H.P. Karr & Walter Wehner

Berbersommer


Zehn

nach zehn. Der Zeiger der Normaluhr springt einen Strich weiter. Zeit, sich im Kaufhaus zu waschen und zu kämmen. Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle fischt Kurt eine WAZ aus dem Papierkorb. Der Schwarze aus Ghana nickt ihm kurz zu und packt seine Gürtel und Ketten auf den Tapeziertisch. Hinten bei den Schließfächern sieht er Max unter seinen Zeitungen liegen. Er läßt ihn pennen, fährt die Rolltreppe runter, schlängelt sich zwischen den Frauen und Schulkindern zum Fahrstuhl neben dem Supermarkt durch. Bei Horten auf der Restauranttoilette gibt es warmes Wasser, Seife und Stoffhandtücher. "Guter Service." Kurt grinst und stellt seine Untertasse auf die Ablage am Waschbecken und das Schild mit der Aufschrift "Danke - die Klofrau".

Max liebt Männer mit Hut. "Ej, hasse mal ne Zichte für mich?"
"Wie bitte?"
"Ej, ne Zigarette, Mann. Ich hab seit zwei Tagen nix mehr zu rauchen gehabt."
"Ich weiß nicht..."
"Mann, du wirst doch wohl mal ne Zichte abgeben könn, oder watt?"
"Ja ... Natürlich ... hier."
"Ich nehm mal gleich noch eine, für nachher, okay?"
"Ich ... "
"Bisten tofften Kumpel, Mann. Haste Feuer?"
"Was?"
"Streichhölzer, Mann!"
"Ja ... hier ... nehmen Sie ... tut mir leid ... ich muß weiter ..."

Max steckt sich eine Zigarette an und verstaut die andere mit dem Streichholzbriefchen im Unterfutter der Jacke. Hinten an den Schließfächern kontrollieren die Bahnbullen seinen Schlafplatz. Max macht sich dünne. Ab durch die Bahnhofshalle, die Rolltreppe rauf zur Galerie. Er filzt die Papierkörbe und findet ein wunderschönes Ticket Köln-Essen, gerade erst abgefahren.

"Na, wer sagt's denn!"


Neun

Telefonzellen hat Kurt schon abkassiert auf seiner Runde. Er schiebt sich in den gelben Glaskasten hinterm Saalbau. Ein Drahthaken, ein paar Handgriffe, und die von ihm eingebaute Sperre in der Geldrückgabe läßt sich mühelos herausziehen. Markstücke und Groschen klingeln in die Schale. Kurt zählt glatte neun Mäuse; nicht schlecht für die Gegend. Er bringt die Klemmvorrichtung wieder am Apparat an, durchquert den Stadtgarten. Weiter unten an der Huyssenallee hat jemand seinen Trick durchschaut. "Nicht mal ein falscher Fuffziger, so ein Mist!" Kurt flucht, stemmt sich gegen den kalten Wind und hofft, daß sich keine Konkurrenz breitmacht: das hier ist sein Revier.

Auf dem Bahnsteig ist Großreinemachen. Doppelstreife. Max hockt in der Telefonzelle, seit einer halben Stunde schon. Fur die Jahreszeit ist es schon verdammt frisch.

"He, das ist kein Hotel hier!"
"Ich wart auf meinen Zuch! Wird man ja wohl noch dürfen."
Der Bahnbulle grinst. "Quatsch nich rum. Runter vom Bahnsteig."
"Ich hab ein Recht ..."
"Einen Scheiß haste. Ohne Fahrkarte."
"Klar hab ich ne Fahrkarte." Max wedelt mit dem Ticket.
"Erste Klasse? Für wie doof hältste uns eigentlich?" Der Bulle zerfetzt das Ticket. "So, und jetzt Abmarsch. Aufwärmen kannste dich unten im Tunnel bei der EVAG."
"Ich wollt mich ehrlich nur'n Moment ausruhen ..."
"Klar ... Raus da ..."
"Die Beine ... ich habet doch anne Beine. Alles offen von dem Ekzem ..."
"Los jetzt, dein Zug ist abgefahren."
Der Bulle paßt auf, bis Max vom Bahnsteig ist.


