Barbara Tietze
Neue Nomaden - nomadische Arbeitskulturen?
Zukunftsprognosen für die kulturelle Entwicklung der Industrie, der Arbeit und des Design
- Nomadisch sind Organisationsformen von Arbeit und Leben
- Nomadisch sind Zeitvorstellungen
- Nomadisch sind ästhetische Vorstellungen
- Nomadisch sind Formen von kollektiver Organisation
- Nomadisch sind materielle Wertvorstellungen
- Nomadisch sind Überlebenstechniken
- Nomadisch sind Wahrnehmungs- und Denkformen
- Nomadisch ist ein Umgang mit Energie
Nomadisch sind Organisationsformen von Arbeit und Leben,
- die in Person, Arbeitsmitteln, Arbeitsplatz und Wohnung beweglich sind
- die es erlauben, geo- oder sozioklimatischen Unbillen auszuweichen
Prognosen und Beobachtungen
Miniaturisierung von Technik, immer mehr "tragbare", von festen Installationen unabhängige Maschinen. Verringung des Platzbedarfs für Büro und Gewerbe. Veränderung von Städtebau und Verkehr. Möglichkeit der individuellen Reaktion auf ungünstige bauliche und arbeitsökologische Situationen, dadurch Druck auf Architekten und Ingenieure, sich etwas Besseres einfallen zu lassen. Neue Lebensformen der Integration von Arbeiten und Wohnen, die einerseits zu einem Mehr an Seßhaftigkeit führen ("Neuer Regionalismus" dadurch z.B. weniger täglicher Pendelverkehr), Andererseits größere Flexibilität in der Wahl von Standorten. Entvölkerung ökologisch belasteter Regionen. Mehr Reisen.
Nomadisch sind Zeitvorstellungen
- die Diskontinuität ermöglichen
- die weitestgehend frei sind von zeitlichen Sachzwängen
Prognosen/Beobachtungen
Zeitliche Freiräume sind auch organisatorische und örtliche Freiräume. Diskontinuität erlaubt Spontanität. Arbeitsreglements, die eine weitestgehende zeitliche Selbstbestimmung vorsehen, werden als positiv wahrgenommen. (^Z.B. Kaufhaus Beck). Zunehmende Verbreitung von Arbeitsformen, die eine größere Flexibilität in der zeitlichen Gestaltung von Tages-, Jahres- und Lebensarbeit erlauben. (Arbeitnehmer teilen sich bei gegenseitiger zeitlicher Abstimmung eine Stelle.) Immer häufiger: Der Zweidritteljob im öffentlichen Dienst mit regelmäßigen "Sabbaticals". Halbtagsjobs für Eltern, die sich in der Kinderbetreuung abwechseln. Neben der (reduzierten) Erwerbsarbeit immer mehr Autarkie und Selbstversorgung.
Das Fließband als Symbol für eine Organisationsform, die über zeitliche Sachzwänge unterdrückt, wird überwunden. Neue Formen der Arbeitsorganisation (z.B. teilautonome Gruppen). Erschließung von Nischen für eine selbstbestimmte Produktion in kleinem Maßstab.
Nomadisch sind ästhetische Vorstellungen,
- die gegen Unordnung und Chaos und tolerant und konstruktiv sind
- die tolerant sind gegen menschliche Fehler
- die intolerant sind gegen Perfektion
Prognosen und Beobachtungen:
Erfolge für Technologien, die mit unscharfen Relationen kalkulieren. (^Z.B. Fuzzylogik). Ordnung (z.B. Corporate Identity, Normung) wird zunehmend als Unterdrückung, Machtfaktor erlebt. Sabotage durch Anpassung an Ordnung. (z.B. Dienst nach Vorschrift). Dadurch auch neurotische Konflikte, Unsicherheit in Bezug auf die Frage: Was ist "Schmutz".
