vergleiche auch: de.wikipedia.org/wiki/Jo_Mihaly
Jo Mihaly, geboren am 25.04.1902 in Schneidemühl, Pommern (heute Piła, Polen), gestorben 29. März 1989 in Seeshaupt, Bayern, nach anderen Angaben in Ascona, Tessin, Schweiz) war eine Tänzerin, Schauspielerin, Dichterin und Autorin.
Biografie
Sie wurde 1902 als Elfriede Alice Kuhr geboren, absolvierte eine Ausbildung im klassischen Tanz und wurde Mitglied des Haas-Heye-Balletts Berlin.
Von 1923-25 machte sie Tourneen in Deutschland, Auftritte in Varietes und im Zirkus. An der Volksbühne lernte sie den Schauspieler und Regisseur Leonard Steckel kennen, den sie 1927 heiratete. Mit ihm zusammen wohnte sie zeitweilig in der Berliner Künstlerkolonie. 1928-33 trat sie als Solotänzerin mit eigenen, sozialkritischen Programm auf, u.a. "Die Verfolgung der Juden" und "Vision des Krieges". Seit 1927 schrieb sie Gedichte und hatte erste Veröffentlichungen in der von Gregor Gog und der Bruderschaft der Vagabunden herausgebenen Zeitschrift "Der Kunde". In der Weimarer Republik führte sie erst selbst ein Vagantenleben und bündelte ihre Erfahrungen 1929 in der "Ballade vom Elend", einem Liederbuch in der Tradition eines Villon oder Erich Mühsam. Politisch engagierte sie sich besonders für die Rechte der Sinti u. Roma. 1931-33 war sie Mitglied der "Rote Gewerkschafts-Opposition", der "Rote Hilfe" und des "Freidenkerbundes". 1933 wird ihre Tochter Anja (Anja Ott, Schauspielerin) geboren.
1933 emigrierte sie mit ihrem Mann in die Schweiz und lebte bis 1949 in Zürich. Sie veröffentlichte Feuilletons und Artikel unter Pseudonymen in Schweizer Zeitungen und trat weiter als Tänzerin und Sängerin auf. Mihaly engagierte sich weiter für Flüchtlinge und hatte Kontakt zu Widerstandsgruppen in Deutschland. 1943 wurde sie Mitgründerin und Vorsitzende der Kulturgesellschaft der Emigranten innerhalb der israelischen Flüchtlingshilfe in Zürich. Weiterhin war sie Mitgründerin der Freien Deutschen Bewegung in der Schweiz. 1945 wurde sie Gründerin und Sekretärin des SDS. Von Oktober 1945 bis Juli 1946 arbeitete sie in Frankfurt/M., wurde von den US-Behörden aber an der Rückkehr in die Schweiz gehindert. Sie gründete die Freie Deutsche Kulturgesellschaft in Frankfurt/M. und war Mitglied der dortigen städtischen Kulturkommission.
Ab 1949 arbeitete sie als freie Schriftstellerin in Ascona; schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte und Jugendbücher.
Landstraße
Jo Mihaly hat in den 20er Jahren einige Zeit auf der Straße unter Wohnungslosen verbracht, viele ihrer Werke belegen ihre Nähe zu Menschen auf der Straße, wie nachstehendes Beispiel zeigt:
- Ich bin in die Ferne gewandert,
- so weit der Himmel reicht-
- ich habe in manchen Spelunken
- mein Quantum Verstand vertrunken
- und mich wieder nüchtern geküsst …
- … Die Straße ist ein Meister
- mit Hammer, Stichel und Stein -
- sie grub in meine Visage
- die ganze große Blamage
- bewundernswert hinein.
- denkt mal drüber nach
Auszeichnungen
Ehrenpreis der Stadt Zürich
Bibliografie
- Auch wenn es Nacht ist : Roman/ Jo Mihaly. - Hürth bei Köln [u.a.] : Ed. Memoria, 2002
- Gesucht: Stepan Varesku : Roman/ Jo Mihaly. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1989
- Wer ist der Dieb : eine Schuldfrage/ Jo Mihaly. - Stäfa : Buchdruckerei, 1988
- ... Da gibt's ein Wiedersehn! : Kriegstagebuch e. Mädchens 1914 - 1918/ Jo Mihaly. - Ungekürzte Ausg. - München : Deutscher Taschenbuch-Verl, 1986
- Drei Weihnachtsgeschichten : mit biograph. Notizen u. Werkverz. im Anh./ Jo Mihaly. - [Stäfa] : Buchdruckerei Stäfa, 1984
- ... da gibt's ein Wiedersehn! : Kriegstagebuch eines Mädchens, 1914-1918/ Jo Mihaly. - Freiburg : Kerle, 1982
- Was die alte Anna Petrowna erzählt : Geschichten aus Russland/ Jo Mihaly. - 11. - 15. Tsd. - Heilbronn : Salzer, 1975
- Gib mir noch Zeit zu lieben : Weihnachtserzählungen/ Jo Mihaly. - 11.-15. Tsd. - Heilbronn : Salzer, 1974
- Der verzauberte Hase : 2 Tier-Erzählungen/ Jo Mihaly. - Heilbronn : Salzer, 1971
- Bedenke, Mensch.../ Jo Mihaly. - Winterthur : Gemsberg-Verl., 1958
- Hüter des Bruders, Roman (Zürich 1942),
- Bedenke, Mensch; mit 25 Photographien barocker Darstellungen des Todes; Gemsberg Verlag, Winterthur; 78 S.
