Frei!?

Wie ein Blatt im Wind
so leicht und doch so schwer
so werden wir getrieben eine Gesellschaft
gibt's nicht mehr

Wir leben von der Straße
ein jeder für sich allein
man versucht etwas zu schnorren
ein paar Groschen bringt's wohl ein

Es gibt zwar Wärmestuben
die reichen auch nicht mehr
denn die freilebenden Menschen
werden immer mehr

JKD (Mitglied der RATTEN)

Dezember 1992. Die an Jeremy Wellers "Pest"-Projekt an der Volksbühne beteiligten Obdachlosen beschließen, weiter Theater zu machen. Nunmehr ihr eigenes. Sie suchen sich eine Spielstätte, einen Regisseur und nennen sich die "RATTEN". Ein Förderverein der "Freunde der Ratten e.V." gründet sich. die Volksbühne verpflichtet den Regisseur, sichert logistische Hilfe zu und übernimmt die Miete für den Keller in der Mulackstraße 22. der von nun an zu ihrem Unterschlupf wird zum Proben, Spielen. zeitweise auch zum Schlafen.

"Verpestet" heißt ihre erste gemeinsame Arbeit, eine szenische Collage mit Gedichten von Jürgen, der früher einmal als Schlachter gearbeitet hat, literarischen Texten und Szenen aus dem Leben der Beteiligten. Abseits vom Klischee grölender Trinker wird der Abend, begleitet von professionellen Schauspielern und Musikern, programmatisches Bekenntnis eines Neubeginns. Die Vorstellung wird zum Erfolg, bis Mitte März im stets ausverkauften Keller.

"Die Ratten auf dem Weg ins Zentrum" (TAZ), sind nun im Licht der Öffentlichkeit. Die Jahreszeit: Frühling. Fernsehen und Zeitungen, die Markte entdecken eine Lücke, das Geschäft mit den "RATTEN" floriert. Zur andauernden latenten und offenen Ablehnung gesellt sich jetzt als gefräßige Schwester die Vereinnahmung. Am Leben der Obdachlosen selbst ändert sich jedoch wenig bis nichts, keine Wohnung, kein Geld, oft nicht einmal für das Nötigste für den Tag.

Doch sie machen weiter. "Berlin 2000 - ein vermögenswirksamer Abend", so der Titel ihres neuen Projekts, zeigt ihre Sicht auf das, was Olympia ihnen zu bieten verspricht, ihnen als Vertreter der derzeit am stärksten prosperierenden Bevölkerungsgruppe der Stadt. "Berlin 2000" erzählt von neuer Ausbeutung, vom Umgang mit Fremden, von Ausgrenzungsstrategien - und das in rabiater, resoluter Mischung aus aggressiver Polemik und der Annäherung an Mythen, Muster und Motive aus der Literatur.

Ein Ladenlokal im Scheunenviertel wird zum Ort einer Photo-Ausstellung über das Projekt. "Pest - die freilebenden Menschen werden immer mehr". Sie dokumentiert den Weg einer Gruppe von Obdachlosen als dem alltäglichen Nichts über das Theaterspielen zur Selbsthilfe - mit Bildern vom Leben auf der Straße, vom Spielen auf und mit dem Theater, vom Ringen um Form, vom Sich-selber-Helfen. Am Gründonnerstag führen die "RATTEN" hier die Persiflage "Das Allerletzte Abendmahl" auf.

