Hannes Kiebel

Obdachlose Menschen in Deutschland


1. Begriffe mit Folgen für Menschen
2. Wohnungsnotfälle - zuständig sind die Kommunen
3. Prinzip Hoffnung
4. Wohnungsnotfall-Statistik als Baustein einer Sozialberichterstattung
5. Auf der Straße leben, überleben
6. Betteln verboten
7. Perspektiven , wichtige Signale
Anmerkungen

1. Begriffe mit Folgen für Menschen

Die Prioritäten im Hilfesystem für Nichtseßhafte müssen neu gesetzt werden. Zu diesem Schluß kommt die Stuttgarter BSU Wirtschaftsberatungsgesellschaft für soziale Unternehmen und Einrichtungen in einer von den Landeswohlfahrtsverbänden Baden und Württemberg-Hohenzollern in Auftrag gegebenen Untersuchung über die Hilfe für alleinstehende Wohnungslose. Für den Südwesten ermittelten die BSU-Autoren rund 17.000 Nichtseßhafte.

Erschwerend war bei der statistischen Erhebung die Begriffsverwirrung: Es ist von alleinstehenden Wohnungslosen die Rede, von Nichtseßhaften, von Obdachlosen, von Stadtstreichern oder von Durchfahrern. Mit den unterschiedlichen Bezeichnungen geht aber auch eine unterschiedliche Zuständigkeit der Sozialhilfeträger einher. Dies hat zur Folge, daß rechtlich differenziert wird und ein Teil der Nichtseßhaften bei der Hilfe außen vor bleibt, weil auf Abgrenzungsschwierigkeiten mit Nichthilfe reagiert wird.[1]

Der bedeutendste Armutswissenschaftler und Praktiker im Deutschen Kaiserreich, Emil Münsterberg (1855-1911), sprach im September 1895 in Leipzig vor dem "Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit" (seit 1919: "...öffentliche und private Fürsorge") über "Fürsorge für Obdachlose in den Städten" und teilte ein in: Fürsorge für seßhafte Obdachlose und Fürsorge für nichtseßhafte Obdachlose. Die Versammlung des Deutschen Vereins beschloß, für eine Trennung der Fürsorge in den Städten zu sorgen: Seßhafte und nichtseßhafte Obdachlose waren geschaffen; eine bedeutsame Folge war die Vertreibung von armen Menschen aus den Städten, überwiegend aus Kostengründen.[2]

"Verschiedene Begriffe werden verwendet, um die Lebenssituation der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zu kennzeichnen. In diesen Begriffsbildungen werden unterschiedliche Sichtweisen des Problems erkennbar, die auch von normativen Grundeinstellungen geprägt sind. Die Bezeichnung 'Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten' (§ 72 Bundessozialhilfegesetz) ist wenig hilfreich, da das Schlüsselwort der Wohnungslosigkeit nicht deutlich wird. Die in der administrativen Praxis bis heute verwendete, stigmatisierende Kategorie 'Nichtseßhafte', die in der Zeit des Nationalsozialismus den Begriff des 'Wanderarmen' ablöste, ist in Zuständigkeits- und Finanzierungsfragen des behördlichen Hilfesystems begründet. In neuerer Zeit hat sich überwiegend der Begriff des alleinstehenden Wohnungslosen durchgesetzt.

Specht definiert ihn folgendermaßen: 'Alleinstehende Wohnungslose sind solche alleinstehende Personen, die ohne oder ohne ausreichende Unterkunft sind.' Auch dieser Begriff ist nicht unproblematisch, da er den vom Familienstand abgeleiteten Status 'alleinstehend' einbezieht und damit nicht berücksichtigt, daß auch Paare, ohne oder mit Kindern, wohnungslos sein können. Eine Differenzierung nach dem Familienstand scheint wenig geeignet, zu einer Verbesserung des Hilfesystems beizutragen. Auf der anderen Seite ist eine Abgrenzung zum Begriff der 'Obdachlosen' erforderlich, die - entgegen dem Wortlaut - zwar nicht ohne Obdach sind, aber keine reguläre Mietwohnung mit einem den Mieterschutz garantierenden Mietvertrag besitzen. Sie leben in kommunalen Obdachlosensiedlungen, in Billigpensionen und anderen provisorischen Unterkünften und Notquartieren."[3]


