Über den Reiz der ziellosen Zielstrebigkeit

Nomaden, Vagabunden, Hobos, Tramper - sie sind Figuren die heute von bestimmten Diskursen mit Freiheit, Abenteuer und Ausbruch aus den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft verbunden werden. Das Vagabundische ist ein kultureller Topos. Ja, man mag sogar von einem symbolischen Komplex des Vagabundischen sprechen.

Begeben wir uns auf die Suche nach der Genesis dieses Topos, so stoßen wir in den 1880er und 1890er Jahren auf einen erstaunlichen publizistischen Boom. Die so genannte "Vagabundenfrage" wurde zu dem Thema der armen- und sozialpolitischen Diskussion, zahlreiche juristische und kriminologische Texte erschienen, das Vagabundenproblem war gar zum respektablen Dissertationsthema avanciert. Neben diesem Interesse am Vagabunden als sozialem Problem, als Ordnungsproblem oder als wissenschaftlichem Objekt, tauchte er aber auch als Gegenstand anderer Reden und anderer Blicke auf: Sozialreportage, politische Utopie und Belletristik hatten bis in die dreißiger Jahre im Vagabunden ein lieb gewonnenes Sujet gefunden. Das Aufkommen solcher sehnsüchtiger und exotistischer Reden erscheint umso erstaunlicher, wenn man die Realität der Vagabundage betrachtet, die gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wenig Poetisches an sich hatte. Die Armut auf den Landstraßen war verheerend, der Pauperismus in den Städten erschreckend. Über den Häuptern der Unglücklichen schwebte zudem die Drohung des Strafrechts, sodass als Vagabunden etikettierte Menschen zu Tausenden in den Arbeits- und Korrektionsanstalten dahinvegetierten.

Der Vagabund als Delinquent

Auch die aus der bürgerlichen Privatwohltätigkeit entstandenen Hilfeeinrichtungen waren grausam in ihrer Art, standen sie doch im Kontext der großen Bewegung der Formierung einer Disziplinargesellschaft und eines karzeralen Archipelagos. So trat die "Wandererfürsorge" unter dem Slogan "Arbeit statt Almosen" für die Bindung jeglicher Unterstützung der "Wanderer" an eine Arbeitsleistung ein. Zur Effektivierung der Fürsorge und insbesondere der Abhilfe gegen Faulheit und - wie man heute sagen würde - Sozialschmarotzertum, sei darüber hinaus auf strenge Zucht und Ordnung in den Wanderarbeitsstätten zu achten. Um die Ausnützung der Hilfeeinrichtungen ohne die Unterwerfung unter deren Zucht zu verunmöglichen, wurden so genannte Wanderordnungen erarbeitet, die mittels eines einheitlichen Kontrollpapiers, des Wanderscheins, gesichert, reguliert und kontrolliert wurden. Wer sich dieser Ordnung nicht unterwarf (und auch kein gefälschtes Wanderbuch vorweisen konnte), sollte als nunmehr bewiesenermaßen unverbesserlicher Vagabund dem Strafrecht übergeben werden. Dabei leistete man jedoch keine Integration der ‚Klienten' in die normale Welt der freien Arbeit und beginnenden staatlichen Sozialpolitik; sondern band sie gerade an eine Sonderwelt, die sich mehr und mehr zum geschlossenen Anstaltswesen entwickelte. Nun stürzte sich die Wissenschaft auf die Wanderer, fand sie in ihnen doch eine Gruppe von Menschen vor, die bereits abgesondert, etikettiert und - dank Initiative der Einrichtungen selbst - statistisch erfasst war. Das Forschungsobjekt war somit gegeben, gleichsam unter Laborbedingungen, man brauchte nur noch zu bestimmen, wie seine Eigenschaften von der Normalität abwichen. Prompt fand die Wissenschaft solche Defizite, und indem sie diese zur wesenhaften Einheit der Kategorie Wanderer erklärte, produzierte sie gleichzeitig einen neuen Typus Mensch. Als pathologisch "nichtsesshaft" geriet er - spätestens im Dritten Reich - in eine fatale Position zwischen Justiz und Wissenschaft. Von ersterer kriminalisiert und von zweiterer naturalisiert, wurde er zu jemandem, der nicht mehr - wie der Vagabund - durch die Übertretung eines Gesetzes bestimmt war, sondern das Mal seiner Abweichung untilgbar in den Körper eingeschrieben trug.