Das folgende Stück heißt "Mulackei - Robinsonaden eines schwarzen Freitags" und erzählt vom Gestrandet-Sein, von den ewigen Reisen der Fremden, Verbannten und Flüchtlinge; mit den Obdachlosen als Robinsons der Gegenwart. Die australische Schauspielerin Anna Scheer, die gemeinsam mit dem Regisseur Roland Brus das "RATTEN"-Projekt leitet, führt zu Beginn den Zug der Besucher, gleich einer Fremdenführerin, begleitet von jiddischen Melodien von Station zu Station durch die Mulackstraße. Die RATTEN tauchen auf: aus Müllcontainern und Baumwipfeln, aus Hinterhöfen und Kneipenfenstern, als eckenstehende Huten und Streichholzmädchen... und Würstchenverkäufer. Bis irgendeine Ordnungsmacht schlagstockschwingend die Straße räumt und die Theater-Touristen in den Keller treibt. So wird das Viertel um die Mulackstraße, in den Zehner und Zwanziger Jahren Zufluchtsort der ostjüdischen Immigranten, aber auch für Ganoven, Zuhälter, Künstler, Anarchisten und Spieler, zum Ausgangspunkt einer Geschichte um Heimat- und Ortlosigkeit heute; und über Theater als Ort flüchtig aufscheinender Identität.

Nach Auftritten in Kiezläden und Suppenküchen gastieren die RATTEN im Juni 1993 gleich mit zwei Produktionen erfolgreich beim Internationalen Theatertreffen in Freiburg; die Einladung zum Fringe Festival nach Edinburgh müssen sie ausschlagen. Der Erfolg ist da. Die Zerreißprobe für alle Beteiligten bleibt. Die finanziellen Mittel (vom Senat für Kulturelle Angelegenheiten, Kulturamt und einigen Stiftungen) ermöglichen zwar die Realisierung der verschiedenen Projekte, doch noch immer leben die Obdachlosen unter dem Existenzminimum. Auch die Widersprüche bleiben - jene, die ihnen auf der Bühne zujubelten, gehen danach schnell wieder achtlos an ihnen vorbei; fast alle selbsternannten Gönner der ersten Stunde haben die vollmundigen Hilfebekundungen stillschweigend und schnell wieder vergessen. Obdachlose als "Kunst" - aber immer: wirkliches Elend, echter Schrecken - lieber nicht.

Noch immer fehlen aber auch die Kriterien für das, was auf der Bühne geschieht Zu privat? Zu poetisch? Zu naiv? Zu intellektuell? Authentisch oder verklärt, Kunst oder Leben - der klassische Antagonismus, an den sich die Kritik wie an Rettungsbojen in schwerer See klammen, haben die RATTEN in ihrer Auseinandersetzung mit Theater, Wirklichkeit und der Welt dazwischen derweil längst verabschiedet.

Im September 1993 erarbeiten die RATTEN nun auf Einladung der Volksbühne ein neues Stück. Inspiriert von Motiven aus "Warten auf Godot" wird es "Klammer auf Klammer zu" heißen und "zum wesentlichsten und nachhaltigsten Bestandteil der Beckett Late Nights" (NDR). Inszeniert wird Becketts Klassiker der Moderne in der Untermaschinerie der Volksbühne; gleich sieben der Landstreicher und traurigen Clowns Wladimir und Estragon sitzen dort auf der Bank im Wartestand. Wie bereits im "Faust"-Kondensat als Teil der "Mulackei", vollzieht sich auch hier die Anverwandlung der Figur durch die Spieler. Die Obdachlosen werden identisch mit dem Stoff und der Stoff mit ihnen. "Als einziger Teil des Abends ist dieser der RATTEN keine Flucht aus dem, sondern eine in das Leben. Hier geht es ganz nicht nur mehr (...) um das Künstliche an der Kunst, sondern schlicht und eben ganz mit Beckett ums Essen und Übernachten, ums Schlagen und Geschlagenwerden, ums Leben und Überleben." (NDR).

