Internationales Symposium „Obdachlosigkeit in Japan und Deutschland“ – Hilfe und Bürgerengagement gefordert

Das internationale Symposium „Obdachlosigkeit in Japan und Deutschland“ (Veranstalter: Ôsaka City University Urban Research Plaza Committee, JDZB und Goethe-Institut Ôsaka, mit Unterstützung der Yomiuri Shimbun) fand am 4. März 2006 auf dem Sugimoto Campus der Ôsaka City University statt. An der morgendlichen Expertenkonferenz und der Podiumsdiskussion am Nachmittag nahmen insgesamt etwa 450 Personen teil. Es fand ein gründlicher Meinungsaustausch zum Wesen der Unterstützung Obdachloser und zum Problembewusstsein der Bürger in dieser Frage statt. Hier ein kurzer Überblick über die Veranstaltung mit Schwerpunkt auf der Podiumsdiskussion.

Grundsatzreferate

Dr. Stefan Christian Schneider (Gründer des Vereins „mob – obdachlose machen mobil e.V.“): „Wohnungslosigkeit in Deutschland: Einige Bemerkungen zur gegenwärtigen Situation, zu den Hilfsangeboten und zu aktuellen Problemen und Aufgaben“
Ich leite in Berlin ein Selbsthilfeprojekt wohnungsloser Menschen und kümmere mich um eine Straßenzeitung, temporäre Übernachtungsmöglichkeiten, Tagestreffpunkte, Einrichtungshilfen sowie um den Bau von Wohnungen.
Die ersten Jahren des Prozesses der Vereinigung Deutschlands 1990 haben zu einer dramatischen Zunahme von Wohnungsnot und der Zahl der Obdachlosen geführt. Das hat sich zwar abgeschwächt, aber mehr als fünf Millionen Menschen sind ohne Arbeit. Durch die Globalisierung sind die traditionellen Systeme und sozialen Beziehungen in eine Krise geraten. Die Destabilisierung reicht bis in die Mittelschichten, und so nimmt auch das Risiko des Wohnungsverlusts zu.
Nach einer Definition des Deutschen Städtetags von 1987 zählen nicht nur Menschen, die auf der Straße leben, zu den Obdachlosen, sondern u.a. auch solche, die bei Verwandten oder Freunden wohnen oder die in diversen Einrichtungen oder billigen Hotels untergebracht sind.
Es gibt vier Strategien gegen die Obdachlosigkeit:

  • Erstens die private Hilfe. Sie ändert nichts an der Obdachlosigkeit, stellt aber einen Beitrag zum Überleben dar.
  • Zweitens die Unterbringung in Heimen. Die Kommunen sind gesetzlich verpflichtet, für entsprechende Übernachtungsmöglichkeiten zu sorgen. Allerdings werden sie von vielen abgelehnt, weil es sich um ein erzwungenes Zusammenleben auf niedrigem Niveau handelt.
  • Drittens die öffentliche Unterstützung auf der Grundlage der Sozialgesetzgebung. In diesem Zusammenhang gibt es gleichwohl viele, die auf die Straße zurückkehren, weil sie die Preisgabe persönlicher Informationen verweigern.
  • Viertens die Ausgrenzung und Vertreibung mit gesetzlichen Mitteln. So gibt es Bestimmungen, die den Alkoholkonsum an öffentlichen Plätzen verbieten oder auch solche, nach denen private Betreiber [öffentlicher Plätze] Betteln und Schlafen am Ort untersagen können.

In der Zeit von 1989 bis 2005 gab es mindestens 143 Todesfälle durch gewaltsame Interventionen oder Angriffe.
Wir leben in einer gefühlskalten Zeit. Die ablehnende Haltung gegenüber Obdachlosen wird immer stärker, für viele Bürger sind sie einfach „unangenehm“ und „selbst schuld“. Die Obdachlosigkeit nimmt wieder zu, Gewalt und Ausgrenzung wachsen, und es steht zu befürchten, dass der gesellschaftliche Konsens in einigen Jahren zerbricht.
Diese soziale Prüfung lässt sich nur bestehen, wenn es gelingt, alle Menschen einzubeziehen, einschließlich der Betroffenen.
In Japan konnte ich in dieser Hinsicht ein außerordentlich aktives Herangehen beobachten. Nicht eine problembehaftete Gruppe, sondern die Zusammenarbeit lässt die Menschen Hoffnung schöpfen. Diese Einstellung war bei den japanischen Obdachlosen und den Aktivitäten zu ihrer Unterstützung erkennbar, was mich sehr ermutigte. (…)



 

Sumitani Shigeru (Vize-Umweltminister): „Das Problem der Obdachlosigkeit in Japan – Ideen und Maßnahmen zur Problemlösung“
In Japan verschärfte sich das Problem in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, und die Regierung ergriff 1999 erstmals Gegenmaßnahmen. Zu jener Zeit leitete ich das Social Welfare and War Victims’ Relief Bureau des damaligen Ministeriums für Gesundheit und Soziales. Die Arbeitswilligen machten etwa 60 bis 70 % aus, weshalb man sogenannte „Centers for the Support of the Independence of the Homeless“ zur Hilfe bei der Stellensuche einrichtete.
2002 trat das „Special Measures Law about the Support of the Independence of the Homeless“ in Kraft. Allerdings ist es ziemlich fraglich, ob die Verabschiedung von Gesetzen auch ein Fortschritt bei konkreten Maßnahmen ist. Meiner Ansicht nach sind letztere noch nicht ausreichend.

