Stolpersteine Haarzopf

[Vernichtung] Viele hunderttausend Menschen waren in den Jahren der faschistischen Diktatur damit beschäftigt, mehr als 6 Millionen Menschen umzubringen. Menschen, deren einziges Vergehen darin bestand, dass sie aus der Sicht der Täter Juden waren oder dafür gehalten worden ist. Ich finde das alles unbegreiflich, sowohl die Zahl, die wirklich unverstellbar ist, aber auch, wie diese Vernichtungsmaschinerie funktionierte. Vor einigen Jahren stand ich an einem kalten Wintertag ziemlich allein in Auschwitz-Birkenau hinten am Krematorium und versuchte mir vorzustellen, wie es damals gewesen sein muß. Züge, die pausenlos hineinfuhren in das Lager, Menschen, die mit angsterfällten Blicken ausstiegen und gemustert wurden von anderen auf ihre Tauglichkeit oder um zur sofortigen Vernichtung bestimmt zu werden. Menschen, die ständig Zyklon B anlieferten, andere, die das Krematorium befeuerten und wieder andere, die die Kleidung derer sichteten und sortierten, die vielleicht gerade in der Gaskammer einen qualvollen Tod erlitten. Ich stand da in großer Stille, nur ein paar wenige Wintervögel zwitscherten im Hintergrund, und ich begriff, dass diese Maschinerie des Todes, des geplanten Völkermordes irrsinnig laut, unglaublich hektisch gewesen sein muss im Vergleich zu dieser Ruhe des Gedenkens.

[Befreiung] Wenige Jahre später stand ich im späten Herbst auf dem Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide an einer Zeremonie teil, an der diplomatische und militärische Vertreter  der Sowjet-Nachfolgestaaten, der Bundeswehr und einige Kommunalpolitiker teilnahmen. Mit großem Ernst wurde daran erinnert, dass dieser Massenmord von anderen gestoppt werden musste, die dafür mit dem höchsten nur denkbaren Preis zahlten: mit ihrem Leben. Natürlich hatte diese Zeremonie mit den ganzen Uniformen, Schießprügeln, Trommelwirbeln und Trompetenklängen auch etwas bizarres, aber mir wurde als Anwesender in diesem Moment sehr bewußt, dass ich die Aufgabe hatte, Zeugnis abzulegen, und sei es nur für den Moment oder für den Fall, dass mich irgendwann irgendjemand fragt, was denn damals war. Die Zeitzeugen werden von Tag zu Tag weniger, aber ich bin derjenige, der  berichten kann, was die Zeitzeugen sagten und welche Dokumente sie vorlegten. Es geht darum, dass viele Menschen die Erinnerung an die Verbrechen wach halten aber auch die Erinnerung an die Befreiung aus dieser Diktatur und die Erinnerung an den hohen Preis, den viele Menschen dafür zahlen mussten.

[Erinnerung] Das ist nicht mehr und nicht weniger als der Boden, auf dem ich stehe, ich, der ich zwanzig Jahre nach dem Ende dieser Ereignisse geboren bin. Allein, dass mein Großvater Robert in diesem Krieg zusammengeschossen worden ist und dass ich meinen Großvater Richard niemals kennen gelernt habe, weil er in einem Kriegslazarett verstarb, sind Grund genug dafür, dass es niemals wieder Krieg und Massenvernichtung geben darf.

Ich finde das Projekt des Künstlers Gunter Demnig gut, mit auf dem Fußweg eingelassenen Gedenksteinen, den sogenannten Stolpersteinen, an die Menschen zu erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Der Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem ich seit 1999 lebe, ist ein hochverdichteter Wohnbezirk und entsprechend viele Stolpersteine sind hier zu finden. Es wird ansatzweise deutlich, welchen massiven Einschnitt dieses Verbrechen bedeutete. Nachbarn, Geschäftspartner, Freunde, Bekannte - die gesamte soziale Struktur wurde verändert. Etwas fehlt. Menschen fehlen. Sie wurden willkürlich und zugleich planmässig vernichtet. Von anderen Menschen.

Ich weiss gar nicht, ob ich Hugo, Paula und Eva Haarzopf überhaupt kennen gelernt hätte. Hugo und Paula Haarzopf vielleicht noch in meinen Kindertagen als hochbetagte Leute, und Eva war ein paar Jahre älter als meine Mutter.  Ja, ihr hätte ich ab 1999 im Prenzlauer Berg noch begegnen können. Vielleicht als alte Frau, die vor mir an der Kasse bei Rewe immer so lange braucht. Es spielt auch keine Rolle: Sie war keine zehn Jahre alt, als sie in Auschwitz ermordet wurde. Und das soll nicht vergessen werden.

Im Januar 2011 habe ich für diese drei Stolpersteine, die sich vor dem Haus Schönhauser Str. 41 in Berlin - Pankow befnden, eine Patenschaft übernommen. Das war eine Initiative des Nachbarschaftshauses vom Pfefferwerk in der Fehrbelliner Straße im Prenzlauer Berg, ich erfuhr davon und war bereit, mitzumachen. Im Grunde ist diese Patenschaft keine große Sache. Ich gehe da vielleicht zwei oder dreimal im Jahr hin und schaue nach, ob alles in Ordnung ist. Wären die Steine verdreckt, würde ich sie putzen. Wären sie weg, würde ich das bekannt machen. Seit einiger Zeit ist in diesem Haus ein Fahrradladen. Einige Fahrräder stehen immer draußen, und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, gerade auch von Touristen, die sich hier gerne ein Fahrrad ausleihen. Ich finde diesen Trubel gut, weil das die Chance erhöht, das der eine oder andere Besucher stehen bleibt und sich fragt: Moment mal, was ist das denn hier? Und dann sind sie nicht mehr vergessen, sondern werden lebendig. Ein kleiner, ganz kleiner Trost.

Hugo Haarzopf, Paula Haarzopf geb. Jacob, Eva Haarzopf.

Stolpersteine Haarzopf2

Berlin, 10.08.2014

Stefan Schneider

2011 Patenschaft Stolpersteine Haarzopf.pdf

[Abbildungen] Fotos von Stefan Schneider, August 2014

Solidarische Hinweise

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