Geprobt wird in der S-Bahn, auf den Stationen, in Cafes. Ohne Kostüme, einstudierter Beckett-Text, offen für Improvisationen, das Inszenierte unkenntlich für Außenstehende; Tradition des "Unsichtbaren Theaters" von August Boal. Wie sich an diesen Orten die Bedeutung des Wartens und Gehens verwandelt und zugleich die Orte selbst. Die Passagiere werden Zuhörer und Teilhaber, weniger eines Stückes als eines merkwürdigen Gespräches über die Bibel, über Träume, Erlösung und Selbstmord und Fragen des praktischen Lebens. Manchmal, beiläufig angesprochen, werden sie gar Mitwirkende, Mitspielende. "Darf man fragen, wo der Herr die Nacht verbracht hat?" ... "Ich freue mich, Dich wiederzusehen, ich dacht schon, Du wärst weg für immer" ~ Der aussteigende Fahrgast, der bei den Worten "Heute Nacht schlafen wir vielleicht im Warmen, im Trockenen, da lohnt es sich doch zu warten" wieder einsteigt und Platz nimmt oder der Fremde, der im S-Bahn-Wagen mit einem der Wladimis Walzer tanzt ... Realität, die Theater wird, Theater, das keines mehr ist...

Herbst. Die Lesung "Wie ein Blatt im Wind..." entsteht. Mitglieder der Gruppe lesen ihre eigenen Gedichte. Inzwischen schreibt fast jeder der RATTEN; ein Jahr nach Beginn des Projektes ist das Schreiben wie das Spielen ein Lebensinhalt geworden. Vorgestellt werden die Texte zusammen mit merkwürdigen Zeitungsmeldungen. irrwitzigen Rechnungen, Aussprüchen von Politikern aus den Jahren 1933 bis 1993. Der Abend gleicht so einem Kaleidoskop, in dem sich Privates und Allgemeines prismatisch brechen. Der ersten Veranstaltung am Berliner Ensemble folgt ein Auftritt in der Evangelischen Akademie Berlin Brandenburg und viele weitere Einladungen.

Die Photo-Ausstellung "Pest - die freilebenden Menschen werden immer mehr" wird bei den Deutschen Wochen im Baltikum in Kaunas, Litauen, gezeigt.

Dezember 1993. Die RATTEN erarbeiten wieder ein neues Stück. Auf dem Weg zur Eigenständigkeit führt zum ersten Mal einer von ihnen Regie. "Dem Leben verbunden" erzählt die Geschichte Rudolfs, eines gefeuerten Bühnenarbeiters und seine Verwicklung in eine Reise. Eine Reise in Träumen, fiktiven Begegnungen, in denen sich Gelebtes und Aufgelesenes vermischen und das Theater zum Ort wird zwischen Markt und Märchen, Alltag und Alp. Der Herausgeber der französischen Obdachlosenzeitung "Le Reverbere", George Mathis, kommt nach Berlin, sucht Eingang in die Szene, um in Berlin ein solches Projekt zu gründen. Die RATTEN vermitteln und helfen im Februar 1994 durch ihren Beitritt bei der Gründung des Fördervereins "HAZ", Hunnis Allgemeiner Zeitung, der ersten Obdachlosenzeitung in Berlin, für die sie auch schreiben, die für sie ein weiteres Forum wird.

Die Senatsverwaltung für Soziales erklärt, daß es sich bei den RATTEN um ein kulturelles Projekt handelt, da man ja Theater spiele. Die Senatsverwaltung für Kultur verweist die RATTEN wiederum an Soziales. Beide Stellen sehen sich außerstande, die RATTEN zu fördern. Das bürgerliche Feuilleton hingegen schmückt sich mit Gedichten der RATTEN. Und die Volksbühne, das Theater des Jahres, verpflichtet vier RATTEN. Sysiphus wandelt in Marthalers "Sturm"-lnszenierung über die Bühne - die Presse hält ihn für Shakespeare oder einen Geist - während Hunni, JKD. und Andy in Castorfs "Frau vom Meer" als Fremde Einzug in die bürgerliche Welt Elida Wrangels halten. Sie alle erhalten nun Verträge - das heißt Anerkennung für das Geleistete, aber vor allem soziale Absicherung für ein paar Monate.