2. Wohnungsnotfälle - zuständig sind die Kommunen

Die individuelle Lebensqualität von Menschen wird wesentlich durch ihr "Wohnen" bestimmt. Wohnproblematik trifft Menschen in zentralen Bedürfnissen und in ihrer Vernetzung. Lösungsansätze müssen sich deshalb an systemischen Denkmodellen orientieren Die Wohnraumproblematik bildet oft den erstaunlichen Auftakt zur Verarmung. Wohnungsnot betrifft zuerst gesellschaftliche Randgruppen und einkornmensschwache Schichten - darüber hinaus aber zunehmend einen wachsenden Anteil der Gesamtbevölkerung.

Thomas Specht sieht in der Begriffsbestimmung - "Im weitesten Sinne befinden sich alle diejenigen Haushalte in einer Situation von Wohnungsnot, die über zu wenig Mittel und Hilfen verfügen, um ihre Wohnraumversorgung angemessen und auf Dauer sicherzustellen" - für Wohnungsnot eine Brücke zwischen den Menschen ohne Unterkunft, solchen in Notunterkünften sowie Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen.[4]

1987 hat der Deutsche Städtetag eine in Fachkreisen akzeptierte und entwickelte Typologie von "Wohnungsnotfällen" veröffentlicht und damit gleichzeitig eine Definition von Zielgruppen kommunaler Wohnungshilfe übernommen.[5] Unterschieden und definiert werden drei Gruppen von "Wohnungsnotfällen".

Wohnungsnotfälle sind gegeben, wenn Personen

  • unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind,
  • aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind oder
  • aus sonstigen Gründen in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.

Unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind Personen

  • denen der Verlust ihrer derzeitigen Wohnung unmittelbar bevorsteht und die dabei ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, ihren Wohnraum auf Dauer zu erhalten oder sich ausreichenden Ersatzwohnraum zu beschaffen,
  • denen die Entlassung aus einem Heim, einer Anstalt usw. unmittelbar bevorsteht und die ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, sich ausreichenden Wohnraum zu beschaffen.

Aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind Personen,

  • die ohne Wohnung sind und nicht in einem Heim, einer Anstalt usw. untergebracht sind,
  • die aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit gemäß § 14 ff OBG (Ordnungsbehördengesetz NW, in den anderen Bundesländern gibt es ähnliche Bestimmungen) in eine Unterkunft oder in eine Normalwohnung eingewiesen sind.

Aus sonstigen Grunden in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben Personen,

  • die unzumutbaren oder außergewöhnlich beengten Wohnraum bewohnen,
  • die untragbar hohe Mieten zu zahlen haben oder die
  • eskalierte Konflikte im Zusammenleben mit anderen haben.

Unzumutbar ist Wohnraum, der nicht die Mindestanforderungen an erträgliche Wohnverhältnisse erfüllt oder dessen Gebrauch zu Wohnzwecken erheblich beeinträchtigt (z.B. § 5 und 6 Wohnungsgesetz NW) oder der außergewöhnlich beengt ist (Ziff. 6.2.3 WFB-Bremen 1984)."[6]


3. Prinzip Hoffnung

Im Landessozialbericht NW, Band 2, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, sind die "Städtetagsempfehlungen" von 1987 erweitert worden, da bestimmte Maßnahmen und Hilfen einem Verständniswandel unterliegen. Wohnungslose sind einzuschließen, die von Freunden, Bekannten, Verwandten aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit vorübergehend aufgenommen worden sind, sowohl Menschen, die in sozialen Einrichtungen untergebracht werden oder dort "festsitzen", weil sie keine Wohnung haben bzw. finden. Diese Einrichtungen, z.B. Frauenhäuser, sozialpsychiatrische Einrichtungen und Jugendwohngemeinschaften, übernehmen insofern die Funktion von Obdachlosenunterkünften.[7]

Das System der "Wohnungsnotfälle" hat Eingang zu finden in die allgemeine Wohnungspolitik und die Politik gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot. Vor allem sind die Kommunen aufgrund ihrer Zuständigkeit gefordert.