Die Ästhetik der Moderne: "fehlerfrei, makellos, maschinengemacht" wird angegriffen und durch wilde, "barbarisch" wirkende - z.B. handgemachte oder wie handgemacht aussehende Produkte abgelöst. Unterscheidung in Produktionen erster, zweiter und dritter Wahl sind zunehmend überholt, der "Fehler" wird zum Gestaltungsmittel.
Nomadisch sind Formen von kollektiver Organisation,
- die sensibel sind gegen Unterdrückung
- die den Willen zur Freiheit fördern
- die Selbstbestimmung erlauben
Prognosen und Beobachtungen:
Dezentralisation, Zunahme von Organisationsformen, die Selbstbestimmung/Mitbestimmung fördern, Training von effektiven Formen des Umgangs mit Hierarchie und Kommunikation, Kritik an Gewerkschaftsfunktionären
Nomadisch sind materielle Wertvorstellungen,
- die den überlebensnotwendigen Besitz reduzieren
- die einen konstruktiven Umgang mit den Spuren des Verfalls und des Gebrauchs vorsehen
Prognosen und Beobachtungen:
Neudifinition des "Existenzminimums", moralische Anreize für eine bescheidene Lebensführung. Konsum mehr an Dienstleistungen als an Produkten orientiert. Ersatz von Eigentum durch zeitlich begrenzte Nutzungsrechte (Leasing, Miete und Leihformen). Längere Gebrauchszyklen auf der Produktseite. Individualisierung der Objekte durch deren Gebrauch, Wartung und Reparatur als identitätsfördernde Zuwendung. Nomadisierende Objekte. Entwicklung neuer Standards in Sachen Ordnung und Schmutz.
Nomadisch sind Überlebenstechniken,
Prognosen und Beobachtungen
- die das soziale Miteinander und nicht die Individualisierung zum Träger des Überlebens machen
Die Wiederentdeckung von Solidarität, Familie, Nachbarschaft, Suche nach Familienersatz in Form von religiösen Lebensgemeinschaften, neue emotionale Bindungen der Art "Meister/Schüler", "Lehrer/Schüler".
Nomadisch sind Wahrnehmungs- und Denkformen,
Prognosen und Beobachtungen
- die ganzheitlich, einfühlend erfolgen
- die auch die Nahsinne des Menschen (riechen, schmecken, fühlen, kinästhetisch abmessen) in seine körperliche Intelligenz einbinden
- die auf Erfahrung als einem Bestandteil kultureller Identität aufbauen
Neue Paradigmen in Wissenschaft, Konstruktion und Entwicklung - z.B. Paul Virilio: der Mythos als analytische Kraft; völlige Neubestimmung der Ergonomie,
Nomadisch ist sind ein Umgang mit Energie,
- der sparsam ist mit den Ressourcen
- der die menschliche Arbeitskraft sparsam einsetzt
- der Energie nicht nur als Kostenfaktor sondern auch als Element des Komforts kalkuliert
aus: Ergonomie III, SS 1991
Ein Bewohner berichtet:
"N' Morgen im A - Bereich"
Morgengeräusche von draußen, langsam werde ich wach. Mein Zimmergenosse ließ gerade seinen zweiten "Furtz" - Zeit zum Aufstehen. Geht aber heute Morgen nicht so gut, das letzte Bier gestern war wohl schlecht. Ich setz mich erstmal auf Bett, die große Suche beginnt - Schuhe, Hose - wo? Aha, da! Einiges find ich auf'm Stuhl, einiges unterm Bett, aber alles fein zusammengelegt.
"Ja, wir Jungs vom A-Bereich lieben eben Ordnung!!" Zaghaft taste ich mich zum Waschraum vor. - "Oh Schreck", ... Überfüllung, - biede "Donnerbalken" besetzt. Naja, dann eben erst Morgenkosmetik. Komisch! - Alle Wasch- und Fußbecken frei! - Schööööön!
