Strassenverkauf durch Politiker
Pünktlich um 11:30 erschien der Bezirksstadtrat Stawinoga von Berlin - Hohenschönhausen am Eingang des Lindencenters am vereinbarten Standort zur Verkaufsaktion von Straßenzeitungen im Rahmen der Aktionswoche "Obdachlosigkeit und Gesundheit". Nach kurzer Begrüßung der Leute vom Straßenfeger und weiterer Mitarbeiterinnen des Bezirksamts schritt er entschlossen zur Tat. Er griff sich einen nicht unerheblichen Stapel an Zeitungen und sprach in den folgenden anderthalb Stunden so ziemlich jeden Passanten an, der ihm über den Weg lief. Frauen, Männer, Jugendliche, Familien, BVG-Mitarbeiter, Punks, Bauarbeiter, Polizisten. Nicht immer hatte er Erfolg. Seine Masche, wahlkampferprobt: "Haben Sie mal eine Minute Zeit für mich?" Und wer diese Minute Zeit haben wollte, hatte schon fast gewonnen. Er oder sie konnte sich erklären lassen, daß hier eine Obdachlosenzeitung für einen guten Zweck verkauft wird und um auf die Situation der Obdachlosen aufmerksam zu machen. Nach anderthalb Stunden der Kassensturz: Fünf Leute hatten in harter Arbeit knapp 160 Mark erwirtschaftet - oder, anders gesagt: 80 Zeitungen verkauft. Dieses Geld konnte als Spende für den Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. verbucht werden. Alltäglicher Redaktionsbedarf kann damit finanziert werden: Papier, Druckerpatronen, Briefumschläge, Telefonkosten. Und schon wieder ist die Arbeit eines Obdachlosenselbsthilfeprojekts durch einen kleinen Beitrag unterstützt worden. Wichtiger ist sicherlich die symbolische Wirkung: Wenn selbst schon Politiker die Zeitung verkaufen, dann ist Zeitungsverkauf wohl mehr als nur eine Variante des Bettelns.
Wichtiger Nebeneffekt: Durch derartige Vorbilder angespornt, faßte sich der nichtobdachlose Vereinsvorsitzende Stefan Schneider ein Herz, griff sich den Straßenfeger und versuchte sich ebenfalls erstmalig im Verkauf der Zeitung. Die Unsicherheit war ihm anzumerken - er verkaufte insgesamt 4 Zeitungen. Der Straßenfeger wäre schließlich eine interessante und informative Zeitung, die ihr Geld wert sei. "Daß ich diese Hemmschwelle überwunden habe, ist ein gutes Zeichen", so Schneider. "Das werde ich jetzt öfter tun!" Demnächst wolle er am Vertriebsbus einen Verkäuferausweis beantragen: "Ich möchte gerne die Verkäufernummer Null-Null-Schneider haben", erklärte er selbstbewußt nach der Verkaufsaktion. Der Zeitungsverkauf müsse auf eine breitere Basis gestellt werden. Mit dem erwirtschafteten Geld kännten beim Verein mob e.V. viele sinnvolle Projekte der Selbsthilfe für Obdachlose angeschoben werden.