Bürgerlicher Exotismus

Woher also die Stilisierung des Vagabunden zum glücklichen Freigeist und Abenteurer? Die Bejahung des Vagabundischen durch Utopisten, Literaten und jugendliche Aussteiger ist insofern mit der Verneinung, Einsperrung, Verwahrung der "Wanderer" kongruent, als in einer prinzipiellen Gegenbewegung zur bürgerlichen, industriell-technischen Welt all das als Hoffnung in den Blick gerät, das von dieser Welt als unbrauchbar und gefährlich ausgeschieden wird. Die Verneinung des Vagabunden durch die moderne Arbeitsgesellschaft wird also ihrerseits verneint. - Und diese doppelte Verneinung ergibt eine verstärkte Bejahung. So hatten bereits Texte der Gründungsväter der "Wandererfürsorge" einen gewissen Bedeutungsüberschuss, der über eine nüchterne Beobachtung hinausging, wenn sie das Treiben der Vagabunden in den "wilden Herbergen" und "Landpennen" als dunkle und bedrohliche Szenen beschrieben. Später konnten Journalisten und Romanciers im Vagabunden das faszinierende Relikt einer anderen, nicht industrialisierten Welt sehen. Andere machten ihn zur Ikone wahrer Naturverbundenheit und des verlorenen Dufts der Freiheit. Weit über solch bürgerlichen Exotismus hinaus wurde der Vagabund in der Zwischenkriegszeit Objekt von religiösen, politischen und ästhetischen Sehnsüchten. Mehr als andere Außenseiter wurde er zur Metapher des Anderen schlechthin: Motive aus der Geschichte der Mystik und Gnosis, wie sie auch die Romantik in säkularisierter Form aufgegriffen hatte, wurden auf ihn übertragen - Imaginisierungen, die in ihm so etwas wie ein Versprechen sahen: Was er aber versprach, war völlig unbestimmt - und damit zugleich grenzenlos beredt. Allerlei Diskurse liehen dem Versprechen des Vagabunden ihre Sprache, ganz anders als die Reden der Sozialpolitik, Juristerei, Psychiatrie und Kriminologie: in deren Sprechen wurde er auf ein erkanntes Objekt reduziert, das als solches nichts mehr zu versprechen hatte.

Politische Utopien

Einige Fäden laufen am 21. Mai 1929 in Stuttgart zusammen. Gregor Gog (1891-1945), Bohemien und politischer Utopist, Herausgeber der Zeitschrift "Der Kunde" und Gründer der "Internationalen Bruderschaft der Vagabunden" hatte für diesen Tag ein Vagabundentreffen angekündigt. Etwa 300 Menschen folgten seinem Aufruf und tagten unter reger Beteiligung der Medien drei Tage lang im Stuttgarter Freidenker-Jugendgarten. Bezeichnend war allerdings, dass von den zehntausenden wandernden Arbeitslosen kaum einer gekommen war, sondern die Veranstaltung fest in Händen von Intellektuellen, Künstlern und Jugendbewegten lag. Es ging hier nur scheinbar um die realen Vagabunden, die "Kunden" der Landstraße, die man verächtlich "Speckjäger" nannte. All die Künstler, Anarchisten, Wandervögel, Lebenshungrigen und bürgerlichen Verweigerer hatte nicht ein gemeinsames Engagement für die Vagabunden nach Frankfurt geführt. Was sie einte, war vielmehr der sehnsuchtsvolle Blick auf ein Jenseits der bestehenden Ordnung, ein Jenseits, für das der Vagabund die geteilte Metapher war. Was man konkret in dieser Metapher sah, war höchst unterschiedlich. Für Gregor Gog war es eine bewusste Verweigerung des Systems und damit jener archimedische Punkt, den er zum Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft und kapitalistischen Wirtschaft benötigte. Ebenso hatte Erich Mühsam (1878-1934) schon vor dem Krieg den Vagabunden als ‚natürlichen Anarchisten' und inneren Verwandten der Boheme entdeckt. Beide einige das "anarchistische Prinzip" und die "Sehnsucht nach Befreiung", die dem Vagabunden allerdings selten bewusst sei; sie bleibe "dunkler Trieb und Drang". Die Identifikation des Vagabunden mit dem Authentischen und Natürlichen als Antithese zur Zivilisation war ein verbreiteter Topos. Die 1929 von Hans Tombrock, Gerhart Bettermann und Hans Bönninghaus gegründete "Künstlergruppe der Vagabunden" etwa sah in van Gogh und Rimbaud Vorbilder vagabundischer Kunst. Soziale Randständikeit wurde ihnen zum Garanten von authentischem künstlerischen Schaffen. Zur zweiten Vagabunden-Kunstausstellung (1931) schrieb Tombrock: "Ich traf viele unterwegs, die den Bleistift ansetzten und Figuren und Begebnisse auf ein Stück Papier stammelten, die, selbst noch in den technischen Unbeholfenheiten, so wahrhaftig und lebensnah die Dinge und Menschen zeigten, dass sie erschütterten."

