Der Wert der Tradition - Foto: Stefan SchneiderSt. Petersburg ist eine der schönsten Städte der Welt und mit seinen vier Millionen Einwohnern zugleich die nördlichste Millionenstadt. Die einzigartige Architektur, die Petersburg auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes brachte, zieht jährlich hunderttausende Touristen in die Stadt. Die Petersburger Stadtoberen verfolgen mit viel Ehrgeiz und einem gewaltigen Bauprogramm das Ziel, die „nördliche Hauptstadt“ Russlands in den exklusiven Kreis der globalisierten Städte zu führen. Eine große Sonne erzeugt einen breiten Schatten: Wohnraum ist knapp und, weil die meisten Wohnungen in den 90er Jahren privatisiert worden sind, unfassbar teuer. Das ist eine der Ursachen dafür, dass in Petersburg nach seriösen Schätzungen etwa 55.000 Obdachlose leben, davon etwa 8.000 direkt auf der Straße. Zum Vergleich: In Berlin mit einer Bevölkerung von 3,5 Millionen leben „nur“ etwa 10.000 Obdachlose.

Der Nachtbus - Foto: Stefan SchneiderJohan begleitet uns zum Petersburger Obdachlosenprojekt Notschleshka (Nachtasyl), wo der junge Hamburger ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Auf der Straße tritt ein schmaler Mann auf ihn zu und zeigt ihm stolz einen neuen roten Paß. Johan freut sich: „Die Obdachlosen kennen mich inzwischen“, und er fügt hinzu: “Mit dem Paß hat sich wieder ein Obdachloser in einen Bürger verwandelt“.

Notschleshka ist die erste und älteste Petersburger Obdachlosenhilfe. Das Projekt wurde 1990 von Menschenrechtsaktivisten gegründet. Ziel war es, Obdachlosen eine Propiska, eine Aufenthaltserlaubnis für Petersburg, zu verschaffen. Eine Propiska war und ist in Russland Voraussetzung für die Wahrnehmung der Bürger- und Menschenrechte, einen Paß und den Zugang zu Sozialleistungen. Die von Notschleshka entwickelte und bisher von 17.000 Personen in Anspruch genommene provisorische Registrierung wird inzwischen auch von den Petersburger Behörden anerkannt. Die Stadt hat 1998 nachgezogen und eine eigene Registrierungsstelle für Obdachlose eingerichtet, die aber im Gegensatz zu Notschleshka nur für ehemalige Petersburger Bürger neue Papiere ausfertigt.

Standort für das Winterzelt - Foto: Stefan SchneiderNotschleshka hat als erste Organisation im Russland der Nach-Perestroika-Zeit die Bürgerrechte von Obdachlosen in die politische Debatte gebracht. Damit leistete der Verein ebenso Pionierarbeit wie mit der Entwicklung einer Basisversorgung für die Befriedigung der Grundbedürfnisse, nämlich Schlafen, Essen, ärztliche Hilfe, soziale und Rechtsberatung. Außerdem gibt der Verein seit 1994 die erste (und momentan einzige) russische Straßenzeitung heraus. Das Blatt begann unter dem Titel Na dne (Ganz unten) und heißt jetzt Putj domoj (Der Weg nach Hause).

Seit etwa einem Jahr nutzt Notschleshka ein Haus in der Borovaja ulica in einem Wohn- und Industriebezirk am südlichen Rand des Petersburger Zentrums. Hier befinden sich die Angebote an einem Ort: die Beratungsbüros, eine Küche, die Kleiderkammer und ein Wohnprojekt (prijut), wo 40 Männer und 10 Frauen für drei Monate unterkommen können, wenn sie bereit sind, mit dem Sozialarbeiter eine Art Reintegrationsvertrag abzuschließen. Eine Notübernachtung betreibt Notschleshka nur in den Wintermonaten. Seit 2007 wird im Hof ein beheizbares 50-Personen-Zelt aufgestellt, das im letzten Winter oft überfüllt war. Die ÜbernachterInnen erhalten zwei warme Mahlzeiten, können Kontakt zu einem Sozialarbeiter aufnehmen und sich im Arztcontainer des Malteser Hilfsdienstes, der ebenfalls im Hof von  Notschleshka steht, medizinisch behandeln lassen.Das Strassenmagazin - Foto: Stefan Schneider

In der Ausgabestelle des Straßenmagazins Putj domoj treffen wir die Psychologin Jelena. Leider, so erzählt sie uns, erscheint das Blatt momentan nur alle zwei Monate mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren. Nur zehn Personen verkaufen das Magazin regelmäßig; es sei in der Boomtown Petersburg auch für Obdachlose momentan relativ einfach, eine Arbeit zu finden, die nicht so mühsam sei wie das Verkaufen des Straßenmagazins.