- Michael Arpad und sein Kind
Nachlass
Ein kleiner Teil des Nachlasses von Jo Mihaly befindet sich in der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur[1] an der Universität Hamburg [2].
Ein umfangreicherer Teil des Nachlasses befindet sich bei Thomas B. Schumann, der in seinem Kölner Kleinverlag Edition Memoria auch Mihalys Roman "Wenn es Nacht wird" im Jahr 2002 publiziert hat.[3]
Literatur
- Eine politische Dichterin des Tanzes: Jo Mihaly, in: Amelie Soyka (Hg.): Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Modernen von Josephine Baker bis Mary Wigman, Berlin: Aviva 2004, S. 38-151.
- Petra Josting: ‚Zigeuner‘ in der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik am Beispiel von Jo Mihalys ‚Michael Arpad und sein Kind. Ein Kinderschicksal auf der Landstraße’ (1930). In: Petra Josting/Walter Fähnders (Ed.): „Laboratorium Vielseitigkeit“. Zur Literatur der Weimarer Republik. Festschrift für Helga Karrenbrock zum 60. Geburtstag. Bielefeld: Aisthesis, 2005 ISBN 3-89528-546-3
- Wohnsitz: Nirgendwo: Vom Leben und Überleben auf der Strasse. - Hrsg. vom Künstlerhaus Bethanien. - 1. Aufl. - Berlin: Frölich & Kaufmann GmbH, 1982
Einzelnachweise
- ↑ [Eintrag in der Generalliste der Forschungsstelle]
- ↑ [|Übersicht des Nachlasses von Jo Mihaly am der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur]
- ↑ Hinweis zu Thomas B. Schumann
Weblinks
- Autorennotiz bei Perlentaucher
- Eintrag in der Künstlerkolonie
- Interview mit Jo Mihaly
- Ausstellung in Schneidemühl 2007
Vielen Schmähungen war der sogenannte "fünfte Stand" in den letzten beiden Jahrhunderten nicht nur seitens des Bürgertums ausgesetzt. Auch die marxistische Arbeiterbewegung sah auf Angehörige jener Schicht herab und zollte ihnen nichts als Verachtung.
Schon Marx, der in ihnen nur "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen" (1) erkennen wollte, hat diese Richtung (bis heute) vorgegeben.
Er hielt sie jeder Schlechtigkeit für fähig, wenn sie nur etwas Handgeld dafür bekämen: "Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen", hatten er und Friedrich Engels bereits im "Manifest der kommunistischen Partei" geschrieben. (2)
Im Anarchismus finden sich derartige Kategorisierungen nicht. Um ihn aber zu diskreditieren, wird die Zuschreibung, eine "kleinbürgerliche Ideologie" zu sein, die aus dem "Lumpenproletariat" komme und sich an dieses wende, von den KommunistInnen seit Marx aufrechterhalten.
Dessen ungeachtet gab es aus der anarchistischen Bewegung tatsächlich Impulse, Angehörige des "fünften Standes" gezielt für freiheitliche Ideen zu gewinnen und unter ihnen für Selbsterkenntnis, Selbstorganisierung und Selbstbefreiung zu werben.
Ich hab' mein' Sach auf nichts gestellt
Der Anarchist und Bohemien Erich Mühsam lernt früh ihre Kompromißlosigkeit, ihren fehlenden Hang, sich in der Gesellschaft in irgendeiner Form einrichten zu wollen, schätzen. Er stellt fest: "Es ist dieselbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet [...]. Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler - das ist die Boheme, die einer neuen Kultur die Wege weist." (3)
1909/10 wirbt Mühsam deshalb mit der Gruppe "Tat" in München gerade auch unter den Angehörigen des sogenannten "Lumpenproletariats", um sie für die Ideen des "Sozialistischen Bundes" um Gustav Landauer zu gewinnen. "Ich fragte mich: Sind unter diesen Arbeitsscheuen, Verbrechern, Lumpen, Vagabunden, Gesunkenen nicht solche, denen man durch Aufzeigen eines neuen menschlichen Ziels Halt und Hoffnung geben könnte?" (4)
Die Gruppe lädt zu Versammlungen ein, für die sie in den Spelunken wirbt, vor allem im "Gasthof zum Soller". Um das Interesse etwas anzukurbeln, schenkt man Freibier aus. "Sollte ich hoffen, daß sie um meiner schönen Augen willen kommen müßten?", wird Mühsam später ihr Vorgehen verteidigen. (5) Die an ihre Agitation geknüpfte Hoffnung jedoch, die Gründung einer Gruppe "Vagabund" anzustoßen, wird bald enttäuscht. Mühsam wird denunziert, verhaftet und wegen "Geheimbündelei" angeklagt; der Prozeß endet mit Freispruch.