Meine Morgenwäsche wird durch lautes Schimpfen und "Ahh und Ehhh" Geräuschen begleitet, einer vom Donnerbalken ist wohl wieder mit seinem 'Stuhlgang' zufrieden. Mit bekannten Gerüchen in der Nase mach ich mich zum "Schieb-rein-Saal" auf den Weg. Kurze Begrüßung im Glashaus, ein paar Neue sind auch dabei, wohl heut' Nacht gekommen von der "Platte". Endlich, unser 'Speiseplanvollzugsbeamte' hat Erbarmen und schließt den Speisesaal auf.
Sieht alles schön geordnet aus, Teller, Tassen, Nutella, Honig und unser beliebtes "Vorsichtzähnebrot".
Ich setze mich und schenk mir 'ne Tasse braune Flüssigkeit (einige von uns sagen sogar Kaffee dazu) ein. Meine Augen und Ohren machen vorsichtig die Runde, alle scheinen zufrieden, nur unsere graue Eminenz nicht. Er ist am Schimpfen, er könne nicht beißen. (Für nicht Eingeweihte: "Eminenz verlor seine Zähne im Park beim Spuckwettbewerb.")
Auch Willi aus dem Kurzübernachterbereich ist am Schimpfen, seine Haare stehen zu Berge, er sieht aus, als habe er neben einer Steckdose geschlafen. Naja, eben ein ganz normales Frühstück.
Langsam erheben sich einige von uns, müssen zur Arbeit in die Schreinerei-Flechterei und einige in unseren modernen und absolut hundefreien Kugelschreiberzusammendrehraum. Diese Arbeit dort ist hochqualifiziert und wird übertariflich bezahlt.
Ich selbst habe frei und tippel in den A-Bereich zurück (Anmerkung: Daher der Name Tippelbruder), dort ist ein Nachfahre vom amerikanischen Präsidenten (A. Lincoln) fleißig am fegen und putzen. Sein Putzlappen muß älter sein als er selbst. Da er ja von vornehmer Abstammung ist, hat er sogar einen Hilfsgesellen, der ist so "schnell" beim Arbeiten, daß man ihn kaum sieht. Auch heute nicht, oder er ist schon wieder mal mit der Arbeit "fertig" und hat sich in den "gib mir mal n' Bier Raum" zurückgeschlepppt. Die harte Arbeit unter seinem Chef macht ihn immer ganz fertig. Aber nach drei bis sieben Dosen Brause ist er wieder ganz fit, dann rennt er mit seinem Kumpel "Raketen Ede" zum Dr. Lidl in die Hauptstraße und holt Nachschub. Denn zwischen Leber und Milz passen noch'n paar Pils.
Ich selbst lege mich noch ein bißchen aufs Ohr und erhole mich vom Frühstück.
Tschüss bis bald.
S.H.
(Fortsetzung soll folgen!)
(aus: Herbstwind. Straßenmagazin für die Region Offenburg. Hg. vom St. Ursula Heim und der Betroffeneninitiative Wohnungsloser Offenburg. Ausgabe 2/1996, S. 7.)
Mitarbeiterteam der Ambulanten Hilfe e.V.
High-tech braucht High-soz
25 Jahre Ambulante Hilfe e.V. im Rückblick 1978-2003***
"Wachstumsorientiertes Hilfesystem für obdachlose Menschen"
In den vergangenen 25 Jahren hat sich das Stuttgarter System der ambulanten Nichtseßhaftenhilfe in verschiedenen Bereichen weiterentwickelt. Die Entwicklung war auf der einen Seite gekennzeichnet durch Spezialisierung entsprechend den Problemlagen (Wohnen, Arbeit, Beziehungen, Schulden, Sucht...) und andererseits durch zunehmende Zentralisierung.
Durch Neustrukturierung, Umorganisation und Umbenennung der Arbeitsbereiche war der Weg frei für ein dynamisches, am Wachstum der modernen Industriegesellschaft orientiertes Hilfesystem. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß jedoch angemerkt werden, daß sich das Wachstum nicht auf die Höhe der Zuwendungen für Sozialhilfeempfänger bezieht (hier ist seit 1985 ein Null-Wachstum zu verzeichnen), sondern auf die Anzahl der Personen, die mit der Verwaltung von Armut beschäftigt sind.