Bruno Katlewski
Krause hat Fenster
In den letzten Ausgaben hat der strassenfegers kontinuierlich dafür geworben, den Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. darin zu unterstützen, Räume auszubauen, um für den Winter eine Notübernachtung für Bedürftige fertigzustellen. Das Motto dieser kleinen Kampagne war: Fenster für Krause. Krause, selbst zur Zeit obdachlos, war mit einer der vielen Freiwilligen, die eigentlich Tag für Tag auf der Baustelle vor Ort waren, um zu helfen. Im Sommer klafften in der Tat im ersten Stock noch riesige Löcher. Die Feststellung, dass das Dach erneuert werden musste, weil es mit defekten, asbesthaltigen Platten gedeckt war, hielt den Verein noch zusätzlich auf. Der eine oder andere Leser mag sich vielleicht erinnern an die spektakulären Bilder von Menschen, die in Vollschutzanzüge, wie Kosmonauten verkleidet, auf dem Dach fuhrwerkten. So erforderten es die Bauvorschriften, so wurde es auch umgesetzt. Inzwischen gibt es ein neues, dichtes Dach und die Arbeiten konnten fortgesetzt werden. Auch Krause war dabei. Im nächsten Schritt gelang es dem Verein, isolierverglaste Fenster zu besorgen - Spenden natürlich - die vom Format auch in die Öffnungen der ehemaligen Lackiererei passten. Die Löcher in der Wand mussten noch etwas aufgemauert werden, die Rahmen wurden sorgsam eingesetzt, und gestern meldete der bauleitende Mitarbeiter: Die Fenster sind jetzt drin - kannste gucken. Damit ist dieser Teil der Arbeit geschafft, aber noch immer ist das Ziel der Fertigstellung der Notübernachtung in weiter Ferne. Das liegt daran, dass die Arbeiten sich bisher konzentrierten auf die Fertigstellung der Treffpunkträume. Im Aufenthaltsraum wurde Fussbodenestrich gegossen um die Voraussetzungen für das Fliesen der Fußböden zu schaffen. In dem Bereich der Küche wurde daran gearbeitet, einen Fußbodenabfluß zu gewährleisten, um die Küche gut reinigen zu können, sowie die notwendigen Zu- und Abflüsse für die Spüle zu gewährleisten. Auch an die notwendigen Stromanschlüsse musste gedacht werden. Ein weiteres großes Thema waren die Toiletten. Im Moment ist es so, dass alle in dem Standort arbeitenden Menschen sich eine Toilette teilen müssen. Und die Redaktion sitzt genau im Durchgangszimmer. Deswegen wurde - auch Krause war mit dabei - gleichzeitig ganz intensiv daran gearbeitet, einen Toilettentrakt fertigzustellen, der sich vom Treffpunktraum her erschließt. Und zwar zum einen eine behindertengerechte Toilette, ein Pissoir für die Männer und eine zweite Toilette. Die Redaktion dieser Zeitung wird dankbar sein, wenn sie dann etwas ruhiger arbeiten kann. Und zugleich hat die Haustechnikabteilung die ersten Lichtanschlüsse für den Treffpunktraum gelegt. Damit ist klar: In den letzten Wochen ist ganz viel passiert, aber in Sachen Notübernachtung ist nichts weiter geschafft worden außer, dass Krause jetzt seine Fenster hat. Ansonsten ist die zukünftige Notübernachtung ein einziger, etwas grau und traurig guckender Rohbauraum.
Was ist hier los? Kriegen die das nicht hin? Dazu ist es notwendig, sich den Charakter dieser Baustelle vor Augen zu führen. Der Verein mob e.V. ist weder finanzstark noch verfügt er über einen Sponsor. Vielmehr basiert die Arbeit des Vereins auf ehrenamtlichem Engagement vieler Menschen und der Bereitschaft, Menschen die Gelegenheit zu geben, ihre gemeinnützige Arbeit oder ihre Freie Tätigkeit - salopp gesprochen: Arbeit statt Strafe - oder ihr Praktikum bei uns abzuleisten. Arbeit ist somit für alle Beteiligten eine Chance, sich in ein laufendes Vorhaben aktiv einzubringen, den guten Willen zu zeigen und mitzuwirken bei einem Prozeß, bei dem man Schritt für Schritt Resultate sehen kann. Hinzu kommt, dass alle Mitwirkenden neben der Mitarbeit in unserem Projekt noch ihre privaten Angelegenheiten regeln müssen. Ich kann morgen nicht kommen, weil ich erst mal zum Sozialamt muß, ist ein Satz, der häufig fällt. Oder zum Wohnungsamt, oder zum Arbeitsamt oder irgendwelche anderen wichtigen Besorgungen. Diesem an und für sich wichtigen Anliegen kann man nur schwer widersprechen, weil eben ein Ziel des Vereins auch ist, dazu beizutragen, dass Menschen ihre Lebenslage verbessern. Auch wenn es sich dann gerade im konkreten Fall genau um den Menschen handelt, der gerade den Wasseranschluß legen oder die Wand verputzen könnte. Wenn man dazu weiß, dass im laufenden Ausbau im Prinzip nur gespendete Materialien verarbeitet werden können, wird klar, dass es nur langsam vorangehen kann. Was zusätzlich an Material eingekauft werden muß, muß der Verein mob e.V. mühselig erwirtschaften durch das gemeinnützige Trödelprojekt. Damit ist das Vorhaben Fenster für Krause ein Geduldspiel, ein riesengroßes Puzzle. Gefragt ist von allen Beteiligten eine buddhistische Grundhaltung, eine große Gelassenheit. Um so mehr ist es wichtig, dass der Verein Unterstützung erfährt durch interessierte Leserinnen und Leser, die dieses Grundanliegen unterstützenswert finden und bereit sind, Geld, Material oder Zeit zur Verfügung zu stellen. Fenster für Krause, ein wichtige Hürde hat der Verein mob e.V. nehmen können.
