Weniger ist mehr !?!?
Im Münchener Verlag C.H.Beck ist im letzten Jahr ein Buch von Hermann Ehmann mit dem Titel "Billiger Leben. Spartips, die Spaß machen von A-Z" erschienen. Es kostet 14,90 DM und sollte über jede Buchhandlung zu erhalten sein. Auf 156 Seiten enthält das Buch 230 Stichworte von A wie Abonnements bis Z wie Zweiräder. Zur Entstehung schreibt der Autor: "Der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe, ist ein sehr persönlicher. Obwohl ich stets gut verdiente, war ich über viele Jahre hinweg am Monatsende regelmäßig pleite, weil ich mein ganzes Geld für unnötige bzw. unsinnige Dinge ausgegeben hatte. Als ich einmal für längere Zeit erkrankte, liefen mir plötzlich sämtliche Kosten wie Miete, Versicherungen, Strom, Wasser, Telefon usw. davon - als Freiberufler bekam ich ja keine Lohnfortzahlung. (...) Diese verfahrene Situation hatte aber auch ihre positive Seite: Denn nun war ich zum ersten Mal wirklich gezwungen, mein Konsumverhalten von Grund auf umzukrempeln - schnell stellte ich fest, daß ich eine viel zu teure Wohnung hatte, völlig unsinnige Versicherungspolicen bei den teuersten Assekuranzen besaß, astronomisch hohe Bankgebühren bezahlte, gewohnheitsmäßig in den teuersten Lebensmittelläden einkaufte und überhaupt auf ziemlich großem Fuß lebte. An diesem Tag beschloß ich, fortan bewußter zu leben, wurde sparkreativ und suchte nach konkreten Einsparmöglichkeiten im täglichen Leben und siehe da: Meine Lebensqualität stieg in dem Maße, wie ich mich bemühte, weniger auszugeben und meine Konsumbedürfnisse auf das Notwendige zu reduzieren. Meine finanzielle Situation entspannte sich schnell wieder, doch jetzt mache ich mir ein Spiel daraus, meine Billiger-leben-Philosophie fortzuführen und so weit als möglich zu perfektionieren." Wir sehen also: Not macht erfinderisch und Kreativität entsteht am Rand. Spartip: In öffentlichen Bibliotheken nachsehen, ob es im Bestand ist. Das wird zwar dem Verlag nicht gefallen, ist aber eine logische Erkenntnis nach der Lektüre dieses Buches. Selbst für Sparexperten ist noch der eine oder andere interessante Hinweis enthalten.
Stefan Schneider
Ehmann, Hermann: Billiger Leben: Spartips, die Spaß machen von A-Z. München: C.H.Beck Verlag 2000, 156 Seiten, DM 14,90.
"Wer schreibt, der bleibt!" - Ich bin gewiß nun kein Schnellmerker, aber die Tatsache, daß ich geschlagene drei Jahre brauchte, um jetzt - ansatzweise! - diesen Satz einer guten Freundin zu verstehen, oder, vorsichtiger formuliert: in die Reichweite eines Verständnisses dieser Aussage zu kommen, will schon etwas heißen. Es ist ja nicht so, daß es hier so profane Dinge wie Tagebuchschreiben geht und gemeint ist auch nicht die Aufgabe des Schriftführers oder Protokollanten eines Vereins wie etwa der, der diese noble Zeitung herausgibt.
Schreiben meint hier, und das wäre auf der anderen Seite der theologische Zugang, den Vorgang des Sich-Einschreibens in bestehende Wirklichkeiten. Nicht umsonst, schaue ich in die Augen der Menschen, die als obdachlose zu uns kommen, blicke ich in gezeichnete Gesichter, vom Leben gezeichnet, was immer auch das Leben sein mag. Es tut weh, bisweilen, soviel Leid erfahren zu müssen.
