Kurze Zeit nach meiner Flucht aus Hitlerdeutschland erhielt ich von ihm einen unfrankierten Brief: "Freund - ich bin mal wieder tief unten und will mich nicht zerbrechen lassen. Hilf mir!..."

Sonst nichts.

Wir lebten, kaum hundert Kilometer getrennt voneinander, im gleichen Land und hatten das erst vor wenigen Tagen erfahren. In Qual und Scham und Bitternis war ich eben dabei, aus den kläglichen Resten meiner Gesundheit, die das KZ mir übriggelassen, eine neue zu bauen. Bis an den Rand gefüllt mit eigener Not - was konnte ich ihm da geben?

Ich schrieb ihm: Komm! Aber mir war bange. Die Pfirsichbäume blühten, die Berge grünten. Frühling überall... Nach drei Tagen kam er (die hundert Kilometer zu Fuß) langbeinig die Straße heraufgerannt. Humpelnd ging ich ihm entgegen. In wilder Freude riß er mich um. Ich tat mir weh. Je nun: da war er.

Des Fragens und Erzählens war kein Ende. Nach einer Stunde lachte er: "Was mich quält und geängstigt hat - weggeflogen, wie der Löwenzahn da draußen wegfliegt!"

Ein bißchen zerschabt sah er schon aus. Seine ohnehin immer hungrigen, glänzenden Augen brannten in ungestillter Gier. Die Nüstern der etwas zu langen Nase bebten und zitterten. Schnüffelnase, dachte ich. Mir fiel ein: tüchtige Publizisten und Reporter haben diese sehr lebendigen, leidenschaftlich-bewegten Nasen - Kisch, Ossietzki... Na warte, Brüderchen, aus dir wind nochmal was Rechtes!

Eigentlich aber kannte ich ihn sehr wenig. Was wußte ich denn von ihm? Ein armer Schlucker von Landstreicher war er, der an keinem Morgen weiß, wo ihn die kommende Nacht verbirgt. Gesetz war ihm ein Stück Brot für den Tag; im übrigen: Augen auf! Die Tage umblättern wie die Seiten eines Buches und kein Wort verlieren von dem, was das Leben jeden Tag neu in dieses Buch hineinschreibt. Schön war die Erde! Und schön war das Leben! Aber die Menschen hausten darin wie Verrückte in einer Irrenanstalt. Wer - alle? Wer waren die Architekten dieser Irrenanstalt? Dieselben, die Hunderttausende und Millionen Menschen auf die Straße spucken wie - wie Rotz? Augen auf, Jonny! Das muß man auskundschaften! Jung war er, Anfang der Zwanziger; dreimal waren wir uns seither begegnet. Die gierigen Augen sagten: "Ich freß dich." Aber das war nicht so schlimm gemeint. Der da ein- und zweimal vor mir saß, konnte noch lachen wie ein Junge. In der Rocktasche trug er, statt Brot, Gedichte. Worte und Sätze waren da, die wie helle Hammerschläge an ein verriegeltes Tor klopften: "Aufgemacht!"

Das drittemal trafen wir uns in Moskau. Er kam aus Wladiwostok... Die Erde ist ein Kieselstein, und eines Tages stoßen Zwei, die auf diesem wunderschönen (miserablen) Kieselstein herumstronern, mit den Köpfen aneinander. Sie staunen sich an und grinsen wie Clowns: "Nicht möööööglich!"

So trafen wir uns... "Nicht mööööglich - nicht mööööglich." Und jetzt saßen wir wieder beieinander. Der schweizer Blütenfrühling duftete sicherlich bis hinauf zu den Sternen. Der Landstreicher Jonny begann an einem Buch zu arbeiten. Ich fuhr "gen Ostland". Jonny fuhr bald darauf nordwärts.

Das war vor vier Jahren. Aus dem armen Schlucker und Landstreicher ist inzwischen ein "Ingenieur der Seele", ein Schriftsteller geworden. Die gierigen Augen und die Schnüffelnase aber hat er immer noch. 

Er erzählt:

"Geboren wurde ich 1908 im Arbeiterviertel Berlin-Wedding. Die Chinesen nennen mein Geburtsland De-Guo. So fremd mir das klingt, so fremd ist mir meine Heimat geblieben. Richtig genommen, ich habe keine Nationalität. Oder auch viele. Nationalität ist keineswegs immer gleichbedeutend damit, , wo die Wiege stand. Es ist mehr eine Frage, wohin einer infolge seines Temperaments und seiner Geistigkeit gehört und sich heimisch und glücklich fühlt. Warum sollte ich leugnen, daß ich an andern Stellen der Erdkugel ein glücklicher Mensch wurde und mich nicht nach De-Guo zurücksehne?