Gregor Gog
Siebzehn Jahre später ist es wieder ein Anarchist, der sich um die Sammlung der Ausgestoßenen der Gesellschaft bemüht: Gregor Gog (1891-1945).
Gog, der 1910 freiwillig bei der Marine anheuert, weil ihn Welt und See lockten, wird im ersten Weltkrieg als Geschützführer zweimal wegen antimilitaristischer Propaganda und Meuterei vors Kriegsgericht gestellt, zu sechs Wochen Haft verurteilt und dreimal in eine "Irrenanstalt" eingewiesen. Gog und Theodor Plivier, mit dem er sich bereits bei Kriegsbeginn auf dem Vorpostenschiff "SMS Fuchs" anfreundete (6), lernen 1916 bei der 1. Marinedivision in Wilhelmshaven den anarchistischen Schriftsteller und Kupferschmied Karl Raichle kennen. Gemeinsam führen sie in einem Kasernenkeller geheime Treffen durch, an denen sich noch weitere Matrosen beteiligen. Gelesen und diskutiert werden die Schriften von Stirner, Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Tolstoi. 1917 wird Gog als "dauernd kriegsuntauglich" entlassen. Er arbeitet als Gärtner, reist als Handelsvertreter durch Deutschland, findet später für kurze Zeit Anstellung als Erzieher. Gog wird in der Lebensreform- und Siedlungsbewegung (u.a. 1924 auch in Brasilien) aktiv. Er engagiert sich in der Christ-Revolutionären Bewegung und wird Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift "Weltwende". Schließlich läßt er sich 1925 in Balingen bei Stuttgart nieder, wohnt zunächst mit seiner zweiten Ehefrau, der Schriftstellerin Anni Geiger, bei Freunden, um dann in ein selbst gebautes Holzhaus in Stuttgart-Degerloch zu ziehen. Er arbeitet als freier Schriftsteller, ist Autor diverser Beiträge für anarchistische und anarcho-syndikalistische Zeitungen. Das bescheidene Einkommen sichert Anni Geiger durch die Honorare für ihre Kinderbücher.
Gog, glühender Verfechter der Ideen Tolstois, Kropotkins und Landauers, wird 1927 Schriftleiter der erstmals im Frühjahr vom Balinger Landstreicher und Schriftsteller Gustav Brügel herausgegebenen Zeitschrift "Der Kunde". (7) Gleich die erste Nummer wird beschlagnahmt. Brügel, der darin unter Pseudonym die Liebe zwischen dem Knaben Rolf und dem Wanderprediger und Eremiten Polo beschrieben hatte, wird vors Amtsgericht geladen, setzt sich aber über Österreich nach Jugoslawien ab. Alle weiteren Hefte bis Ende 1929 werden von der von Gog initiierten "Bruderschaft der Vagabunden" (8) herausgegeben. Um die Zeitschrift scharen sich innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe von vagabundierenden SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, Akademikern, Wanderpredigern und Religionsphilosophen nebst SympathisantInnen. Zu letzteren gehört auch Erich Mühsam.
70.000 LandstreicherInnen ziehen zu jener Zeit über die Straßen Deutschlands, davon 80 Prozent Erwerbslose auf der Suche nach Arbeit. Andere haben bewußt ihr bürgerliches Leben hinter sich gelassen, um den Klassenschranken auf der Landstraße zu entfliehen.
Beginnen!
Die "Bruderschaft der Vagabunden" eint das Ziel, all jene ArbeiterInnen zusammenzufassen, die der Kapitalismus auf die Landstraßen geworfen hatte.
Zunächst geht es aber um die Hebung des Selbstbewußtseins, das Erkennen der eigenen Lage in den gesellschaftlichen Zusammenhängen, um Solidarität und gegenseitige Hilfe. In der Sammlung der Kräfte sieht die Bruderschraft eine Vorbedingung zum Sturz der bestehenden Ordnung.
Die Vagabundenbewegung lehnt staatliche und kirchliche Fürsorgeeinrichtungen (Herbergen, Wanderarbeitsstätten) wie jegliche Formen der Armutsverwaltung grundsätzlich ab. Sie setzt auf Selbsthilfe: Von KundInnen selbst aufgebaute Herbergen sollen an ihre Stelle treten, um sich so der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen (eine Forderung, die sich auch schon bei Mühsam und der Gruppe "Tat" findet). Ihre Kritik schließt die Erwerbslosenunterstützung als Gängelband des Staates mit ein.
