Hannes Kiebel
Untergang — Berliner Obdachlosen GmbH
Anregungen zu einem Film für die Gemeindearbeit
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Die Filmemacher, Ingolf Seidel und Holger Wegemann, berichten:
Unter der Schlagzeile „Berliner Obdachlose machen Theater" wurden wir im März 1991 auf das Theaterprojekt „Untergang" der Berliner Obdachlosen GmbH & Co. KG aufmerksam: für uns als Theaterfilmemacher ein spannendes Thema.
Doch es kommt anders: Neben der Theaterarbeit begannen uns immer mehr die Menschen zu interessieren. Über mehrere Probenbesuche kamen die Beteiligten und wir uns näher.
Wir entschlossen uns, über einen Theaterfilm hinaus ein Porträt einzelner „Obdachloser" zu zeichnen. Durch die gemeinsame Arbeit selbstbewußter geworden, berichteten Betroffene über ihre Erfahrungen und Erlebnisse, über ihr Leben auf der Straße. Von der Straße auf die Bühne - der Film zeigt auch Bilder einer Aufführung, die das Ergebnis sechsmonatiger Gruppenarbeit ist. Die „Obdachlosen GmbH &Co. KG" ist keine Gruppe von „stinkenden Arbeitsscheuen", sondern eine von Individualisten, die etwas zu sagen haben.
Wir haben uns bemüht, einzelne zu Wort kommen zu lassen.
„Für mich gab es noch nie was Wichtiges. Ich bin 25 Jahre am Leben vorbeigeschwommen" (ein Obdachloser). Sich ernst zu nehmen, versteckte Talente zu entdecken, Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen und die Freude am Zusammensein sind die positiven Erfahrungen, die die Betroffenen bei der Gruppenarbeit sammeln konnten.
„Wir im Westen haben seit 40 Jahren gelernt, mit Obdachlosigkeit umzugehen. Da saß auf dem Ku-Damm alle 2 Kilometer ein Bettler, jetzt alle 2 Meter. Die aus der ehemaligen DDR konnten sich nie vorstellen, obdachlos zu werden, arbeitslos, für die bricht eine ganze Welt zusammen" (ein Obdachloser). Gerade mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat das Problem Obdachlosigkeit eine neue Brisanz erfahren.
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Das Theaterstück „Untergang"
Theatralischer als das Theater sei das Leben der Obdachlosen, Abhängigen, Bedrohten, schreibt der Regisseur des Stücks, Bernard Wind, im Programmheft. „Untergang" beginnt mit der Schwelle, die das gesicherte Leben von der Obdachlosigkeit scheidet: Ein alter Mann, Heinz Kreitzen, schubst wütend die Zuschauer, die zwischen wartenden Obdachlosen mit Bittschildern aus Pappe einzeln und kulturinteressiert in die Parochialkirche träufeln. Zehn Bilder und Szenen reihen sich aneinander. Fest umrissen - als Frau vom Sozialamt, als arrogante Tante vom Heiratsvermittlungsinstitut, als ausgebeutete Putze am Bahnhof, als Taubstumme, die im Gefängnis ihren Mann besucht, als Gefängniswärter, als Bahnbulle, als Pförtner im Asyl - bereiten die Profis den Boden, auf dem das Spiel der Laien lebendig wird. Die Obdachlosen wiederholen, variieren, verwandeln die Demütigen, denen sie beim Arbeits- oder Sozialamt, im Asyl, aber auch untereinander passiv ausgesetzt sind, und werden als Schauspieler, die ihr Leben spielen, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Der „Landstreicher" bewahrt seine Würde vor den Rassismen im Obdachlosenheim dadurch, daß er als „Bananen-Joe" den Urwaldaffen macht, für den sie den „Neger" halten. Mit einer Intensität und Fülle, die nur wenigen Schauspielern eigen ist, füllt seine Stimme die Kirche.
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Zum Hintergrund
„Untergrund" ist ein Theaterstück, das an mehreren Tagen im Juni 1991 im kalten Mauerwerk der Berliner Parochialkirche aufgeführt wurde. „Die Stärke des Stücks ist die Verknüpfung von Lebenserfahrung mit der Kunst" (Bernard Wind).
