Apathisch starrte die Frau auf den geschlossenen Fahrkartenschalter. Zwei vollgestopfte Plastiktüten und ein zusammengerollter Schlafsack lagen neben ihr auf der Bank. Sie hielt eine Plastikkarte in der Hand mit einem Foto - das war sie selbst, allerdings nicht mit diesen strähnigen, unschön fettigen Haaren, sondern mit einer adretten Dauerwelle - Eva-Maria Katynka, geboren am 8. September in Oswiecim, OFW.- Die beiden Polizisten waren jetzt am anderen Ende der zugigen Halle, fragten einen braunen Jungen mit schwarzen Locken nach seinen Papieren.
"Sind Sie Polin?" hatte der eine der Polizisten gefragt.
"Siehst du nicht, die hat schon genug Probleme", hatte ein Mann gesagt, der mit seinem Bündel daneben stand, neben ihm ein großer Schäferhund.
"Halt dich da raus!" brummte der hagere, abgerissene Mann, der neben einem ramponierten Rucksack ebenfalls auf der Bank saß. Der Polizist zögerte, buchstabierte "OFW" - ohne fe­sten Wohnsitz -, gab den Ausweis zurück, machte sich mit seinem Kollegen davon.
"Weißt du, was Chanukka heißt?" fragte der Hagere. "Laß den Quatsch!" antwortete der mit dem Hund. "Weißt du, was Triathlon heißt?" fragte der Hagere. "Du sollst die Schnauze halten!" raunzte der andere durch seinen Bart. Der Hund schien zu nicken.

In der Bahnhofshalle war das Treiben rege, viele Menschen eilten hin und her, die meisten trugen Beutel, Koffer, Taschen. Kaum ein Blick streifte die Bank, und wenn, dann war er eher verstohlen, nur den Hund traf zuweilen ein flüchtiges Lächeln. Der Bärtige kommentierte das Geschehen in der Bahnhofshalle, als ob er dem Hund etwas erkläre: "Ich kann Kinder nicht ausstehen. Alles verzogene, miserable Bälger, werden genau solche miesen Pinkel wie ihre Erzeuger. Da, was die Gäre mit dem großen Paket unterm Arm für ein gar­stiges Gesicht macht. Oder da drüben, die Frau mit dem Kinderwagen, was für ein Getue um das herzliebe Babylein, alles nur Krampf: die Oma hat sie im Altersheim kaltgestellt, weil sie sich vor der ständigen Sabberei ekelte, und das herzliebe Baby wird sie schon so erzie­hen, daß er es ihr eines Tages heimzahlt. Hol euch doch der Krebs, alle miteinander!"
Die Frau auf der Bank seufzte, streichelte den Hund, legte die Hand wieder auf ihren aufge­quollenen Bauch.
"Scheiß-Ausländer, Kanaken, Arschlächer, Spaghetti-Fresser", knurrte der Hagere, als der mit den schwarzen Locken von den beiden Polizisten vorbeigeführt wurde. Im Vorüber­gehen lächelte der Mann, vielleicht wirklich ein Ausländer, die Frau an, so zart und fest, daß für einen Augenblick die Gleichgültigkeit und Verlorenheit in ihrem Blick hinter einem Auf­leuchten verschwand.
"Gabriel, was machen sie mit dir, wohin bringen sie dich?" schrie ein alter Mann mit lan­gem weißem Bart, der sich an den Leuten vorbei durch die Halle drängte. Aber hinter Gabriel und den Polizisten wippte die Tür des Bahnhofs hin und her, bereits langsamer werdend.
Ein paar Stunden später standen auch der Bärtige mit dem Hund, der Hagere und die Frau draußen vor der Tür. Eine kalte Schnee- und Matschnacht, gerade fuhr das letzte Taxi davon, der Mann in der Imbißbude zählte die übriggebliebenen Thüringer, der Schriftzug der Deutschen Bank erleuchtete die Tristesse des Platzes.
"Heute fahren keine Züge mehr nirgendwohin," hatte der Uniformierte gesagt, "der Bahnhof wird geschlossen."
"Ich geh in den Sex-Shop da drüben, da ist es warm, bis zwei quatsch' ich mit Helmut an der Kasse, vielleicht gibt mir Hannelore auch noch 'nen Kuß. Aber ihr könnt nicht mitkommen, sonst flieg' ich selber raus." Der Hagere schlurfte davon.
"Laß noch 'ne Pulle da," schrie der Bärtige hinterher, "meine Leber ist voll und die Milz will auch noch ihren Spaß."
"Du säufst, bis dir die schwarze Galle zu den Ohren herausquillt." Der Hagere zerrte eine Flasche aus seinem Bündel und reichte sie hinüber.
"Die schwarze Galle, der Traurigkeitssaft, der rinnt zu den Augen hinaus, wenn's nicht friert wie heut nacht," brummte der Bärtige und schaute unschlüssig die Frau an.

