[Eindruck] Dass ein Stuhl mehr ist als nur ein Sitzmöbel, das war mir schon sehr früh bewusst. Bei allen nur erdenklichen Situationen war zu beobachten, dass Personen, die eine besondere Rolle für sich beanspruchten, stets einen besonderen Stuhl hatten, der häufig auch an einem herausragenden Ort stand. Diese Stühle waren in der Regel außerordentlich groß und hatten vor allem Rückenlehnen, die imposant wuchtig waren und in den meisten Fällen den Sitzenden deutlich überragten. Das war schon klar: Die Person sollte durch den Stuhl noch größer gemacht werden. Auch das Arrangement war häufig so gewählt, dass diese Person isoliert war von den anderen, die sich ihm gegenüber befanden und häufig in stehender Position ausharren mussten. Oder deutlich kleinere Stühle hatten. Oder wenigstens weniger hohe Stuhllehnen. Ein Stuhl, so war mir klar, kann ein – kleines aber wichtiges – Instrument von Macht und Herrschaft sein.
[Statement] Da war ich nun zum Schulsprecher am Hugo-Eckener-Gymnasium in Berlin-Mariendorf gewählt worden wollte auch einen besonderen Stuhl haben. Irgendwo in einer Ecke fand ich noch einen alten, wurmstichigen knarzigen Holzstuhl, auf dessen Lehne ich Chairman pinselte und den ich fortan immer mit mir mitschleppte, da die Unterrichtsräume beständig wechselten. Das war der ausschließlich mir vorbehaltene Stuhl und das sollte bitteschön respektiert werden. Als ich später am Lehrstuhl für systematische Pädagogik wissenschaftlicher Mitarbeiter war, fiel mir sofort auf, dass auch Georg Rückriem eine Vorliebe für solche Understatements hatte. Er arbeitete an einem simplen, an der Wand stehenden Tisch und nutzte dazu einen ganz gewöhnlichen Bürostuhl wie alle anderen auch – und dabei war er immerhin Institutsleiter und Professor.
[Selbstverständnis] Später in meiner Zeit als gewählter geschäftsführender Vorsitzender bei einer Selbsthilfeorganisation nahm ich diese Tradition wieder auf. Ich hatte einen simplen Holzhocker vor einen an der Wand stehenden Schreibtisch in einem Büro, dass ich mir mit meinen Mitarbeitern teilte. Es kam mir darauf an, zu zeigen, dass es bei zeitlich begrenzten, demokratisch legitimierten Leitungspostionen eben nicht darauf ankommt, durch Äußerlichkeiten und Arrangements einen bestimmten Eindruck zu erzeugen und einen Status gegenüber anderen auszudrücken. Mit ging es darum, deutlich zu machen, dass Chef-Sein eine Arbeit ist wie jede andere auch und dass mir alle dabei zusehen dürften. So zu arbeiten hat mir großen Spaß gemacht – auch wenn es oftmals sehr belastend war, sich mich den sogenannten Detail auseinander zu setzen. Aber mir war klar – und mir wurde auch oft genug klar gemacht – dass, wenn die Details nicht stimmen, auch die große unternehmerische Linie nicht stimmen würde. Und umgekehrt. Und deshalb – in einer Chefsessel Übersicht – ist derjenige Chefsessel am Besten, der am bequemsten bei der Arbeit ist. Und die ist vielfältig. Angefangen von der Büroarbeit am Schreibtisch über das Nachdenken und Zuhören bis hin zum Sitzplatz bei Besprechungen, Konferenzen oder Sitzungen, bei denen es oftmals hoch hergeht. In diesem Sinne hat bisher noch jeder Stuhl seinen Chef gefunden – oder umgekehrt. Mein Chefsessel war stets ein einfacher Holzstuhl.