Bruno Katlewski
Zeugen einer Hoffnung
Ja, es war schon subversiv. Solange ich zurückdenken kann, immer Sonntag vormittags diese Versammlungen. Später bin ich freiwillig hingegangen. Zunächst habe ich gar nicht so richtig verstanden, worum es geht: Diese Kostümierungen, sitzen, stehen, knien, singen, zuhören, essen gehen. Was sich mir eingeprägt hat, waren diese Erzählungen. Da macht einer eine Party und lädt Huren ein und Verbrecher. Da sind Leute krank und kaputt und sie werden geheilt. Da sind Leute ausgestoßen, keiner will mit ihnen zu tun haben und der Typ geht da hin und feiert mit ihnen. Zum Schluß waren sie so besoffen, da§ sie glaubten, er könnte übers Wasser spazieren. Der Kerl marschiert in den Tempel ein und räumt erst mal auf. Da treffen sich spontan 5.000 Leute und Essen und Trinken ist da bis zum Abwinken. Wasser wird in Wein verwandelt. Kommunismus wird propagiert. "Der Stein, den die Baumeister verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden." (Ezechiel). Provokation, Aufstand, Aufruhr. Leben, Sterben, Kämpfen. Hoffnungen. Gelebte, realisierte Hoffnungen. Utopien, Träume, Illusionen, Programme. Und das alles in den kleinen, in den kindlich Kopf. Sonntag für Sonntag. Organisierte Indoktrination. Mit Stolz, mit Freude, ritualisiert, euphorisch, durchschnittlich, letztlich bürgerlich. Wurzeln menschheitsgeschichtlicher Erinnerungen, verkleidet, verschüttet, rudimentär. Durst ist schlimmer als Heimweh.
Schon deshalb kann er nicht tot sein. Wer mit seiner Botschaft - seiner Lebensleistung, wie man heute sagen würde - in der Lage ist, sich derart in die Köpfe der Menschen zu bringen, selbst 2 Jahrtausende nach seiner Ermordung - der lebt, der ist gegenwärtig. Wer sagen kann "ich bekenne, ich habe gelebt", der ist unsterblich. Zeuge einer Hoffnung. Nur wenige Tage nach dem Putsch von General Pinochet starb in Chile der große Pablo Neruda. Auf seinem Trauerzug wurden die Namen der Opfer des Putsches genannt. Die Leute riefen zu jedem Namen: "presente": Sie sind hier, sie sind unter uns, sie sind bei uns, sie leben. Zeugen einer Hoffnung: "Steige auf, mit mir zum Leben zu erwachen, Bruder." (Neruda)
"Gott ist das beste Wort für das der Materie innewohnende Prinzip" (Siggi Pethke). Ernesto Cardenal gründet auf Solentiname eine Gemeinde und diskutiert jeden Sonntag mit nicaraguanischen Bauern die politischen Schlußfolgerungen des Evangeliums. Er mischt sich in den militärischen Kampf gegen den Diktator Somoza ein: Sein Argument: "Die Waffen brachten Frieden!" Daniel Berrigan kämpft zeitgleich in den USA in gewaltfreiem Widerstand gegen den atomaren Abschreckungswahn und schreibt Cardenal aus dem Knast: "Jeder Tropfen Blut, der vergossen wird, ist ein zu hoher Preis für die Freiheit". Wir werden dieses Problem nicht entscheiden können, Gott selbst ist zu widersprüchlich, zu wenig eindeutig. "Ich bin, der ich sein werde" - so offenbart er sich dem Mose im brennenden Dornbusch. Kraft und Vision genug, um den Exodus zu wagen, den Aufbruch der Menschheit aus der Sklaverei hin in das gelobte Land. Daß von denen, die da aufbrachen, niemand ankam, wäre das ein Grund gewesen, diesen Schritt nicht zu tun?
Es ist nicht wichtig, ob es Gott gibt, ob Jesus lebt, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Selbst Christen sagen, da§ man diese Fragen nicht beantworten, sondern nur glauben kann. Gebt Zeugnis von Euer Hoffnung! Diese Botschaft ernstgenommen, bedeutet: Gehen wir in die Kirchen, sie sind unser zu Hause, teilen wir, was wir haben, feiern wir dort grandiose Feste und verwandeln wir Wasser in Wein, besprechen wir dort alle wichtigen Fragen, organisieren wir uns!