Sie gingen los. Das Gehen schien ihr schwer zu fallen. "Wir bauen ihrer Zukunft ein.....", "Aus unserem Immobilienangebot", "30 Jahre Nachkauf Garantie", "Angefangen bei attraktiven Zinsen bis hin zur kompletten Baufinanzierung", "Mit Leviathan macht das Schenken mehr Spaß", "PVC. Wir stellen uns der Zukunft'" So ging es von Schaufenster zu Schaufenster. Wessen Sprüche beherrschen die Straße? Das Gesicht der Frau war grau. Der Hund schnupperte verdrießlich an der gefrorenen Pisse anderer Hunde. "Mal richtig aus­spannen. Singapure Airlines. Sonderangebot ab 3500,- DM", "Erleben Sie live die erre­genden Kamelrennen im Negev. Flug Frankfurt - Jerusalem, Halbpension ab 1600,- DM". Vor dem Schaufenster des Reisebüros brach die Frau in die Knie, setzte sich aufs Pflaster. Der Hund leckte ihre Kniescheibe, der Mann starrte eine Bikini-Schönheit im Schaufenster an. Sommer, Sonne, Badefreuden, Sandstrand und Palmen.
Aber hier war Deutschland, war Winter. Auf die gegenüberliegende Hauswand war "Ausländer raus!" gesprüht worden.
Die Frau stöhnte.
Die Tür ging auf. Eine verbissenes männliches Gesicht erschien. Eine Stimme erhob sich, eine Stimme, die sich auf die zwei Menschen und den Hund warf, eine Stimme, die zunehmend in ein großes Gezeter überging:
"Hier ist kein Lagerplatz! Macht, daß ihr weiterkommt! Ihr dreckigen Penner, ihr Asylanten, ihr! Packt euch fort mit eurem räudigen Käter, verpißt euch! Haut ab! Ich will nicht, daß ihr vor meinem Laden krepiert, sucht euch einen anderen Platz zum Verrecken! Ihr Lumpen, ihr faulen Halunken, ihr bildet euch wohl ein, wir wären alle Multi-Millio­näre, die auf euch verlaustes Asylantenpack bloß warten! Arbeiten müssen wir, hart ar­beiten, und euch stinkende Faulenzer sollte man totschlagen, aufhängen, vergasen! Ver­schwindet!"
So kreischte es in einem fort. Die Frau erhob sich schwerfällig. Dabei mußte der Inhaber der Stimme erkannt haben, daß sie hochschwanger war.
"Und dieses Pack vermehrt sich wie die Fliegen, wie die Chinesen! Sterilisieren sollte man euch, und zwar alle!" Die Tür flog ins Schloß.
Kein Raum in der Herberge. Haha! Nicht mal einen Stall gibt's in der Stadt, geschweige denn Hirten oder Lämmer. Über allem der Engelein Chor! Was für ein schlechter Witz! Götter! Es ist zum Lachen. Gott ist tot, ein uralter Kalauer.
Die letzten Engel wurden in Auschwitz, Hiroshima, Treblinka, Nagasaki vergast, verbrannt, verstrahlt. Die Kinder von Bagdad und Halabja sind allein. Die Kinder von Tschernobyl werden mit Steinen beworfen. Für manche gibt es eben keine Sahnetorte zum Geburtstag. Und auch sonst nichts.
So dachte der Bärtige, als er mit dem Weib und dem Hund weiter durch die Fußgängerzone der Stadt zog. Und das strahlte, überall Glühbirnen und elektrische Sterne, festliche Be­leuchtung, keine Menschenseele.
