97-07-14
1. Pulle
Die Pulle geöffnet, angesetzt, zwei drei kleine Schluck, die Temperatur kühl - worauf ich sonst fast nie achte, der Stoff richtig. Die Botschaft kommt sofort an im Hirn, ein kleines, wohliges Schaudern, welches Dir signalisiert, jawohl Junge, das ist genau das, was ich von Dir hören wollte, hach, tut das gut, genau der richtige Stoff, der wohlige Auftakt für stetiges Trinken. - Jetzt, nach fünf Schlucken macht sich die Wirkung breiter im Hirn, eine klitzekleine innere Seligkeit. Es ist nicht mehr alles so ganz genau. Hier, an diesem Punkt stetig weitermachen, und Seligkeit muß irgendwann mal in Griffnähe sein. Die erste Pulle ist immer die schönste.
Aber schon die erste Unruhe. Die Pulle ist noch halbvoll, das heißt, sie ist schon halbleer. Kleine Panik, es wird langsam Zeit, an Nachschub zu denken. Es kann doch nicht angehen, den Gefühlszuwachs abbrechen zu wollen.
Eigentlich wolltest Du doch gar nicht trinken. Da hast Du (für Deine Verhältnisse) lange drüber nachgedacht. Aber was ist dieses gottverdammte Nachdenken schon gegen dieses wonnige Gefühl. Als würdest Du ein klein wenig mehr Sicherheit einatmen können. Was für ein glorreicher Selbstbetrug. Aber ist es ein Selbstbetrug, ist es nicht vielmehr ein innerer Kampf in mir, den ein Teil von mir stetig verliert. Warum kämpfe ich innerlich und vor allem, was kämpft in mir? Gefühl gegen Verstand, so einfach ist das? Grund genug, mir jetzt gleich noch Nachschub zu holen und hinter die Binde zu kippen. Ja, irgendwas in mir will heute diesen Stoff haben (also ich selbst), und dieses irgendwas ist wirklich clever und kennt viele Tricks, dies auch zu schaffen.
Ich glaube doch im Ernst nicht, daß die rationale Seite in mir, die nicht Trinken wollen will, auch nur einen Zentimeter weit hinter die Ursachen dieses Verhaltens kommt, wenn es den Teil, den es befragen müßte, erst betäuben muß.
- Gegen Ende dieser Pulle keine nennenswerten Reaktionen mehr auf die Zufuhr dieses Stoffes. Worum es nur noch zu gehen scheint, ist der stetige Nachschub von kleinen Teilen dieses Stoffes.
Dieses wohlige Matt im Kopf wird immer breiter. Mal im Kühlschrank gucken, ob noch Stoff da ist, um weiter schreiben zu können. Irgendwas ist da jetzt sehr entschieden! Nachschub, Nachschub, Dalli - Dalli!
2. Pulle
Doch, ich fühle mich jetzt besser als vorher. Gehe optimistischer durch die Gegend, nicht mehr so bock- und lustlos wie vorhin, sogar ein klein wenig euphorisch. Ja, genau in dieser Stimmung könnte ich mich entschlossen und tatkräftig ans Werk machen, sogar ein bißchen kreativ.
Nun weiß ich, daß diese Stimmung umschlägt oder auch, daß ich gelegentlich sogar trotz Alk erst gar nicht in die Stimmung komme, sondern lustlos alte Zeitungen lese, alte Platten höre und mich in irgend etwas verkrame oder Frust schiebe. Oder angesoffen zu wichtigen Terminen gehe, wo ich in dem Zustand sicherlich nicht mehr die Leistung bringe, die notwendig oder möglich wäre.