Auf der kalten, sachlichen Ebene sind es Zahlen, die letztlich jenseits aller Notizen stehen bleiben und zum Bleiben veranlassen. Der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. hat Räumlichkeiten in der Schliemannstr. 18 angemietet, um diese unter dem Namen "Kaffe Bankrott" als Treffpunkt und als Notübernachtung zu nutzen. Vor ein paar Nächten diente dieser Ort 12 Menschen als Übernachtungsplatz, 12 Menschen, die sich 104 qm Fläche teilten. Das sind keine 9 qm pro Person, zieht man die Gemeinschafts- und Nutzflächen wie Flur, Küche und Klo ab, ist es im Endeffekt noch weniger. Allein diese Zahl beschreibt eine Not, denn, wer würde schon mit 9 qm in seinem Leben zurechtkommen, und auf der anderen Seite eine Hoffnung, denn 12 Leute sind davor bewahrt, auf offener Straße im Schlaf von den Unbilden des Wetters oder rechter Schläger überrascht zu werden.
Entsprechend beengt sind die Verhältnisse. Um Platz zu sparen, haben wir - nach langen Mühen und mit viel Glück, Doppelstockbetten aufgetrieben. Damit erinnert der Zustand der Schlafräume - der größere für die Männer, der kleinere, der zugleich als Büro mit genutzt wird, für die Frauen, an die Atmosphäre einer Jugendherberge, nur eben, daß der abenteuerliche Charakter einer solchen Unternehmung in ganz anderen Dimensionen zu finden ist. Neulich zum Beispiel hat der "Diensthabende", also der Mensch, den man üblicherweise in anderen Einrichtungen Kellner nennt, beinahe vergessen, den Süßkram wegzuräumen: Raider, Mars, Bounty und dieses ganze Zeugs, die übliche Nervennahrung. Einfach so, um zu sehen, was passiert, ließen wir ein Mars im Ständer auf der Theke stehen, und siehe da, dieser Süßstoffriegel war am nächsten Morgen verschwunden. Da hat wohl einer der Schläfer eine schlaflose Nacht gehabt und sich zu später Stunde nachts um halb drei noch im Aufenthaltsraum rumgetrieben und was Brauchbares gefunden. Wie muß das sein, nachts nicht schlafen zu können, aber Du kannst auch nicht einfach Licht und Musik anmachen, weil da sind noch 9 andere im Raum, und willst Du nachts noch was Kochen in der Küche mußt Du höllisch aufpassen, daß Du nicht zu laut mit den Pfannen klapperst. Und alles dazu noch in zwangsgemeinschaftlicher Unterkunft, das heißt, Du hast Dir gar nicht ausgesucht, mit wem Du die Nacht in einem Zimmer verbringst.
Fünf Leute, wenn ich richtig gezählt habe, haben in den letzten Wochen den Sprung in die eigene Wohnung geschafft. Fünf Gründe, wieso es richtig ist, eine solche Einrichtung aus eigener Kraft und ohne staatliche Förderung zu betreiben, fünf Gründe, wieso es Sinn macht, sich immer wieder den internen Streitig- und Nickeligkeiten auszusetzen, immer wieder zu erzählen, daß jeder reihum für das Klo putzen, die Sauberkeit und die Ordnung zuständig ist und daß jeder seinen Beitrag leisten mag und soll, auch wenn der oder die einzelne keine Lust hat und auch den Männern immer wieder neu einzubleuen, verdammt noch mal im Sitzen zu pinkeln, weil das weniger spritzt und anschließend stinkt. Ich frage mich, wann die Jungs das schaffen, endlich ein Pissoir anzubringen. Daß das getan werden soll, steht schon seit langem im Dienstbuch - ob sich daran überhaupt noch jemand erinnert. Na klar, wer mit seinen Gedanken schon am Einrichten der eigenen Wohnung ist, hat da keinen Kopf für.