"Der Kunde", die erste "Zeit- und Streitschrift der Vagabunden" (so der Untertitel) soll dieses soziale Bewußtsein schaffen und die Vereinzelung aufheben. Überall müßten sich die VagabundInnen zusammenschließen, um Druck auszuüben. Die Zeitschrift erscheint etwa viermal im Jahr mit einer Auflage von 1000 Exemplaren. Ca. ein Drittel davon wird in den Stempelstellen und Arbeitsämtern, in den Herbergen und Obdachlosen-Asylen verteilt. Zudem werden sie von Hand zu Hand weitergereicht und dürften so einen weitaus größeren Verbreitungsgrad gefunden haben, als die Auflage verspricht. VagabundInnen, die "unterwegs" sind, müssen nichts bezahlen. Die Zeitschrift enthält ein Potpourri aus autobiographischen Berichten, Zeichnungen und Gedichten, Liedern und Spottversen, Sozialreportagen und Geschichten sowie Beschwerden und praktischen Tips für das Überleben auf der Landstrasse. Gewürzt wird das Ganze mit einem gehörigen Schuß "Philosophie der Landstraße" aus anarchistisch-religiöser Perspektive. Die Beiträge stammen von VagabundInnen für VagabundInnen. "Der Syndikalist" über den "Kunden": "Eine der originellsten Zeitschriften, die je erschienen sind. Eine Zeitschrift von seltsam geistigem Format! Von Kunden geschrieben und herausgegeben, ganz im Sinne jener großen heimatlosen Wanderer und vagabundierenden Dichter: Villon, Rimbaud, Peter Hille, Jack London, Walt Whitman." (9)
Bald geht die Bruderschaft dazu über, öffentliche Versammlungen zu organisieren. Der erste öffentliche "Vagabundenabend" findet am 14. April 1928 in Stuttgart statt; es folgen weitere in Berlin, Mannheim, Hamburg und Dortmund.
Generalstreik das Leben lang!
In ihren Versammlungen und der Zeitschrift wenden sich die VagabundInnen nicht nur gegen die Arbeitsdienstpflicht und Zwangsarbeitsstätten (10), sondern gegen jegliche Form der Lohnarbeit. Sie erklären sich selbst für "bewußt 'faul'" (Gog). "Seine Aufgabe ist in dieser Welt nicht die spiessbürgerliche Arbeit. Diese Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung, wäre Arbeit an der bürgerlichen Hölle! Sklavendienst zum Schutze und zur Erhaltung der Unterdrücker! Der Kunde, revolutionärer als alle Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen: Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglicher Generalstreik! Nur durch einen solchen Generalstreik ist es möglich, die kapitalistische, 'christliche', kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!" Wenn sie sich vom Gängelband lösen wollten, mussten sich die KundInnen gegen Staat und Kirche, die Stützen der bestehenden Ordnung, auflehnen: "Der Staat ist nur der Zuhälter der Kirche; darum bekämpfen wir ihn nur als das, was er ist: als den Zuhälter der Kirche. Der Staat fällt mit der Kirche. Die Kirche ist das geistige Nachthaus, die Nacht der Finsternis, die verschleiert, dass hinter dieser Welt eine andere ist. Sie verlegt das Jenseits über die Wolken - diese 'Lügnerin von Anbeginn'!
Die Erde ist ein wunderbares Haus und Feld, und alles, was die sesshafte und nichtsesshafte Menschheit leidet, stammt aus den künstlich geschaffenen Grenzen, Grenzen, die nur auf dem Papier bestehen. Oder habt ihr schon je einmal solche Grenzen, wie sie auf dem Papier bestehen, in Wirklichkeit gesehen und gefunden bei eurer Wanderung über die Erde, Kumpels?!" (11)
Das Ziel der Vagabundenbewegung bleibt erklärtermaßen die freie, klassenlose Gesellschaft. Um frei zu werden, müssen die VagabundInnen selbst handeln. Vehement wenden sie sich deshalb gegen jede Art von Bevormundung durch eine Avantgarde: "Dieser Kampf da spielt sich nicht mit einem Parteibuch in der Hand ab, der Kampf wird nicht mit dem Federhalter zwischen Daumen und Zeigefinger geführt. Diese Menschen da haben keine dickleibigen, phrasendreschenden Führer, die ihnen das Problem ihrer Freiheit aus den Nöten von Rednertribünen aus vorillusionieren." (12)
AnarchistInnen und Anarcho-SyndikalistInnen
Die "Bruderschaft der Vagabunden" besteht zu einem Großteil aus MitstreiterInnen, die anarchistischen Ideen nahestehen. Einige VagabundInnen schreiben aber nicht nur für den "Kunden", sondern veröffentlichen auch Beiträge in anarcho-syndikalistischen Blättern: Gregor Gog beispielsweise im "Syndikalist", der Vagabund Gerhard Siegismund (gen. Siegi) in "Besinnung und Aufbruch". Die Nähe der Vagabundenbewegung zur Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) kommt nicht von ungefähr, gehören ihr doch auch ein paar aktive Mitstreiter an: Artur Streiter (1905-1946), Schriftsteller, Maler und Landstreicher aus Berlin, ist seit der Gründung beim "Kunden" und der "Bruderschaft" dabei. (13) Dazu kommen Helmut Klose (1904-1987), Schneider, Kundendichter und Landstreicher (14), Hermann Giesau (von seinem Freund Landauer "Nieselprim" genannt), der schon 17 Jahre auf der Landstrasse lebt (15), und Karl Heinz Bodensieck, Künstler (16). Über diese vier Genossen kommt die enge Verbindung zur Berliner FAUD und der "Gilde freiheitlicher Bücherfreunde" (GfB) zustande. (17)
Linksschwenk, marsch!