Mein Urgroßvater, von Zigeunern abstammend, kam - ohne bestimmten Herkunfts- oder Heimatort - vagabundierend vom Balkan. Vielleicht kamen seine Vorfahren aus Kleinasien oder von weiter her, was weiß ich, im südostdeutschen Grenzgebiet ließ er sich nieder und wurde einigermaßen seßhaft. Der Großvater: Bauer. Der Vater abermals vagabundierend, weiter nach Norden: Handwerker. Meine Kindheitseindrücke waren Krieg und Hunger, Plünderungen, bestialische Polizisten, Verwundete des Krieges und des Elends im Hinterland. Krüppel, Halbverhungerte, Tote, Demonstrationen; brutales und verrohtes Militär. Armut, Straßenkämpfe, Verzweiflung, Angst, Haß. Revolution und Hunger. Inflation und Hunger. Nachkrieg und Hunger. Immer Kampf - immer Hunger (und wer kennt sie, die gewaltige seelische Hungersnot?). Immer Unruhe. Und so ist es auch später geblieben.

Bis zum vierzehnten Lebensjahr: Volksschule, ewiger Kampf gegen kriegsverrückte Lehrer. Heide bin ich. Ungetauft. In der Schule lernte ich eins fürs ganze Leben: den unauslöschlichen Haß und die tiefste Verachtung alles dessen, was nach Tyrannei riecht.

Von vierzehn bis achtzehn Jahren: gelernt und gearbeitet. Metallbildhauer, Ziseleur. Acht Stunden tägliche Arbeit in einer Werkstatt; danach vier Stunden Abendkurse in einer Schule. Dabei noch viel gelesen. Immer müde; oft überm Essen eingeschlafen. Aber ich wollte lernen, lernen,immer mehr lernen, all das, was uns eine engstirnige, und unbrauchbare Schule vorenthalten hatte.

Als ich achtzehn bin, brechen Wandertrieb und der ewige, ungestillte Hunger nach dem Leben endgültig und unaufhaltsam wieder durch -: Vagabund, Landstraße. Wieder und wieder Landstraße. Der Beruf taugt nichts. Nicht eine Brotkrume ist er wert, trotz dem Prüfungsprädikat "Sehr gut", trotz dem "Preußischen Staatspreis" bei einer Ausstellung von Berufsarbeiten, trotz dringenden Empfehlungen an die Akademie der Künste. Alles einen Dreck wert. Das Kunsthandwerk verludert - die Werkstätten wurden geschlossen. K-r-i-s-e! K-r-i-s-e! Also: immer nur Gelegenheitsarbeit. Immer wieder Arbeitslosigkeit, immer wieder Hunger, Mittellosigkeit, Obdachlosigkeit, Bettler, Vagabund. Und weiter, immer weiter unterwegs: Hunger nach Brot und nach dem Leben dieser Welt. Und so viel gemordete Sehnsucht und Liebe...

Ich habe in allen möglichen und unmöglichen Berufen gearbeitet: Kabelarbeiter in Zwölfstundenschicht auf einer Chaussee im Schwarzwald; Balkenträger auf einem Zimmerplatz; Gymnastiklehrer in einem Körperkulturlager; Tellerwäscher in einem Kinderheim an der italienischen Grenze; Metallfärber in einer Lampenfabrik; Röhrenzieher an der Ziehbank eines Röhrenofens; Kofferträger auf Bahnhöfen und in Häfen; Hotelagent für ein Touristhotel auf einer Mittelmeerinsel; Reklamezeichner für eine Filmgesellschaft in Barcelona; Gärtner auf einer spanischen Insel; Erdarbeiter unter sengender südlicher Sonne; Landarbeiter in Danzig; Fischereigehilfe in Westpreußen; Journalist, Bildreporter, Korrespondent, Hausboy. Dazu kommen eine Anzahl unsagbarer andre Betätigungen.