Bruno Katlewski
Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du wirst neben mir keine anderen Götter haben. Du wirst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du wirst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben auf auf meine Gebote achten, erweise ich tausenden meine Huld. Du wirst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mi§brauchen, denn der Herr lЧt den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht.
Du wirst des Sabbats gedenken und ihn heilig halten. Sechs Tage wirst du schaffen und jede Arbeit tun können. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm wirst du keine Arbeit tun, du, dein Sohn, und deine Tochter, deine Freunde und Freundinnen, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.
Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
Du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott dir gibt.
Du wirst nicht morden.
Du wirst nicht die Ehe brechen.
Du wirst nicht stehlen.
Du wirst nicht falsch gegen deinen Nachbarn aussagen.
Du wirst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen, nach seinem Freund oder seiner Freundin, seinem Rind oder seinem Daimler oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehšrt.
Diese Worte sagte der Herr auf dem Berg zu unserer vollzähligen Versammlung, mitten aus dem Feuer, aus Wolken und Dunkel, unter lautem Donner, diese Worte und sonst nichts. Er schrieb sie auf auf zwei Steintafeln und übergab sie mir.
(2. Buch Mose: Exodus 20, 1-17; 5. Buch Mose: Deuteronomium 5, 22)
Von Obdachlosen lernen ...?
Der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V., der diese schöne Zeitung herausgibt, ist gemeinnützig und auf Grund dessen von einigen Steuern befreit. Das Finanzamt, das eine solche Bescheinigung nach Prüfung aller Unterlagen ausstellen kann, hat dies damals damit begründet, das der Verein "der Förderung der Volksbildung" diene. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, erschließt sich aber nach einigem Nachdenken. mob e.V. wurde 1994 gegründet mit der Zielsetzung, vorrangig die Lebensumstände obdachloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen zu verbessern. Dabei ging es damals zu aller erst darum, als demokratische Gruppe, der von Anfang an auch Obdachlose und ehemals Obdachlose angehörten, eine Obdachlosenzeitung herzustellen, herauszugeben und in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Diese Zeitung hieß damals mob - magazin, später motz, dann strassenfeger, zwischenzeitlich sogar strassenzeitung oder kurz straz. Natürlich war es von Anfang an wichtig, mit der Zeitung armen und obdachlosen Bürgern damit eine Verdienstmöglichkeit zu eröffnen, und damit ein Stück Würde und Selbstbestimmung zu geben. Aber auch die Idee, Menschen auf diese Art und Weise eine Plattform für ihre eigenen Anliegen zu eröffnen, stand im Mittelpunkt der Arbeit. Nicht nur im Verkaufsgespräch, sondern auch durch Artikel, die in der Zeitung veröffentlicht wurden und durch Stände auf Strassenfesten und politischen Veranstaltungen. Damit ist es gelungen, dem Thema Obdachlosigkeit einen breiten Raum in der öffentlichen Wahrnehmung zu verschaffen. Mit diesem Impuls hat sich in den letzten Jahren die Situation der Wohnungslosen deutlich verbessert: Es sind weniger geworden, die Zahl der Obdachlosen ist seit einigen Jahren leicht rückgängig. Auch ist das Netz der Versorgungsangebote besser und dichter geworden, überall sind Übernachtungsstellen, Kleiderkammern, Wärmestuben, Beratungsangebote, betreute Wohnformen hinzugekommen. Auch die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, hat abgenommen, es ist für diese Menschen sicher leichter geworden, Hilfen zum Überleben zu finden. Gerade in der Zeit vor Weihnachten überschlägt sich die Bereitschaft, Obdachlosen etwas Gutes zu tun.