Seit 1928 werden fieberhafte Vorbereitungen getroffen, um ein erstes "Vagabundentreffen" zu organisieren, das schließlich vom 21. bis 23. Mai 1929 mit ca. 500 TeilnehmerInnen im Freidenker-Jugendgarten in Stuttgart stattfindet.
Die Zahlen bleiben zwar hinter den Erwartungen zurück, aber die Behörden hatten es den OrganisatorInnen auch nicht gerade leicht gemacht.
KundInnen hatten überall Flugblätter ausgelegt, viele erfuhren davon über "Mund-zu-Mund-Propaganda". Das Treffen wird ein voller Erfolg. Das Kunsthaus Hirrlinger öffnet zeitgleich seine Pforten zur ersten "Vagabunden-Kunstausstellung".
Mehr als 30 sollen noch folgen, an denen sich Mitglieder der im Frühjahr 1928 gegründeten "Künstlergruppe der Bruderschaft der Vagabunden" beteiligen. Die zweite große Vagabunden-Kunstausstellung findet am 1. Mai 1931 in den Räumen von Herwarth Waldens "Sturm" statt, auf der die Künstlergruppe ihren Anschluß an die kommunistische "Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands" (ASSO) (18) erklärt. Doch schon kurz nach dem Vagabundentreffen kommt es zur ersten Krise: Gog stürzt sich in die Arbeiten am Film "Vagabund" (Regie: Fritz Weiss, Erdeka-Film GmbH, Berlin), der am 16. Juni 1930 im Marmorhaus Berlin seine Uraufführung erlebt und in den darauffolgenden Monaten noch in anderen großen Berliner Filmtheatern läuft.
Die Künstlerin und Autorin Jo Mihaly, seit 1929 Mitstreiterin in der Bruderschaft und mit Gog befreundet, beschreibt das Mißtrauen und die Enttäuschung über Gog in dieser Zeit.
"Der Kunde" erscheint 1930 nicht.
Einen Monat nach der Uraufführung des Films reist Gog in die Sowjetunion. Sein besonderes Interesse gilt dem Leben der Besprisornij, der vagabundierenden Kinderbanden, die auf Geheiß des sowjetischen Erziehungsministeriums in Heimen und Kolonien "in den gesellschaftlichen Aufbauprozeß integriert" werden sollen. Gog, der leidenschaftliche Anarchist, der zusammen mit seinem Freund, dem Künstler Hans Tombrock, auf dem Vagabundentreffen noch jegliche Vereinnahmungsversuche kommunistischer Parteifunktionäre entschieden zurückgewiesen hatte, kehrt als überzeugter Kommunist nach Deutschland zurück.
Anfang 1931 gibt Gog wieder eine Zeitschrift heraus: "Der Vagabund". Sich und die "Bruderschaft der Vagabunden" erklärt er plötzlich zu einem Teil der kommunistischen Arbeiterbewegung. Die Spaltung ist bereits mitten im Gange: Gog unterscheidet nunmehr in "Kunden" und "Vagabunden". Als letztere bezeichnet er nur noch die "bewußten Landstreicher", die eine Art "Reservearmee der Arbeiterklasse" bilden sollen. Kommunistische statt anarchistisch-utopische Positionen bestimmen das Blatt. Die Losung "Generalstreik ein Leben lang" fällt zugunsten von "Wandertrieb ist Hungertrieb". Die Bruderschaft soll Wahlagitation für die KPD betreiben; Gog versucht, die LandstreicherInnen an die Urnen zu bringen. Ende 1932 tritt Gog selbst der KPD bei.
Niedergang und Verfolgung
Seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 wandelt sich die Situation auf der Landstrasse grundlegend: bis 1933 wächst die Zahl der LandstreicherInnen auf 450.000, darunter viele Notwanderer, die von der Erwerbslosenfürsorge ausgesteuert worden waren. Zu Beginn der dreißiger Jahre gewinnen die Nazis gerade unter den jungen arbeitslosen Notwanderern zunehmend an Einfluß. Etliche füllen die Reihen der SA. Gog warnt vor dieser Entwicklung, steht aber schon weitestgehend isoliert da. Seine Wandlung zum Kommunisten hatte viele vor den Kopf gestoßen. Als erste hatten sich die libertären VagabundInnen abgewandt, die die Parteidisziplin und plötzliche Staatshörigkeit Gogs grundlegend ablehnen.
Einer der ersten war der Anarcho-Syndikalist Helmut Klose. Aber auch die übrigen schreckt die Unfreiheit, die eine starre, zentralistische Organisation verheißt. Gog kannt zwar noch junge ArbeiterInnen, Erwerbslose um sich sammeln, aber das ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Er verliert endgültig seine FreundInnen und einen Großteil seiner AnhängerInnen auf der Landstraße. 1933 existiert die Bruderschaft schon nicht mehr.