Acht

Straßenzüge weiter hat sich seine Laune wieder gehoben und die Manteltaschen sinken unter dem Gewicht der vielen Münzen bis fast an die Kniekehlen. Unter der Grugabrücke hat er zwei Heiermanner aus dem Schacht geprockelt und fast eine Handvoll Groschen. Die Schickimickis hier im Südviertel schwimmen eben nur so im Geld. Kurt sortiert seine Einnahmen; die Pennystucke und Peseten, mit denen manche die Post bescheißen, wandern in ein extra Portemonnaie. Er muß sie vorsichtig verteilen - an den alten Zigarettenautomaten aufder Rüttenscheider und den halbblinden Rentner in seiner Trinkhalle in Frohnhausen. An der Frittenbude genehmigt sich Kurt eine Frikadelle und eine Flasche Pils Dann verzieht er sich in die Tiefgarage vom Landgericht und hält auf dem Lüftungsgitter ein Nickerchen. Wenn einem das Gebläse so die warme Luft um die Nase fächelt und man die Augen schließt, kann man fast denken, daß man in der Toskana sei.

Unten im Tunnel ist alles voller Straßenbahner.
"He, du gehn weg!" Der Braunhäutige auf dem Bock der Reinigungsmaschine wedelt mit der Hand.
"Was willst du, du Kanacker?"
"Muß putzen. Du muß weg!"
"Ich hau dir gleich was vor die Mappe!"
Der Motor der Reinigungsmaschine heult auf und Max sieht zu, daß er Land gewinnt.


Sieben,

hat der Bulle gesagt, Sie müssen die Straßenbahn Nummer Hundertundsieben vom Rüttenscheider Stern nehmen, die geht bis Katernberg. Kein Freund und Helfer, denkt Kurt, aber auf eure Ortskenntnisse ist immer Verlaß. Was soll ich mir bei dem Umsatz die Füße breitlatschen? Die Elektrische schaukelt ihn zurück in die Innenstadt. Vor ihm hockt ein Negerpärchen. Wenn das nicht doppelt Glück bringt. Er wird das Ding also heute starten: das ist sein Tag.

"Ej, Junge, hasse mal Feuer?"
"Klaro, Mann!" Aus dem Zippo zuckt ein Ding wie beim Flammenwerfer und der lange Lederjackentyp wiehert los. Sein kleiner Kumpel kriegt ein böses Grinsen.
"Wohl wahnsinnig, watt?"
"Aber immer!" Der Lange pflückt Max den Stummel von den Lippen und zermatscht ihn unterm Stiefelabsatz. "Jetzt kannste ihn kauen."
"Meinen auch!" Der Kleine rülpst und Max kriegt die Spucke ins Gesicht.
Der Lange zippt das Zippo unter Max Kinn an. "Was meinste, wie lange der brennt?"

Er drängt Max bis ans Schaufenster vom Kaufhaus. Max rutscht mit dem Rücken an der Scheibe runter und spielt toter Mann.


Sechs

Richtige oder einmal den Jackpot knacken; Kurt glotzt auf die Schokoladenauslage vom Café Overbeck. Der Sarottimohr aus dem Schaufenster starrt zurück. Nur ein einziges Mal richtig absahnen und dann ab in die Toskana. Er rülpst dem Otto vom Lotto auf dem Plakat seine Meinung rüber und bezieht Posten vor dem Pornokino. Die reinste Goldader; fast jeder Typ, den er anschnorrt, rückt was raus. Sie drücken ihm die Silberlinge nur so in die Pfote, wenn er sie beim Rauskommen anquatscht und ziehen möglichst rasch Leine.


Penta

gramm der Triebe heißt der Streifen, den sich die Kerle rein ziehen. "He, du da!" - der Kartenverkäufer zwängt sich aus seinem Kabuff und kommt drohend auf ihn zu. Kurt verduftet um die Ecke, nur jetzt keine Scherereien mehr. Heute Abend, wenn sein Ding steigt, muß er topfit sein. Sein Magengeschwür meldet sich schmerzhaft und er nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann.

"Gib mal die Bombe ruber!"
Kurt gönnt sich einen langen Schluck aus der Zweiliterflasche. "Scheiß Kälte! Hier kannste nicht bleiben."
Sie sitzen unterm Denkmal am Burgplatz. Max behält den Eingang vom Münster im Auge.
"Haste was zum Pennen?"
"Weiß noch nicht. Hab noch was vor."
"Scheiße auch. Gib mal die Bombe."
Max setzt die Flasche an.
"He, datt is mein Stoff. Wohl verrückt geworden oder watt?"
"Das wird kalt heut nacht. Da braucht der Mensch was Warmes."
"Aber nicht auf meine Kosten."