Hunni und Andy beziehen jeweils eine Wohnung. Jetzt wird das Arbeiten schwieriger. Proben und Vorstellungen sind zu koordinieren, aber auch die Frage der Zugehörigkeit stellt sich nun für einige der Beteiligten. Obdachloser oder Seßhafter, Angestellter oder Künstler, RATTE oder gar Volksbühnen-Star? - Das neue Stück der RATTEN thematisiert genau diesen Konflikt. Was ist mein Ort? Wie will und wie kann ich leben? Die theatralische Versuchsanordnung sieht diesmal gleich fünf Professionelle vor, die sich den Laien stellen und umgekehrt.

Da der Keller in der Mulackstraße 22, der den RATTEN zur Bleibe wurde, ihnen als Spielstätte nicht mehr zur Verfügung steht, findet die Uraufführung von "Aus dem Alltag einer Malerin" von Johannes Breu, einem jungen Berliner Dramatiker, im April im ausverkauften Kesselhaus der KulturBrauerei statt.

Das Stück spielt auf einem Hinterhof im Deutschland der Nachwendeära. Kunstfiguren, eine Malerin, ein Dichter, ein Schauspieler, ein Intellektueller und eine Gruppe von arbeits- und orientierungslos gewordenen Gestalten leben hier zusammen. Der Hinterhof - eine Art Staatswesen, das die verlorenen Familienbeziehungen ersetzt - wird zusammengehalten durch einen Dealer, der sie alle, Vaterfigur und Machthaber in einem, umsorgt, behütet und beherrscht. Anstalt, Gefängnis und Ghetto ist dieser Ort, und so oft auch von der "neuen Zeit - Halleluja" die Rede ist: "Zukunft findet nicht mehr statt. Breus szenische Skizze hat den Rubikon der Hoffnungslosigkeit längst überschritten." (Tagesspiegel) "Das Ungeheuerliche, weil Unberechenbare dieser Produktion", die Obdachlose und Seßhafte, Laien und Professionelle, Freunde und Einheimische zusammengebracht hat, Iiegt" Wechselbad in komischen und peinlichen, spannungsvollen und disziplinlosen Momenten, in verpatzten Textstellen, im improvisierten und eingeübten Spiel", den "überall lauernden Konfrontationen und Visionen". Wenn in der Inszenierung sichtbar gemacht, "ist dieses einmalige Wagnis zwischen Kunst, Kunstleben, Lebenskunst und Leben nicht nur wichtig, sondern groß." (Süddeutsche Zeitung)

Es folgen zahlreiche Gastspiel-Einladungen, die sich, teils überschneidend, die RATTEN gar nicht alle annehmen können. Da die professionellen Schauspieler neue Verpflichtungen haben, kann "Aus dem Alltag einer Malerin" nicht mit auf Tournee gehen. Mit "Klammer auf Klammer zu" reisen die RATTEN im September 1994 nach Karlsruhe, wo im Zuge der Inszenierung zum ersten Mal eine Diskussion zum Thema "Politisch engagierte Kunst - Soziale Integration" mit Kulturschaffenden, Kritikern, Soziologen, Politikern und Betroffenen das Spektrum des Projektes beleuchtet und die der Südwestfunk aufzeichnet.

Auf Einladung von "Le Reverbere" zeigt man die Beckett-Adaption in Paris, wo man bereits angefangen hat, nach dem Vorbild der RATTEN ein ähnliches Projekt zu gründen. Ebenso in Finnland, nachdem Roland Brus im Sommer beim Internationalen Theatertreffen in Tampere die Arbeit der RATTEN vorstellte. Kurz darauf stellt eine Anfrage vom Goethe-lnstitut ein Finnland-Gastspiel im Februar 1995 in Aussicht.

Höhepunkt bislang ist die Einladung zum Internationalen Theaterfestival nach Parma/ ltalien, bei dem die RATTEN im Mittelpunkt des Interesses stehen und - nicht ohne nun die eine oder andere kleine Passage auf Italienisch einzustreuen - erfolgreich gastieren. Die meisten RATTEN sind zum ersten Mal in Frankreich und Italien.