Oder wie oft ist das Kleiderlager aufzuräumen, weil da einer eine Hose rauszottelt, dessen Farbe ihm gefällt, und die sich anschließend doch als zu groß oder zu klein erweist und die dann wieder zurückgestopft wird. Machen dies zwei oder drei Leute hintereinander, lohnt es sich eigentlich schon wieder, ganz von vorne zu sortieren. Und dann noch die ganzen Spenden: Bücher, Kleidung, Geschirr, Computer, anderes. Alles engt den ohnehin schon knappen Platz ein. Alles soll auch verwendet werden, sei es als Einrichtung für die Wohnungen der Schläfer, sei es zum Trödel, um die Einrichtung zu finanzieren und die Schlafplätze auf Dauer zu halten. Das gibt Ärger, selbstverständlich: Warum hast Du das hier liegengelassen oder da achtlos in die Ecke geschmissen? Einfach in den Keller geräumt, Dich einfach daraus bedient?
Da kann einem der Kragen platzen, wenn man das sieht, da möchte man auf den Tisch hauen, einen Schuldigen suchen, jemanden zusammenscheißen, warum hast Du Dich darum nicht gekümmert, Du faule Sau! - Was soll ich dazu sagen? Ich habe mich in den letzten Tagen viel mit dem alten Wort Demut auseinander setzen müssen. Ich habe gehofft, mich daran vorbeischummeln, mich davor drücken zu können. Ich habe die vage Ahnung, daß es keine Strafe, keine Lästigkeit, kein Ärgernis, sondern vielmehr ein Privileg sein kann, auf Knien rutschend anderer Leute Dreck wegzuwischen. Hätte mir das vor drei Jahren jemand so gesagt, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber so ist das eben: Wer schreibt, der bleibt.
Hajo T.
Im Rückblick ist das gerade vergangene Jahr immer das schwerste Jahr. Nie war die Situation unübersichtlicher, noch nie haben wir so hart gearbeitet wie im Jahr 2002. Noch Anfang Januar fand die Mitgliederversammlung des Vereins mob e.V. auf einer Baustelle statt – auf der Oderberger Str. 12. Damals wurde noch mehr eingerissen als aufgebaut. Das Vereinsbüro und die Redaktion erfreute sich am Baustaub, am ständigen Hämmern und Sägen und Klopfen, und wirklich warm war es auch nicht. Ob der Bau tatsächlich fertig wird oder ob alles in einem riesigen Chaos endet – niemand hätte es sagen können. Ganze vier Monate später im April 2002 viel dann die Entscheidung, dass nächste große Vorhaben anzufassen, das Gewerbeobjekt in der Prenzlauer Allee 87. Trödelladen, Treffpunkt, Notübernachtung, Redaktionsbüro, neuer Vereinssitz und auch das musste alles aufgebaut werden. Dabei war noch nicht mal klar, wie wir das alles bewältigen, geschweige denn finanzieren können.
Was ist das? Sind die Leute bei mob e.V. wahnsinnig, verrückt, leichtsinnig? Was sicherlich schwer zu erklären ist, dass mob e.V. auf Potentiale zurückgreifen kann, die es vernünftig erscheinen lassen, so etwas zu wagen. Die Menschen, die zu uns kommen, sei es als Verkäufer, als Gäste in der Notübernachtung, aus der Haft entlassen, vom Sozialamt geschickt, auf Arbeitssuche sind sicherlich auf den ersten Blick arme Menschen, Ausgegrenzte, häufig süchtig, verschuldet, oftmals obdachlos oder mit anderen Problemen befasst. Mob e.V. versucht, das anders zu sehen: Jeder der zu uns kommt, bringt irgendwelche Fähigkeiten und Erfahrungen mit, hat irgendwelche Ziele, ist motiviert sich einzubringen, wenn es um sinnvolle Ziele geht und er als Person angenommen und respektiert wird. Von der praktischen Seite gibt es enorm viel zu tun. Lebensmittel von der Berliner Tafel abholen, in den neuen Räumen Wände verputzen und streichen, für den Strassenfeger Artikel schreiben, im Trödelprojekt Möbel zusammenbauen und ausfahren, auf der Baustelle die Wohnungen fertig stellen und vieles mehr.