- Es schmeckt auch schon gar nicht mehr. An diesem Punkt sollte ich aufhören. Ich bin jetzt in dem Zustand einer Waage, das Verhältnis Kopf und Bauch ist ausgeglichen. Faire Partner. Das Kräfteverhältnis stimmt nicht. Die eine Seite scheint den Stoff zu brauchen, um nicht stetig gegen den anderen unterlegen zu sein. Alkohol als Ballancemittel, leider ein sehr einseitiges Mittel, weil es ständig in der Niederlage meines Kopfes (Hä) endet. Ein sehr bedeutsamer Fehler. Alkohol ist demnach nicht der Feind meines Kopfessondern der Feind meines Gefühls, welches nur scheinbar freier wird.
Mein Kopf kontrolliert jedesmal nach, was ich im trunkenem Zustand geschrieben, gesagt und vereinbart habe. Er kann es nur immer weniger, weil ich immer mehr trinkt. Versuchte Schadensbegrenzung, wenn der Einsatz von Alk anderen Wertigkeiten widerspricht: Verschlafen, lange auspennen, verminderte Leistungsfähigkeit usw. Manchmal sogar: Ins Bett pinkeln!
Pause, leichte Erschöpfung, Schuhe ausziehen. Alkohol ist ein Mittel meines Kopfes! Zeitlebens hat mein Verstand mein Gefühl beherrscht. Zeitlebens habe ich den Aufstand meiner Gefühle durch Alkohol bekämpft. Je länger ich mit Alkohol dagegen kämpfe, desto schlechter sehe ich aus, desto schlechter sieht meine Bilanz aus.
Innerpsychischer Demokratieprozess. Haha. Mein Hirn bestimmt alles. Gefühle rauslassen. Meine Gefühle suchen sich ihren Weg, und je drängender sie dies tun, desto härter bin ich am Trinken. Die Trinkerpausen sind lediglich vom Kopf erzwungene Geschichten, weil der Krieg gegen die Gefühle bis an die Substanz geht und die Selbsterhaltung des Kopfes notwendig ist. Die Ersatzstrategie in Trinkerpausen ist Arbeit, Arbeit, Arbeit, nochmals Arbeit, um durch die Sperre Arbeit für das Gefühl keinen Raum zu haben.
Fast schon Ende der zweiten Pulle.
Viele haben mir gesagt, daß ich durch Körpersprache alles zeige - nur wer versteht es wirklich und nimmt es als Anlaß dafür, mit mir zu reden? Mein Weg, mit dem ich das, was mir auf der Seele brennt, rauslassen kann.
Ich bin rückfällig geworden, weil ich nicht gesprochen habe.
3. Pulle
Morgen wird Iris zurecht böse sein, weil sie ausgeschlafen um 9:00 Uhr auf der Matte steht und ich meinen Rausch ausschlafe bis nachmittags. Herb schmeckt sie nur noch, herb, die dritte Pulle. Ich bin nicht mehr in der Lage, klar zu denken.
Meine Gefühle rauslassen! Aber wie soll das gehen, wenn diese ständig besoffen sind! Meine Gefühle sind besoffen - und damit unter Spezialkontrolle des Gehirnes gestellt. Ich lasse meine Gefühle gar nicht raus, wenn sie besoffen sind, ich umgrenze sie nur anders. Ich versuche sie dadurch im Zaum zu halten.
Wie wäre ich, wie wäre der Robert, wenn er seine Gefühle rauslassen würde? Robert wäre sprunghafter, weil er nicht mehr (immer) aus rationalen Gründen ein Ding zuende machen würde, wenn er daran nicht mehr glaubt. Er wäre unzuverlässiger, weil er nicht aus Pflichtgefühl (falsches Wort, es müßte eher heißen: Pflichtverstand) Termine wahrnehmen würde. Es wäre noch direkter, noch klarer, aber er würde mehr Feinde haben, weil er schneller als die anderen die Dinge auf den Punkt bringt - meist oder häufig subjektiv, sehr persönlich. Ein solcher Robert wäre weniger politikfähig, oder gerade deswegen politikfähig, weil ihn Strukturen und Formalitäten nicht mehr so belasten würden. - Das ließe sich endlos aufzählen und abwägen. Ich glaube, das Hauptproblem von Robert ist, daß er sich nicht traut, so zu sein, wie er sein könnte. Oder viel besser, daß er sich nicht traut, so zu sein, wie er ist. Robert ist nicht so, wie er ist, und deswegen säuft er.