Wie kaum ein anderer hat sich Gerd Iben in den jungsten Jahrzehnten mit Armut, Obdachlosigkeit, pädagogischen und sozialen Hilfen beschäftigt. Realistisch, aber auch dem Prinzip Hoffnung verhaftet, bringt er sich ein: "Viele Kommunen stehen heute schon vor den Problemen, die Soziallasten nicht mehr tragen zu können. Die Frage, ob wir uns den Sozialstaat noch leisten können, wird inzwischen ungeniert aufgeworfen. Wir brauchen eine entschiedene Gegensteuerung zur Verhinderung der Aufspaltung unserer Gesellschaft in die Erfolgreichen und die Versager, die Mächtigen und die Ohnmächtigen, denn solche harten Grenzen, die immer größere Gruppen vom gesellschaftlichen Fortschritt abkoppeln, entziehen der Demokratie den Boden. Der Städtetag hat (...) hilfreiche Empfehlungen erarbeitet. Die sich verschärfende Not am Wohnungsmarkt wird hoffentlich genügend politischen Druck erzeugen, um diese Empfehlungen auch in die Praxis umzusetzen.[8]


4. Wohnungsnotfall-Statistik als Baustein einer Sozialberichterstattung

Spätestens seit dem "lnternationalen Jahr für Menschen in Wohnungsnot" 1987 existiert in jüngster Zeit die häufig wiederholte Forderung nach einer Wohnungsnotfallstatistik mit Blick auf die ständig ansteigende Wohnungsnot und Obdachlosigkeit.[9]

Die von Experten veröffentlichten Zahlen beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen einzelner wissenschaftlicher Studien.[10] Eine Schätzung, die in der Regel genannt wird, wurde 1990 von den Bundesarbeitsgemeinschaften für Nichtseßhaftenhilfe/ Soziale Brennpunkte veröffentlicht.[11] Danach gibt es in den alten Bundeslandern 800.000 wohnungslose/obdachlose Personen. Davon leben in Obdachlosenunterkünften 300.000; 130.000 sind alleinstehende Wohnungslose, völlig ohne Obdach; 100.000 halten sich in Billigpensionen auf; weitere 100.000 in Heimen und Anstalten; weitere 200.000 Menschen sind Aussiedler ohne Wohnung.

Koch fordert neben einer jährlichen Statistik über Wohnungsnotfälle eine repräsentative Untersuchung der Wohnverhältnisse von Wohnungsnotfällen sowie der Entwicklung der Wohnungsversorgung von Wohnungsnotfällen als Baustein einer umfassenderen Sozialberichterstattung.[12]

In seinem Vorstandsbeschluß zur Sozial- und Wohnungspolitik fordert der Deutsche Verein für öffentliche und private Forderung: "Um gezielt präventive Arbeit zu erleichtern und gleichzeitig übergreifende Planungen zu ermöglichen, ist eine regional differenzierte, aber bundeseinheitliche statistische Erfassung der verfügbaren Wohnungsbestände, ihrer Entwicklung, der Nachfrage nach diesen Wohnungen sowie ein gültiges Bild über die Entwicklung der Mieten erforderlich. Gleichzeitig wäre dies ein Beitrag zu einer realitätsgerechten Beschreibung der Situation."[13]

Der Beschluß des Deutschen Vereins aus 1991 und Koch's Wunsch, veröffentlicht 1993, setzten faktisch nichts in Bewegung. Nach wie vor muß geschätzt werden, muß regional recherchiert werden.