Die Baustellensituation prägte das ganze vergangene Jahr 2002. Oftmals war das nur schwer auszuhalten, der ganze Dreck, der ganze Lärm. Wer uns aber jetzt zum Jahreswechsel besuchen kommt, kann erhebliche Fortschritte feststellen. Aus dem Selbsthilfebauvorhaben ist ein Wohnprojekt entstanden, über Weihnachten werden die ersten Möbel in die Wohnungen getragen, Anfang Januar 2003 sind die Wohnungen bezugsfertig und werden an die Mieter offiziell übergeben. Vor Weihnachten bereits wurde in der Prenzlauer Allee 87 unser Treffpunkt mit Küche und fertig ausgebautem Sanitärtrakt auf einer großen Weihnachtsfeier offiziell eingeweiht. Auch die Notübernachtung im ersten Stock wurde provisorisch fertig und konnte über die Feiertage die ersten Obdachlosen beherbergen.
Stefan Schneider
Vom Charme der Armut : Anmerkungen zu einem Buch und zu einer Debatte
von Anne Landsberg
Der Sommer ist nicht nur meteorologisch, sondern auch politisch vorbei. Um die Sommerlochdebatte, wie die hunderttausende arbeitsunwilliger SozialhilfeempfängerInnen zur Arbeit gezwungen werden könnten, ist es schlagartig still geworden. Statt dessen interessiert sich die veröffentlichte Meinung momentan - in eben dieser Reihenfolge - für die neue Liebesbeziehung des Bundesverteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD), seine Dienst- und Privatflüge mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr und den Einsatz der Bundeswehr in Mazedonien.
Erinnern wir uns: Mitten in den Sommerferien brach der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) in Begeisterung darüber aus, daß im US-Bundesstaat Wisconsin die Zahl der Wohlfahrtsabhängigen drastisch verringert wurde, weil es gelungen ist, durch ein differenziertes System von Qualifizierungs- und Beschäftigunsangeboten, kombiniert mit dem Druck, die Unterstützung zu streichen, wenn die Angebote nicht angenommen werden, fast alle WohlfahrtsempfängerInnen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Genau so müßte das Sozialhilfeproblem auch in der Bundesrepublik gehandhabt werden, rief Roland Koch, und ließ flugs eine Dienstreise zum Vor-Ort-Studium von "Wisconsin works" organisieren. Einige Tage später blies Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), der im Nebenberuf stellvertretender Parteivorsitzender der SPD ist, dieselbe Trompete: Man müsse die nicht unbeträchtliche Zahl der SozialhilfeempfängerInnen unter fünfundzwanzig Jahren verpflichten, für den Bezug der Sozialhilfe gemeinnützige Arbeit, etwa im Bereich der Altenpflege, zu leisten. SPD-Generalsekretär Müntefering dementierte diesen angeblich mit Bundeskanzler Schröder abgestimmten Vorschlag ausgesprochen dünnlippig. Sekundiert wurden Koch und Scharping zum Beispiel vom "Spiegel", der wieder einmal den berühmten alleinverdienenden Familienvater mit Frau, zwei Kindern und einem Nettolohn von 2200 DM in Feld führte, der im Einkommensvergleich mit einer voll von Sozialhilfe abhängigen gleich großen Familie deutlich den kürzeren zieht. Dieses Beispiel zeige, daß nicht etwa das Lohnniveau in bestimmten Branchen (zu) niedrig oder das Alleinverdienermodell problematisch sei, sondern: Die Sozialhilfe insbesondere für Familien (Regelsätze für Haushaltsvorstand, Ehefrau und Kinder, Übernahme von Miete und Heizkosten, einmalige Beihilfen) sei viel zu hoch, und diese Tatsache sei hart arbeitenden Familienvätern schon lange nicht mehr vermittelbar. Die Sozialhilfe müsse gekürzt bzw. dürfe nur gegen Arbeitsleistungen gewährt werden, um das Lohnabstandsgebot und damit die Gerechtigkeit zu wahren.