Anfang April wird Gog zusammen mit seiner Frau Anni Geiger-Gog verhaftet. Das gesamte Archiv der Bruderschaft wird von der Gestapo beschlagnahmt und abtransportiert. Während Anni wenig später freikommt, wird Gog ins KZ Heuberg gesperrt. Siebeneinhalb Monate später wird er "zur Heilbehandlung" (Wirbelsäulenleiden) entlassen. Ihm gelingt die Flucht in die Schweiz, von dort reist er im Juni 1934 weiter in die Sowjetunion. Er knüpft Kontakte zu anderen Exilanten der Bruderschaft: Johnny Rieger in Dänemark und Hans Tombrock in Schweden. Nach Jahren, die immer wieder von Krankheit gezeichnet sind, stirbt er im Oktober 1945 in einem Taschkenter Sanatorium an seinem chronischen Nierenleiden aus dem Ersten Weltkrieg.
Resümee
Der Versuch der "Bruderschaft der Vagabunden", eine umfassende Selbstorganisation der Nichtsesshaften, von VagabundInnen auf überregionaler Ebene zu initiieren, steht bis heute einmalig da. Sicherlich gab es auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Ansätze dazu.
Meist waren sie nur von kurzer Dauer oder blieben lokal beschränkt.
Was aber hat sich im Vergleich von damals zu heute vom Grundsatz her geändert? Armutsverwaltung, kirchliche und staatliche Fürsorgeprogramme, Zwangsarbeit für SozialhilfeempfängerInnen, an Restriktionen geknüpfte Beschäftigungsprogramme für Erwerbslose,
Leiharbeit bzw. Wanderarbeit (Montage), Streichung von Unterstützungsgeldern, Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben und Verweigerung von Lohnarbeit, Vertreibung und Kriminalisierung Nichtsesshafter - sind das denn tatsächlich so neue Entwicklungen?
Oder nicht doch nur wieder eine Seite der gleichen Medaille?
Gut, es gibt keine Arbeitshäuser mehr. In den Naturalverpflegungs- und Wanderarbeitsstätten wurde aber auch nichts anderes als eine Arbeitsleistung gefordert, um in den Genuß elementarer Leistungen (Nahrung und Unterkunft) zu gelangen.
Die Arbeiterkolonien dienten allein dem Ziel, "Arbeitsfähige" von "Arbeitsunwilligen" zu trennen.
Die ArbeiterInnen mußten sich für ca. drei bis zwölf Monate vertraglich verpflichten, die geforderten Arbeiten zu verrichten - für 'nen Appel und 'nen Ei. Bei Zuwiderhandlungen wurden sie von der Fürsorge ausgeschlossen und auf "schwarze Listen" gesetzt. Die Not- und Berufswanderer zogen nur auf der Suche nach Erwerbsarbeit und Auskommen durchs Land, arbeiteten einen Tag hier, die andere Woche vielleicht dort.
Die Arbeitsformen und ordnungspolitischen Instrumente haben demnach nur einen anderen Namen bekommen.
Die Grundprobleme sind damit jedoch nicht verschwunden: sie heißen Staat und Kapitalismus. In Zeiten grassierender Armut, mit der Perspektive der Verelendung von noch weit größeren Teilen der Bevölkerung (mit Alg II), drängt sich die Frage geradezu auf, was die direkt und indirekt Betroffenen dem entgegenzusetzen haben.
Eigentlich ist meine Antwort darauf immer dieselbe: Selbstorganisierung und Aufbau gesellschaftlicher Gegenstrukturen.
Zerschneidet das Gängelband!
(1) Karl Marx im "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte"
(2) zitiert nach: Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I. Dietz Verlag Berlin 1959; S. 33
(3) Erich Mühsam: Publizistik - Unpolitische Erinnerungen. Ausgewählte Werke Band 2. Herausgegeben von Christlieb Hirte. Verlag Volk und Welt Berlin 1978, 1. Auflage, S. 31
(4) wievor, S. 62
(5) wievor, S. 63
(6) Plivier verarbeitete seine Erinnerungen an Gog und seine Kriegserlebnisse bei der Marine in seinem Roman "Des Kaisers Kuli"
(7) Kunde: niederdeutsch für LandstreicherInnen
(8) Vagabund: verächtliche Bezeichnung für LandstreicherInnen; wurde zum Kampfbegriff umgedeutet
(9) "Der Syndikalist", 9. Jg. [1927], Nr. 49 [Beil.]. Zitiert nach: http://www.free.de/dada/dada-p/P0001693.HTM
(10) 1. Naturalverpflegungs- und Wanderarbeitsstätten: in kommunaler Trägerschaft; Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung für arme Wanderer gegen Arbeitsleistung (Holzhacken, Steineklopfen). 2. Ländliche und städtische Arbeiterkolonien: in Trägerschaft von Provinzial- und Landesvereinen; vertragliche Verpflichtung für einige Monate bis zu einem Jahr; Zuwiderhandlung bzw. Verstöße gegen die Hausordnung führten zu Ausschluß aus Wanderarmenfürsorge ("schwarze Listen"); gefängnisähnliche Hausordnung, religiöse Prägung; Stellen von Unterkunft, Verpflegung, brauchbarer Kleidung gegen Arbeitsleistung (Meliorations- und Kultivierungsarbeiten von Ödland, Ackerbau und Viehzucht bzw. Fabrikation von Bürsten, Holzschuhen, Kisten und Strohhülsen für Flaschen). 3. Arbeitshäuser: strafrechtliches Instrument, sogenannte "korrektive Nachhaft für unverbesserliche Arbeitsscheue" im Anschluß an Haftstrafe; Vollzugsanstalt der Landespolizeibehörden mit Gefängnisdisziplin und Arbeitszwang