Nur ungenau bekam er mit, wie etwas unter seinen Fußtritten zersplitterte, ein Plastik­löffel, einer von jener Art, mit der die süßen weißen Kinder das Plantagengetränk des dun­klen Kontinents, den Kakao, läffeln, ein Kaba-Löffel, aber da schrie die Frau schon auf, keuchte, schrie, stöhnte: sie gebar ein Kind, in der Eingangspassage einer Pfannkuch-Filiale. Ausgerechnet Pfannkuch. Dem Bärtigen fiel ein, daß es eine Pfannkuch-Filiale gewesen war, in Tübingen, wo vor drei Jahren, im August, ein Angestellter den 19jährigen Iraner Kio­mars Javadi wegen eines Ladendiebstahls erwürgt hatte, 18 Minuten lang hatte der empörte Angestellte gewürgt, zahlreiche deutsche Passanten hatten zugeschaut, wie der Scheiß-Ausländer fertiggemacht wurde. Warum muß ich daran denken? stöhnte der Bärtige, hier wird ein Kind geboren, und ich stehe da, kann das grauenhafte Bild nicht abwehren, wie der Pfannkuch Angestellte den schon toten vermeintlichen Ladendieb würgt, und alle schauen zu. Und da lag die Frau auf dem Boden; in der windgeschützten Eingangspassage zu dem kleinen Konsumtempel gebar Eva-Maria einen Sohn, nicht seinen, er wußte nicht, wessen Kind das war.
Sie wickelten ihn in altes Zeitungspapier, das Neugeborene umgeben von Papier und Druc­kerschwärze, auf der Haut des Säuglings die Lettern der Schlagzeilen, die Nachrichten von Gasangriffen gegen Kurden, von der Bombardierung Dubrovniks, von Gemetzeln in Berg Karabach, vom Massenmord in Indonesien, vom Massensterben der Yanomami-Indianer in Brasilien.
Eva-Maria dachte an das Lächeln des Mannes zwischen den Polizisten. Sein Name, den der alte weißbärtige Mann geschrien hatte, fiel ihr ein: Gabriel.
Joseph mit dem Bart stand neben ihr wie betäubt: quer über die Straße schritten drei Männer auf sie zu, deren klare Gesichter leuchteten. Einer von ihnen war schwarz, aus sei­nem Gesicht sprach das ganze Elend Afrikas, aber seine Augen funkelten tröstlich.
Die drei Männer traten an Eva-Maria und das Kind heran. Sie knieten nieder, sie streckten ihre Arme aus.
Sie brachten Myrrhe, Weihrauch, Gold.


(Anmerkung: Die besagte Weihnachtsgeschichte habe ich geschrieben, um die Oberstufenschüler des Gymnasiums Pullendorf zu ärgern, nur der Schluß ist ganz ernst, und der ist im Ton von George Maclay Brown geklaut. Die kursiv gesetzten Worte - Dauerwelle, Triathlon, Spaghetti, Sex-Shop, Milz, Kamelrennen, Kniescheibe, Bikini, großes Gezeter, Multi-Millio­näre, totschlagen, Kaba-Löffel, betäubt - wurden mir als Pflichtbestandteile der Weihnachtsgeschichte vorgegeben.)

Michael Krauskopf, Berlin

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