Armut in der Bundesrepublik hat viele charmante Seiten, obwohl hier von Armut strenggenommen nicht gesprochen werden kann, denn auch die rot-grüne Bundesregierung geht davon aus, daß Sozialhilfe nicht Armut, sondern Armutsvermeidung bedeutet. Der Charme des hier zitierten Armutsdiskurses besteht darin, daß er zu Wahlkampfzwecken eingesetzt werden kann. In zwölf Monaten wird ein neuer Bundestag gewählt, und die großen Volksparteien versuchen, sich bereits jetzt der Sympathie ihrer "Stammwähler" zu versichern. Reale Armut etwa in Familien, die bereits über mehrere Generationen von Sozialhilfe leben (müssen), von Menschen, die in bestimmten Phasen ihres Lebens wie Kindheit, Langzeiterwerbslosigkeit, im Erziehungsurlaub, nach einer gescheiterten Existenzgründung, nach dem Studium usw. Sozialhilfe beanspruchen, oder gar die Armut von Obdachlosen ist häufig wenig charmant und anziehend. Reale Armut bedeutet nicht nur chronischer Geldmangel, sondern häufig auch eine handfeste Unter- oder Nichtversorgung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnen, Ernährung, Mobilität und Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Der anschauliche Fachterminus für diese Lebenslagen heißt "gesellschaftlicher Ausschluß".
Charmant hingegen und eines großen Medienechos sicher sind Beispiele freiwilliger (materieller) Armut, insbesondere wenn sie so fundiert beschrieben und gekonnt präsentiert werden, wie Heidemarie Schwermer es tut. Die Rede ist von ihrem Anfang dieses Jahres erschienenen und vielgelesenen Buch "Das Sterntalerexperiment : Mein Leben ohne Geld". Die Autorin ist mittlerweile Ende fünfzig, hat zwei erwachsene Kinder und hat als Grundschullehrerin und Therapeutin gearbeitet. Leitmotiv für ihr soziales Engagement und ihren Weg zu ihrem jetzigen Leben ohne festen Wohnsitz und mit wenig Geld ist "das große Versprechen", das sich das "kleine traurige Flüchtlingsmädchen" bereits sehr früh gegeben hat: "Ich werde alles dafür tun, an einer schönen Welt mitzuwirken. In dieser Welt soll es keine Kriege mehr geben. Und jeder Mensch soll in Würde leben" (S. 12). Eine große Rolle auf ihrem Weg spielte auch das Erleben der "unfaßbaren Armut", die ihr in Lateinamerika begegnete. Über die Schilderung ihrer familiären, beruflichen, gesundheitlichen und der ihr sehr wichtigen spirituellen Entwicklung führt Schwermer die Leserin zum ersten Höhepunkt ihres als politisch begriffenen Wirkens - der Gründung des Tauschrings Gib- und Nimm-Zentrale 1994 in Dortmund. Erklärtes Ziel der Gründerin war es, "ohne Geld über die Runden zu kommen" (S. 52). Die scharfsinnige Schilderung des von Schwermer im Grundsatz als Erfolg gewerteten Tauschring-Experiments ist ein wichtiger Beitrag zur Praxis der Alternativwirtschaft in der Bundesrepublik. Für Schwermer persönlich ist der Tauschring aber nicht radikal genug; aus der Erfahrung, daß sich nach dem Sterntaler-Prinzip innerhalb des Tauschrings Nahrung, Bekleidung, Dienstleistungen, ein Internetzugang und Wohnmöglichkeiten "anfinden", fällt sie 1996 die Entscheidung, fortan ohne sozialversicherungspflichtigen Job, ohne Wohnung, ohne Krankenversicherung und ohne Bargeld zu leben. Die praktischen Erfahrungen dieser Jahre, die sie mit dem Hüten fremder Wohnungen, mit Putzen und mit vielen Interviews verbringt, füllen den gesamten zweiten Teil des Buches.