(11) beide Zitate aus: Gregor Gog: Was will die Bruderschaft der Vagabunden. Aus: Der Kunde, Heft 1/ 2, 3. Jg., 1929. Zitiert nach: Trappmann: Landstrasse, Kunden, Vagabunden, S. 90
(12) Hans Tombrock: Vagabundenabend in Berlin am 25. Juli 1928 im Jugendheim des Ostens. Aus: Der Kunde, Heft 1/ 2, 2. Jg., 1928. Zitiert nach: Trappmann: Landstrasse, Kunden, Vagabunden, S. 67
(13) lieferte zahlreiche Artikel und Zeichnungen; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Die Internationale", "Besinnung und Aufbruch", "Der proletarische Atheist". Ausstellung seiner künstlerischen Werke auf der ersten "Vagabunden- Kunstausstellung"1929 in Stuttgart
(14) wirkte als Darsteller in Gogs Film "Vagabund" von 1930 mit. 1933 Flucht nach London; 1936 Spanienkämpfer, wurde nach dem Bürgerkrieg im französischen Lager Gurs interniert; gehörte zur Exilgruppe "Deutsche Anarcho-Syndikalisten" (DAS)
(15) lieferte Artikel; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Besinnung und Aufbruch"
(16) lieferte Artikel und Zeichnungen; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Besinnung und Aufbruch". Ausstellung seiner künstlerischen Werke auf der ersten "Vagabunden- Kunstaustellung"1929 in Stuttgart
(17) Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte, Bd. 5. Libertad Verlag Berlin/ Köln 1994, S. 180, 213, 215, 251, 294.
(18) Kurzform; eigtl. Abk. ARBKD
Weitere Quellen
Klaus Trappmann (Hg.): Landstrasse, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Gerhardt Verlag Berlin 1980.
Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Landstrasse. Herausgegeben vom Künstlerhaus Bethanien. Verlag Frölich & Kaufmann GmbH Berlin 1982
Editorische Anmerkungen
Der vorliegende Text erschien in der GRASWURZELREVOLUTION 295 januar 2005 und ist eine Spiegelung von
http://www.graswurzel.net/295/vagabunden.shtml
Unterkategorien
Jonny G. Rieger (1908 - 1985)
Warum Jonny G. Rieger? - In den Gesprächen auf der Straße mit Wohnungslosen konnte ich den Satz gelegentlich hören: "Was ich alles erlebt habe, darüber könnte man ein Buch schreiben!" Es bleiben in der Regel ungeschriebene Bücher. Bei genauerem Hinsehen sind es nicht wenige, die über ihr Leben auf der Straße geschrieben haben. Einer von ihnen ist Jonny Rieger.
1908 in Berlin-Wedding geboren, kommt mit Kriegsbeginn 1914 in die Schule, "ewiger Kampf gegen kriegsverrückte Lehrer", danach Ausbildung als Metallbildhauer "im Grunde ein feiner Beruf", anschließend arbeitslos, seit 1926/27 auf der Straße. Reiste 1931 als Reporter der 'Arbeiter Illustrierten Zeitung' um die Welt, arbeitete in verschiedenen Berufen. Emigriert 1932 über Frankreich, Spanien, Luxemburg, Holland und Schweden nach Dänemark: Lebt dort bis zu seinem Tod 1985. Artikel, Reiseberichte, Erzählungen und Romane in deutscher und dänischer Sprache.
Gregor Gog schreibt über ihn:
"Ein armer Schlucker von Landstreicher war er, der an keinem Morgen weiss, wo ihn die kommende Nacht vervirgt. Gesetz war ihm ein Stück Brot für den Tag; im übrigen: Augen auf! Die Tage umblättern wie die Seiten eines Buches und kein Wort verlieren von dem, was das Leben jeden Tag neu in dieses Buch hineinschreibt. Schön war die Erde! Und schön war das Leben! Aber die Menschen hausten darin wie Verrückte in einer Irrenanstalt. Wer - alle? Wer waren die Architekten dieser Irrenanstalt? Dieselben, die Hunderttausende und Millionen Menschen auf die Strasse spucken wie - wie Rotz? Augen auf, Jonny! Das muss man auskundschaften! Jung war er, anfangs der Zwanziger; dreimal waren wir uns seither begegnet. Die gierigen Augen sagten: "Ich fress dich." Aber das war nicht so schlimm gemeint. Der da ein- und zweimal vor mir sass, konnte noch lachen wie ein Junge. In der Rocktasche trug er, statt Brot, Gedichte. Worte und Sätze standen da, die wie helle Hammerschläge an ein verriegeltes Tor klopften: "Aufgemacht!""
Hier gehts zur Bibliografie und hier zum Nachlaßverzeichnis.