Was hindert Robert daran, so zu sein, wie er ist? Der rationale Teil antwortet sofort: Weil die gesellschaftlichen Verhältnisse so sind, wie sie sind. (Haha!) Und selbst, wenn Robert auf sich selbst und seine eigenen Kräften bestehen würde, er würde sagen, die gesellschaftlichen Verhältnisse legen diese Verhaltensweise des Saufens nahe, oder sogar, sie erzwingen sie fast mit Notwendigkeit. (Haha!)
Robert wäre sehr viel freier, wenn er sich davon freimachen würde und in einem seelischen und emotionalen Gleichgewicht leben würde. Hier beißt sich die Katze in den Zwang. Robert ist Wanderer zwischen den Welten, und deswegen trinkt er. Robert will Trinker sein. Wer oder was spricht jetzt aus mir? Will ich damit sagen, ich will an diesem Konflikt scheitern - zu Grunde gehen? - Ja!
Das schlimme scheint zu sein: Es gibt für einen Alkoholiker nicht: Ein bißchen Trinken! Aber kann es nicht sein, so frohlockt nun eine wiederum andere Seite von mir, daß, sobald ich meine Kopf - Hirn - Probleme gelöst habe oder haben sollte, wieder normal trinken kann - mal bei Gelegenheit und dann mal wieder nicht?
In der Tat: Es gibt für einen Alkoholiker nicht: Ein bißchen Trinken! Aber bin ich - nach dem, was ich oben geschrieben habe - ein Alkoholiker? Bin ich nicht vielmehr ein Mensch, der mit seinen Gefühlen nicht klarkommt? Oder ist auch das schon wieder ein Form der Selbsttäuschung?
Noch eine Pulle. Viel, und zugleich doch wenig. Für einen Trinker. Für einen Alkoholiker. Also doch!
4. Pulle
Fünfte Pulle wohl, nein vierte!
Wer bin ich, was bin ich, wo will ich hin? Keine Aussage möglich! Drehe ich mich im Kreis? Ich glaube schon. Wohin geht der Weg? Weiter trinken - das wäre mein vorzeitiges und sicheres Ende. Dahin will ich nicht! Keinen Mittelweg? Ein bißchen Trinken? Warum halte ich mich daran so fest? Die Tiefe des Rausches führt ihr eigenes Leben, hat eine eigene Regie. Wieweit bin ich noch ich selbst? Ich weiß nicht mehr weiter!
5. Pulle
Ich will nur noch Musik hören, trinken, die Pulle zu Ende trinken und dann ins Bett gehen. Ich möchte, daß alles so bleibt wie es ist und daß sich alle unangenehmen Dinge von alleine erledigen. Ich bin wahrscheinlich wieder voll und ganz im Selbstbeschiß-Programm. Alles ist so matschig, so unklar, ich will mich nicht durchringen, nicht Position beziehen. Alles ist so unklar!
Saufen und das Leben geht weiter?!?!?!?!? Ich habe Angst. Nichts geht so weiter. Ich forciere damit Entscheidungen, aber welche Entscheidungen? Wo will ich hin? Immerzu mehr Fragen als Antworten!
Nachsatz
Obige Aufzeichnungen datieren vom 14. Juli 1997. Im Mai 1999 hat Robert mit dem Saufen aufgehört. Seitdem arbeitet er daran, nüchtern zu werden.
Robert Thiel
Schneider, Stefan: Freiwilligenarbeit bei mob e.V. Berlin 2004
Schon immer haben Menschen bei mob e.V. ehrenamtlich und freiwillig gearbeitet. Etwa Verkäufer, die freiwillig bei der Zeitungsausgabe eingesprungen sind, wenn im Vertrieb ein personeller Engpass war, oder Menschen, die in der Redaktion mitarbeiten und ohne Blick auf Zeilenhonorar die eine oder andere Recherche für den strassenfeger erarbeiten. Auch im Treffpunkt Kaffe Bankrott und in den anderen Projekten finden sich immer wieder Menschen, denen die Mitarbeit Spaß macht und die deshalb ihre Freizeit mit konkreten Aufgaben füllen.
