Leben auf der Straße - Band 17 der Mitmachzeitschrift Brückenschlag erschienen!
Der Paranus - Verlag aus Neumünster gibt in regelmäßigen Abständen, etwa einmal im Jahr, den Brückenschlag heraus, eine "Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst". Wobei der Begriff Zeitschrift irreführend ist, zumal es sich eher um eine thematische Verlagsreihe in Buchform handelt. So auch hier: In diesen Tagen erscheint der Band 17 mit dem Titel: "Leben auf der Straße". Bereits 1999 hatte der Verlag unter anderem die deutschsprachigen Straßenzeitungen gebeten, Material zur Verfügung zu stellen für einen Sonderband, nun hat sich der Verlag aber doch entschlossen, das Thema in der Brückenschlag-Reihe zu veröffentlichen. Die 268 Seiten der Zeitschrift sind, entsprechend dem Stil der Zeitschrift, unterteilt in vier Abschnitte: "Berichte - Aufsätze - Stellungnahmen", "Gedichte - Bilder - Texte", "Kurzgeschichten & kurze Geschichten" sowie "Buchbesprechungen - Anhang". Insgesamt versammelt das Buch 71 Beiträge und 29 zum Teil farbige Abbildungen sowie im Anhang 11 - zum Thema passende - Buchbesprechungen und ein Verzeichnis der Autoren.
Um es vorab zu sagen: Das Buch macht Spaß. Die Beiträge sind kurz und leicht lesbar. Es enthält im Berichtsteil ein buntes, aber gutes Sammelsurium über verschiedene Aspekte von Obdachlosigkeit und Armut: Jürgen Blume schreibt über die Vagabundenbewegung in den 20er Jahren, Hannes Kiebel gibt eine kurze Literaturübersicht, Ulrich Schneider äußert sich grundsätzlich zur Frage von Armut und Ungleichheit in Deutschland, Uwe Britten berichtet über die Situation von Straßenkindern in Deutschland, Thomas Lindenberger beschreibt die Rechtssituation, Angela Stroppe gibt einen kurzen Bericht zur Geschichte der Straßenzeitungen in Deutschland. Auch Einrichtungen und Aktionsformen werden beschrieben: Zeitdruck, ein Projekt von jungen Ein- und Aussteigern, die Gründung der Tafelbewegung am Beispiel der Wolgaster Tafel, ein Bericht über das Hotel Plus - ein Hotel für obdachlose psychisch kranke Menschen fehlt ebensowenig wie die Würdigung der Mission e.V. - eine von Christoph Schlingensief initiierte "Künstlerische Maßnahme gegen die Kälte".
Lange Zeit war Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit ein Thema, was den Sozialarbeitern vorbehalten war. Seit Beginn der Neunziger Jahre kam das Interesse am "Wohnungslosen Subjekt" hinzu: Plötzlich waren authentische Berichte von Betroffenen auf der Straße gefragt - kein Wunder, um diese Menschen geht es doch schließlich. Der hier vorliegende Band gibt eine Vorstellung davon, daß Obdachlosigkeit ein allgemeines Thema ist, das in der Wahrnehmung nicht nur die Betroffenen und die Hilfeexperten beschränkt werden sollte. Insofern ist dieses Buch geeignet für unterschiedliche Lesergruppen. Für junge Leute, die einen unterhaltsamen Einblick bekommen wollen: Was ist eigentlich los auf der Straße, wie fühlt es sich an: Obdachlosigkeit? Für Menschen, die als ehrenamtliche Mitarbeiter oder Spender oder aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit im weitesten Sinne etwas mit Armut zu tun haben, und sich mal etwas ausführlicher mit Obdachlosigkeit beschäftigen wollen, ohne gleich ein trockenes Fachbuch lesen zu müssen. Und schließlich für aufgeklärte Bürger, die sich dieses Buch vielleicht in den Urlaub mitnehmen möchten als eine Art literarische Bildungsreise.
Und zum Schluß: Spannend ist der "Brückenschlag" vor allem auch deshalb, weil diese Zeitschrift als "Mitmachzeitschrift" konzipiert ist. Der nächste Brückenschlag ist geplant zum Thema "Beziehungen". Dazu schreibt der Verlag: "Der Band 18 des Brückenschlags geht also auf die Suche nach den Grundlagen und Veränderungen im Mikrokosmos zwischen dem Du und dem Ich. Und lädt Sie ein, mitzusuchen, mitzuforschen und mitzugestalten. Wir freuen uns auf Ihre Text- und Bildeinsendungen! Essays, Geschichten, Gedichte, Berichte und alle weiteren Textformen sind wieder willkommen. Einsendeschluß ist der November 2001, Erscheinungstermin ist Mai 2002." Na, also dann!
