Freie Universität Berlin
Fachbereich Politische Wissenschaft (Otto-Suhr-Institut) / John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien
SoSe 1996
HS 32511 Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
Dozenten: Prof. Dr. Margit Mayer / Stefan Schneider
Oliver Sudmann
Protokoll von der Sitzung am 04.06.1996
Zu Beginn der Sitzung am 04. Juni wurde zunächst über den noch ausstehenden Termin für die letzte Seminarsitzung in diesem Semester (09.07.) gesprochen. Sozusagen als Vorab- Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der Termin eventuell verschoben wird. Ein Alternativtermin für den 09. Juli wurde noch nicht festgelegt. Anschließend wurde das Protokoll von der Sitzung am 28.05. vorgestellt. Das Protokoll endete mit einer persönlichen Einschätzung der besprochenen Punkte der Seminarsitzung vom 28. Mai, die dann nochmals zur Diskussion gestellt wurden. Allerdings kam keine Diskussion zustande, und es blieb bei zwei ergänzenden Anmerkungen der Dozenten. Zum einen die Anmerkung von Margit Mayer, daß im Protokoll noch der Inhalt des einen oder anderen Aufsatzes hätte mitverarbeitet werden können. Zum anderen die Anmerkung von Stefan Schneider, der im wesentlichen die im Protokoll formulierte Schlußbemerkung aufnahm und noch etwas verstärkte.
In der letzten Sitzung standen zum Thema Selbsthilfe - Renitenz - Selbstorganisation - Widerstand zwei Referate an: Das erste der beiden Referate skizzierte unter dem genannten Thema einen geschichtlichen Abriß der Situation von Obdachlosen und Nichtseßhaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart, während das zweite Referat sich ganz auf die Gegenwart konzentrierte. Beide Referate beschränkten sich bei der Bearbeitung des Themas der letzten Sitzung auf die Situation in Deutschland bzw. auf die Situation, wie sie sich im Mittelalter in den Städten, und in den nachfolgenden Jahrhunderten dann in den deutschen Kleinstaaten, darstellte.
Im ersten Referat wurde die These vertreten, daß die Geschichte der Obdachlosen - im Referat auch als Fahrende oder Vagabunden bezeichnet - in erster Linie eine Geschichte ist, die geprägt ist von Verfolgung, Repression, Schikanierung und Drangsalierung. Im Mittelalter gab es Stadtverordnungen, in denen beispielsweise geregelt war, wer betteln durfte (Nürnberger Bettelverordnung von 1478). Im auslaufenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert wurden in Bayern sogar eigens Regimenter zusammengestellt, um gegen die sogenannte Bettelplage vorzugehen. So entwickelten Obdachlose schon früh Strategien, die es ihnen erleichtern sollten, in der Gesellschaft zu überleben. Diese Strategien reichten von einfachen Bettlertricks, wie z.B. dem Vortäuschen körperlicher Gebrechen, über ein ausgeprägtes Maß an Solidarität unter den Obdachlosen und Nichtseßhaften bis hin zu einer Art Geheimsprache (einer eigenwilligen Komposition aus verschiedenen europäischen Sprachen und Dialekten), die für bestimmte Tätigkeiten oder Situationen Spezialausdrücke kannte. Neben solchen Selbsthilfemaßnahmen gab es jedoch auch schon im Mittelalter Herbergen und Garküchen, die den Obdachlosen und Nichtseßhaften Schutz und Unterkunft für eine begrenzte Zeit zur Verfügung stellten. Zum Teil erfuhren Nichtseßhafte auch eine gewisse Solidarität von der sogenannten seßhaften Bevölkerung, indem sie beispielsweise von Gendarmen vor Razzien gewarnt wurden oder auch mal für einen längeren Zeitraum bei Bauern Unterschlupf fanden. Diese Unterstützung seitens der seßhaften Bevölkerung wird in der verwandten Literatur (Vortrag von Angelika Kopecny: "Fahrende, ihre Geschichte, Überlebenskünste, Zeichen und Straßen." nach dem Buch der gleichnamigen Autorin "Fahrende und Vagabunden, Berlin 1980"; darüber hinaus verwandte Literatur war ein Aufsatz von Klaus Trappmann mit dem Titel "Vom Preis der Freiheit") als Netz der Kochemer oder Eingeweihten beschrieben. Mit dem Entstehen der Kleinstaaten und dem Einrichten von bestimmten Institutionen, wie Paß- und Meldeämter, aber auch der Einführung des festen Wohnsitzes im 18. Jahrhundert, wurde die Bewegungsfreiheit der Nichtseßhaften - so die Untermauerung der These des Referats - weiter eingeschränkt. Die schwersten Repressionen und Verfolgungen trafen die Obdachlosen und Nichtseßhaften (hier vor allem die Sinti und Roma) in der Zeit der Nazidiktatur von 1933 bis 1945. In diesem Zusammenhang wurde auf die Rolle der Psychatrie als neu entstandener Ansatz zur Erklärung des Phänomens der Nichtseßhaftigkeit und der Obdachlosigkeit Veingegangen. Das Referat kam zu dem Ergebnis, daß sich letztlich bis heute ene starke Ausgrenzung der Obdachlosen und Nichtseßhaften gehalten hat, die es den betroffenen Menschen sehr schwer macht, sich in der Gesellschaft eine Existenz aufzubauen oder auch nur in ihrer Lebensweise von der seßhaften Bevölkerung akzeptiert zu werden.