Nach Angaben der Städte und Gemeinden ist in allen Landesteilen eine steigende Zahl von Obdachlosenfällen zu beobachten, wobei die mangelnde Fähigkeit, die Wohnkosten tragen zu können, als eine entscheidende Ursache für Wohnungsverlust und Abgleiten in die Obdachlosigkeit angesehen wird.[14]

Ende 1993 schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft 'Wohnungslosenhilfe', daß rund 850.000 Menschen allein in den alten Bundesländern ohne Wohnung über den Winter kommen müssen "Besonders hart trifft es jene, die über Nacht draußen bleiben müssen. Sie kampieren in Tiefgaragen oder Hauseingängen und wissen oftmals nicht, oh sie den nächsten Morgen erleben.

Etwas besser haben es jene, die in Übernachtungsstätten schlafen können, doch tagsüber haben auch diese Menschen kein gesichertes Obdach. Zumindest ein notdürftiges Dach über dem Kopf haben die 700.000 Menschen, die in Notunterkünften, Billighotels oder Heimen untergebracht sind."[15] Die vorgenannte Bundesarbeitsgemeinschaft geht davon aus, daß 40.000 Menschen in den alten und neuen Bundesländern auf der Straße leben, daß bundesweit 110.000 Menschen ohne gesichertes Obdach sind.[16] Nach Schätzungen haben rund 200.000 Menschen in den neuen Bundesländern ihre Wohnungen verloren und sind obdachlos.[17]

Die Zahl der obdachlosen Frauen steigt bedrohlich an. Rund 23.000 Frauen haben kein Dach über dem Kopf. Mit dieser Zahl sind nur Frauen berücksichtigt, die bei öffentlichen Einrichtungen Hilfe suchen. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Vor einigen Jahren lag der Frauenanteil bei unter 10 Prozent, heute liegt er bei 15 Prozent.[18]

An einem Stichtag im Oktober 1993 wurden in Baden-Württemberg die obdachlosen Menschen gezählt, die bei Stellen der Sozialverbände um Hilfe vorsprachen. Es waren 5.892 Personen, zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor.[19]

Die Wohnungsnot ist keineswegs ein Phänomen, das sich auf die Ballungsräume beschränkt. Unter anderem belegt dies eine Studie der Politologin Susanne Benzler für den Kreis Gießen. Ende 1991 waren in den kreisangehörigen Gemeinden mindestens 228 Menschen von Obdachlosigkeit akut betroffen. Während in Gießen von 1988 bis 1991 im Schnitt 15 Wohnungsräumungen registriert wurden, waren es im übrigen Kreisgebiet in diesem Zeitraum durchschnittlich 29 Räumungen. Der am häufigsten ermittelte Grund: Mietschulden.[20]

Der Abstieg kann jeden treffen. Die Ursachen für Obdachlosigkeit sind zahlreich; die Umwelt scheut sich, sich damit auseinanderzusetzen.


5. Auf der Straße leben, überleben

"Sozialpsychologen wissen, daß sich der Charakter eines Menschen bereits nach einem halben Jahr auf der Straße grundlegend verändert. Doch nicht nur die Persönlichkeit nimmt Schaden, auch der Körper leidet: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Bielefeld schätzt, daß fast 90% der Obdachlosen medizinischer Hilfe bedürfen.