Robert Thiel
Brückenschlag: Zeitschrift für Sozialpsychiatrie - Literatur - Kunst. Band 17 - 2001: Leben auf der Straße. Paranus - Verlag, Neumünster, 268 Seiten, DM 27,--.
Das Buch kann bezogen werden über den Verlag: Die Brücke Neumünster gGmbH, Postfach 12 64, 24502 Neumünster. Tel: 043 21 - 2004 - 500, Fax: 043 21 - 20 04 - 411, email:
Vorbemerkung der Redaktion: Unser langjähriger Mitarbeiter Bruno Katlewski wirkte in den letzten Wochen immer so deprimiert. Um ihn ein bißchen aufzumuntern, gaben wir ihm zwei Karten für das Musical RENT und baten ihn, das Stück zu rezensieren. Was nach dem Besuch bei RENT mit ihm passiert ist, wissen wir nicht so genau. Angeblich hat sich Bruno in die Einsamkeit der Lüneburger Heide geflüchtet und arbeitet dort in einem abgestellen Bauwagen an einem eigenen Musical, Arbeitstitel "KNALT". Auf seinem seit einer Woche verwaisten Schreibtisch fanden wir folgende Notizen:
Was ein Musikell ist:
RENNT ist ein Musikell. Ein Musikell hat, wie der Name sagt, was mit Musik zu tun. So war es denn auch.
Woran man RENNT erkennen kan:
Wieso die bei der ganzen Werbung zu RENNT das immer falsch geschrieben haben, weiß ich auch nicht. Ich habe mir extra die Mühe gemacht und im Duden nachgeschaut. Auf Seite 596 steht es. Und RENT gibt es gar nicht. Aber man kann auch nicht an alles denken. Auch dass die Musiker immer frische Noten haben und dass die Requisten am richtigen Platz liegen. Wer soll das alles im Kopf behalten. Man kann also RENNT erkennen an Plakaten, wo RENT draufsteht.
Ob die Werbung für RENNT gut ist:
Die Gesichter auf den Werbeplakaten spielen auch in echt. Das ist von Vorteil, denn so erkennt man sie wieder. Nur auf den Fotos sehen sie ungünstiger aus. Aber das ist mit dem Foto auf meinem Personalausweis ganz genauso.
Wie RENNT funktioniert:
Das ganze Musikell besteht aus der ersten Halbzeit, der Halbzeitpause und der zweiten Halbzeit. Als ich da war, gab es auch noch eine Verlängerung. Also genauso wie beim Fußball, nur ohne Ball aber mit Mannschaft. Wenn man also kurz nach halb acht da ist, um die Karten zu holen, ist man um 11 Uhr wieder auf der Strasse, um nach Hause zu gehen. Ob es immer eine Verlängerung gibt, weiß ich nicht. Ohne Verlängerung ist es denn früher zu Ende, vielleicht um halb 11.
In der Halbzeitpause kann man gut pullern gehen, was ich dann auch tat. Trotzdem war genug Zeit, um draußen noch gemütlich eine zu rauchen.
Vor dem Anpfiff und in der Halbzeitpause kann man was zu trinken kaufen. Als ich gesehen habe, dass selbst Cola schon 5 Mark kostet, hab ich gar nicht mehr nach dem Sekt gefragt. Deswegen kann ich nur empfehlen, genug Bier in der Tasche mitzubringen. Kontrollen gibt es keine. Die Dosen kann man auch ruhig liegen lassen, denn nach dem Ende laufen Leute durch und räumen alles weg. Und die wollen auch was zu tun haben.
Ob die Schauspieler von RENNT sexy sind:
Leider gibt es keine richtigen Nacktszenen, sondern nur fast. Alle sind ganz jung, so zwischen zwanzig und dreissig. Nur die Musiker wirken älter, aber die spielen ja auch nur Musik und keine Rolle. Aber so ist für jeden Geschmack etwas dabei. Auch die Jungs sind sehr knackig. Wenn man ganz vorne sitzen tut, sieht man natürlich am meisten. Allerdings kann man nicht in den Ausschnitt gucken, vielleicht wenn man oben sitzen tut. Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum die Leute in den Opernhäusern immer mit Fernglas hingehen.