Berlin, 19.07.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Koppenplatz_Der_verlassene_Raum.jpg
[Ave Maria] Meine katholische Sozialisation brachte es mit sich, dass ich schon früh mit Weihrauch konfrontiert wurde. Mir gefiel die würdevolle Eleganz, mit der da herumgeräuchtert wurde und der erhabene Geruch, der sich nach einiger Zeit im Kirchenraum verbreitete. Im Verlauf der Jahre lernte ich, dass es gute und schlechte Weihrauchsorten gibt. Die minderwertigen riechen rauchig, eindimensional, spitz und erinnern an Räucherstäbchen. Die besseren sind voll, erhaben und plastisch im Erleben. Mein Bruder war Meßdiener und brachte mir von der Kirchengemeinde ein paar Gramm mit. Im Winter konnte ich dann aus dem Ofenglühende Kohlestücken herauspicken und die Weihrauchkörner darauf verdampfen lassen. Das ganze Zimmer war in dichte Weihrauchschwaden gehüllt und ich fühlte mich irgendwie gut. Eine Tages eröffnete in der Potsdamer Straße das Ave Maria, ein Geschäft für Second-Hand-Devotionalien und ich erfuhr dort einiges über Mischungen und reine Weihrauchsorten, die gar nicht mal so teuer waren.
[Bezugsquellen] In meiner Kirchengemeinde gab es die Tradition, dass nach dem mitternächtlichen Weihnachtsgottesdienst in den Jugendräumen zu einem Umtrunk eingeladen wurde, der sich traditionell bis in die frühen Morgenstunden hinzog. Bei einem dieser Besäufnisse entdeckte ich in der Garderobe auf dem Weg nach Hause ein offen herumstehendes Weihrauchfass, das sich seit dem in meiner Obhut befindet. Die Gemeinde wird den Verlust sicher verkraftet haben, da sie mehrere besaß und das für gewöhnlich benutzte sicher in der Sakristei verwahrt war. (Ich nehme an - auch um meine Wegnahme nachträglich zu rechtfertigen -, dass es sich um ein Weihrauchfass handelte, mit dem geübt würde. Das würde auch erklären, warum es einfach in den Jugendräumen in einer Ecke abgestellt war.) Nunmehr ausgestattet mit einem Weihrauchfass und einer Bezugsquelle für Weihrauch startete ich meine Studien, die mich zu einem Weihrauchexperten werden ließen. Inzwischen bevorzuge ich statt Mischungen sortenreinen Weihrauch und liebe insbesondere den aus Eritrea und Somalia – vor allem wegen der Leichtigkeit. Ein besonderes Vergnügen war es, in der Jerusalemer Altstadt mit dem Weihrauchhändler unmittelbar an der Tempelmauer bei einem Tee ein ausführliches Fachgespräch zu führen über die besten Weihrauchsorten – und etlichen Räucherproben. Eine wirkliche Messe in Sachen Weihrauch.
[Pontifikalamt] Wer diesen religiösen Zirkus nicht will, kommt dennoch nicht umhin, die Heilkraft des Weihrauchs anzuerkennen. Der Rauch stimuliert das Gehirn und wirkt beruhigend, bisweilen konzentrationsfördernd und zugleich entspannend. Als Alternative zum klassischen Weihrauchfass bietet sich der Vaporizer an, ein Gerät zur Verdampfung von Gewürzen. Der unbestreitbare Vorteil gegenüber einem Weihrauchfass, bei dem eine Kohle verbrennt, besteht darin, dass der Vaporizer das Gewürz nur soweit erwärmt, dass die gewünschten Inhaltsstoffe verdampfen und keine unerwünschten Nebenprodukte entstehen. Auch ich habe inzwischen eine Technik entwickelt, bei der der Weihrauch im Weihrauchfass nicht mehr verbrannt, sondern eher verdampft wird. Die Rauchschwaden sind nach wie vor erheblich, aber das soll ja auch so sein. So zelebriere ich, wann immer ich will, mein ganz persönliches Pontifikalamt.
