Rituale. Guten Tag, in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vereins xyz e.V. begrüße ich alle Mitglieder, Mitarbeiter und Gäste und eröffne hiermit die Mitgliederversammlung. Heute haben wir einiges vor, darunter die Beratung und Beschlussfassung über .... - So oder so ähnlich habe ich sicher mehr als zwei Dutzend Male die Mitgliederversammlung des Vereins eröffnet, den ich über 12 Jahre in wechselnden Konstellationen leiten durfte. Diese Sitzungen waren weitaus mehr als nur Formalitäten. Als schnell wachsendes Selbsthilfeprojekt ging es immer wieder um neue Projekte, um finanzielle Risiken, um Richtungsentscheidungen, um die Aufnahme neuer Mitglieder. Gerade dann, wenn die Menschen in der Leitung etwas wollten, war es wichtig, das Vorhaben auf eine breite Basis zu stellen und nicht etwa einen Alleingang zu starten. Die Zustimmung zur Leitung war immer dann hoch, wenn es dem Verein gut ging, wenn es etwas zu verteilen gab. In Krisenzeiten wiederum war es bequem, den Frust an der Leitung auszulassen. Für die Leitung war das eher ärgerlich, denn die Mehrzahl der Kritiker hatte selten den Mut, die Konsequenzen aus der Kritik zu ziehen und selbst die Verantwortung zu übernehmen.
Routine. Ab einer bestimmten Größe gab es regelrechte Querelen. Das erreichte Finanzvolumen suggerierte zu Unrecht, hier gibt es etwas zu holen. Flügelkämpfe um die Verteilung der Gelder wurden geführt. Häufig hinterrücks und mit unsauberen Methoden. Begehrlichkeiten gab es aus allen Richtungen und es wurde zunehmend schwieriger, eine breite Zustimmung für innovative, neue Aktionen zu erhalten. Ruhe war dann, wenn alle etwas aus dem Topf nehmen konnten, aber das bedeutete Stillstand, Etablierung. Interessen wurden instrumentalisiert, es gab wechselnde Bündnisse und strategische Allianzen. Aus einer hocheffizienten, schlagkräftigen Truppe ist in weniger als einem Jahrzehnt ein behäbiger, dümpelnder Dampfer geworden. Attraktiv war das nicht mehr, jedenfalls für mich.
Rotation. Die Vorstellung, einen Euro auf den Tisch zu legen und relativ einfach eine belastbare Rechtsform zu haben, faszinierte uns. Wir verständigten uns über die Inhalte und Ziele und konnten schon nach drei Treffen eine UG gründen. Und das Bemerkenswerte war, dass es gar nicht erforderlich war, irgendein bestimmtes Stammkapital erreichen zu können. Wir mussten nicht mehr als Einzelpersonen auftreten, sondern hatten eine Firma. Und wir waren mit der Unternehmergesellschaft genau an dem Punkt wieder angelangt, an dem wir vor vielen Jahren mit dem Verein bereits einmal waren. Wir waren eine kleine, schlagkräftige Truppe. Und das werden wir jetzt bleiben.
New York City, 30.04.2012
Stefan Schneider
Abbildung: Mast der Pamir, Detail
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:StateLibQld_1_172339_Pamir_%28ship%29.jpg
Wissenschaftlich arbeiten. Copy und Paste sind keine Erfindung des Computerzeitalters. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in den Jahren 1984 und 1985 meine Seminarpapiere erstellte. Schreibmaschine, Klebstoff und Schere waren die entscheidenden Hilfsmittel. Und so tippte ich los bis zu der Stelle, an der das erste Zitat eingefügt werden sollte. Das Blatt wurde aus der Schreibmaschine ausgespannt und das Zitatschnipsel aus dem Buch eingeklebt. Die entsprechende Passage war vorher in einem Copyshop aus dem Buch kopiert worden – Bücher zu zerschnipseln, das hätte sich damals wohl niemand getraut. Und um Platz zu sparen, wurde meistens rechts und links vom eingeklebten Zitat munter weiter getippt. Denn es machte schon einen Unterschied, für eine ganze Seminargruppe nur eine Seite oder gleich mehrere kopieren zu müssen. Meine Diplomarbeit schreib ich dann schon an einem Atari-Computer, den mir ein Freund geliehen hatte, weil der den ganzen Sommer über irgendwo unterwegs war. Erst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste hatte ich genug Geld, neben einem Computer mir einen der damals sündhaft teuren Drucker leisten zu können. Es war ein Tintenstrahldrucker. An einen Laserdrucker wagte damals niemand zu denken, das war Prestigegegenstand, den sich bestenfalls das Institut leisten konnte. Auf dessen gestochen scharfes Druckbild waren alle mächtig stolz und auch auf die Möglichkeit, in Blocksatz drucken zu können. Wir konnten damit auch ein bisschen angebeben: Wir sind modern, wir können sogar Buchdruck. Nicht mehr dieser altmodische Flattersatz der Schreibmaschinen.
