Georg Eck

Großstadtvagabondage.

I.

Wenn man, aus dem Westen Deutschlands kommend, in Berlin Bleibe für die Nacht sucht, weist einen schon der Polizeibeamte in Halensee nach der Fröbelstraße. Zerschlagen und müde schleppt man sich durch die endlosen Straßen, und doch, so stumpf man auch ist, dieser Querschnitt vom Westen nach dem Nordosten enthüllt einem langsam das ganze Wesen der Stadt.

Berlin lebt. Ein Organismus, dessen Stoffwechsel ausgezeichnet funktioniert, dem es nicht darauf ankommt, daß einige nebensächliche Glieder verkümmern, verkommen, absterben, denn andere, reichere bilden sich neu und wachsen.

Im Villenviertel verhaltener Reichtum, überlegene Vornehmheit, das Gewissen mit Kunst und gutem Geschmack beruhigt. In den luxuriösen Geschäftsgegenden sinnlose, schreiende, schamlose Pracht, Gegenden, die fortwährend ihr Gesicht verändern, unermüdlich im Erfinden neuer raffinierter Arten der Verschwendung, dem Zeichen letzter Verantwortungslosigkeit vor allem, was Mensch heißt. In jenen grauen Vierteln aber, die seit Jahrzehnten einer zermürbten Masse dasselbe trostlose Antlitz zeigt, verändert sich nichts. Die Not hält die Zügel straff, sie gestattet keine freundliche Abwechslung, grau in grau wie das Bild der Straße ist das Leben ihrer Bewohner. Der Tod ist der einzige erlösende Wechsel.

Es ist Abend geworden. Am Alexanderplatz biege ich nach Norden ab. Die Prenzlauer Allee liegt fast leblos, von einer Kette spärlicher Lichter erhellt. Ich steige mühsam, von übermäßiger Wanderung erschöpft, die Straße bergan. Da plötzlich flammt in riesigen Leuchtbuchstaben ein Wort am Nachthimmel auf, über mageren Mietkasernen, halbzerfallenen Schuppen, Scheunen, Budiken, Kaschemmen leuchtet es strahlend: "Elysium".

Elysium, Gefilde der Glücklichen! Hier ist es der Name eines Kinos, gleißnerische Lockung geschickter Unternehmer; aber wer vermöchte in dieser Hölle ohne ein solches eingebildetes Himmelreich, ohne die Vortäuschung eines Glückes zu leben?

 Ich bin am Ziele. Hinter dem Kinopalast erhebt sich dunkel, von jenem verschönerden Lichtschein nicht mehr getroffen, das Asyl für Obdachlose, die Palme.

Augen, die gewohnt sind nach Steckbriefen zu vergleichen, mustern mich schaft. Beamte in weißen Kitteln notieren meine Personalien, untersuchen meine Papiere. Ich vermag mich kaum auf den Füßen zu halten. Endlich, endlich öffnet sich mir ein hoher, halbdunkler Schlafsaal, eine Luft, verbraucht und von dem Gestank beizender Desinfektionsmittel erfüllt, nimmt mir einen Augenblick den Atem, ich suche mir eine freie Pritsche und sinke hin.

 Mit geschlossenen Lidern fühle ich den Raum: kahl, trostlos, leer, eine Gefängniszelle müßte heimischer sein. Im Einschalfen höre ich das Schnarchen der anderen, einige singen, manche fluchen, neben mir wird eindringlich und leise eine Unterhaltung geführt.

Wirre Bilder der Großstadt springen mir durch den Kopf, von Autohupen zerrissen, dann wird es stumm. 

 II.

Am Morgen um 6 Uhr werden wir geweckt. Durch die kleinen Fenster hoch oben fällt der kalte fade Schein des Novembermorgens. Es gibt Suppe und ein Stück Brot, dann: "Nu aber raus."

Dann stehen wir, ein verschlafener, unentschlossener Haufen im kalten Morgenwind in der Fröbelstraße. Was weiter?

Ich bin mit der Absicht nach Berlin gekommen, zu arbeiten. Gleichgültig ws, Berlin ist groß, ich bin jung und zu manchen Dingen geschickt. Aber jetzt, da ich hier bin, merke ich, wie schwer es ist. Wer von diesen Männern möchte nicht arbeiten, tauschte nicht die elendeste Schlafstelle gegen diese Nächte in Herbergen und Asylen?

Nach Tagen unerhörtester Bemühungen, Tagen, an denen ich nichts anderes zu essen hatte, als morgens und abends die Schüssel Suppe im Asyl, nach unzähligen Niederlagen, nutzlos gelaufenen Wegen, Entmutigungen, Demütigungen, bin ich nun - Zeitungshändler. Mittags stehe ich mit der "B.Z." in der Jägerstraße, abends mit der "Vossischen Zeitung" am Primuspalast. Von 12 Uhr mittags bis 1 Uhr nachts macht 13 Stunden, ich erhalte dafür eine Mark fünfzig. Ich kann es mir leisten, für eine halbe Mark in der Heilsarmee zu schlafen und für fünfundzwanzig Pfennig in der Volksküche zu speisen. Wenn meine Einkünfte steigen, kann ich mir eine Schlafstelle mieten. Ich bin glücklich.

Heute, nach kaum vierzehn Tagen, hat man mir keine Zeitungen mehr gegeben, es war nur eine Aushilfsstellung. Jemand war erkrankt und ist nun wiedergekommen. Ich habe mir zwei Mark achtzig gespart.

Gertrud-Denkmal auf der Gertrauden-Brücke in Berlin III.

 Im Osten Berlins hat man auf einer Brücke der Heiligen Gertrud, der Schutzpatronin der Landsteicher, ein Standbild errichtet. Sie ist abgebildet, wie sie einem abgerissenen Kerl ein Stück Brot zusteckt, aber das ist eine Lüge, sie steckt niemandem etwas zu. Obwohl es ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß ihre Schutzbefohlenen etwas zu beißen haben und nicht erfrieren, funktioniert ihre vom himmlischen Vater eingerichtete Wohlfahrtsstelle ebenso wenig wie die des Magistrats. Es ist nichts mit Berlin.

Wie war der Vagabundensommer auf dem Lande herrlich! Beim Bauer gabs Arbeit, die Kleinstädter sind gutmütig; wie gut schläft es sich in den Feldscheunen oder im Korn. Die weißen Landstraßen, in deren warmen Staub es sich barfuß gut trabt, die kühlen Waldwege, die Teiche, in denen man badet.

Freichlich, es ist alles nichts gegen Arbeithaben, Geldverdienen, Menschsein. Wie würde ich arbeiten für Sattessen und ein sauberes Hemd, wie in schwarzer Bude schuften für einen Abend mit Freunden im Wirtshausgarten! Ich bin ein tüchtiger Schlosser und möchte arbeiten!

Georg Eck

(aus: Vorwärts, Berlin, 23.05.1925; Nr. 241)

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