Vorbemerkung. Diese Meldung aus dem Jahr 1996 hatte ich mir aufgehoben, weil ich sie so krass fand. Einfach schon die Idee, Toilettenhäuschen zu besetzen, also Scheißhäuser, fand ich nicht richtig. Wenn es etwas zu besetzen gibt, dann m.E. Paläste, Luxuswohnungen. Aber doch keine Toilettenhäuschen. Tatsächlich habe wir Jahre später das Adlon und das Kempinski besetzt. Sicher, es waren nur symbolische Besetzungen und es kam uns vor allem auf die Medienaufmerksamkeit an, aber mir schien das richtiger und konsequenter zu sein.
Berlin, 18.06.2014
Stefan Schneider
Protest gegen Kürzungen bei Wohnungslosentagesstätten. Etat nur für laufende Kosten, Verpflegung fällt weg
"Liebe Berlinerinnen und Berliner, dieses Toilettenhäuschen ist besetzt", so schallte es gestern Punkt 11 Uhr über den Wittenbergplatz. Rund 70 Obdachlose und Sozialarbeiter nahmen die öffentlichen Toiletten neben dem KaDeWe in Beschlag. "Wir protestieren damit gegen die 10prozentige Kürzung unserer Gelder", erklärte Karsten Krull, Sprecher der "Arbeitsgruppe Berliner Wohnungslosentagesstätten" via Megaphon den Passanten.
Auf Transparenten forderten die Besetzer die Bezirksämter auf, "nicht bei den Ärmsten zu sparen". Sie fürchten, da§ es nicht bei einer einmaligen Kürzung von 10 Prozent bleiben wird. Schilder mit den Aufschriften "Beratungsraum", "Kleiderkammer", "Essensausgabe" und "Duschen" zierten die Aborte - mehr Aufgaben als diese könne man mit dem jetzt zusammengestrichenen Geld nicht übernehmen, so der Sprecher. Das Toilettenhaus drohe für obdachlose Menschen zur Tagesstätte der Zukunft zu werden.
Wie wichtig die Tagesstätten sind, unterstrich ein Betroffener: Seit November letzten Jahres ist Arthur zum erstenmal in seinem Leben arbeits- und obdachlos. Arthur ist 43 Jahre alt. Am Tag pendelt er zwischen Alex und Zoo und "zwischendurch kann ich mich in den Tagesstätten aufwärmen und habe auch meine Ruhe", sagte er.
In Berlin gibt es zehn ganztägige betreute Aufenthaltsangebote für Obdachlose. Jeweils drei bis vier Sozialarbeiter kümmern sich um Hilfe und Beratung. Angebote wie Sport, Kino, eine Betroffenenzeitung oder ein Frauenfrühstück sollen den Obdachlosen helfen, sich wieder in das gesellschaftliche Leben einzugliedern.
Beim "Warmen Otto" in Tiergarten muß man in diesem Jahr mit 35.000 Mark weniger rechnen als 1995. "Da Miet-, Telefon- und Lohnkosten weiter gestiegen sind", rechnete Karsten Krull vor, "haben wir rund 60.000 Mark weniger für die Betroffenen zur Verfügung." Die Unterstützung vom Bezirksamt decke gerade die laufenden Kosten für Strom, Miete und Telefon, aber "Ausflüge, Verpflegung oder Kleidung könnten wir nicht mehr finanzieren".
In der Kreuzberger Einrichtung "Am Wassertor" wurde die Stelle eines Sozialarbeiters gestrichen. "Wir werden die Öffnungszeiten weiter einschränken müssen, und das geht zu Lasten der Obdachlosen", klagte Albert Nägele von der Diakonie.
Torsten Teichmann
TAZ-BERLIN Nr. 4857 vom 23.02.1996 Seite 28