So großartig dies für den Einzelnen ist, so eindringlich die Dynamik des Projektes, so sehr "der Ruhm wächst" (Tagesspiegel): und noch immer leben alle beteiligten RATTEN unter dem Existenzminimum, noch immer ist für dieses in Deutschland einzigartige Projekt keine finanzielle Hilfe für die Zukunft in Sicht.

Gerade vor dem Hintergrund einer ersten Adaption des Projektes auf europäischer Ebene und dem sowohl künstlerischen als auch sozialen Erfolg der RATTEN ist es hochgradig zynisch, daß dieses Projekt kaum - bis auf die Volksbühne - öffentliche Unterstützung erfährt und, wie es in diesem Moment scheint, im Frühjahr 1995 aufgrund der finanziellen Situation eingestellt werden muß. Die Menschen, die im Theater einen Ort der eigenen Wertfindung und eine Heimat abseits der Gewalt der Straße, des Gefängnisses und der Psychiatrie gefunden haben, werden dann dorthin zurückgehen, von wo sie gekommen sind.

Doch bis auf weiteres arbeiten die RATTEN weiter.

Im Januar 1995 entsteht "Weiße Götter", erneut eine Aktion in der Tradition des 'Unsichtbaren Theaters'. Mit weißen Kitteln bekleidet, ziehen die RATTEN in die Charite. In 3er und 4er Gruppen passieren sie die Pforte und mischen sich unter die Besucher der Krankenhaus-Cafeteria. Die 'falschen' Ärzte sitzen an verschiedenen Tischen und manchmal steht jemand auf, um sich mit Kollegen über Operationen, 'Schönheitsfehler'. Krankheitsberichte und den neuesten Stand der Forschung zu verständigen. Zwei RATTEN, Gunter und Jumbo, sind in 'zivil' und nehmen die Reaktionen der Besucher auf. "Da stimmt doch was nicht" - "Ja, ein bißchen komisch war der Arzt", oder "So viele habe ich noch nie gesehen. Ist ja wie 'ne Mafia". Eine alte Dame entsetzt: "Jetzt sind schon die Punker unter den Doktors". Zwei Frauen schlingen ihre Eisbecher innerhalb von kürzester Zeit hinunter, da sie ihre Plätze der "Tagung" opfern wollen.

Plötzlich 'erleidet' Gunter einen Schwächeanfall. Jürgen, der gelernte Schlachter, reißt ihm das Hemd auf und beginnt eine Herzrhythmus-Massage. Schwester Yvon eilt zum Tresen, Wasser holen. Einige der RATTEN leisten spontan Hilfe. Andere begutachten gelassen die Maßnahme. Sysiphus: "Ich war Sanitätsfeldwebel in Stalingrad. Alles schon dagewesen". Der Notfall muß auf dem Flur weiterbehandelt werden, die Besucher halten die Türen auf: Selbst die 'echten' Ärzte grüßen, die RATTEN nicken zurück. Auf der Suche nach der angemessenen Station für den Patienten benutzen die RATTEN die Fahrstühle der Charité. Rolfi fällt das Hackmesser aus der Tasche, Mex verschüttet seinen Kaffee, die anderen Aufzugbenutzer sind sichtlich verwirrt. Auf Station 5, 7 und 8 dasselbe Spiel. Die Ärzte grüßen, die RATTEN nicken zurück. Das Gebäude verlassen die RATTEN ohne Aufsehen.