Sie leiden besonders unter Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, des Stütz- und Bewegungsapparates und der Atemwege. Auch die Prävalenz von Herz-Kreislauf- und Hauterkrankungen liegt ebenfalls deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Wen wundert es daher, daß die Lebenserwartung drastisch reduziert ist."[21]

In Niedersachsen erkranken immer mehr Menschen an Tuberkulose. Die Zahl der Neuerkrankungen sei im vergangenen Jahr (1992) um fast 20 Prozent auf 903 Fälle gestiegen, teilte Professor Adolf Windorfer vom niedersächsischen Sozialministerium mit. Besonders beunruhigend sei dabei, daß auch die Zahl der Fälle von infektiöser offener Tuberkulose gewachsen sei. Der Medizin-Professor führt die verstärkte Ausbreitung der chronischen Infektionskrankheit vor allem auf die zunehmende Verelendung zurück. Tuberkulose sei insofern auch eine "soziale Krankheit". Betroffen seien besonders Obdachlose und andere soziale Randgruppen.[22]

Im November 1993 führte der frühe Wintereinbruch zu einem Massenandrang in den Frankfurter Notschlafquartieren. Trotz der vollen Belegung dieser Quartiere sind die städtischen Sozialarbeiter angewiesen worden, zusätzlich zu ihrer üblichen Arbeit die Schlafplätze der Wohnsitzlosen in den Frankfurter Grünanlagen, der Innenstadt und am Mainufer zu besuchen. Sie sollten für die Übernachtung in den Heimen werben, wo die Untergebrachten dann "ein bißchen enger zusammenrücken" müßten.[23]

Zur gleichen Zeit startete die Stadt Köln zusammen mit Selbsthilfegruppen mehrere Hilfeprojekte. Das Sozialamt stellte eine ihrer Tiefgaragen als Schlafstelle für obdachlose Menschen zur Verfügung; eine weitere Garage diente einer Punker-Gruppe als Winterschutz.[24] Die Bilanz für den Winter 1992/1993 ergab, daß mindestens 29 Frauen und Männer auf Straßen und Platzen erfroren sind.[25] Im Winter 1993/1994 wurden 28 Frauen und Männer erfroren aufgefunden.[26] Ohne Überwindung der Wohnungsnot werden mehr und mehr Menschen auf unseren Straßen sterben.


6. Betteln verboten

Augsburg war nicht die erste Stadt mit einer "Bettler-Satzung"; unter den bayerischen Städten hat Augsburg die strengsten Bestimmungen. Die "Bettler-Satzung" verbietet auf allen öffentlichen Straßenflächen im Stadtgebiet das Lagern und Nächtigen, das "Niederlassen zum Alkoholgenuß außerhalb erlaubter Freisitze (das sind Biergärten oder Straßencafes) und das "Betteln in jeglicher Form" als "nicht erlaubnisfähige Sondernutzungen".

Rechtsgrundlage dafür ist das Bayerische Straßen- und Wegegesetz, dessen Paragraph 22a den Gemeinden erlaubt, "Sondernutzungen ihrer Straßen durch Satzung zu regeln". Auch Nürnberg, Fürth, Regensburg, Würzburg, Hof und Bamberg haben ähnliche Satzungen, die sich aber allesamt nur auf Fußgängerzonen oder Parkanlagen beziehen.[27]

Im Stadtbild von Magdeburg fallen immer häufiger Menschen auf, die ihr ganzes Hab und Gut in einer Plastiktüte mit sich herumtragen und auf Parkbänken nächtigen. Heinrich Sonsolla, Leiter des Sozialamtes, sagte dazu: "Tatsache ist nun einmal, daß die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz steigt. Dieser Situation muß Rechnung getragen werden. Wir kalkulieren zum Beispiel ein, daß weitere Obdachlose in unserer Stadt durch den Abriß maroder Häuser in den Altbaugebieten zu erwarten sind, wo mancher jetzt noch Unterschlupf findet. Die Gefahr, auf der Straße zu landen, besteht künftig auch bei Mietschuldnern, deren Anzahl ebenfalls ständig wächst. Unser Eindruck ist, daß Betroffene und auch manche Politiker noch nicht den Ernst der Lage sehen."[28]