Das zweite Referat konzentrierte sich, wie weiter oben schon erwähnt, ganz auf die Gegenwart. Eingangs wurde auf die für die Thematik schwierige Literaturlage hingewiesen. Die weitaus meiste Information zu Selbsthilfe und Selbstorganisation ist aus Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln zu entnehmen. Dennoch gab der Referent zwei Buchtitel an: Zum einen Fritz Vilmer/Brigitte Runge: "Auf dem Weg zur Selbsthilfegesellschaft?" Essen 1986; zum anderen Walter Hanesch u.a.: "Armut in Deutschland." Hamburg 1994. Zunächst versuchte das Referat, in Anlehnung an das Buch von Fritz Vilmer und Brigitte Runge, eine Definition von Selbsthilfe zu geben und unterschied in soziale und private Selbsthilfe. Im weiteren Verlauf des Referats wurde auf den Punkt soziale Selbsthilfe vertiefend eingegangen. Die soziale Selbsthilfe wurde ferner in vier Charakteristika unterteilt:
a) Autonomie,
b) Selbstgestaltung,
c) Solidarität und
d) eigene Betroffenheit.
Hinsichtlich des Punktes d) wurde auf die Definitionen bzw. die Definitionsproblematik der Begriffe Obdachlose und Wohnungslose verwiesen (vgl. zweite Sitzung) und nochmals deutlich gemacht, daß es verschiedene Gruppen von Obdachlosen mit unterschiedlichen Problemen gibt. Im restlichen Verlauf des Referats wurde auf die Treberhilfe Berlin, die Oranien-Etage und die Kontakt- und Beratungsstelle in Berlin (KUB) eingegangen und ihre Funktion als Anlaufstellen und somit auch als wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einer funktionierenden Selbsthilfe dargestellt. Ferner nahm das Referat auch Bezug auf die in Berlin existierenden Wagenburgen und ging kurz auf die Situation der in den Wagenburgen lebenden Menschen ein. Ebenso wurde auch kurz über die Kritik an den Wagenburgen seitens der Öffentlichkeit aufgrund der Vorfälle an der East-Side-Gallery gesprochen. Gegen Ende des Referats stellte der Referent den aktuellsten Bericht der Obdachlosenzeitung Motz vor, indem es um ein Unterbringungsprojekt (Beacon-House) in London ging.
Die an die beiden Referate anschließende Diskussion ging von der These aus, daß es nach wie vor einen Mangel an genügenden Ressourcen, die zu einer besseren und effektiveren Selbsthilfe der Betroffenen führen könnte, gibt. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, wie die Gesellschaft auf Obdachlosigkeit reagiert. Hierbei wurde in Diskussionsbeiträgen festgestellt, daß das Phänomen der Obdachlosigkeit weithin als gesellschaftliche Normalität gesehen wird und bei großen Teilen der Bevölkerung eine indifferente Haltung hinsichtlich dieses Problems zu beobachten ist. Andererseits wurde jedoch Vauch die Beobachtung zum Ausdruck gebracht, daß man oftmals von Bettlern eine gewisse Leistung erwartet, d.h. daß Leute eher bereit sind etwas zugeben, wenn ihnen auch etwas geboten wird (z.B. Musik oder, in Anlehnung an das erste Referat, auch eine Art Gauklerkultur), also im Prinzip eine symbolische Tauschhandlung stattfindet. Dem Einwand bzw. der thesenartig formulierten Frage von Stefan Schneider, ob in der Obdachlosigkeit auch eine gewisse (sub)kulturelle Komponente zu entdecken sei (gemeint wohl mit Blick auf die Situation in den Wagenburgen), wurde widersprochen und auf die Vielschichtigkeit des Problems der Obdachlosigkeit verwiesen - eine zweckgebundene (sprich teilweise ülebensnotwendige) Solidarität zwischen den Betroffenen steht hier im Vordergrund.
Zum Schluß der Sitzung wurde kritisch angemerkt, daß ein Vergleich (hinsichtlich des Themas der Sitzung) mit der Situation in den Vereinigten Staaten nicht stattgefunden hat.