Der Griff nach dem Absoluten

Die Literatur griff dasselbe Thema auf: Bei Knut Hamsun (1859-1952) tritt der Vagabund zur Rettung seines wahren Selbst die Flucht vor der künstlichen bürgerlichen Welt und deren Besessenheit von Herrschaft und Besitz an. In einer einfachsten Schicht wird der Vagabund hier zum Sehnsuchtsbild bürgerlichen zivilisatorischen Unbehagens. Zahlreiche Jugendbewegte und Wandervögel der Zwischenkriegszeit verließen mit dieser Sehnsucht "nach Welt und nach Weite" ihre Familien und gingen auf die Landstraße. So wendet sich der Vagabund unversehens vom Kriminellen zu einem radikalen Verwandten des Touristen. Hamsun ließ seinen Helden als gealterten Eremiten in einsichtsvoller Resignation enden. Heutige populäre Diskurse zeigen sich weniger asketisch, wenn sie rucksackbewehrte Individualtouristen oder ökologische Abenteuertouristen das Vagabundische als Kurzzeitutopie realisieren lassen. Als Griff nach dem Absoluten war das "Projekt Vagabund" zum Scheitern verurteilt. Einzelne wie der Dichter-Vagabund Peter Hille (1854-1904) mochten in der völligen Poetisierung des Lebens die ständige Gefährdung des Vagabundischen als Metapher eines "anderen Zustands" vielleicht zeitweilig aufhalten. Die Realisierung dieser Metapher als politische Bewegung gelang jedoch weder Gog noch Mühsam. Ersterer wurde überzeugter Kommunist, letzterer distanzierte sich nach seiner Verhaftung entschieden von seiner Münchener Zeit als Agitator unter Vagabunden: "Ich hatte also vor mir ein Auditorium von Psychopathen, dummen Jungen, geldgierigen Deklassierten und daneben ein paar wirklich famose Kerle, die ihr Vagabundenleben in bewusstem Gegensatz zu der herrschenden Gesellschaft führten . . ." In der Trilogie Notizen eines Vagabunden von Waldemar Bonsels (1880-1952) liegt einer der raffiniertesten Versuch vor, das "Projekt Vagabund" zu retten. Über die einfache Antithese von Natur und Zivilisation, Innen und Außen, Vagabund und Bürger hinausgehend schickt Bonsels seinen Helden auf die Suche nach einer Vermittlung. In einer romantischen Dialektik gelangt dieser über das Leiden an der Welt und das Scheitern einer direkten Vereinigung mit Gott zur Bejahung der Vergänglichkeit. Das Leiden wird ihm notwendige Durchgangsstufe in der Entwicklung des Selbst, das - zwischen Gott und Tier stehend - erst durch den Widerstand der Welt von der Naivität zum Bewusstsein aufsteigen könne. Er macht sich nicht auf, das Absolute zu finden, zu haben, seine Präsenz zu genießen; sein Weg ist es, zum Weg zu werden, im Modus des Erwählten zu leben, auch wenn das Absolute nie präsent oder dauernd ist, es nur Abschiede und Passagen gibt. Vagabund-sein wird bei Bonsels zur Metapher des Lebens als eines Weges ohne Ziel, einer Entfaltung des Selbst, die niemals bei sich ankommt. Barfüßige Propheten Diesen Weg, den Bonsels und andere im Vagabundischen sahen, gingen nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe seltsamer Wanderprediger. Ludwig Christian Haeusser, Theodor Plievers, Leonhard Stark und andere brachen die Beziehungen zu Freunden und Familie ab, ließen ihre Habe zurück und gingen als freiwillige Vagabunden auf die Straße. Ihre Predigten waren in vieler Hinsicht Permutationen der langen Geschichte jüdisch-christlicher Eschatologie. Nach dem verlorenen Krieg und den gescheiterten Nachkriegsrevolutionen fielen solche Botschaften auf fruchtbaren Boden. Der gescheiterte Prophetismus hinterließ eine Sinnkrise, ein Loch, das von apokalyptischen Projekten besetzt werden konnte. "Aktion Weltwende" hieß etwa die Parole von Plievers. Als Ort der Wende kam nur das Ich in Frage; dort müsse die Transformation beginnen, indem die Spuren der Weltmaschinerie im Menschen für die Wahrheit, Güte und Schönheit des eigentlichen, göttlichen Ich beseitigt würden. Leonhard Stark brachte diese gnostische Botschaft auf den Punkt: "Und wo anders soll der Gott sein als in uns selbst?" Die Welt, die Maschine, wurden als der Kerker des Demiurgen abgelehnt und mit ihnen die herrschende Moral. "Und alle Laster walten frei!" war die Parole des dionysischen Euphorikers Haeusser, für den im Blick auf das Gesetz des Ich der Bruch der diesseitigen Gesetze notwendig war. Angesichts der Kälte des ehernen Gehäuses Zivilisation war die Anziehungskraft solcher Predigten groß. Ein begeisterter Zuhörer schrieb an Leonhard Stark: "Ich weiß, daß das Nichts unseres sozialen Selbst die Geburtsstelle des Christus ist. Und da sollte man zaudern, in den Abgrund hinabzuschauen?"

Ausgewählte Literatur:

  • Bonsels, Waldemar: Aus den Notizen eines Vagabunden. Roman in drei Bänden [1917-1923], Wien, München 1979.
  • Hamsun, Knut: Der Wanderer [1908-1912], Wien 1951. (Dt. von J Sandmeier und S. Angermann)
  • Künstlerhaus Bethanien (Hg.): Wohnsitz Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße, Berlin 1982.
  • Linse, Ulrich: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983.

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