In Frankfurt am Main, Heidelberg und anderswo existieren zunehmend "Wagendörfer". Uta Claus besuchte einige, unter anderem traf sie junge Leute in Frankfurt Biegewald: "Wir sind eine Gruppe von jungen Leuten, denen es nicht mehr möglich war, die Wuchermieten des Wohnungsmarktes zu bezahlen beziehungsweise überhaupt einen Wohnplatz zu bekommen ... Da wir es nicht einsehen, zu fünft in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung, in stinkenden, überfüllten Obdachlosenasylen oder auf der Straße abzuhängen und irgendwann mal Amok zu laufen, besorgten wir uns ausrangierte Bauwagen und besetzten im Mai 1990 ein Stück des ehemaligen Bundesgartenschau-Geländes..." Heute steht das Wagendorf an einem anderen Platz, bei Regen tief im Matsch, zwischen einem Gebrauchtwagenpark und einer Kleingartenanlage. In den meisten Wagendörfern hat sich eine stabile Gemeinschaft mit funktionierenden Regeln entwickelt.[29]

In Hannover wurde vor sechs Jahren (1988) zum ersten Mal eine Suppenküche für Bedürftige und Wohnsitzlose eingerichtet, die zunächst stark in der Kritik von Fachleuten stand, nach deren Meinung eine kostenlose Essensversorgung obdachloser Menschen diese weiterhin abhängig macht und bei ihnen zur Lethargie führt Die Suppenküche-Verantwortlichen urteilen nach der Suppenküche im Winter 1993: "Mit der Einrichtung der Suppenküche und anderer Angebote kann das Problem der Wohnungslosen jedoch skandaliert und öffentlich gemacht werden. Effektive Hilfe erfährt die Gruppe der Betroffenen aber nur, wenn ihnen Wohnraum zur Verfügung gestellt wird, in dem sie sich dann selbst versorgen können."[30]

Heinrich Holtmannspötter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es sinnvoll und dem Bedarf zu entsprechen scheint, "solche Tagesaufenthalte einzurichten und zu 'Basislagern' der Eigeninitiative und Selbstorganisation auszubilden und damit diese Form der Hilfestellung ... aktiv in die Hand zu nehmen und zu gestalten, bevor sie ein ordnungsrechtlich geführtes Pendant zu den Übernachtungsasylen werden."[31]

In eine völlig andere, schon längst für überwunden gehaltene Richtung geht die Forderung der FDP-Landtagsfraktion in Sachsen: Die sächsischen Kommunen sollen sich an einem noch einzuführenden Leitprinzip orientieren, Bereitstellung von Unterkünften und Verpflegung nur für die obdachlosen Menschen, die entweder im betreffenden Ort geboren sind oder dort bereits langere Zeit leben.[32] Fürwahr, dieses Prinzip aus dem Deutschen Kaiserreich war schon damals ein funktionierendes Kampfmittel gegen Obdachlose.


7. Perspektiven, wichtige Signale

Ingrid Breckner vom Wohnforum München betont: "Die Mitte der 80er Jahre noch verbreitete Hoffnung, mit der Bereitstellung empirischer Daten über das Ausmaß, die Qualität und die Entwicklungsverläufe von Armut politische Handlungsmotivation oder sogar Handlungsdruck zu erzeugen, beginnt sich allmählich zu verflüchtigen."[33]

Und der Kölner Journalist Tobias Mündemann formuliert irn Rahmen einer lückenlosen Darstellung der gesamten Wohnpolitik: "Obdachlosigkeit wird hierzulande immer noch als Einzelschicksal, als persönliches Versagen gewertet, das entweder sozialpädagogischer Anteilnahme bedarf oder einfach als ordnungspolizeiliches Problem betrachtet wird. Obdachlose haben keine starke Lobby, vertreten keine Kaufkraft, sind kaum in der Lage, sich neben dem Kampf ums Überleben politisch zu organisieren, und sind als Minderheit zu klein, um wenigstens ein Wahlerpotential darzustellen."[34]

Ich stimme den pessimistischen Lagebeurteilungen grundsätzlich zu. Es ist jedoch auch zu beobachten, daß Obdachlose selbst verzweifelt wie mutig dabei sind, die kleine Lobby zu vergrößern, die "Ohnmacht der Öffentlichkeit gegenüber dem sozialen Elend" anzuprangern, die wachsende Gewalt gegen Obdachlose und die Ignoranz der Normalbürger anzuklagen.[35] An mehreren Orten in der Republik sind einzelne wie Gruppen aktiv, sie haben sich als Betroffeneninitiative in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe formiert. Glückauf!