Heidemarie Schwermer betrachtet ihr "Leben ohne Besitz" als reich. "Ein wesentlicher Teil der Lebensqualität, die ich durch das Tauschen und Teilen gewonnen habe, sind die vielen Kontakte zu sehr unterschiedlichen Menschen" (S. 189). Sie hütet sich klugerweise davor, ihre Nichtseßhaftigkeit und den Verzicht auf Bargeld als Globalalternative und Lösung der Armutsfrage zu propagieren. Sie möchte aber sehr wohl, wie sie dem "Spiegel" sagte, das Geld ein wenig "von seinem Thron holen". Dennoch wurden von Schwermers Buch und die Autorin als Person von den deutschen Medien recht freundlich aufgenommen. Dies erklärt sich vor allem daraus, daß einige ihrer Schlußfolgerungen und Ratschläge sehr gut in die aktuellen Debatten über den "Umbau des Sozialstaates" bzw. den "aktivierenden Sozialstaat" hineinpassen. Sie dokumentiert einen Brief an den Oberbürgermeister von Dortmund, in dem sie anbietet: "Ich will Steuern zahlen, jedoch nicht mit Geld, sondern mit meinen Fähigkeiten." Sie bietet ehrenamtliche Beratungen für Sozialhilfeempfänger an und schließt: "Mir geht es darum, Eigenverantwortung und Mündigkeit, Würde und Wert des einzelnen Menschen neu zu entdecken und lebbar zu machen (S. 245)". Sie plädiert dafür, daß Obdachlose ihre Treffpunkte freiwillig selbst sauberhalten und dies nicht der Stadtreinigung überlassen. Sie spricht sich sehr klar gegen die Zwangsverpflichtung von SozialhilfeempfängerInnen zu gemeinnütziger Arbeit aus. Schwermers Plädoyer: "Freiwilligkeit, Initiative und Eigenverantwortung" (S. 247).
Diese Prinzipien haben aber im Bundessozialhilfegesetz keinen und in der aktuellen Sozialstaatsdebatte wenig Raum. Natürlich ist es richtig, daß der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung der mit Abstand größte Posten im Bundeshaushalt ist und daß die Sozialhilfeausgaben viele Kommunen zu strangulieren drohen. Spätestens an dieser Stelle zeigt die Armut eine weitere charmante Seite: Sie ist relativ leicht zu beschreiben, aber sehr schwierig zu bekämpfen, wenn man nicht nur auf die Finanzen und das biblische Prinzip "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" schaut, sondern auch auf Freiheit und Menschenwürde der Armen sehen möchte. Bei einer Reform der Sozialhilfe hin zu einer echten Armutsbekämpfung wären folgende Differenzierungen zu berücksichtigen, die der eingangs zitierte Koch-Scharping-Diskurs bewußt verschweigt: Das Bundessozialhilfegesetz sieht bereits seit langen vor, daß die Sozialhilfeempfangenden aktiv zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beitragen müssen. Kürzungen der Sozialhilfe sind bereits jetzt möglich und werden in den letzten Jahren zunehmend praktiziert. Die Kommunen richten - ebenfalls zunehmend - Beschäftigungsmaßnahmen für Sozialhilfeempfangende ein, in die die Menschen unter der Androhung, die Hilfe zu streichen, zugewiesen werden. Dies hat dazu geführt, daß in den letzten Jahren die Zahl der Sozialhilfeempfangenden um 4,5 Prozent gesunken ist und daß fast alle Arbeitsfähigen in Beschäftigungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen untergebracht sind, an deren massenhaftem Nutzen allerdings gezweifelt werden darf. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, daß fünf bis sieben Prozent der Erwerbstätigen ergänzende Sozialhilfe beziehen, weil das Arbeitseinkommen z.B. nicht für die Miete reicht. Es liegen geeignete und ungeeignete Reformvorschläge auf dem Tisch. Zu den geeigneteren gehört die pauschalisierte Grundsicherung und die Öffnung aller Arbeitsmarktmaßnahmen für Sozialhilfeempfangende. Grundproblem ist jedoch, daß der Arbeitsmarkt nicht aufnahmefähig ist. Aber nicht nur deshalb sollte auf Zwang und Druck gegenüber den HilfeempfängerInnen künftig verzichtet werden. Eine freiheitliche Gesellschaft mit Charme ist in der Lage, zu ertragen, daß Menschen allein deshalb Geld bekommen, weil sie existieren.
Schwermer, Heidemarie: Das Sterntalerexperiment : Mein Leben ohne Geld. - München : Riemann Verl., 2001. - 254 S. - DM 38,-- (Riemann One Earth Spirit)
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Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006