"Polarisieren kann ich am besten", sagt Stefan Schneider. Sein Thema eignet sich dazu wie kaum ein zweites. Der 43-jährige promovierte Sozialwissenschaftler engagiert sich für Wohnungslose. Er war 13 Jahre geschäftsführender Vorsitzender des Vereins mob – obdachlose machen mobil.

Viele Berliner kennen den "strassenfeger", die Straßenzeitung, die sie gelegentlich in der U-Bahn kaufen. Herausgeber ist der Verein mob – obdachlose machen mobil. Aus eigener Kraft haben die Mitglieder außerdem eine Notübernachtung eingerichtet, die ganzjährig geöffnet ist. Sie betreiben auch das "Kaffee Bankrott" in der Prenzlauer Allee 87 und Handel mit Trödel ohne öffentliche Fördermittel. Möbel und Hausrat werden u.a. Menschen zur Verfügung gestellt, die sich wieder eine Wohnung einrichten.
Stefan Schneider ist der Mann, der 13 Jahre als Vereinsvorsitzender die Fäden in den Händen hielt, von 1994 bis 2007. "Ich möchte die Gleichgültigkeit bekämpfen", sagt der Sozialwissenschaftler. 1965 geboren wuchs er als Sohn von Aussiedlern aus Ostpreußen, dem heutigen Polen, in Berlin-Mariendorf auf. "Die Fragen: Wer sind wir? Wo gehören wir hin? waren in unserer Familie sehr wichtig", erinnert sich Schneider. Vor den gleichen Frage stehen auch Wohnungslose.
Als 15-Jähriger knüpft Schneider Kontakte zur Katholischen Studierenden Jugend, geht zu den Demos der Friedensbewegung, lernt Hausbesetzer kennen. So wie viele andere Einwanderer möchten die Schneiders, dass ihr Sohn etwas Vernünftiges lernt, sich durch fleißige Arbeit einen soliden Platz in der deutschen Gesellschaft erkämpft. Der Vater ist Schlosser. Stefan Schneider findet einen vorgestanzten Lebensentwurf langweilig, spießig. Dass er sich schließlich an der Uni einschreibt, hängt auch mit Freunden zusammen, die schon studieren und ein lockeres Leben mit langen Kneipenabenden führen. Das findet er cool.
Er immatrikuliert sich an der Technischen Universität (TU) für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik und macht 1990 sein Diplom. Seine Abschlussarbeit beschäftigt sich mit den NutzerInnen der Wärmestube "Warmer Otto", die nach der Ottostraße in Moabit benannt ist. Bis 1993 arbeitet er an einem Forschungsprojekt über die "Lebenslage und Biografie Wohnungsloser in Berlin". Schneider prangert an, dass Wohnungslose in vielen sozialen Projekten zu einer passiven Gastrolle verdammt sind. Seine Promotion setzt sich 1998 folglich mit "Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung" auseinander.

"Wir brauchen dich!"

Schneider findet, dass es würdelos ist, Wohnungslose zu Empfängern von Almosen zu degradieren. Sie sollen einbezogen werden, sich über ihren Alltag äußern, ihn selbst gestalten können. Für besonders geeignet hält er die Straßenzeitungen, die in den neunziger Jahren erstmals erscheinen. 1994 gibt die Berliner Initiative Nichtsesshaftenhilfe die erste Nummer des "mob-magazins" heraus. Die Redaktion ist in der Kleinen Hamburger Straße. Stefan Schneider bekommt eines Tages einen Anruf von Hotte, einem der wohnungslosen Verkäufer: "Wir haben die Redaktionsräume besetzt. Wir brauchen dich!" Die Wohnungslosen, die das Blatt überall in der Stadt unters Volk bringen, protestieren gegen die Redakteure, die ihrer Ansicht nach im Elfenbeinturm sitzen. Sie wollen stärker in die journalistische Arbeit integriert werden und die Verwendung der Gelder ist auch ein Thema.
Schneider steigt ehrenamtlich ein und wird bei der Gründung des Vereins mob im August 1994 dessen Vorsitzender. Seine Brötchen verdient er bis 1998 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fachbereichs Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften der Hochschule der Künste. Schon im September 1994 gibt der Selbsthilfeverein die erste Zeitung in Eigenregie heraus. Die Wohnungslosen schreiben selbst oder erklären die Redakteuren, wie sie sich den Text vorstellen, und liefern das Material dazu.
Mit den ersten Wintertagen fragen die Verkäufer an, warum sie denn in eine anonyme Notübernachtung gehen sollen, wo sie doch auch in der Redaktion schlafen könnten. Man einigt sich und es gibt neue Probleme. Die Autoren und anderen Mitarbeiter von "mob" können tagsüber nicht arbeiten, weil auf ihren Schreibtischen die Bierflaschen der Schlafgäste herumstehen. Es riecht nach Schweiß, Tabak, alten Socken und schalem Bier. Das zehrt an den Kräften. Schneider reibt sich auf in endlosen Diskussionen über das Selbstverständnis des Projekts. Aber es gibt eine Perspektive:
Im Mai 1995 fusionieren die Straßenzeitungen "mob" und "Hatz" zur "motz". Im Oktober 1995 kommt zum ersten Mal der "strassenfeger" – noch entschiedener "Draussen ohne Tür" als alle Blätter zuvor - das Konzept einer erfolgreichen und engagierten Zeitung ist gefunden. Im neuen Domizil in der Schliemannstraße entstehen neben Redaktionsräumen eine Suppenküche, eine Notübernachtung, eine Beratungsstelle, Lager, Kleiderkammer und Ausstellungsräume. Redaktion und Schlafplätze sind getrennt. Trotzdem ist alles ein bisschen viel auf nur 104 Quadratmetern. Im Jahr 2003 zieht mob wieder einmal um - diesmal in die Prenzlauer Allee 87, wo mehr als 800 Quadratmeter zur Verfügung stehen.

