I.

Das Wohnen der Menschen ist etwas Selbst­verständliches und Unumgängliches. Das Wohnen gehört zu unserer Natur wie das Essen, das Schlafen und die Fortpflanzung. Viele von uns ha­ben die Vorstellung, unser Wohnen beginne in Höhlen oder ähnlichen natürlichen Unter­schlüpfen der Steinzeit. Aber schon viel früher hatten un­sere Vorfahren die Gabe, ihre Umwelt selbst zu gestalten. Rund 400.000 Jahre alt ist die älteste von Primaten gebaute Schutzhütte, gefunden und ausgegraben in der Nähe von Nizza. Zum Ver­gleich: Der Ackerbau begann vor ca. 10.000 Jahren, der erste Webstuhl ist ca. 8.500 Jahre und das erste Rä­der­fahrzeug rund 5.500 Jahre alt. Die aus Stämmen, Ästen, Laub, Fellen und Steinen erbaute Hütte erfüllte bereits alle Funk­tionen unserer heutigen Wohnungen. In ei­nem 6 x 12 Meter umbauten Raum befand sich die Feuer­stelle, hier schliefen und aßen ca. 15 unserer Vor­fahren. Nebenan, in kleineren Hütten, be­fan­den sich die Latrine und, Steinwerkzeuge deu­ten darauf hin, die Werkstatt. Es ist unsere Natur zu wohnen, wir können nicht anders. Fehlt die Woh­nung, müssen wir 'restwohnen': in Obdä­chern, Pensionen oder auf der Straße. Unser Wohnen und unsere Wohnungen sind aber auch Ausdruck unserer Individualität und Macht, un­seres Ge­schmacks und wichtiges Mittel zur Selbstdarstel­lung.

II.

Unser Wohnen ist ein Mysterium. Wann fühlen wir uns wohl in der Wohnung, wel­chen Einfluß haben Lage, Ausstattung, Grundriß, Bebauungs­dichte oder Nachbarn auf unser Wohlbefinden? Trotz unter­schiedlicher Prioritäten gelingt es uns allen, zu mindest zeit­weilig, unserem per­sönlichen Ideal nahezukommen. Unsere Wohnung ist ein Ort, den wir erobert haben, er bietet Schutz und selbstbestimmten Raum. Die Wohnung ist aber auch Ort der Unterwerfung, der zwangsweisen Anpassung an Vermieter und so­ziale Stellung. Jedem fällt mal die 'Decke auf den Kopf', vielleicht tauschen wir des­wegen unser schönes Zuhause im Sommer gegen zu enge Zelte oder übervolle Hotels. Wer keine eigene Wohnung hat, hat nicht die Wahl des Verzichts, und mit dem Schutzraum fehlt auch die soziale Einbin­dung. Menschen ohne Wohnung sind ausgegrenzt.

III.

Zur Wohnungsnot der einkommens­schwachen Haushalte gehört der Wohnluxus der Rei­chen. Wie die Auseinandersetzung um die Verteilung der Lasten und Erträge un­seres Wirt­schaftens zeigt die Wohnungsnot, daß die im relativen Wohlstand der letzten Jahrzehnte von links bis rechts tot­gesagte soziale Frage der Verteilung unserer Güter brennend aktuell ist. Mit Einkommen und Vermögen entscheidet sich, welchen Platz wir in der Gesellschaft ein­nehmen, welche Bewegungs- und Wahlfreiheit wir haben. Eingeschränkte Ent­faltungsmög­lichkeiten durch geringes Einkommen spiegeln sich besonders drastisch in der Unter­ver­sorgung mit Wohnraum. Je schlechter die Wohnung heute ist, desto härter treffen uns Aus­grenzung und die Unterstellung, versagt zu ha­ben. Das verletzt die Würde und bestraft zusätz­lich.

IV.

Seit unsere Städte durch die Industriali­sie­rung im letzten Jahrhundert geradezu explo­dier­ten, gibt es Versuche, dem Problem der Woh­nungsnot, mal durch die Kräfte des Marktes, mal durch staatliche Planung und Kontrolle, beizu­kommen. Vergebens: Keine Industrienation hat Wohnungsnot oder Ob­dachlosigkeit überwunden. Im Gegenteil, je reicher einzelne Re­gionen sind, desto schärfer greift die Verdrängung armer Haushalte. Die Menschen, um die es eigent­lich geht, werden selten gefragt, wie sie wohnen möchten. Durch konsequente Betei­ligung aller Bevölkerungsgruppen müssen die unterschiedli­chen Interessen demokra­tisch abgewogen wer­den, immer knapper werdende Ressourcen öko­logisch sinnvoll und sozial gerecht verteilt wer­den, z.B., indem nur die besten Architekten, Ju­risten, Planer und Be­amte für arme und politisch benach­teiligte Haushalte arbeiten.
aus: Caritasverband Rheine e.V. (Hrsg.): Wohn­bilder. Menschen und ihr Zuhause. Essen: Didot-Verlag 1994, S. 6.

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