Konzeptpapier. Natürlich war auch damals das Geld knapp und so experimentierte ich mit billigen Tintenfässern aus dem Supermarkt. Die Tinte verdünnte ich mit Spiritus, und das Gemisch wurde mit dicken Spritzen, die ich mir aus der Apotheke billig besorgte, in die Patrone gedrückt. Darunter litt natürlich die Qualität, und ab irgend einem Zeitpunkt konnte ich die Ausdrucke aus der abgenutzten Patrone eigentlich nur als Konzeptpapier nutzen, oder aber für Kopien.
Meinungsfreiheit. Heute, 20 Jahre später, möchte ich eigentlich gänzlich auf Papierdrucker verzichten. Gut 95 Prozent der von mir verfassten Briefe, Mitteilungen, Nachrichten und Texte sind ganz und gar virtuell, sind und bleiben lediglich Inhalt von emails, Webseiten oder versendeten PDF-Dateien. Und das ist auch gut so – denn wesentlich an Texten ist, dass sie gelesen werden und nicht, ob und wie sie gedruckt werden. Bedauerlicherweise sehen ein paar krasse Idioten das nicht so. Sie bestehen noch immer darauf, dass nur auf Holz gedrucktes wirklich ernst zu nehmen sei. Dazu gehören die meisten Gerichte, die GEZ, aber erschreckend viele Hochschulen, Unternehmen und Dienstleister. Lustig wird es immer dann, wenn mir Ausdrucke von Sachen "zur Entlastung" per Post, gelegentlich per Einschreiben, zurück geschickt werden, die ich lediglich digital übermittelt hatte. Schade um das Papier und die Arbeit der Postzusteller_innen, denke ich mir in solchen Fällen dann immer. Aber nicht nur als diesen Gründen habe ich immer noch einen Drucker. Gelegentlich leiste auch ich mir mal den Luxus, und drucke einen Text im Entwurfsstadium aus, um mit Papier und Textmarker Verbesserungen vorzunehmen. Nur in Bezug auf schlechte Qualität bin ich unduldsam geworden. Wenn, dann muss es gut aussehen. Deshalb will ich nur noch ordentliche, gut funktionierende Druckerpatronen haben, die ich dazu bequem zu jeder Tages- und Nachtzeit im Internet bestellen kann. Und es kann ja auch mal sein, dass ich tatsächlich auf die Idee komme, mal eine Plakat- oder Flugblattaktion zu machen. Dann kann ich mir das alles schon zu Hause ausdrucken. Insofern ist ein Drucker nicht nur ein Anachronismus, sondern auch ein Instrument meiner Meinungsfreiheit.
Berlin, 22.04.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Plakat_Bildungsstreik2009.jpeg?uselang=de
Sammlung. Groß geworden bin ich mit Schallplatten. Meine Eltern hatten einige und am Samstag sassen wir vor der Musiktruhe und hörten gemeinsam Musik. Besonders erinnere ich mich an Chubby Checker und den wuchtigen Bass von "Let's Limbo Some More". Aber auch Joey Dee mit seinen Starlighters waren gut: "Ya Ya". Später kaufte ich mich von meinem Taschengeld die ersten Singles und Langspielplatten, merkte aber bald, dass das Aufnehmen von Musikkassetten billiger war. Über die Jahre wuchs eine beachtliche Sammlung von mehreren Hundert Kassetten heran, bis die CD auf dem Markt auftauchte. Diese hatten auf jeden Fall den Vorteil, nicht dumpf zu werden, was häufig den neueren MCs passierte, den älteren seltsamerweise eher nicht. Offenbar wurde auch hier am Material gespart. Heute sind digitale Musikdateien der übliche Standard. Qualitätsverluste sind nicht zu befürchten, aber mehrere Sicherheitskopien können keinesfalls schaden.