Die Arbeitswoche von Stefan Schneider, der seit 1999 ausschließlich und ehrenamtlich für mob e.V. tätig ist, beginnt jeden Sonntagabend mit der Planung und endet meistens spät am Freitag. An den Wochenenden tankt er auf in der Natur, auf den Seen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, so oft es geht.

Ein saniertes Haus

Gegensätzlichkeiten begleiten Stefan Schneider über die Jahre. Sein Wunsch, die Arbeit für Wohnungslose zu verbinden mit Menschenrechtsinitiativen, mit der Studentenbewegung, mit Gesellschaftskritik, scheitert oft an den Stimmen derjenigen, die von der Sehnsucht nach dem „spießigen Leben“ geprägt sind. Die Distanz zwischen beiden Ansichten führt ihn 1999 zur Einsicht, aussteigen zu wollen. Mit seiner eigenen Suchtstruktur kämpfend, immer im direkten Kontakt mit den Menschen von der Straße und unentwegt auf der Suche nach Steinen, die er in Rollen bringen kann, machen ihm Routine und Leute zu schaffen, die den bequemen Weg suchen. Nach Jahren der Arbeit mit geringstem Budget für die Ärmsten der Stadt hält ihn am Ende das millionenschwere Hausbauprojekt in der Oderberger Straße. Das Konzept, das Wohnungen und Arbeitsmöglichkeiten schafft, setzt er mit Bravour in die Tat um. Innerhalb des Landesprogramms "Wohnungspolitische Selbsthilfe" übernimmt mob die Sanierung eines Vorder- und eines Quergebäudes in der Oderberger Straße 12. Vereinsmitglieder und zukünftige Bewohnerinnen erbringen die nötige Eigenleistung in Form von Arbeitsstunden. "Viele Wohnungslose waren früher einmal auf dem Bau", sagt Schneider. In die 18 Wohneinheiten ziehen Menschen ein, die früher auf der Straße gelebt haben, Vereinsmitglieder und arme Berliner Familien. Auch ein Trödelladen und die Buchhaltung von mob werden dort untergebracht. „Das ist genial für das Ego“ und für Stefan Schneider Teil dessen, was er heute zu seinen Erfolgen zählt: Die Marke strassenfeger, die für Qualität steht und einen echten Börsenwert darstellen könnte. Auftritte im Fernsehen, zahllose Zeitungsartikel! Das Arbeiten in sinnvollen Kontexten mit ganz konkreten Hilfen für Wohnungslose. Die vielen VerkäuferInnen vom strassenfeger, die wieder eine Wohnung haben. Das Mobilisieren einer großen Zahl ehrenamtlicher Helfer und Förderer des mob e.V.
Die Würdigung der Arbeit des Vereins durch den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse bei der Eröffnung des neuen Kaffee Bankrott. Aber mehr noch der Kommentar einer etwa 50jährigen wohnungslosen Frau: „Ein richtig schönes Zuhause haben wir hier“.

Zurück an die Hochschule?

Die aufreibende Arbeit für mob geht weiter. Im Jahr 2004 kümmert sich Stefan Schneider vorrangig um die Homepage strassenfeger.org, im Jahr darauf um das strassenfeger-Radio im Offenen Kanal. Privat hegt er andere Pläne. Er möchte zurück an die Hochschule, seine Kenntnisse aus der alltäglichen Arbeit mit Wohnungslosen an Studierende vermitteln und weiter forschen. Sein Traum ist eine Professur mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und Armut. Bislang hat er ihn nicht verwirklichen können. Schneider schreibt Bewerbungen an Hochschulen in ganz Deutschland. Er wird auch einige Male dazu eingeladen, sich mit einem Fachvortrag vorzustellen. Aber Professor ist er noch nicht, und statt dessen arbeitet er an einem Forschungsprojekt. Sein Thema – die interkulturelle Öffnung in der Wohnungslosenhilfe – ist hochaktuell. Auf der einen Seite kommen immer mehr Wohnungslose aus anderen Ländern nach Berlin. In den Notübernachtungen hört man Russisch, Polnisch, Englisch und andere Sprachen. Andererseits, so findet Stefan Schneider, brauchen wir in der Europäischen Union mehr Zusammenarbeit in Fragen der Wohnungslosigkeit: Was können wir von anderen Staaten lernen?
Aus der Vereinsleitung verabschiedet sich Stefan Schneider im Jahr 2007 endgültig. Trotz der Erfolge hat er das Gefühl, dass ihn die tägliche Verwaltungsarbeit auffrisst, dass sie so spießig ist wie das vorgestanzte Leben, das er nie gewollt hat. "Ständig wiederholt sich alles", klagt er: "Die Reibereien im Team und die Anfragen von Fernsehjournalisten, die einen Beitrag über Wohnungslose drehen wollen, aber keine Ahnung von dem Thema haben." Schneider lässt sich nicht wieder zum Vereinsvorsitzenden wählen. Bis zum Sommer 2008 betreut er noch die Praktikanten in der Notübernachtung. Nun ist er einfaches Mitglied von mob und gibt gelegentlich den einen oder anderen Ratschlag, mit dem er sich durchaus nicht nur Freunde macht.
Seine Habilschrift soll den Titel "Migration – Wohnungslosigkeit – Integration in Europa" tragen. Und zu Hotte hält Stefan Schneider immer noch Kontakt.

Sylke Freudenthal

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