Eine neue Qualität der Freiwilligenarbeit bei mob e.V. begann im Jahr 2000, als sich eine junge Frau namens Janne bei mob e.V. meldete mit dem Anliegen, ihr FSJ abzuleisten. Hinter der Abkürzung verbirgt sich die Bezeichnung freiwilliges soziales Jahr. Janne hatte von mob e.V. erfahren und interessierte sich speziell für die Mitarbeit in der Redaktion. Von der Anfrage bis zur Umsetzung war es nur ein kleiner Schritt. Eine Kooperationsvereinbarung mit dem Träger, dem Jugendaufbauwerk Ost, für FSJ musste geschlossen, eine Aufgabenbeschreibung für die Jugendliche erarbeitet werden. Mob e.V. verpflichtete sich, eine regelmäßige Abgabe an den Träger zu zahlen, von der der größte Teil als Taschengeld an die junge Frau weitergereicht wurde. Die Redaktion profitierte von der Mitarbeit durch eine ganze Reihe von Beiträgen in der Zeitung. Beinahe wichtiger aber war die viele Tagesarbeit in der Redaktion und im Verein, Telefonate, Briefe, Besorgungen, Arbeit mit Autoren, die durch diese professionelle Mitarbeit erledigt werden konnte. Damit war dieses Freiwilligenjahr für Janne ein wichtiger Beitrag zur beruflichen Orientierung.
Unter dem Stichwort „Jugend erneuert Gemeinschaft“ rief im Jahre 2001 die Robert-Bosch-Stiftung dazu auf, sich an ihren Förderungsprogramm „Freiwilligendienste in Projekten bürgerschaftlicher Initiative“ zu bewerben. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem FSJ, beschloss der Verein mob e.V. sich unter dem Stichwort „Projektverbund soziale Selbsthilfe Obdachloser“ zu beteiligen. Vorgesehen war, insgesamt vier Jugendliche / junge Erwachsene auf der Basis einer Freiwilligenvereinbarung für die Dauer von einem Jahr in den unterschiedlichen Projekten von mob e.V. mitarbeiten zu lassen. Diese Maßnahme wurde in der Tat bewilligt und nach einer Laufzeit von mehr als zwei Jahren in diesen Tagen abgeschlossen. Hintergrund dafür ist, sehr sorgsam die Jugendlichen auszuwählen und genau die Arbeitsbereiche zu definieren, so dass immer nur dann eine Freiwilligenvereinbarung abgeschlossen wurde, wenn „alles passte“. So war es möglich, eine junge Frau, Miriam für ein Jahr auf der Selbsthilfebaustelle in der Oderberger Str. 12 zur Unterstützung der Selbsthilfebauleitung einzusetzen. Miriam arbeitet jetzt, nach dem Ende des Freiwilligenjahres, als Festangestellte im Sekretariat des Vereins. Eine andere Freiwillige, Janine, arbeitete in der Personalabteilung, und begann am 01.09.2003 eine dreijährige Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation bei der Pfefferwerk Stadtkulturgesellschaft. Dort absolviert Janine die theoretischen Anteile der Ausbildung , bei mob e.V. als Kooperationsbetrieb wird Janine an drei Tagen in der Woche unter fachlicher Anleitung in der Praxis ausgebildet. Eine dritte Freiwillige, Tina, arbeitete in der Redaktion und war unter anderem verantwortlich für die Fotoredaktion unter Anleitung eines professionellen Fotografen. Tina beginnt zum Wintersemester 2003 / 2004 ein Studium im Bereich der Kommunikationswissenschaften. Matthias kam zu uns als Computertechniker. Durch seine Arbeit hat der Verein jetzt ein funktionierendes Computernetzwerk mit Internetanschluss. Nicht durchgehend waren die Erfahrungen positiv. Sowohl Ralf