  • Die erste Ursache für Obdachlosigkeit ist der Verlust des Arbeitsplatzes. Durch die Veränderung der Wirtschaftsstruktur kommt es zu einem Arbeitsplatzabbau in der Baubranche, doch auch die Entwicklung der Informationsindustrie führt zu einem Beschäftigungsdefizit. Über die Einstellung von nichtregulärem Personal verfolgen die Unternehmen eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit.
  • Zweite Ursache sind Veränderungen in der Familienstruktur und der Zusammenbruch der regionalen Gemeinschaften.
  • Dritte Ursache ist die Wohnungspolitik. Das Wohnungsproblem findet in Japan bei der sozialen Absicherung keinerlei Berücksichtigung.

In Europa beläuft sich der Anteil der wohnungsrelevanten Posten an den Leistungen der Sozialversicherung auf ca. 20 %, in Japan dagegen nur auf etwa 1 %.
Die Folge ist eine verstärkte soziale Ausgrenzung. Bei Todesfällen in Vereinsamung, Selbstmorden, durch Isolierung von in Japan lebenden Ausländern usw. muss dieser Aspekt berücksichtigt werden. Das notwendige Prinzip lautet „Social Inclusion“ (Beteiligung am gesellschaftlichen Leben). Wenn die ausgrenzenden Kräfte erst einmal wirken, wird eine Umkehr schwierig.
Für die öffentliche Wohlfahrt ist es künftig erforderlich, nicht von Gesetzen oder Systemen, sondern von den realen Bedürfnissen auszugehen und die Bevölkerung einzubeziehen. Bei den Bedürfnissen spielt die Arbeit eine besonders große Rolle. Es geht um Einstellungen, aber auch um die Schaffung von Arbeit. Als Beispiel dienen könnten hier die so genannten „Sozialfirmen“, die aus einer Bewegung geistig Behinderter in Italien entstanden. In den etwa 2.000 Kommunen sollte es jeweils wenigstens eine soziale Werkstatt oder Firma geben, in denen die Leute auch soviel verdienen, dass sie davon leben können. Es ist wichtig, diese Einrichtungen in die örtlichen Wohlfahrtspläne aufzunehmen. (…)

Expertengespräch und Strategiediskussion

Am Expertengespräch am Vormittag nahmen Dr. Stefan Schneider, Werner Just (Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln) sowie Vertreter von Organisationen aus Ôsaka, Kôbe, Wakayama, Kitakyûshû und Tôkyô teil. Sie diskutierten Wege, die Fähigkeiten der Betroffenen umfassend zur Geltung zu bringen, und Strategien zur Veränderung des Bewusstseins der Bürger. Dr. Schneider erklärte: „Deutschland hat eine hohe Arbeitslosenquote. ,Man gibt uns keine Anstellung mehr. Wir werden von niemandem gebraucht.‘ Das glauben viele und geraten in Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit. Sie kämpfen allein, haben kein Solidaritätsgefühl.“ Weiter führte er aus: „In Ôsaka gibt es in einem Zelt im Park sogar einen Selbstverwaltungsrat. Die Menschen sind motiviert und spüren ihre Identität und potenziellen Fähigkeiten.“
Herr Just wies demgegenüber darauf hin, dass die Reaktion der japanischen Gesellschaft auf die Probleme schlechter als die deutsche sei. Es gebe hier zwar ein öffentliches Unterstützungssystem, doch werde es kaum genutzt.
Hohe Wertschätzung bei den beiden deutschen Vertretern fanden die in Japan praktizierten Formen der Herstellung von Verbindungen zur Bevölkerung, wie z. B. die Einladung von Schülern zu Exkursionen, bei denen Obdachlose als Führer fungierten. Zugleich seien weit reichende Perspektiven vonnöten, für die auch die Macht der Medien zu nutzen wäre.

Benefizkonzert von Thomas Beckmann

Nach dem ersten Teil des Symposiums gab der international renommierte Cellist Thomas Beckmann vor etwa 200 Zuhörern ein Benefizkonzert. Beckmann, der auch Gründer des Vereins für Obdachlosenhilfe „Gemeinsam gegen Kälte“ ist, spielte Stücke von François Couperin und Johann Sebastian Bach. Als Zugabe ertönen Melodien aus „Limelight“  von Charly Chaplin. In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde die Tätigkeit des Vereins vorgestellt, worauf man anregte, probeweise auch in Japan Hilfsaktionen in Zusammenarbeit mit Musikern durchzuführen.

(Auszug aus den Sonderseiten der Ôsaka Yomiuri Shimbun (Morgenausgabe) vom 18.03.2006, Nachdruck mit Fotos mit freundlicher Genehmigung des Autors Hara Shôhei, Wissenschaftsredakteur der Yomiuri Shimbun, Ôsaka)

Mir zur Verfügung gestellt von

Michael Niemann ミヒャエル・ニーマン
Leiter Presse- und Oeffentlichkeitsarbeit 広報部長
Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin (JDZB) ベルリン日独センター
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