Wohnung ist nicht alles - aber ohne Wohnung ist alles nichts!

Hannes Kiebel


Anmerkungen

[1] Obdachlosigkeit wird nur selten verhindert. Schwäbische Zeitung, 18 11.1993.
[2] Münsterberg, E.: Die Fürsorge für Obdachlose in den Städten. Referat. Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Leipzig 1895, S. 19 ff, zitiert in: Hannes Kiebel, "nichtseßhaft" - ein Begriff wird in Kürze 100 Jahre alt, in: Gefährdetenhilfe, 35/1993/1, S. 24-26.
[3] Hauser, R./Kinstler, H.-J.: Zur Lebenslage alleinstehender Wohnungsloser (Nichtseßhafter), in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, 73/1993/11, S. 412-422. Zitat von Specht in: Specht, Thomas: Die Situation der alleinstehenden Wohnungslosen in Hessen. Nichtseßhafte und alleinstehende Obdachlose. Frankfurt am Main, 1985, S. 15.
[4] Specht-Kittler, Thomas: Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 31-41, Begriffsbestimmung in: Schuler-Wallner, G./Wullkopf, U., Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt 1991.
[5] Deutscher Städtetag (Hg): Sicherung der Wohnungsversorgung in Wohnungsnotfällen und Verbesserung der Lebensbedingungen in sozialen Brennpunkten - Reihe D, Deutscher Städtetag, Beiträge zur Sozialpolitik, Heft 21, 1987.
[6] ebenda, S. 14 f.
[7] Landessozialbericht, Band 2: Wohnungsnot und Obdachlosigkeit. Soziale Folgeprobleme und Entwicklungstendenzen. Expertise des Paritätischen Bildungswerkes Nordrhein-Westfalen. Bearbeitet von Koch, Hard und Tristram. Hg. vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NW. Düsseldorf, 2. überarb. Auflage 1993,S. 23-25; siehe auch: Koch, F: Wohnungsnot und Soziale Arbeit. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, 137/l990/9, S. 216-219.
[8] Iben, Gerd: Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 19-29.
[9] Specht, Th./Schaub, M./Schuler-Wallner, G. (Hg): Wohnungsnot in der Bundesrepublik. Perspektiven der Wohnungspolitik und -versorgung für benachteiligte Gruppen am Wohnungsmarkt. Bielefeld 1988 (Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 7).
[10] Specht, Thomas: Spaltung am Wohnungsmarkt - Die unsichtbare Armut des Wohnens, in: Döring, D./Hanesch, W./Huster, E.-U. (Hg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt am Main 1990.
[11] Bundesarbeitsgemeinschaften für Nichtseßhaftenhilfe (ab 1991: BAG Wohnungslosenhilfe)/und soziale Brennpunkte (Hg): Pressemitteilung vom 3. Oktober 1990; siehe auch nähere Erläuterungen zu dieser Statistik in: Landessozialbericht, S. 136-139.
[12] Koch, in: Landessozialbericht S. 195.
[13] In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, 71/1991m, S. 56.
[14] Ulbrich, Rudi: Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9/93, S. 16-31.
[15] Obdachlose in Deutschland. (Schaubild mit Text von Globus) In: Magdeburger Volksstimme, Magdeburgische Zeitung vom 15.1.1994.
[16] wie 15; Eine Million obdachlos In: Frankfurter Rundschau vom 23.2.1994.