Beschützte Beratung
Obwohl auch nach zehn Jahren intensivsten Suchens kein Ersatzgebäude für die Zentrale Beratungsstelle in der Hohen Straße gefunden worden war, konnte doch in der Zwischenzeit der Umzug in neue Räumlichkeiten stattfinden. Das Amt fur Zivilschutz hatte einen großzügigen Mietvertrag für die acht Stockwerke umfassenden Schutzräume unter dem Stuttgarter Hauptbahnhof angeboten. Diese Lösung bietet den Vorteil, daß die freundliche Optik unserer Olympia-Landeshauptstadt nicht beeinträchtigt wird und die Beratungsgespräche in einer sicheren Atmosphäre stattfinden können. Diese neuen Räumlichkeiten bieten soviel Platz, daß in ihnen sämtliche Träger der Nichtseßhaftenhilfe zusammengefaßt werden konnten, ebenso die zuständige Sozialhilfedienststelle eine Spezialabteilung des Gesundheitsamtes (Entlausung, Aids-Selektion), sowie Versorgungseinrichtungen für die Hilfesuchenden (Duschen, Wäscherei, Schließfacher, WCs). Die Gesundheitsversorgung übernahm die Sanitäterausbildungsabteilung des Katastrophenschutzes.
Diese neue Zentrale Beratungsstelle nennt sich, um ihren neuen Anspruch besser zu verdeutlichen, Lokale Anlauf- und Beratungs- Einrichtung für Resozialisierungswillige, kurz: LABER.
Der Begriff "für Resozialisierungswillige" bezieht sich hierbei darauf, daß durch eine Neuauslegung der Mitwirkungspflicht nur noch diejenigen Hilfesuchenden Leistungen erhalten, die glaubhaft ihr Interesse bekunden, wieder ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden zu wollen. Dieses Interesse bekunden die Hilfesuchenden dadurch, daß sie beim ersten Kontakt mit dem Sozialarbeiter eine Freiwillige Einigung über Sozialpädagogische Sonderbehandlung zur Eingliederung ins Leben, kurz: FESSEL, unterschreiben.
Anzumerken ist noch, daß in diesem neuen Gebäude, dem Herzstück des Stuttgarter Hilfesystems, eine eigene Polizeiwache den Pfortendienst übernimmt.
Ein Eingreifen beim Auftreten "besonderer sozialer Schwierigkeiten" ist praktisch sofort gewährleistet. Sozialhilfedoppelbezug wird im Vorfeld durch Abgleich computergespeicherter Daten ausgeschaltet. Die Polizei hat gegenüber den früheren ZDLs erhebliche Vorteile. Daß sie mit der notwendigen Sensibilitat vorgeht, garantiert die neu eingeführte Polizei-lnterne Sozialpädagogische Supervision, kurz: PISS.
Betreutes Wohnen
Auch beim Kapitel Wohnen lassen sich erfreuliche Veränderungen vorweisen. Die Zurückhaltung von Bund und Land beim sozialen Wohnungsbau haben die freien Träger (AH, EVA, CV) als Chance genutzt, um im großen Rahmen selbst Wohnungen und Häuser anzumieten.
Die Vermieter sind froh, daß sie sich bei Schwierigkeiten nicht mehr an die Bewohner, sondern nur an die Träger als Hauptmieter wenden müssen. Dabei können sie sich darauf berufen, daß diese für alle Bewohner eine fünfjährige Nicht-Auffälligkeits-Garantie geben, wobei während der ersten drei Jahre zusätzlich ein uneingeschränktes Bewohnerumtauschrecht eingeräumt ist.
Dies macht es natürlich notwendig, daß von den Bewohnern ein umfassender Wohn-Betreuungsvertrag unterschrieben werden muß. Im begründeten Interesse aller Klienten beschreibt der Wohn-Betreuungsvertrag sämtliche Möglichkeiten des Probewohnens, versuchsweisen Umsetzens in betreute Wohngemeinschaften und Versetzens in teilstationäre und stationäre Einrichtungen.