als auch André beschlossen nach einem halben Jahr, die Freiwilligenvereinbarung zu kündigen und das Studium (wieder) aufzunehmen. Schlecht für den Verein, gut für die Jugendlichen, die durch diese Möglichkeit der praktischen Erprobung für sich herausfinden konnten, was sie wollen und was nicht. Doch überwiegend waren die Erfahrungen positiv, nicht zuletzt durch die regelmäßige Begleitung durch die Robert Bosch Stiftung und dem System der Mentorinnnen und Mentoren, als Menschen, die die Aufgabe haben, im Verlauf des Freiwilligenjahres Ansprechpartner für die Jugendlichen zu sein. Insgesamt wird mob e.V. auch in Zukunft jungen Menschen die Möglichkeit der freiwilligen Mitarbeit für die berufliche Orientierung und zum Aufbau wichtiger sozialer Kompetenzen eröffnen. Mob e.V. profitiert von den Fähigkeiten und Kenntnissen der jungen Menschen und bietet seinerseits sehr verantwortungsvolle und berufsnahe Arbeitsfelder an.
Gegenwärtig ist bei mob e.V. ein junger Mann, Wadie, aus Brasilien für ein Jahr als internationaler Freiwilliger zu Gast. Was genau sein Aufgabengebiet sein wird, wird in den ersten Wochen mit ihm zusammen erarbeitet werden. Im Unterschied zu den anderen Freiwilligen gab es keine Möglichkeit, ihn vorher kennenzulernen. Der Kontakt kam zustande über ICJA, den Internationalen christlichen Jugendaustausch, der weltweit Freiwilligendienste vermittelt. Wadie stellt sich in dieser Ausgabe selbst vor. Wir alle dürfen gespannt sein, welche neuen Ideen und Projekte sich aufgrund der internationalen Ausrichtung der Arbeit von mob e.V. ergeben.
Stefan Schneider, 21.11.2004
Spätabends, nach einem langen Tag, vieles unerledigt lassend, vom Krankenhaus auf dem Weg nach Hause, in der S-Bahn sitzend, Blicke durch die regennasse Scheibe in das schwarze Nichts der Stadt. Einzelne Lichter auf dem Weg, der regennasse Hund müde und eingerollt zu meinen Füßen, das sorgenvolle Gesicht einer Freundin - was wird mit mir? - noch im Kopf und sie werden eine zweite Angriffswelle fliegen in dieser Nacht. Vorhin am Alexanderplatz, diese kleine Gruppe der Demonstranten, sie protestieren gegen einen Krieg, der nicht gewinnbar ist, Angst schreibt sich ein in die Herzen, in die Seelen. Nichts ist mehr unbeschwert. In mir das Gefühl, ich bin alledem nicht gerecht geworden an diesem Tag, heute.
Versuche, diese Stimmung zu beschreiben, Bilder zu finden. Auch ein wenig Melancholie. "Und wenn ich wüßte, morgen würde die Welt zu Grunde gehen, ich würde heute noch ... - von wem ist dieses Zitat?" - "Es wird im allgemeinen Martin Luther zugeschrieben", antwortet die scharfsinnige Freundin, nicht ohne zu kommentieren: "... protestantisch biedersinniger Optimismus!" Ich blickte offenbar ein wenig verstört, und die Freundin relativierte sofort, "vielleicht ist ja gerade das eine der großen Leistungen der Weltreligionen, Trost zu spenden." Nachdenklich fuhr ich nach Hause.
Diese Sache mit dem Apfelbäumchen, das Martin Luther und nach ihm viele andere würden pflanzen wollen, wenn es denn wirklich schwierig wird, hat mich noch eine ganze Weile beschäftigt. Egal was kommt, ich verweigere mich einem Krieg, arbeite weiter an einer Sache, die in sich stimmig, die in sich sinnvoll ist. Was es SO gemeint?