[17] 200.000 Menschen ohne Wohnung. In Hamburger Abendblatt vom 25.11.1993.
[18] Immer mehr Frauen ohne Dach uber dem Kopf. In: Neue Presse vom 24.2.1994; "Manchmal habe ich keinen Bock mehr weiterzukämpfen." In: Magdeburger Volksstimme, Magdeburgische Zeitung vom 21.2.1994.
[19] "Nicht nur unten sparen" . In Badische Zeitung vom 3.1.1994.
[20] Die Wohnungsnot beschränkt sich nicht nur auf Ballungsgebiete. In: Frankfurter Rundschau vom 13.11.1993.
[21] Kalbheim-Gapp, Eva: Diagnose: Armut. In Therapiewoche, 18/1992, Nr. 42, S. 1083; siehe auch: Locher, Gerhard, Gesundheits/Krankheitsstatus und arbeitsbedingte Erkrankungen von alleinstehenden Wohnungslosen, Bielefeld 1990.
[22] Tuberkulose bei sozialen Randgruppen. in: Gottinger Tageblatt vom 5.11.1993.
[23] Immer mehr Obdachlose. In: Hanauer Anzeiger vom 25.11.1993.
[24] Weitere Tiefgarage wird jetzt als Schlafgelegenheit zur Verfügung gestellt. In: Kölnische Rundschau vom 25.11.1993.
[25] Draußen erfroren 29 Menschen. In: Frankfurter Rundschau vom 2.3.1993.
[26] Wohnungslos im Winter 93/94: 28 Männer und Frauen erfroren aufgefunden (detaillierte Liste). In: Gefährdetenhilfe, 36/1994/1, S. 46.
[27] "Bettler-Satzung" ein untaugliches Instrument In: Süddeutsche Zeitung vom 10.8.1992; siehe auch: Doch eine Satzung gegen Bettler. In: Augsburger Allgemeine vom 31.7.1992.
[28] Wenn Träume auf der Parkbank enden. In: Magdeburgische Zeitung, Volksstimme vom 17.7.1992.
[29] Claus, Uta: Wagendorfer- Deutschlands erste Slums? In: DIE ZEIT, Nr. 6, 5.2.1993, S. 40.
[30] Erfahrungsbericht uber die Suppenküche für Bedürftige im Winter 1993. Hg von Wilfried Pellmann im Diakonischen Werk des Evang.-Luth. Stadtkirchenverbandes Hannover, Hannover 1993, S 7.
[31] Holtmannspötter, Heinrich: Die Wohnungslosenhilfe 1993. In Gefährdetenhilfe, 36/1994/1, S. 1-3.
[32] FDP: Obdachlose bei längerem Aufenthalt unterbringen und versorgen. In: Dresdner Neueste Nachrichten vom 27./28.11.1993.
[33] Breckner, Ingrid: Hinsehen oder wegsehen: Armut in der Großstadt, in Die Armen und die Reichen, Hamburg 1993 (Kirche in der Stadt; Bd. 3), S. 11-20.
[34] Mündemann, Tobias: Kein Dach uber dem Kopf - Keinen Boden unter den Füßen. Hamburg 1992, S. 82.
[35] Wohnungsnot, Obdachlose werden aktiv. In Hessische Allgemeine vom 19.11.1993.


(aus: Der Architekt. Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten. Heft 6 - Orte der Ausgrenzung. Juni 1994, S. 325 - 330.)

Alle (im Originalbeitrag abgedruckten, hier aber aus technischen Gründen weggelassenen) Fotos: Karin Powser.
Die Fotos zu diesem Beitrag sind von Karin Powser, Hannover; sie sind überwiegend abgedruckt in: Karin Powser, Alt und arm - vom Leben und Uberleben auf der Straße. Fotografien. (Heft 5 der Reihe TEXTE Drinnen & Draußen) Bezug: Hannes Kiebel, Bochum.

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