Wenige Tage später stellen die RATTEN in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee ein eigens für die Insassen inszenierten Abend vor mit dem Titel: "Ratten sägen im Knast". Eine Collage aus eigenen Gedichten, Texten, Meldungen, Songs Slapstik und poetischen Szenen. In dem überfüllten, vergitterten Raum zwischen Gefängnisleiter und Aufsichtspersonal erfahren Spiel und Texte eine neue Bedeutung. Die "Richtlinien des Reichspropagandaministeriums zur Bekämpfung des Bettlerunwesens", das ähnlich lautende Zitat des Innensenators Heckelmann, oder Rolfis Zeilen: "Manchmal sage ich, am liebsten würd' ich wieder ganz von vorne anfangen,/ irgendwo/ um dann wieder dieselben Fehler zu machen/ die mich wieder dahin bringen zu sagen:/ Am liebsten würd' ich wieder ganz von vorne anfangen/ irgendwo".- Viele der Häftlinge beschließen, eine eigene Theatergruppe zu gründen. Der Gedanke, ähnliche Projekte zu initiieren und einen Anfang zu setzen, war erfolgreich.

Am 9. März 1995 haben die RATTEN im 3. Stock der Volksbühne Premiere mit "Woyzeck Bin ich ein Mensch?" von Georg Büchner. Es ist erneut eine Zusammenarbeit mit professionellen Schauspielern. Mit Büchners Drama findet sich wieder ein Stoff, der von den Beteiligten spricht, von den "Geringsten", "der in seiner Zerrissenheit und Offenheit, Un-logik dem Lebensfaden der 'Ratten'wahlverwandt" (Bonnet) ist. Woyzeck war ein Nicht-Seßhafter: lange, rezessionsbedingte Arbeitslosigkeit, durch Arbeitssuche bedingte Mobilität und damit wechselnde Frauenbeziehungen, depressive Schübe und Alkoholismus kennzeichnen sein Leben. "Woyzeck sind viele" ist das Motto des Abends. 7 Ratten sind 7 mögliche Facetten, 7 Zwerge vor Marie, 7 aufscheinende, aber nie ausgelebte Schichten der Persönlichkeit Woyzecks, die von der Schizophrenie der tragischen Figur erzählen und der Mann/Frau-Beziehung auf der Schattenseite des Systems. "Woyzeck ist immer Übermacht, Masse, Druckmittel, Hauptmann, Doktor und Marie treibt eine beinah masochistische, pervertierte Lust an, von diesem Woyzeck-massiv erdrückt oder massakiert zu werden. Und doch erzählt der Abend von der abgesagten Apokalypse und der Aussichtslosigkeit der Aufstände, von der Perversion und Deformation der scheinbar Dazugehörenden und der Normalität der ach so Ausgegrenzten... Woyzeck ist die bedeutendste und weitestgehende Arbeit der Gruppe: klar und genau, leicht und verzweifelt und ungeheuer komisch, professionell und trotzdem immer unberechenbar" (Süddeutsche Zeitung). Zur Aufführung erscheint ein Programm, herausgegeben von der RATTEN-ERSATZKASSE. Das Heft erinnert an die alten Krankenscheine. Es dokumentiert unter anderem den Probenprozeß, die Gefährdungen des einzelnen und der Gruppe, Krisen und Glücksmomente im täglichen Miteinander und Wachsen der Arbeit. Manche Presseleute zitieren daraus genüßlich nach dem Motto: 'Was sie schon immer über die Ratten wissen wollten". Über die Aufführung haben sie wenig zu sagen.

Am 18. März Übernahme des Förderpreises für Darstellende Kunst des Kunstpreises Berlin 1995, verliehen durch die Akademie der Künste. Walter Jens überreicht den RATTEN Rosen. Jedem eine. Und Hunni antwortet auf den Festvortrag eines berühmten Architekten mit einer kurzen Rede über das ästhetische Bedürfnis von Obdachlosen: "Wir unter den Brücken haben ja auch so unsere Wünsche... Ein paar Schnörkel und Verzierungen sollte man bei der Stadtplanung schon berücksichtigen." In der Begründung heißt es, die Jury will "den Ansatz und die Arbeit der Gruppe auszeichnen und in ihrer Wichtigkeit weiter publik machen - und zu einer Förderung des Projektes aus öffentlichen Mitteln auffordern". Zugleich wird der Volksbühne für die Übernahme der Patenschaft Anerkennung ausgesprochen.