Jonny Rieger sagt von sich selbst:
"Als ich achtzehn bin, brechen Wandertrieb und der ewige, ungestillte Hunger nach dem Leben endgültig und unaufhaltsam durch-: Vagabund, Landstraße.Wieder und wieder Landstraße. Der Beruf taugt nichts. Nicht eine Brotkrume ist er wert, trotz dem Prüfungsprädikat "Sehr gut", trotz dem "Preussischen Staatspreis" bei einer Ausstellung von Berufsarbeiten, trotz dringenden Empfehlungen an die Akademie der Künste. Alles einen Dreck wert. Das Kunsthandwerk verludert - die Werkstätten wurden geschlossen. K-r-i-s-e! K-r-i-s-e! Also: immer nur Gelegenheitsarbeit. Immer wieder Arbeitslosigkeit, immer wieder Hunger, Mittellosigkeit, Obdachlosigkeit, Bettler, Vagabund. Und weiter, immer weiter unterwegs: Hunger nach Brot und nach dem Leben dieser Welt. Und so viel gemordete Sehnsucht und Liebe...
So - so wars; und alles das war ich. Und dabei habe ich gelesen und gelernt, gelernt und gelesen und aus der Überlast des Erlebens zu begonnen: Artikel, Skizzen, Reportagen, Kurzgeschichten, Novellen. Nicht viel; sehr langsam, sehr wenig, sehr sparsam und kritisch."
Und ein Rezensent urteilt über Riegers Roman "Mein Leben gehört mir!":
Im Unterschied zu zahllosen Romanen, die zuerst ermüden und dann langweilen, beginnt Riegers autobiographischer Roman zugegeben etwas schleppend, vermag aber zunehmend den Leser zu fesseln. Ich empfehle dieses Buch: Die dort gestellten Fragen, die dort geschilderte Auseinandersetzung haben nichts an Aktualität verloren.Er beschreibt, was er erlebt, sieht und wahrnimmt, was er tut und was ihm passiert, er sagt, was er denkt, was ihn bewegt und was ihn verfolgt und ihm Angst macht. Seine unspektakuläre, klare, ungekünstelte Sprache ohne gewährt Einblicke in die ganze Komplexität seines Innenlebens, seiner Gefühls- und Gedankenwelt, den Beweggründen seines Unterwegsseins im Niemandsland. Sentimentalitäten oder romantische Verklärungen des Lebens auf der Straße kommen erst gar nicht auf.
Es ist eine echte Alternative zu den zahlreichen Produkten auf dem literarischen Markt, bei denen die Autoren sich in eine ihnen fremde Realität hineinschummeln, um ihr schriftstellerisches Gestümper mit dem billigen Schein gelebter Autentizität zu vergolden. Ganz anders Rieger: Indem er über sein Leben auf der Straße schreibt, wird er damit fertig - ohne je damit fertig zu sein. Bei alledem bleibt Rieger unbequem, und das beschreibt die Faszination, den dieses Buch ausübt:
"unsere Welten waren so verschieden. Ich watete im Morast herum, und er schwebte über den Wassern. Wenn ich zu dem realen Grund der Dinge kam, dann kletterte er schon wieder auf einer Himmelsleiter in überirdischen Dimensionen herum. Ich holte ihn wieder herunter, und alles begann von vorn. Alles bekam einen tieferen Untergrund oder einen höheren Übersinn, wenn er es betrachtete. Wenn ich vom Hunger sprach, meinte ich den Hunger. Er meinte - "ein Stadium harter Prüfungen, die erlösenden Einfluß auf die geistige Durchdringung ausübten, um die ethischen Fähigkeiten des Menschen fördernd zu durchdringen."
Er beschreibt, was Wohnen auch sein kann: Der Tod auf Raten in den eigenen 4 Wänden. Es ist ja so: Was wir von den sog. "Betroffenen" erwarten, sind Einblicke in die Lebenssituation - wie es wirklich ist - und wie "es dazu kam". Jonny Rieger fasziniert, weil er sich gegen jedes Schema stellt:
"Mein Leben gehört mir - und niemand soll darüber bestimmen, sich da reinmischen oder darin rumpfuschen, keiner dieser Kerle mit oder ohne Uniform, kein Staat, kein Gott. Unser Schicksal gab uns keinen Kredit. Wir gerieten ins Niemandsland der Kastenlosen. Wir wurden Parias, heimatlose Nomaden und vaterlandslose Rebellen."
Im Zeitalter der Computergesellschaft wird genau das Thema des Nomadentums wieder thematisiert: Das kann kein Zufall sein! Und genau aus diesem Grund - so meine These - ist Rieger aktueller als jemals zuvor.
Wer mehr über Jonny Rieger wissen möchte, sollte in diesen WWW-Seiten nachschauen. Wer es etwas sinnlicher möchte, kann im Ausstellungskatalog zu "Wohnsitz: Nirgendwo" nachschlagen. Dort finden sich auch noch Abbildungen einiger seiner Artikel und Fotos. Und hier sollte es demnächst auch mehr geben...
Berlin, Januar 2008,
stefan schneider