Was Bernard Wind, der jugoslawische Regisseur, hier mit einer Gruppe Berliner Obdachloser — unterstützt durch fünf professionelle Schauspieler - unternimmt, ist der Versuch, die sozialen Erfahrungen des Lebens auf der Straße auf eine emotional-künstlerische Weise weiterzugeben, zu sensibilisieren für Szenen, die nicht fiktiv sind. Denn solche Szenen können wir, wenn wir wollten, auch „live" beobachten: auf dem Bahnhof, in der Wärmestube, auf dem Amt. Und: Bis vor einigen Monaten hätten wir auch dieselben „Darsteller" erleben können in diesen Szenen auf der Straße.
Seit Anfang des Jahres 1991 wohnten alle „Schauspieler" gemeinsam in einem halb verfallenen Haus im Berliner Stadtbezirk Mitte. Doch als die Lichter auf der Bühne in der Parochialkirche nach der letzten Aufführung verloschen waren, mußten die Obdachlosen mal wieder ihren Kram zusammenpacken. Sie waren wieder da, wo sie auch schon vorher waren, nämlich auf der Straße. Weder für den Verbleib der gespendeten Kleidungsstücke, der Requisiten noch des Bühnenbildes war gesorgt, vieles landete einfach auf dem Müll, und für viele Obdachlose war der Sturz nicht weniger tief. Nach Lesungen auf dem Berberkongreß in Uelzen und in Halle entstand die Idee, einen Obdachlosenverein zu gründen, ein eigenes Theaterstück zu entwickeln und weitere Lesungen zu veranstalten.
Seit September 1991 existiert der Verein „Unter Druck — Kultur von der Straße" mit dem Rahmenkonzept eines Hilfe- und Selbsthilfeansatzes, den Schwerpunkten „Beratung/Kontakt" und „Kultur- und Bildungsarbeit".
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Einsatz
Auch wenn „die Obdachlosen" im Film in ihrer Offenheit und Selbstreflexion nicht unbedingt repräsentativ sind für die vielen, die inzwischen zum „normalen" Erscheinungsbild unserer Städte gehören, so verdeutlichen sie doch, was es bedeutet, in den Kreis von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit zu kommen.
Dieser Film, der betroffen macht, wirbt gleichzeitig dafür, diesen Menschen mit Achtung und Menschlichkeit zu begegnen. Eine mögliche Wirkung dieses vielschichtigen Films könnte darin bestehen, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die bislang wenig oder nichts miteinander zu tun haben oder zu tun haben wollen. Ganz allgemein schafft dieser Film Grundlagen für Gespräche zu „Menschenwürde", „Mitmenschlichkeit" und „Solidarität"; für lebendige Gespräche mit notwendigen Folgen in Gemeinden.
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Daten
Untergang - Die Berliner Obdachlosen GmbH & Co. KG. Ein Film von Ingolf Seidel und Holger Wegemann. Eine Produktion der IRA Theateratelier in Zusammenarbeit mit Tele Potsdam. Bundesrepublik Deutschland, 1991. BETA-SP, 29 Min. Buch/Regie/Kamera: Ingolf Seidel und Holger Wegemann; Redaktion: Sylvia Kemffeldt und Lew Hohmann; Musik: Herrmann Naehring; Schnitt: Frank Schleuder.
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Verleih
Videofilm auf VHS.Medienwerkstatt Freiburg e. V, Konradstr. 20, 79100 Freiburg i. Br.; Tel. 0761/709757; Fax 0761/701796.
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Autor
Hannes Kiebel, Sozialarbeiter, Fachlehrer für Sozialarbeit, Bochum
Erschienen in d. + d. - Medienarbeit 1994, S. 179-180.
Nachwort:
Ich veröffentliche diesen Text, weil es zum einen ein wichtiges Dokument zur Entstehung des Wohnungslosen-Kulturprojekts Unter Druck - Kultur von der Straße ist, ein Projekt das bis heute (Sommer 2008) existiert und das auch immer wieder von Menschen ohne Wohnung geleitet wird, so gegenwärtig von Jan Markowsky, dem mein höchster Respekt gehört.
Zum anderen möchte ich mit diesem Text erinnern an Hannes Kiebel (14. Juli 1936 — 28. März 2008), einem großartigen Menschen, vor dem ich deshalb eine hohe Achtung habe, weil er wohnungslose Menschen durchweg gleichberechtigt freundschaftlich und auf Augenhöhe behandelt hat. Zahlreiche Sammlungen von Texten, Fotos, Zeichnungen, Gedichten, Texten wohnungsloser Menschen belegen das. Von Hannes Kiebel habe ich unendlich viel gelernt, vor allem aber die Haltung, mit denen der Menschen von der Straße begeget ist, hat mir wesentlich dabei geholfen, eine eigene Position zu finden.