Der Senator Ulrich Roloff-Momin gratuliert schriftlich Regisseur und RATTEN: "Ich sehe dies als verdiente Anerkennung für Ihre ausgezeichnete Arbeit... die eine einzigartige Aufgabe in der Berliner Theaterlandschaft erfüllt".

30. März 1995: Die Ausstellung "ÜBER LEBEN SPlELEN" zeigt Arbeiten der renommierten Fotografin Ute Mahler in der Galerie Alte Schlosserei der KulturBrauerei und dokumentiert - zusammen mit einer Toninstallation - den Weg des RATTEN-Projekts - von der Suppenküche über die Mulackstraße, Paris bis hin zur Preisverleihung. Die scheinbare Authentizität des Mediums Fotografie trifft hier die scheinbare Authentizitat der RATTEN auf der Bühne. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, u.a. mit Gedichten und Texten der RATTEN sowie Beiträgen von Carl Hegemann, Chef-Dramaturg Schauspielhaus Bochum, Mathias Pees, Freier Joumalist, und Anne-Marie Bonnet, Kunsthistorikerin, Universität Leipzig.

"Sprechstunde zur Lage der Nation" heißt kurz darauf die am Ausstellungsort folgende Performence und 'lebendige Installation' der RATTEN. Unter dem Motto: "Individuelle Lebensberatung und -planung, soziale Absicherungsmaßnahmen und vernünftige Finanzierungsrahmen gehören erst seit jüngstem zum Angebot der Gruppe" halten die RATTEN Anfang April Sprechstunde. Die beteiligten Obdachlosen sitzen wie Sachbearbeiter, Bewährungshelfer, Therapeuten oder Kommunalpolitiker an Schreibtischen. Einzeln nehmen die Besucher an den Tischen Platz und füllen zunächst den von den RATTEN angefertigten Fragebogen aus. Verlauf und Dauer der sich entwickelnden Gespräche entstehen aus der Situation heraus, in jedem Moment und bei jedem Fall neu, sind weder gelenkt noch vorherbestimmbar. Die Grenzen zwischen Spiel und Ernst, 'Dichtung und Wahrheit', Theater und Realität werden ununterscheidbar, fließend.

Am 2. April erliegt Wolfgang Sisyphus Graubarth, das älteste Mitglied einem fünfwöchigem Koma im Alter von 68 Jahren. Der Vagabund mit festem Wohnsitz, Darsteller, Erzähler und Dichter mit einer bedeutenden Biographie, war für die Gruppe bedeutend.

Mai 1995: Gastspiel von "Woyzeck Bin ich ein Mensch?" beim lnternationalen Theaterfestival in Meiningen. Zuschauer und Presse sind begeistert: "Meiningen Classic" ist um eine Erfahrung reicher. Die Klassik beginnt nicht im Theater, sondern auf der Straße... Und nicht nur im Halbdunkel betrachtet, ist dieser Woyzeck erheblich erd- und himmelsnäher als jeder, dem der Dreck nie bis zum Halse stand, bevor er zur klassischen Figur wurde." (Freies Wort, 10.5.1995) Eine Podiumsdiskussion mit August Everding, dem Literaturprofessor Rother, Fritz Bennewitz und anderen Regisseuren sowie den RATTEN über den 'Umgang mit Klassik heute' zeigt die Differenz zwischen bildungsbürgerlichem Bezugsrahmen, einem zur Hohlform geronnenen humanistischen Anspruch, tradierten Vorstellungen vom Theater und der Wirklichkeit des RATTEN-Projekts.

Zur Zeit erarbeiten die RATTEN eine neue Inszenierung für die Eröffnung des Praters.

Für September/ Oktober 1995 sind Gastspiele von "Woyzeck Bin ich ein Mensch?" in Schwerin, Karlsruhe und beim Hofer Herbst geplant.

RATTEN, im Mai 1995
Roland Brus

Solidarische Hinweise

Countdown

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