Komprimierung. Wenn ich Urlaub mache, möchte ich auf meine Musik nicht verzichten. Also nahm ich auf meine Bootsurlaube immer einen beachtlichen Stapel an CDs mit und war dennoch nicht zufrieden. 30 CDs für einen vierwöchigen Urlaub, das ist nicht viel für einen wie mich, der gerne mehrere Stunden Musik am Tag hört. Aber ich habe an Bord meines kleinen Segelbootes einfach nicht genügend Platz für ein mehrere Meter langes Musikregal. So kam ich einiges Tages auf die Idee, alles Musik digital auf einer Festplatte zu speichern. Ich digitalisierte meine gesamte CD-Sammlung, nahm die nicht als CD erhältlichen Kassetten digital auf sowie auch einige wenige Schallplatten-Raritäten. Durch viele neue Freund_innen, die ich über das Internet kennen lernte, konnte ich ganze Diskographien ertauschen und einiges auch brennen. Meine Musiksammlung wuchs exponentiell und umfasst heute gute 100.000 Stücke von fast 900 Künstlern. Oder anders gesagt, ich könnte 3 Jahre ununterbrochen Musik hören ohne ein Stück zweimal hören zu müssen. Das Ganze auf einer Festplatte, die kaum größer ist als eine Zigarettenschachtel. Jetzt gibt es im Urlaub keine Qual der Auswahl mehr, sondern ich habe meine Sammlung ständig dabei – im Taschenformat.
Verbreitung. Deshalb gehe ich heute sehr freigiebig mit meiner Musiksammlung um. Leute, die eine bestimmte Musik suchen, die ich in meiner Sammlung habe, können mich gerne nach einer Kopie fragen. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich gegenwärtig mit Filmen und Videos ab. Unter dem Arbeitstitel "100 Filme für Agnieszka" stellte ich vor kurzem eine Sammlung bedeutender deutscher Filme für meine Warschauer Freundin zusammen. Inzwischen ist die Sammlung auf über 220 Filme angewachsen. Und mit Hilfe von brennen / Videobearbeitung wird auch diese Sammlung in den nächsten Jahren sicher zunehmen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es in meinem Bekanntenkreis viele Filmenthusiasten gibt, die noch manch altes Schätzchen in ihren Regalen zu lagern haben.
Berlin, 22.04.2012
Stefan Schneider
Quelle: Deutsche Fotothek
Verhandlung. An die Arbeitsbesprechungen am Institut für Allgemeine Pädagogik erinnere ich mich noch genau. Das Team bestand aus dem Professor, dem ersten langjährigen Assistenten, der zweiten Assistentin, der ebenfalls langjährigen Sekretärin und mir. Ich war der wissenschaftliche Mitarbeiter. Und genau in der Reihenfolge wurde gesprochen. Wenn ich dann zu irgendeinem Problem meine Meinung sagen wollte, was das im Grunde egal, denn mit 99%iger Sicherheit war von den Vorredner_innen alles gesagt, was mir jemals auch nur hätte in den Sinn kommen können. Entsprechend der Bedeutung in der Hierarchie war auch die Länge der Redebeiträge. Mit anderen Worten: Diese Besprechungen waren für mich nur mäßig interessant, und meistens blieb mir nichts anderes übrig als herum zu sitzen und darauf zu warten, ob die anderen vielleicht doch noch an meiner Meinung interessiert sein könnten. Und wenn ich mal eine guten, kreativen Vorschlag zu machen hatte, änderte sich die Reihenfolge der Redebeiträge und der Professor sprach als letztes. In der Regel wurden Bedenken vorgetragen und spätestens, wenn auch der Professor nicht wollte, was das Ding gestorben. Frust pur.
Verstärkung. Diese Darstellung ist natürlich maßlos übertrieben, aber nicht völlig falsch. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit funktionierte genau so und der etablierte Chef konnte mit Hilfe dieser Hierarchie einiges an Vorhaben und Projekten durchziehen, die er allein niemals so gestemmt hätte. Heute können – zum Glück – nur noch wenige Wissenschaftler_innen so arbeiten, und die meisten anderen sind darauf angewiesen, in gleichberechtigten Teams und Netzwerken zu arbeiten. Wissenschaftler_innen von heute sind Unternehmer_innen in eigener Sache. Und wenn beispielsweise im wissenschaftlichen Alltagsbetrieb Verstärkung notwendig ist, kann bequem auf virtuelle persönliche Assistenten zurückgegriffen werden. Die digitale Vernetzung, die von vielen als Verursacher des Niedergangs universitärer Privilegien angesehen wird, ermöglicht heute bequemes Outsourcing
Verfügung. Es war Karl Marx, der im 4. Kapitel vom ersten Band des Kapitals vom doppelt freien Lohnarbeiter gesprochen hat. Frei von Produktionsmitteln und frei darin, seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Auch die immaterielle Arbeiter_innen von heute sind doppelt frei. Sie verfügen mit dem vernetzen Computer und seiner freien Software über ein universelles Produktionsmittel, über das sie frei verfügen können und sind frei darin, die Erzeugnisse ihrer Arbeit frei auf dem Markt zu handeln. Es wäre interessant zu wissen, wie Karl Marx das beurteilt hätte.
Berlin, 18.03.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dar_Werkstatt.jpg