Max schielt rüber zum Eingang vom Münster. Der Rotwein brennt ihm im Magen und macht ihn schwindelig.
"Italien", murmelt er. "Toscana! Da müßte man jetzt sein. Ganzen Tach in der Sonne liegen!"
"Da sachste watt!" Kurt macht die Augen zu. "Oben anner Volkshochschule gibt's ne Tiefgarage!" murmelt er. "Mußte halt mal sehen, wie du mit dem Hausmeister und seinem Köter zurechtkommst."
Max sagt nichts. Untem am Münster schließt ein Kaplan die Kapelle ab.
Kurt rappelt sich auf. "Also dann. Man sieht sich!"
Max krallt sich die Bombe und zieht sich den letzten halben Liter rein.
Wenn schon, denn schon!


Vier

Minuten: Kurt schafft die Strecke von der Spielhalle im Basement des Bahnhofs bis rauf auf den Bahnsteig im Spurt in genau vier Minuten. Er hat das x-mal geprobt. Die Rolltreppe ist nachts meist leer, und auf dem Bahnsteig ist dann auch niemand mehr. Der D-Zug auf Gleis vier geht um 22.34 Uhr ab: über Köln, Frankfurt, München, bis nach Rom.

"Kann ich Ihnen helfen?"
Max riecht was Süßes. Wie Blumen.
"Geht es Ihnen nicht gut?"
Max fühlt eine Hand.
"Was ist denn mit Ihnen?"

Die Frau stippst ihn mit den Fingerspitzen an die Schulter, als hätte er etwas Ansteckendes. Max hängt in einem von den tiefen Ledersesseln im Foyer der Volkshochschule. Durch die deckenhohe Glasfassade gegenüber sieht er Schneeregen durch die Nacht treiben. So eine Scheiße aber auch.

"Ich hab Sie schon vor drei Stunden hier gesehn!" Das ist wieder die Frau. "Kann ich..."
Max rülpst.
"Hören Sie, wir schließen gleich. Sie können hier nicht..."
"Aber wo soll ich denn hin?" Max glotzt ins Neonlicht, bis ihm die Tränen kommen. Dann rappelt er sich hoch. "Nichts für ungut..." Seine Beine knicken weg.

Die Frau hat die Hände vor die Brust gepreßt. "Was haben Sie denn? Sind Sie krank?!"

"Krank? Ich bin kaputt, Frau ... Das ganze Bein ... war nur noch Matsche ... Betonplatte draufgefallen, auffem Bau ..."
"Mein Gott, wie schrecklich."
"Ich warn guter Maurer. Das müssen Sie mir glauben! Bloß mit dem Bein ... halbes Jahr Krankenhaus ... Job weg ... Wohnung gekündigt. Ich weiß nich wohin, Frau ..."
Aber..."
"Ich bin fertig. Fix und alle. Ich lieg auf der Straße. ..." Er will sich wieder hochrappeln. "Nichts für ungut, Frau ..."

Ehe er wieder zusammenklappt, hat die Frau ihn in den Stuhl zurückgedrückt. "Bleiben Sie mal sitzen. Ich telefonier mal eben. Sie wollen doch Hilfe, oder?"
"Mir hilft doch sowieso keiner ... Die wollen mich anstecken."
"Anstecken? "
"Die Glatzköppe im Bahnhof. Die wolln mich verbrennen..."


Drei

Groschen kann er noch riskieren. Kurt steckt sie in den Schlitz des Rotamint, hält beide Fäuste vor das Sichtfenster und wartet gespannt auf das elektronische Gedudel. Gewonnen: dreimal die Krone - es rattert, es klackert, es klappt wie am Schnürchen.

"Aber...", sagte die Frau ins Telefon und spielt nervös mit ihrem Kugelschreiber. Aus dem Hörer quakt eine Männerstimme. Die Frau sieht zu Max heruber. Der hockt zusammengesunken auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
"Aber", sagt die Frau wieder. "Der Mann ist..."
Max langt nach dem Kaffee, den sie ihm eingegossen hat und verschüttet die Hälfte, als er trinken will.
Die Frau legt den Hörer auf. "Das war die Krisenhilfe. Kein Bett frei."
Max sieht sie an.
"Die Notaufnahme im Klinikum ist nicht zuständig, die Caritas hat zu..."
"Ich kann nich mehr", jammert Max. "Ich geh zurück zum Bahnhof!"
Er rappelt sich hoch. "Ich schmeiß mich vorn Zuch. Ich mach Schluß."
Die Frau wird ganz blaß. "Das konnen Sie doch nicht machen..."
"Ist doch egal, oder?"
"Aber ..."
"Was hab ich denn noch? Ich bin total kaputt. Ich hab'n kaputtes Bein, meine Leber is fertig von der Sauferei, ich hab keine Wohnung, ich hab doch gar nichts mehr."
"Ich könnte es ja mal bei der Polizei probieren. Oder werden Sie ..."
"Ich bin'n ehrlicher Mensch."
"Schon gut, ich glaub ihnen ja!"