Die Sozialarbeiter sind Tag und Nacht in Rufbereitschaft, ziehen die Miete ein und erfreuen die Bewohner durch regelmäßige, unangekündigte Haushaltsberatungsbesichtigungsbesuche.
Da trotz dieser umfassenden sozialpädagogischen Betreuung manche Klienten beim Wohnen überfordert sind, hat sich die Schaffung der Koordinationsstelle für Neue Alleinunterbringung - Stationäre und Teilstationäre, kurz: KNAST, bestens bewahrt.
Diese Koordinationsstelle ist eine Abteilung der frisch gegründeten Gesellschaft Neues Wohnen, in der zentral und mit trägerubergreifendem Zuschnitt alle Fragen der Wohnraumbeschaffung und -betreibung verwaltet werden.
Betreutes Arbeiten
Nachdem die Neue Arbeit GmbH & Co KG durch überstürzte Grundstückskäufe, Objekterwerbungen und Börsenspekulationen Ende der 90er Jahre in Konkurs ging, konnte nur noch eine Privatisierung die 2000 Arbeitsplätze retten.
Eine große Stuttgarter Automobilfirma zeigte sich recht großzügig bei der Übernahme und sicherte allen Angestellten eine Weiterbeschättigung zu. Durch den Übertritt in die Privatwirtschaft sind die Arbeitsplätze aufgewertet und somit ist eine Stigmatisierung der Belegschaft, wie in früheren Zeiten, ausgeschlossen. Die vollständige sozialpädagogische Betreuung am Arbeitsplatz bleibt komplett erhalten, da sämtliche Vorarbeiter und Meister über eine zeitgemäße sozialpädagogische Zusatzqualifikation verfügen. Da diese Sonderbetreuung bares Geld kostet, können die Löhne die Hälfte des Tariflohnes nicht übersteigen. Die Nachfolge der Neuen Arbeit nennt sich deswegen auch: Föderation Regulärer Arbeit Ohne Normalbezahlung, kurz: FRON und hat die Arbeiterkolonien des vorigen Jahrhunderts weitgehend ersetzt.
Betreute Freizeit
Die Zahl der Personen, die sich ohne Wohnung und Arbeit in der Innenstadt aufhalten, hat in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen. Die Folge war, daß zahlreiche Begegnungsstätten für diese Menschen entstanden.
Waren diese Treffs früher in erster Linie dazu da, Klienten vor den Unbilden der Witterung zu schützen (deshalb hießen sie früher auch Wärmestuben), so bieten heute die sozialpädagogisch qualifizierten Mitarbeiter zahlreiche Freizeitaktivitaten an, bei denen die Klienten lernen sollen, sinnvoll mit ihrer Freizeit und sich selbst umzugehen.
Die Begegnungsstätten entwickeln sich zu einer Art Volkshochschule der Armen.
Um zu verdeutlichen, welch wichtige Bildungsarbeit dort betrieben wird, hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Angebot einer Begegnungsstätte:
- Kurs 1:
- "Überleben in der Großstadt - ein Survivaltraining für alle aktiven Outdoor-Klienten".
- Kurs 2:
- "Enthaltsamkeit, Askese und Konsumverzicht als Möglichkeit der Selbsterfahrung".
- Kurs 3:
- "Mundharmonikaspielen für Anfänger - Aus der Reihe: innovative Straßenmusik als Einstieg in die Selbständigkeit".