Insofern ist es durchaus berechtigt, festzustellen, daß es die Obdachlosen selbst waren, die durch ihre langjährige Arbeit dazu beigetragen haben, daß sich an der Situation insgesamt einiges gebessert hat. In dem Maße, wie sich arme Menschen durch den Verkauf der Zeitung zu ihrer Armut bekennen, tragen sie dazu bei, daß diese Thema nie aus der Aufmerksamkeit verschwindet, auch im Sommer nicht, auch dann nicht, wenn andere Themen (wieder) wichtiger werden. Und auch der Verkauf der Zeitung ist nur die Spitze des Eisbergs, was Aktionen und Initiativen angeht, die Lebenssituation armer und ausgegrenzter Menschen zu verbessern. Eigentlich seit Beginn der Strassenzeitungen wird in diesem Umfeld daran gearbeitet, Notübernachtungen und Versorgungsmöglichkeiten anzubieten, Anlaufstellen offen zu halten und Beratung zu organisieren, Kleiderkammern, Essensversorgung, Hilfe bei der Wiederbeschaffung von Wohnraum und Wohnungseinrichtung sind weitere Stichworten. Im Kern geht es darum, ohne staatliche Förderung ganz unterschiedliche Formen der Selbsthilfe auf die Beine zu stellen, einfach um zurechtzukommen. Auch hier kann es sein, daß mit den verschiednen erprobten Ansätzen die Obdachlosenvereine mal wieder einen wichtigen Schritt nach vorne gehen: In Zeiten knapper (staatlicher) Kassen kann die Phase des Heulens und Zähneklapperns einfach übersprungen werden - Selbsthilfeprojekte wie mob e.V. mußten und wollten auch von Anfang an eigenverantwortlich wirtschaften und zurechtkommen und so ein großes Stück an politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit bewahren. Auch wenn es natürlich korrekt ist, von der einen oder anderen Stelle einen Arbeitsplatz oder Arbeitsmaterial gefördert zu bekommen.
Die ganze Arbeit der (Selbst-)hilfe von und für Wohnungslose funktioniert natürlich nur, das muß an dieser Stelle ebenfalls klar und deutlich gesagt werden, weil es von Anfang an Bürgerinnen und Bürger gab, die bereit waren, etwas von sich aus zu geben, um die Arbeit beispielsweise von mob - obdachlose machen mobil e.V. zu unterstützen. Die Formen dieser Unterstützung sind dabei so vielfältig wie unser Selbsthilfeansatz selbst. Beginnend mit der Bereitschaft, eine solche Obdachlosenzeitung überhaupt zu kaufen, war im Verlauf der Jahre zu konstatieren, wie Firmen Material spendeten, Menschen angeboten haben, sich einige Stunden ehrenamtlich zu engagieren, es gab kostenlose Tipps und Hinweise, die Arbeit zu verbessern, Anrufe, gebrauchte Kleidung oder Möbel abzuholen, Lebensmittel kurz vor dem Verfallsdatum dürfen kostenlos abgeholt und weiter verarbeitet werden, Menschen möchten ihr Praktikum ableisten oder eine Forschungsarbeit über Selbsthilfearbeit schreiben, die Redaktion darf Artikel kostenfrei abdrucken und vieles mehr. Dieses Potential, was hier nur angedeutet werden kann, wurde in seiner ganzen Fülle bisher gar nicht wirklich genutzt werden. Das bedeutet nicht, daß der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. in irgendeiner Weise finanziell reich sei: Das Gegenteil ist der Fall.
Ein schlagendes Beispiel dafür ist das neue Projekt von mob e.V. in der Prenzlauer Allee 87: Weil der bisherige Treffpunkt in der Schliemannstraße mit seinen Funktionen Notübernachtung, Küche, Büro und Beratung, Dusche, Küche, Kleiderkammer und Treffpunkt aus allen Nähten platzte, machte der Verein sich auf der Suche nach neuen und größeren Räumlichkeiten, um seinen selbst gewählten Auftrag der Verbesserung der Lebensumstände wohnungsloser und armer Menschen besser nachkommen zu können. Neben der Aufgabe, die damit verbundenen Kosten an Miete und Betriebskosten selbst erwirtschaften zu müssen, müssen die Räume erstmal überhaupt für diese Funktionen ausgebaut werden. Der Verein benötigt dafür Estrich, Rigips, Farbe, Schrauben, Werkzeug und weiteres mehr. Und selbst wenn das alles vorhanden ist, muß alle nochmals praktisch umgesetzt werden, was bedeutet: Arbeit ohne Ende. Und das zusammen mit den Menschen, die diese Einrichtung später (und eigentlich: jetzt schon) nutzen werden. In diesem Sinne bedeutet Bildung wortwörtlich ganz einfach, sich in einer schwierigen Umgebung erst einmal so einzurichten, daß es möglich wird, dort zu wohnen, zu leben, zu arbeiten.
Stefan Schneider
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Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006