Berlin, 19.07.2012
Stefan Schneider
[Aufruhr] Es war Hans Klunkelfuß, der die Idee der Häuser gegen die Kälte propagierte. Er war gelernter Drucker, kam aus der DDR, konnte sich nie richtig mit den Verhältnissen in der BRD anfreunden und war viele Jahre mehr oder weniger ohne Wohnung in Deutschland unterwegs. Mit Freunden ließ er sich in Michelbach in einem alten leerstehenden Bahnwärterhäuschen an einer Bahnstrecke, auf der tatsächlich gelegentlich Züge fuhren, nieder. Seine Anschrift lautete kurioserweise Außerhalb 1 und in der Tat war dieser Ort für einige Jahre eine vorzügliche Adresse für außergewöhnliche Ideen. Eine davon war: Häuser gegen die Kälte. Einfachsthäuser für ehemals Obdachlose auf halbwegs attraktiven Grundstücken. Heute verstehe ich, dass es dem Klunkelfuß mit diesen Ideen auch darum ging, so etwas wie Autonomie gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zu bewahren – anpassen an die Spießer wollte er sich jedenfalls nie – und deswegen mussten eben in jeder Hinsicht ungewöhnliche Lösungen her.
[Erbpacht] Kurz darauf wurde von der gemeinsamen Zeitung von Strassenfeger und Looser das Selbsthilfehaus in Hebstahl propagiert. Ein Haus mit Potential, das aber nie richtig in Schwung kam und deshalb von uns intensiv beworben wurde. Darauf wurde eine Hausbesitzerin aus Berlin Spandau aufmerksam und sie wandte sich an die Herausgeber vom Strassenfeger und bot ihnen ihr vor kurzem rückübertragenes und sanierungsbedürftiges Hinterhaus in der Oderberger Straße an. Nach einiger Zeit des Prüfens und Abwägens kam ein Prozeß in Gang, der dem Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. für die Dauer von 50 Jahre das Vorder- und Hinterhaus im Erbbaurecht bescherte und eine Förderung durch das Programm Wohnungspolitische Selbsthilfe (Muskelhypothek) und die Chance, 18 Wohneinheiten für ehemals wohnungslose, auf dem Wohnungsmarkt benachteiligte Mieterinnen sowie sanierungsbetroffene Mieterinnen anbieten zu können. (1)
[Solar- und Erdwärme] Im Zuge der umfangreichen Sanierung wurde so ziemlich alles erneuert, was zu erneuern war. Besonders auf ökologische Baustoffe, Wärmedämmung und Maßnahmen zur Energieeinsparung wurde größter Wert gelegt, soweit es bei Altbauten aus dem Jahr 1878 überhaupt möglich ist. Installiert wurden unter anderem Isolierglasfenster, eine Dachbegrünung zur Verbesserung des städtischen Mikoklimas, sowie eine moderne, gasbetriebene Heizanlage. Das Blockheizkraftwerk nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung konnte aus Gründen, die ich vergessen habe, nicht installiert werden. Wichtig war auch die Solaranlage auf dem Dach des Hinterhauses - weitere Infos dazu gibt es unter Solarthermie.net – an die ich mich meistens im Sommer erinnere. Denn dann ist das Warmwasser deutlich heißer als im Winter. Das ist für das Duschen nicht unbedingt notwendig, wohl aber für das Abwaschen und die Waschmaschine und ich freue mich jedes Mal, das wir damals so weitsichtig waren, das zu installieren. Mit dem Wissen von heute hätte ich noch viel mehr Engagement darauf verwendet, die Option einer Erdwärmenutzung ernsthaft zu verfolgen, denn als vorsichtiger Mensch gehe ich davon aus, dass in einigen Jahren Erdöl und Erdgas nahezu verbraucht sein werden. Davon aber ein anderes Mal.
Tczew, 18.07.2012
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wasserwerfer.jpg
(1) Bedauerlicherweise geht der Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. sehr sorglos und unsozial mit diesem Besitzstand um. Mit Kai Ratjen wurde seit 2007 ein charakterlich völlig ungeeigneter Hausverwalter eingesetzt, der ein Spezialist dafür ist, Mieter_innen einzuschüchtern, wegen Nichtigkeiten abzumahnen, Kündigungen anzudrohen, Klagen anzustrengen und so statt Wohnsicherheit Angst und Schrecken zu verbreiten.