Die Erinnerungen überwältigen mich; ich will hier ein klein wenig verweilen - auch Gärtner sei ich gewesen, sagte ich, nicht wahr? Davon will ich erzählen. Ich lernte es nie, weißt du, aber ich liebte meine Pflanzen und meinen Garten: Feigenbäume mit dicken saftigen Früchten. Jeden Morgen aß ich als Morgenmahlzeit Feigen, frisch vom Baum. Aber da waren auch Radieschen und Mohrrüben (sie wuchsen schlecht in dem Klima und blieben murkelig) und Artischocken, brennend roter Pfeffer und vieles andre. Doch mein Stolz war eine Kakteenhecke, die ich aus dem nichts schuf. Da war nur Sand. Mit einem Sack ging ich drei Stunden weit, um die Meeresbucht von San Antonio herum, wo richtige Kakteenwälder standen; und mit einem großen Buschmesser schnitt ich aus dem Überfluß der schönsten frischen Kakteentriebe heraus, packte sie in meinen Sack und schleppte sie in den Garten (zwei Monate später hatte ich von dieser Tour - ich trug den Sack auf Schultern und Rücken - noch Stacheln in der Haut sitzen). Aber ich pflanzte sie ein, die kleinen Kaktuslein, mit Pisse und Hühnerdreck und Holzkohlenasche, in den Sandboden. Und vierzehn Tage später waren die doppelt so groß und blühten mit großen gelben seltsamen Blumen...

So - so wars; und alles das war ich. Und dabei habe ich gelesen und gelernt, gelernt und gelesen und aus der Überlast des Erlebens zu schreiben begonnen: Artikel, Skizzen, Reportagen, Kurzgeschichten, Novellen. Nicht viel; sehr langsam, sehr wenig, sehr sparsam und kritisch.

Einmal, als Vagabund - heruntergekommen und abgerissen auf der italienischen Landstraße -, beteiligte ich mich an einem Preisausschreiben der 'AIZ' und der 'Berlin am Morgen'. Gesucht wurde ein in "allen Lebenslagen befahrener" Bursche, der als Reporter und Korrespondent, unbeschwert, eine waghalsige Fahrt um den Erdball unternehmen sollte... Unter vielen hundert Bewerbern: angenommen!

Unterwegs und eines Tages - von Shanghai über die ganze Sowjetunion hinweg - wie mal Deutschland: De-Guo! Fremd... Und noch fremder nach dem Hereinbruch der Hitlerbarbarei. Die freiheitliche Presse von einem Tag zum andern verboten, zerschlagen. Verhaftungen, Terror, Lüge, Blut und viel Grauen. Meine Freunde: auf der Flucht, verstreut über ganz Europa, oder in Kerkern, in Konzentrationslagern, mißhandelt, gemordet...

Und wieder unterwegs. Wieder obdachlos, wieder mittellos, wie so oft vorher. Harte körperliche Arbeit in Südeuropa; und wieder ruhelos umher. Und wieder beginne ich langsam, zögernd zu schreiben - meine ersten Bücher: der Ertrag meiner Fahrten. Mein Japanbuch 'Feuer im Osten' entsteht in der Schweiz.

Danach quer durch Europa, hinaus nach dem Norden. Und nun lebe ich in Skandinavien. Hier schreib ich meinen, teils autobiographischen Roman 'Fahr zur Hölle, Jonny", dessen Handlung sich über drei Erdteile erstreckt. Anschließend das dritte Buch, den China-Roman: 'Shanghai kennt keine Gerechtigkeit'. Ich kenne Deutschland, Schweiz, Frankreich, Italien, Holland, Luxemburg, Belgien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Österreich, Tschechoslowakei, Danzig, Litauen, Sowjetunion, Japan, China, Mandschurei, Cuba, Mexiko, Hawai - und den Hafen von San Pedro (Los Angeles), in dem man mich als Passagier dritter Klasse eines japanischen Dampfers nicht an Land ließ.

Meine Arbeit setzte ich fort - für alle meine freiheitsliebenden Brüder, in allen Ländern, Erdteilen, allen Rassen. Ihnen gilt meine Liebe. Dem Autoritäts- und Tyrannenwahn, der die Furcht, die Unterwerfung und die Duldung gebiert, gilt mein Haß. Ich bin bei denen, denen der stündliche Hunger - nach dem Brot und nach dem Leben - das Bewußtsein und die Freude tötet, ohne die es keine menschliche Würde geben kann. Bei denen, die diese schöne verfluchte Erde (trotz allem) glühendheiß lieben..."

Das erzählte Jonny.

Jonny G. Rieger ist sein Name. Grüßt ihn, wenn ihr ihm begegnet!

Gregor Gog


aus: Gog, Gregor: "Liga der Heimatlosen", Moskau 1936/37

Solidarische Hinweise

Countdown

Joomla template by a4joomla