Woher die Handlung kommt.
Die Handlung kommt, weil Herny Murger ein Buch geschrieben hat, das La Boheme heißt. Dann kam Giaccomo Puccini und hat aus dem Buch eine Oper gemacht. Karismäki, so ein Filmemacher aus Finnland, hat die Oper dann verfilmt, allerdings nur in schwarzweiss. Und weil das heutzutage unmodern ist, gibt es jetzt dazu das ganz frische Musikell. Wahrscheinlich mußte man deswegen auch den Namen ändern und die Handlung sowieso.
Wie die Handlung ist.
Die Handlung habe ich ehrlich gesagt nicht so völlig verstanden. Also da ist einer, der immer Filmaufnahmen macht, und am Ende dann zeigt er auch einen Film. Dann ist da auch eine Frau, also Du denkst, das ist eine Frau, und in Wirklichkeit ist das aber ein Mann. Die Frau kann gut tanzen. Irgendeiner von den beiden stirbt dann auch. Überhaupt wird in dem Stück viel gestorben, vor allem im zweiten Teil. Bei Musikells habe ich mir sagen lassen, dauert das dann immer etwas länger. Das ist dann immer sehr traurig.
Dann soll da noch ein Haus abgerissen werden, wo da aber Obdachlose drin wohnen. Das wird dann geräumt und wieder besetzt und es gibt ein Benifitz-Konzert, wo jemand ganz toll singt. Das ganze spielt übrigens im Winter. Wahrscheinlich sollte ich deswegen auch hingehen.
Das es eine Liebesgeschichte auch noch gibt, ist ja logisch. Die beiden singen dann im Duett.
Die genaue Handlung kann man übrigens nachlesen, weil vorher Zettel verteilt werden, wo einem das erklärt wird. Ich fand das auch ganz schön kompliziert mit den vielen Darstellern, wie man auf dem Foto gut erkennen kann. Wenn da jeder auch nur eine kleine Rolle spielt, kommt ganz schnell ganz viel Handlung auf. Rauchen darf man bei der Vorstellung trotzdem nicht.
Was man bei RENNT mit den Klamotten machen kann:
Es hat dann auch eine Gardrobe gegeben. Weil aber im Sommer keiner Mäntel anhalt, hat man die eigentlich gar nicht gebraucht. Das Geld hätte man sich auch sparen können. Und was am Schlimmsten ist: Die wollten vorher gleich zwei Mark haben, und dann weiß man aber noch gar nicht, ob man das wieder kriegt. Jedenfalls habe ich nicht bemerkt, daß sich da einer beschwert hat. Ich weiß aber nicht, was passiert, wenn man die Sachen noch ein paar Tage länger da lassen tut.
Ob es einen Fanclub von RENNT gibt, habe ich leider vergessen zu fragen. Aber man kann T-Shirts kaufen und Anhänger glaube ich, außerdem schicke Cds die aber ziemlich teuer sind. Ich persönlich habe nichts gekauft, aber andere schon.
Ob man RENT empfehlen kann:
Auf alle Fälle. Man sollte sogar zweimal hingehen. Wenn man beim ersten mal weiß, wie alles geht, kann man beim nächsten Mal viel besser auf die Einsätze achten.
Man kann die Schauspieler sogar auf der Bühne anrufen, dann reden sie mit einem oder singen vielmehr. Ich habe es leider nicht geschaftt, die Telefonnummern herauszufinden. Das finde ich sehr multiaktiv und innoderm. Man muss ja mit der Zeit gehen.
Wie man umsonst da rein kommen kann:
Wenn man eine Schullklasse ist, gibt es eine Ermäßigung. Und wenn man sagt, daß man von einer Zeitung ist, kann man auch Karten bekommen. Allerdings muß man vorher anrufen. Dann haben die sogar an der Kasse einen Briefumschlag mit Informationsmaterial. Da habe ich aber nicht abgeschrieben, weil ich mir liebe meine eigene Meinung bilden tue. Außerdem muß man beachten, daß man sich eine Zeitung sucht, die noch nicht darüber geschrieben hat, sonst tut das auffallen.
Die an der Kasse kennen mich inzwischen schon und fragen mich, für welche Zeitung ich denn heute da bin. Gestern war ich für den Böblinger Kurier da, übermorgen gehe ich für die Spessarter Allgemeine hin. Für nächste Woche muss ich mir noch Zeitungsnamen ausdenken.