Ein später Abend im Herbst, Terror, Angst und wieder Angriffe, Menschen auf der Flucht und Obdachlose vor unserer Tür, was habe ich heute getan, was ist wirklich wichtig, worauf kommt es an?
Robert Thiel
Liebe Leserin, lieber Leser,
neulich berichtete mir ein Bekannter, wie er eines Sonntags nachmittags auf der Bank saß, gemütlich ein Eis schleckend und ein Buch lesend, als ein abgerissener, ärmlich wirkender Mann etwas unschlüssig mit einer alten Plastiktüte des Weges kam und ihn halbwegs verlegen um ein wenig Kleingeld bat. Mein Bekannter, der eigentlich bei seiner Lektüre nicht gestört werden wollte, aber aus dem Augenwinkel den Bettler schon kommen sah, wußte um das Wechselgeld in seiner Hosentasche und fragte, während er nach dem Geld griff, beiläufig: "Wieviel darf es denn sein?" - schließlich hatte er wenige Minuten vorher auch entscheiden müssen, vier Kugeln zu bestellen, und nicht etwa 3 oder 5, was ihm nach Lage seines Geldbeutels problemlos möglich gewesen wäre. "Ja, bitteschön, das müssen schon Sie entscheiden!", antwortete aufmerksam und höflich der arme Mann. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er überrascht, ließ sich aber nichts anmerken. Mein Bekannter fischte einer Mark heraus und fragte, diese der ausgestreckten Hand überreichend: "Ist das genug?" - "Aber selbstverständlich," war die prompte Antwort, "am Sonntag läuft es immer so besch..." - Daß es am Sonntag und vor allem im Sommer viel schwieriger ist, sein Geld zu verdienen, wissen auch die Verkäufer der strassenzeitung. Um so wichtiger ist es, daß Sie soeben Ja gesagt haben bei der Frage, ob der eine oder der andere eine straz kaufen möchte. Sie waren in diesem Moment der oder die eine oder andere, die einem obdachlosen oder armen Menschen geholfen haben mit Ihrem Beitrag von zwei Mark. Mit einem Teil dieses Beitrags unterstützen Sie der Arbeit des Vereins mob - obdachlose machen mobil e.V., der sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Not der vielen obdachlosen und armen Menschen in dieser Stadt zu lindern. Danke!
Eine andere Geschichte, die mir mein Bekannter erzählte, ging so, daß er gebeten wurde, bei einem Freund während des Urlaubs Blumen zu gießen. Er berichtete mir verwundert, daß er auf dem Dachboden seines Freundes ausschließlich intensiv riechende, hoch wachsende fünfblätterige Pflanzen, die er vorher noch nie gesehen hatte, vorfand. Treu, wie er nun mal ist, hat mein Bekannter sich gesagt: Versprochen ist versprochen und hat tapfer gegossen. Ich ahnte etwas, zeigte meinem Bekannten ein paar Fotos aus einem Pflanzenbuch und fragte: "Sahen diese Pflanzen vielleicht etwa so aus?" - was er bestätigte. Ich fing herzlich an zu lachen, und klärte meinem Bekannten dahingehend auf, daß er vermutlich die Aufgabe hatte, eine kleine private Hanfplantage zu hegen und zu pflegen. Daraus entspann sich eine lange Diskussion über regenerative Energien und Drogen. Sie ahnen schon: Thema dieser Ausgabe ist Hanf. Wir wollen dabei weder verharmlosen noch beschönigen, sondern der Frage nachgehen, was hat es auf sich mit diesem Stoff?
Stefan Schneider
Nachtrag: Die nächste Ausgabe erscheint am 03. September mit dem Schwerpunkt: "Ich bin nicht zuständig!" - Wenn Sie dazu etwas erlebt haben, bitte schreiben Sie an die Redaktion.
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Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006