weiß zwar, daß Castorf und die leitenden Persönlichkeiten ihnen positiv gegenüber stehen, das Projekt im Rahmen des Möglichen fördern - doch die täglichen Schikanen können sie ebensowenig verhindern, wie die obdachlosen Schauspieler sich wegen jedem einzelnen Scheinwerfer an die Spitze der Theaterhierarchie wenden können. Eine bekannte Schauspielerin soll sogar gesagt haben, daß sie ihren Beruf in Frage gestellt sehe, "wenn bei Castorf an der Volksbühne schon Obdachlose spielen".
Trotz des Ressentiments innerhalb der Theaterszene findet das Projekt in der Öffentlichkeit große Resonanz. Zahlreiche Zeitungsartikel, die Abel mir vorlegte, beweisen dies. Abel selbst drückt ihr Selbstverständnis so aus, daß sie sich als Sprachrohr verstehen, für die, "die in der Gesellschaft bisher nichts zu melden hatten, von denen keiner etwas wissen wollte". Dafür sorgen die "Ratten" selber auch ganz aktiv: durch Auftritte und Performances an ungewöhnlichen Orten wie der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, dem "Knast" in Brandenburg oder Aktionen wie "Das Bundesverfassungsgericht stellt sich dem Volk": ebenso wie bei dem Ärztekongreß in der Berliner Charité wurden in der Verkleidung von Verfassungsrichtern/Ärzten die Umstehenden oder Beteiligten durch provozierende Fragen und Kommentare aus ihrer Sicht als Obdachlose zum Nachdenken angeregt.
Besonders stolz ist Abel auch auf ihre internationalen Auftritte in Paris, Edinbourgh und Graz, sowie den "Förderpreis für darstellende Kunst des Landes Berlin". Bei der Preisverleihung, zu der die stolzen Träger auch ihre Freunde mitbrachten und zu 40 am Eingang erschienen, mußten sich die Obdachlosen über die üblichen gesellschaftlichen Diskriminierungen hinwegsetzen, eine Überprüfung der Tatsache abwarten, daß sie wirklich den Preis gewonnen hatten, bevor ihnen schließlich widerwillig der Eintritt gewährt wurde.
Obschon Abel selbst erst 1995 in das Projekt eingestiegen ist, somit nicht jeden, an der Geschichte des Projektes Beteiligten, persönlich kennt, und zudem eine große Fluktuation im Laufe der Zeit stattgefunden hat, kann er durch seine Aussagen die These es handle sich hierbei um ein "Karriereprojekt" entkräften: ca. 3 Personen haben durch ihre Arbeit Zugang zu Profivertägen an der Volksbühne bekommen, wovon einer, Wolfgang "Sisyphus" Graubart im hohen Alter und durch sein Leben auf der Straße geschwächt bereits verstorben ist; ein anderer, Max Schlüpfer, nur einen Zeitvertrag hatte. Dem Regieassistenten Roland Brus, der 1995 seine Aufgabe an Gunter Seidel weitergab, der Schauspielerin Anne Cheer, die nun nach Paris gehen wird und anderen Schauspielern, die als Gäste bei den "Ratten" mitwirkten mag dies eine Hilfe für die persönliche Karriere gewesen sein - die Obdachlosen selbst aber sind nach wie vor mit denselben Problemen konfrontiert und verlieren die Verbindung zu ihrem sozialen Umfeld nicht.
Der positive Effekt für die meisten Beteiligten war, daß sie es schafften, von der Straße wegzukommen, eigene Wohnungen zu finden. Außerdem sind zwei ehemalige Alkoholabhängige heute trocken. Dies liegt an dem guten Zusammenhalt der Gruppe, dem über die Theaterarbeit hinausgehenden Interesse aneinander. Abel zufolge geht "Regisseur Gunter Seidel schon mal mit auf's Sozialamt und seine Sekretärin macht Krankenhausbesuche", wenn, wie gerade eben, einer der Hauptakteure sich dort befindet. Für die von der Straße kommenden, die oft jeglichen familiären Zusammenhalt verloren haben, ist das Projekt die "Familie". Jeder nimmt Anteil am Leben des Anderen, seinen Problemen, denn "auf der Straße hast Du keinen mit dem Du reden kannst".
Für Abel sind dies die beiden Seiten des Projektes: der soziale Aspekt und die Theaterarbeit. Das bedinge sich auch gegenseitig, denn um gutes Theater zu spielen müsse aufeinander eingegangen werden, was ein intensives Kennenlernen erfordert, sowohl den Körper als auch den Charakter des Gegenübers. Große Offenheit im Umgang miteinander ist also Resultat als auch Vorausetzung für ein Theater solcher Art.
Die Lebensumstände der Obdachlosen stellen oft ungleich höhere Anforderungen an die Schauspieler: große Flexibilität ist erforderlich, wenn kurz vor der Aufführung, ein an sprunghaftes Leben Gewohnter entscheidet, sich doch lieber zurückzuziehen und ein anderer schnell seinen Part übernehmen muß. Auch der gewohnte Alkoholkonsum wird zwar zurückgeschraubt, aber nie völlig vermieden, was zu Aussetzern oder auch zu Prügelszenen führen kann, die vorher nicht eingeplant waren, aber von Kritikern ob ihrer Lebensechtheit und der perfekten Inszenierung gelobt werden. Dennoch wurde bisher jede Vorstellung durchgezogen, keine einzige abgesagt - denn etwas anderes als eine hohe Gage (bis auf eine geringe Aufwandsentschädigung sind die "Ratten" nach wie vor auf ihre Sozialhilfe angewiesen) und schauspielerische Berühmtheit hält die "Familie" bei der Stange. Man will sowohl einander nicht hängen lassen, als auch die Verantwortung für eine große Gruppe von gesellschaftlich zur Sprachlosigkeit Verurteilten zu reden, nicht abgeben.
Ich hoffe, somit die These eines "Karriereprojektes" entkräftet zu haben und mit den "Ratten 07" ein positives Beispiel für die Selbstorganisation von Obdachlosen bzw. das selbstbewußte Auftreten gesellschaftlicher Randgruppen mit dem Anspruch einer Kritik an gesellschaftlicher Normalität vor Augen geführt zu haben.
M.E. kann nur durch die Existenz solcher Projekte vermieden werden, daß der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Randgruppen, wie den Obdachlosen, immer größer, der dazwischenliegende Abgrund immer unüberwindlicher wird. "Die Ratten 07" können als Brücke fungieren und eine Kommunikation aufrechterhalten, die für Verständnis auf beiden Seiten sorgt und Vorurteile abbaut.