Am Nachtbus (es ist hell: Die berühmten Weissen Nächte) - Foto: Kerstin HerbstInzwischen hat Johan Suppe und Tee in große Thermosbehälter gefüllt, um die beiden „Nachtbusse“ von Notschleshka für die allabendlichen Touren vorzubereiten. Der Nachtbus, erläutert uns Andrej, der Koordinator, ist eine für Petersburg einzigartige Form der aufsuchenden Sozialarbeit. Die wenigen Projekte der Basisversorgung für Obdachlose befinden sich in den zentralen Bezirken der Stadt. Viele Obdachlose können jedoch das Fahrgeld nicht aufbringen oder kennen die existierenden Angebote überhaupt nicht. Deshalb befahren die beiden Nachtbusse an jedem Werktag von 19 bis 24 Uhr je eine Nord- und eine Südroute in den Außenbezirken der Stadt. An festen Haltepunkten geben Freiwillige Suppe, Tee und Brot aus. Auf jedem Bus fährt ein Sozialarbeiter mit, der als Ansprechpartner zur Verfügung steht, Übernachtungsplätze vermittelt und Arztbesuche organisiert. Eine Krankenschwester leistet Erste Hilfe und wechselt Verbände. An den Bussen kann man auch Kleidung erhalten. Für viele Obdachlose, sagt Andrej, ist die Suppe vom Nachtbus die einzige warme Mahlzeit des Tages. „Mit beiden Bussen versorgen wir jeden Tag 1.000 Obdachlose, Straßenkinder und Arme. Ihre Zahl wächst ständig“.

Auf Augenhöhe - Foto: Kerstin HerbstOffene Armut und Obdachlosigkeit sind aus dem Petersburger Stadtbild und aus der Metro – noch vor 15 Jahren Schlaf- und Handelsplatz der Ärmsten - völlig verschwunden. Anders als in den krisenhaften 90er Jahren wirkt Petersburg im Juni 2008 klinisch rein. Mit der Ex-Präsident Putin zugeschriebenen politischen Stabilisierung und dem Wirtschaftsaufschwung durch die Gewinne aus dem Öl- und Gasgeschäft begann auch in Russland die soziale Säuberung der Metropolen. In Moskau und Petersburg verbringt die Miliz die Obdachlosen regelmäßig an die Stadtränder, insbesondere vor internationalen Großereignissen. Maxim, Sozialarbeiter auf dem Nachtbus, berichtet, dass das Verhältnis der Petersburger Miliz zu den Obdachlosen einen zynischen Doppelcharakter trage: wenn es darum ginge, z.B. Tote zu bergen, heuern Milizionäre gerne Obdachlose an.

Maxim schätzt auch ein, dass die Petersburger Stadtpolitik nach wie vor leugnet, dass es überhaupt Obdachlose gibt. Immerhin hat die es die Stadtverwaltung geschafft, in jedem der 18 Bezirke eine Notübernachtung einzurichten, insgesamt jedoch nur 250 Plätze. Qualifizierte sozialarbeiterische Angebote werden ausschließlich von NGO bereitgestellt und, wie im Falle von Notschleshka, überwiegend von ausländischen Partnern, der EU und der spendenden Petersburger Bevölkerung finanziert.

Unauffällig im Park - Foto: Stefan SchneiderVor allem fehlt es in Petersburg an einer Strategie, die an den strukturellen Ursachen von Obdachlosigkeit ansetzt, als da sind: lange Gefängnisstrafen, in deren Folge die Gefangenen Wohnung und Propiska verlieren (Russland liegt mit 700 Strafgefangenen pro 100.000 Einwohner an der Spitze der weltweiten Gefangenenstatistik; der weltweite Schnitt beträgt 50 / 100.000), Wohnungsverluste während der ungeregelten Privatisierungen der 90er Jahre, und nicht zuletzt die Binnenmigration. In den 90er Jahren kamen viele Menschen aus der russischen Provinz in der Hoffnung auf Arbeit nach Petersburg – und scheiterten. Inzwischen gibt es zwar Arbeit, aber die Mietpreise sind explodiert, so dass es viele Erwerbstätige gibt, deren Lohn nicht einmal für ein Untermietzimmer reicht und die sich ohne ein Dach über dem Kopf durchschlagen.

Kerstin Herbst


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