Danke.
Stefan Schneider, 29.06.2008
In der wohnungslos ist ein weiterer Nachruf erschienen, den ich ebenfalls an dieser Stelle dokumentieren möchte:
Nachruf auf Hannes Kiebel (1936 – 2008)
Hannes Kiebel war von Beruf Sozialarbeiter. Von 1974 an war er als Hochschullehrer an der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe tätig, dazu langjähriges Vorstandsmitglied des Westfälischen Herbergsverbands und weiterer Verbände. Für den Zentralverband Sozialer Heim- und Werkstätten e.V. (ZHW) hat er bei vielen Tagungen mitgewirkt. Für die Ev. Obdachlosenhilfe war er immer wieder engagiert und hat u.a. am Band "Bürger & Bettler" mitgearbeitet.
Hannes Kiebel hat sich intensiv mit Geschichte, Wirkungsweise und Wandel der Wohnungslosenhilfe befasst und dabei z.B. die Entwicklung von stationären Einrichtungen zu fachlich differenzierten Hilfesystemen analysiert, kritisch begleitet und unterstützt. Auf diesem Spezialgebiet Wandel der Wohnungslosenhilfe war er ein „wandelndes Lexikon“, versehen mit einzigartigem Wissen, zuhause in allen einschlägigen Archiven.
Sein Themenspektrum war breit und seine Expertise an vielen Stellen gefragt. Für eine Reihe von Verbänden bzw. Einrichtungen leistete er Grundlagenarbeit für Jubiläumsschriften, erstellte diese teils und recherchierte dafür beharrlich. Seine Publikationen haben fachliche Tiefe und sozialhistorische Qualität, in wissenschaftlichen Arbeiten wird er häufig zitiert. Ganz sicher ist es auch seinem Bemühen zu verdanken, dass der Begriff „nichtsesshaft“ etc. einem kritischen Diskurs ausgesetzt war und heute weitgehend überwunden ist.
Eigene Anschauung und die Nähe zu den Menschen waren Hannes Kiebel wichtig, er ist deshalb viel gereist. Als er beispielsweise das „Kochemer Netz“ beforschte, hat er die Wege großenteils selbst erwandert.
Er war ein in sich ruhender, oft fröhlicher Mensch, der es sehr genoss sein großes Wissen weiterzugeben. Geschichte, Fakten und Anekdoten reihte er mühelos und unnachahmlich wie Perlen auf eine Schnur.
Hannes Kiebels Triebfeder war neben einem ausgeprägten Drang zu wissenschaftlicher Präzision und historischer Wahrheit sein tiefer christlicher Glaube, aus dem heraus er einen ganz besonderen Zugang zu obdachlosen Menschen und Menschen in anderen sozialen Notlagen hatte. Er war auf Berbertreffen zu finden und lebte in Beziehung mit Betroffenen. Der Kontakt zu ausgegrenzten, an die Ränder gedrückten Menschen war ihm wichtig; für seine Arbeit als Hochschullehrer verschaffte er sich auch auf diese Weise Bodenhaftung und Praxisnähe.
Im Frühjahr 2004 zeigte er bei einem Vortragsabend, den er in Anlehnung an Brecht unter die Überschrift „Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich“ stellte, mögliche Konsequenzen der heraufziehenden „HARTZ – Reformen“ auf. Sein Kernsatz war: „Mit der neuen Sozialgesetzgebung ist für ganze Bevölkerungsgruppen ein würdiges Leben in Gefahr!“
Den letzten Vortrag coram publico hielt er im Oktober 2006 in Bad Honnef. Obwohl gesundheitlich stark angeschlagen hat er noch einmal in der Tiefe die ZHW-Geschichte aufgezeigt; es war zugleich die letzte Herbstarbeitstagung dieses Verbandes.
Hannes Kiebel ging es gesundheitlich schon das ganze Jahr 2006 nicht gut, bis sich herausstellte dass er an Krebs im fortgeschrittenen Stadium litt. Am 28. März 2008 ist er verstorben. Seinen letzten Weg auf dem Bochumer Hauptfriedhof begleiteten eine Vielzahl Menschen, denen er Kollege, Lehrer, Ratgeber, Wegbegleiter, Freund war.