Zwei

Gäste noch in der Spielhalle; Kurt schielt nervös auf die Uhr: na endlich - jetzt nur die Ruhe behalten. Der Opa hinter der Kasse blickt in den Lauf von Kurts King-Kobra-Spielzeug-Colt und kann gar nicht schnell genug die Taler ruberschieben.

"Na, wo ist denn der Kandidat?"
Max hat schon seinen zerfledderten Personalausweis rausgezogen. Der große Bulle blättert ihn kurz durch. Sein Kollege drückt sich am Fenster rum. Draußen schneit es jetzt. Die Frau steht am Schreibtisch.

"Und du willst also die große Biege machen, eh?"
Max zieht die Nase hoch. "Ach Scheiße", sagt er.
Der Kleine beugt sich zu ihm runter. "Wieviel hast du denn drin?"
"Eine Flasche, zwei Flaschen ... weiß nich ... Ich schmeiß mich vorn Zuch. Auffem Bahnhof. Gleis zwei."
"Wohnung haste auch nicht, was?"
"Ich hab gar nix mehr."

Der Kleine guckt den Großen an. Der zuckt mit den Schultern.
"Okay", meint er dann. "Notaufnahme Klinikum, ja?"
"Die stecken ihn erstmal in die Geschlossene." Der Große grinst die Frau an. "Damit er sich nichts antun kann." Er schaut runter zu Max. "Und dann kommst du auf Entzug, mein Freund. Willst du das wirklich?"
Max nickt stumpfsinnig. "Ich geh freiwillig innen Entzuch. Ich will nix mehr mit den Sachen zu tun haben."
"Na dann. Abmarsch!"

Im Fahrstuhl nehmen sie ihn in die Mitte.

"Und nicht, daß du im Klinikum Blödsinn machst, klar?"
Max schüttelt den Kopf. "Ich sach doch, ich brauch'n Arzt. Ehrlich."
"Hast Glück, daß der Ewald heut seinen Moralischen hat!"
"Sonst war das höchste der Gefühle fur dich ne S-Bahn-Karte nach Mülheim gewesen."
"Oder ne kleine Spazierfahrt im Streifenwagen!"


Eins

weiß Kurt genau, als er durchs Basement zur Rolltreppe rast: Er hat die Kohlen in der Tasche und das ist die Chance seines Lebens, das ist die Freifahrt nach oben.

Der Arzt guckt Max an, als würde er ihn am liebsten erst desinfizieren, bevor er ihn anfaßt. Max hockt auf einem Stuhl vorm Schreibtisch und muß sagen, wer er ist und warum er sich umbringen will. Dann liegt er auf der Liege und der Arzt fingert an ihm rum. "Unter drei Monaten läuft hier nichts, das sag ich Ihnen am besten gleich."

"Mir is alles egal."
"Na, dann kommen Sie mal."
Max schnappt seine Klamotten und trottet hinter dem Arzt her.
"Erst Entgiftung, dann Therapie und dann sehn wir weiter!" Der Arzt macht eine Tür auf. "Ihr Zimmer!"

Max geht rein. Leer. Nur eine Matratze lehnt an der Wand. "Morgen früh um sieben ist Untersuchung!" sagt der Arzt.
Max sagt nichts.
"Um sieben hab ich gesagt!"
"Jawoll!"

Der Arzt macht die Tür hinter sich zu. Innen ist keine Klinke.
Max haut sich aufs Bett und starrt auf das kleine Fenster unter der Decke. Die Schneeflocken tanzen vor dem Nachthimmel. Das wird schweinekalt heute Nacht.
Max fischt die Zigarette und das Streichholzbriefchen mit der Reisebüroreklame aus dem Jackenfutter. Max raucht und denkt an den Kurt.
Er jedenfalls hat's erstmal geschafft. Drei Monate, hat der Arzt gesagt. Im Frühjahr, wenn er hier wieder rauskommt, geht's ab in die Toskana.


Kalter Wind weht über den Bahnsteig. Der Expreßgutfahrer ist blaß, als er auf Kurts verdrehten Körper starrt, dann fummelt er an seinem Sprechfunkgerät.
"Ja, genau in die Karre gelaufen...", stammelt der Fahrer. "Gleis vier... nein, ich hab ihn voll erwischt. Der ist platt, total auf

Null."


aus: H.P. Karr & Walter Wehner: Berbersommer. Kriminalgeschichten aus der Großstadt. Essen: A4 Verlag GmbH 1992, S. 27 - 37.

A4 Verlag GmbH, Rüttenscheider Str. 137, 45130 Essen

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