Da die mich inzwischen schon kennen, sage ich immer, jede Zeitung will einen Originalbericht haben. Wenn ich zum Beispiel für den Regensburger Boten mir das Stück angucke, dann bin ich doch nicht für das Bielefelder Echo konzentriert und umgekehrt. Umsonste Pressekarten nehmen auch keinem was weg. Und außerdem muss man auch immer seine Zeit opfern, was ich aber für RENNT gerne tue.
Zusammenfassung
Man ist eigentlich ganz gut bedient, weil alles auf einmal ist von Musik und Rollen und bequeme Sitze. Man sollte sehr viel mehr in Musikell machen. Scheint gar nicht so schwierig zu sein.
Bruno Katlewski
Asbest und Knöterich
Der Stand der Bauarbeiten in der Prenzlauer Allee
"An und für sich", sagt Andreas B., "ist das ganz einfach: Also, zuerst wird das Dach neu gedeckt. Dann wird der Raum für die Notübernachtung fertiggestellt. Und wenn wir in der Zwischenzeit noch den Sanitärbereich fertig stellen, haben wir gewonnen." Andreas arbeitet bei mob - obdachlose machen mobil e.V. Weil er in seinem früheren Leben eine Baufirma hatte, kennt er sich aus im Baugeschehen, kann sagen, was zu tun ist.
Die alten Räume in der Schliemannstrasse 18 waren einfach zu eng geworden. Ohne staatliche Förderung und allein aus eigener Initiative betreibt mob e.V. am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg den Treffpunkt Kaffe Bankrott mit sozialer Beratung und Notübernachtung. Insbesondere für obdachlose Menschen ist dieser Ort als Anlaufstelle von besonderer Wichtigkeit. Deshalb hat der Verein mob e. V. in der Prenzlauer Allee 87, also nicht weit vom alten Standort entfernt, neue Räumlichkeiten angemietet, die um einiges mehr Platz bieten für die unterschiedlichen Nutzungen. Das Ganze hat nur einen kleinen Haken: Die Räumlichkeiten müssen noch instandgesetzt werden. Und das unter Zeitdruck: Bis Mitte Oktober, also mit Beginn der kalten Jahreszeit, muss wenigstens der Notübernachtungsraum fertig sein. Weil aber auch die neue Überdachung des Hofes, die Fertigstellung der Toiletten und das Verlegen der Fußböden dazugehören, kommt langsam Stress auf.
Unser Bauleiter vor Ort schildert, worum es geht: "Als wir das Objekt Prenzlauer Allee 87 vor Einzug besichtigten, sahen wir eine von beiden Seiten beplankte Dachkonstruktion. Von oben war diese mit wunderschönem Wildbewuchs überzogen. Dieses war zwar sehr ökologisch sehr schön, doch unser Innenhof hatte kontinuierliche Wasserschäden: Mit anderen Worten, das Dach war undicht. Eine erste Prüfung ergab: Die Eindeckung bestand aus Leichtmetallwellplatten. Doch denkste: Nur die Hälfte war Leichtmetall, und die andere unsäglicherweise aus Wellasbestplatten. Eine Mitbewohnerin des Hauses, die sich über unsere Entgrünung des Dachbereiches aufgeregt hatte - diese war notwendig geworden, um die undichten Stellen freizulegen - schickte uns die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Abteilung Lärm- und Staubbekämpfung, zur Mithilfe. Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen, um Asbest fachgerecht abzumontieren und dann anschlieflend zu entsorgen. Dieser Kostenaufwand für diese Arbeiten war uns in diesem Ausmaße nicht bewusst. Unter Anleitung eines Architekturbüros führten diese Arbeiten ehrenamtliche Mitarbeiter unseres Vereines durch. Das heiflt, die Arbeiten müssen beaufsichtigt werden von einem Beauftragten für Arbeitsschutz, das Dach selbst muss beim Abbau ständig gewässert werden, um sicherzustellen, dass keine Asbestfasern freigesetzt werden. Damit der Schutz der arbeitenden Menschen gewährleistet ist, sind alle Mitarbeiter, die auf dem Dach arbeiten, gehalten, Vollschutz zu tragen. Und außerdem ist eine sehr kostenintensive und fachgerechte Entsorgung vorgesehen, die wir mit weinendem Auge - mit Blick auf die Kosten - auch umsetzen, damit das Asbest keinen weiteren Schaden mehr anrichtet."