[Andreas] Meine ersten Freunde hatte ich im Alter von 15 oder 16 Jahren. Sie waren durchgehend einige Jahre älter als ich. Einer von ihnen war Andreas. Er studierte damals Mathematik, aber darüber sprachen wir eigentlich nie, sondern überwiegend über unsere Projekte in den Jugendgruppen unserer Kirchengemeinde. Und über politische Themen wie Abrüstung und die Anti-Atomkraft-Bewegung. Nur einmal, so erinnere ich mich, fragte ich ihn, womit er sich denn im Studium beschäftige. Der Anlaß war, so meine ich mich erinnern zu können, seine Abschlussarbeit. Er murmelte etwas von Problemen der siebenten und neunten Dimension und dass ich mir erst gar nicht die Mühe machen sollte, das verstehen zu wollen. Später trennten sich unsere Wege, aber ich bekam noch mit, dass er sich für Lehmbau interessierte und entsprechende Seminare besuchte. Einmal habe ich ihn auch noch besucht – er hatte eine Frau kennen gelernt und zog mit ihr auf Land – in Roddahn bei Neustadt an der Dosse. Das mit dem Lehmbau musste aber soweit gediegen sein, dass er davon leben konnte. Seit einigen Jahren steht auf meiner Agenda, ihn und seine Familie einmal auf seinem NaturBauHof zu besuchen. Und Lehmbau ist inzwischen als Baustoff etabliert.
[Jutta] Ein anderes Beispiel ist Jutta. Sie ist eine versierte Buchhalterin und eine Spezialistin für Projekte, die zu groß sind, um sie ohne Buchhalter abzuwickeln, aber noch zu klein, um eine eigene Buchhalterin einzustellen. Folglich gibt es an allen Ecken und Enden Probleme. Auch klagte sie mir ihr Leid, nur den Vorhaben anderer Menschen dienen zu müssen. Sie meinte damit sicher auch, dass von ihr irgendwelche sensationelle Steuertricks erwartet wurden. Und sie stöhnte über den Veränderungsdruck, dem Zwang, ständig neue Richtlinien und Verordnungen der Steuergesetzgebung zur Kenntnis nehmen zu müssen. Vor einiger Zeit hatten wir ein echtes Krisengespräch. Sie träumt davon, sich irgendwo an der Ostsee mit einen Kräuterladen selbständig zu machen. Ich riet ihr, diesen Plan sofort umzusetzen, statt zu zögern und so wertvolle Zeit zu verlieren. Volles Risiko, um sich ganz und vollständig auf dieses Projekt konzentrieren und alle Kraft darin investieren zu können. Neulich kam sie dann an und erzählte mir, dass sie sich doch entschieden hätte, zunächst mit großem Engagement weiter als Buchhalterin zu arbeiten, um dann auf dieser Basis Stück für Stück ihr neues Leben als Kräuterhexe aufzubauen. Vielleicht ist das für sie der bessere Weg.
[Bruno] Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, beruflich neu orientieren möchte, wird vielleicht zuerst den Text zum Thema Umschulung bei Wikipedia nachlesen. Detailgenauere Informationen sind sicher beim einem Umschulungsberufe Ratgeber zu erwarten. Und mit Sicherheit kann es nicht schaden, das aktuelle Berufsbildungsgesetz genau zur Kenntnis zu nehmen. Ich persönlich habe in meinem Leben schon viele Berufe gehabt. Ich war Gartenbauer, Kunsttransportefahrer, Koch, Kellner, Wissenschaftler, Dozent, Herausgeber, Autor, Gastronom, Sozialarbeiter, Journalist, Geschäftsführer, Vortragsreisender, Institutsleiter und noch einiges mehr. Weil es einfach Spaß macht, sich in verschiedenen Aufgaben auszuprobieren und doch einfach nur seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Ganz im Sinne der alten kommunistischen Idee einer allseits entwickelten Persönlichkeit.
Elblag und Malbork, 18.07.2012
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Huangshan_mountain_peak_pine_trees.jpg