Als nächstes großes Vorhaben steht der Fußbodenaufbau für die zukünftigen Räumlichkeiten des Kaffe Bankrott auf der Tagesordnung. Ehemaliger Gefälleestrich muss zu einer ordnungsgemäßen ebenen Fläche hergestellt werden. Das ist der nächste große Kostenfaktor. Gebraucht werden Zement sowie 0,8 mm Kies gewaschen und Estrichbewehrung. Das wird wieder ein großer Drahtseilakt, dieses zu finanzieren.
Von daher benötigt mob e.V. die Unterstützung von Leserinnen und Lesern des strassenfegers bei der Suche nach Material. Auch Geldspenden für die neue Notübernachtung sind nützlich, weil hiervon Material für den laufenden Ausbau angeschafft werden kann. Oder, wie Andreas B. es treffend formulierte: "Weil dann die Betten gerade stehen können. Die Firma Hellweg half uns schon mit Fußbodenfliesen. Vielleicht finden sich für die anderen Dinge auch noch edle Spender." Er ist optimistisch, dass zu Beginn der kalten Jahreszeit das wichtigste fertig wird. Zeit läuft.
Stefan Schneider
Und ewig lacht die Säufersonne ....
Pfeffer sei Dank! - Obdachlosenorganisation besetzt Brauerei
These: Daß Obdachlose allesamt Säufer und Alkoholiker sind, ist ein altbekanntes Vorurteil. Statistisch gesehen trinken Obdachlose nicht mehr - aber auch nicht weniger - als der Durchschnitt der Bevölkerung, nur eben, da§ sie es im Unterschied zur Normalbedingung aufgrund bekannter Umstände - vor allem in Ermangelung einer Wohnung - in der Öffentlichkeit tun. Wie auch immer - Vorurteil hin oder her - Obdachlose sind eben (auch) Trinker. Biertrinker. Hauptsächlich Bier, vorzugsweise solches, welches den Gesetzen (sic!) des Deutschen Reinheitsgebotes von 1516 entspricht. Hopfen, Wasser, Gerste, Malz (- Gott erhalt's; aber das ist ein anderes Thema. Das Reinheitsgebot ist immer gefährdet.) Flaschenbier: Pfandpfaschen, Einwegflaschen; Dosenbier: FAXE, große Dosen, kleine Dosen; ALDI-Bier, Bier vom Faß. Pils, Dunkelbier, Altbier, Weizenbier: Kristallweizen, Hefeweizen, Bayern-Brause, (Radler/ Alsterwasser).
Antithese: Daß Obdachlose sich trotz o.g. Tatbestände - oder vielleicht sogar deswegen - organisieren können, ist ein neueres Phänomen. Statistisch gesehen ist jeder Obdachlose Mitglied in 1,7 Vereinen und damit nicht häufiger - aber auch nicht seltener - organisiert als der Durchschnitt der Bevölkerung. Nur eben, daß sie im Unterschied zur Normalbevölkerung vor allem öfter in Vereinen Mitglied sind, die - was die Lebensumstände auch nahelegen - eine Verbesserung und Veränderung der Lebenslage Wohnungsloser zum Ziel haben. Wie auch immer - Phänomen hin oder her - Obdachlose organisieren eben auch - mehr oder weniger - Selbsthilfe. Oder geben Hilfe zur Selbsthilfe. Etwa im Verein mob - obdachlose machen mobil e.V., der in erster Linie dadurch bekannt geworden ist, daß er die strassenzeitung (vormals: strassenfeger) herausgibt. Oder aber eine Notübernachtung, ein Wohnprojekt, den Wegweiser der Kältehilfe, politische Kundgebungen und Straßenfeste, Sozial- und Rechtsberatung, Arbeitsplätze und weiteres nützliches mehr aus eigener Kraft selbst organisiert.
Synthese: Zählt man nunmehr zwei und zwei zusammen, so ergibt sich, daß, wenn Obdachlose trinken einerseits und daß, wenn Obdachlose sich organisieren, andererseits, also in Kombination von erstens und zweitens schließlich drittens die Eroberung einer Brauerei durch eine Obdachlosenorganisation ein strategisch richtiges, zugleich wichtiges und vielleicht sogar überlebensnotwendiges Ziel darstellt (oder darstellen muß! Aber: an dieser Stelle - und das wäre dann: viertens! - über die eigentliche Zweckbestimmung von Obdachlosenarbeit philosophieren zu wollen, führt entschieden zu weit bzw. in die Gefilde angewandter Dialektik).
Conclusio: Für den gemeinnützigen Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. ist nunmehr zu konstatieren und wird hiermit allgemein und für alle kundgetan und verlautbart, da§ dieses wichtige Ziel in greifbare Nähe gerückt ist. Ab dem 01.02.1999 bezieht der Verein und die von ihm herausgegebene Gazette "die strassenzeitung" Räumlichkeiten auf dem Brauereigelände Pfefferberg in Berlin Prenzlauer Berg, um damit - aus eigener Kraft und in aktiver Selbsthilfe - dem Brauereiwesen in Berlin zu neuer Blüte zu verhelfen. Auch die Leitungen sind schon gelegt und freigeschaltet. Alsdann nur noch zu verkünden bleibet mit großem Hallo: a-zapft is'! Freibier für alle! Lebenslang - lebenslänglich.
Exkurs: Zur Erläuterung:
"Der Pfefferberg
Die Schönhauser Allee 176 ist einer der Eingänge zum (...) Standort der BRAUEREI PFEFFER - ab 1841 eine der ersten großen Brauereien in diesem Gebiet. Sie wurde nach dem bayrischen Braumeister und Besitzer der Fabrik benannt. In ihrer Blütezeit um 1850 gab es dort nicht nur den Braubetrieb, sondern auch ein 1844 eingerichtetes Ausschankrestaurant mit großem Biergarten. Es steht nur noch einer der alten Bäume. Um die Jahrhundertwende war Prenzlauer Berg zur Hochburg der Brauereikunst in Berlin angewachsen und der Besuch der vielfach dazugehörenden Biergärten ein besonderes VergnŸgen geworden. Anton Tschechow (1860 - 1904) war einer der vielen, der das Bier rühmte: Nirgendwo auf der Welt habe er so gutes Bier wie in Berlin getrunken, soll sich einmal der Schriftsteller geäußert haben. Die Besitzer sorgten für zusŠtzlich Attraktionen wie Musik- und Theaterdarbietungen oder Luftschaukeln. Hier beim Pfefferberg bot man den Besuchern einmaliges. 1876 wurde ein Gartenpavillon gebaut, dessen Decke sich bei herrlichem Sternenhimmel zur Seite fahren ließ, so daß die Gäste unter freiem Himmel saßen." (Hörisch/ Krause: Prenzlauer Berg. Kunstspaziergänge. Berlin 1998, S. 48-49)
Fazit: Kurze Rede, langer Sinn: Nach langen Reisen über die Kleine Hamburger Straße in Berlin-Mitte, die Boxhagener Str. in Friedrichshain und die Hauptstra§e in Berlin-Schöneberg hat der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. und damit auch die strassenzeitung endlich ein zu Hause gefunden - auf dem Pfefferberg. Na dann: Prost!
Bruno Katlewski, Sonderbeauftragter für praktische und angewandte Brauereikunde
Anmerkung der Redaktion:
Leider sind bei aller Euphorie dem Autor beim Recherchieren ein paar Ungenauigkeiten unterlaufen oder er hat ein paar Bier zu viel getrunken oder beides (wahrscheinlich beides!).
1. Richtig ist, da§ der Verein mob e.V. zum 01.02.1999 auf dem Pfefferberg Räumlichkeiten beziehen wird, ein Vereinsbüro und eine Redaktionsstube für die strassenzeitung sowie eine Garage als Werkstattraum.
2. Die Räume werden auch nicht besetzt (was dem Verein zuzutrauen wäre), sondern regulär angemietet bei der Pfefferwerk gGmbH.
3. Auch wird auf dem Pfefferberg seit 1918 kein Bier mehr gebraut. Stattdessen ist der Pfefferberg seit den achtziger Jahren ein soziokulturelles Zentrum, welches nunmehr in Trägerschaft vom Pfefferwerk saniert und umgebaut werden soll. Damit wird diese Tradition einer Verbindung von Kultur, Gewerbe und sozialen Projekten auf dem 13.500qm großem GelŠnde - jetzt auch mit mob e.V./die strassenzeitung und vielen anderen Projekten und Initiativen - fortgeführt und weiterentwickelt.
4. Und schließlich: Bei den freien Leitungen handelt es sich nicht um Bier-, sondern um Telefonleitungen.
historische Foto von Pfefferberg: vorhanden (Stefan); Foto von Tschechow:
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Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006