Wie diese kurze Übersicht zeigt, hat sich das Berufsbild des Sozialarbeiters aufgrund der fehlenden konkreten Hilfemöglichkeiten grundlegend gewandelt: Heute ist er Freizeitanimateur für Arme. Trotz dieser doch sehr positiv kreativen Entwicklung in den Nichtseßhaften-Freizeitcentern darf man nicht die Augen davor verschließen, daß immer wieder Klagen von Einzelhandelsgeschäften und Kaufhäusern eingehen, die sich über unsere Klienten beschweren. Ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, die freien Träger der Nichtseßhaftenhilfe haben sich Mitte der 90er Jahre, als Gegenleistung für die großzügige finanzielle Unterstützung der Nichtseßhaften-Freizeitcenter, gegenüber dem Stuttgarter Gemeinderat verpflichtet, das Stuttgarter Straßenbild sauberzuhalten. Die freien Träger vollbrachten eine innovative Meisterleistung: In Zusammenarbeit mit der Stadt Stuttgart haben sie eine mit (in den Landesfarben gelb-schwarz gestrichenen) Kleintransportern ausgestattete Mobile Interventionsgruppe für Nichtseßhafte-Notorisch-Auffäl!ige (kurz: MINNA) gebildet, welche die auffälligen Personen in der Innenstadt aufsammelt und "weiterer Beratung" zuführt.
Zusammenfassendes Betreuungskonzept
Es läßt sich festhalten, daß die Betreuung unserer Klienten gegenüber früheren Zeiten (vergleiche Jahresbericht 1988) wesentlich umfassender geworden ist. Das Betreuungsangebot läßt sich dennoch in wenigen Sätzen zusammenfassen: Kommt eine hilflose Person in Stuttgart an, wendet sie sich an die Zentrale Beratungsstelle LABER, unterschreibt dort einen pauschalen Betreuungsvertrag FESSEL und wird an die Gesellschatt Neues Wohnen KNAST vermittelt. Bei Arbeitsfähigkeit hat sie umgehend ihre Arbeitsstelle bei FRON anzutreten. Falls sie sich alledem widersetzt und sich unkontrolliert in der Stadt herumtreibt, wird sie "weiterer Beratung" mit MINNA zugeführt. Es versteht sich von selbst, daß all diese Betreuungsmaßnahmen einer wohlorganisierten Koordination bedürfen. Zu diesem Zweck treffen sich regelmaßig sämtliche mit einem Klienten befaßten Personen:
- der Beratungssozialarbeiter,
- der Wohnsozialarbeiter,
- der Freizeitsozialarbeiter,
- der Sozialamtssachbearbeiter,
- der zuständige Stuttgarter Schutzmann
- und je nach Bedarf noch weitere Personen (Suchtberatung, Gesundheitsamt, Psychologen usw.).
Bei diesen Besprechungen werden alle den Klienten betreffenden Fragen in seinem Sinne geklärt und besprochen. Anschließend an diese Besprechung haben alle beteiligten Personen die Möglichkeit, ihre dabei entstandenen Probleme durch eine Supervision aufzuarbeiten. Die durch die Zusammenarbeit der Sozialarbeiter untereinander entstehenden Probleme werden zusatzlich einmal pro Woche durch eine Arbeitsplatzsupervision aufgearbeitet. Schließlich darf auch nicht vergessen werden die Supervision der Supervisoren und die Supervision der Supervisoren, welche die Supervisoren supervisionieren..."
Ausschnitte aus der Festschrift zum Vierteljahrhundertgeburtstag
Der Beitrag wurde entnommen aus: 10 Jahre Ambulante Hilfe e.V. Stuttgart 1978-1988, hrsg. vom Mitarbeiterteam der Ambulanten Hilfe e.V., Stuttgart 1988. In: Gefährdetenhilfe 1/89, Bielefeld 1989, S. 39 - 40.
Schon als Kind obdachlos: Klaus Lenuweit
Klaus Lenuweit, 1948 in Neustadt/Holstein geboren und als unehelicher Sohn neben vier ehelichen Geschwistern zwischen Lieblosigkeit und Kindesmißhandlungen aufgewachsen - Schule und Lehre in Marl und 1964 als "schwererziehbar" in eine Art Kinderhaftanstalt in Sennestadt (bei Bielefeld) gesteckt.
1968 bis 1986 obdachlos in Berlin, hat er elf Vorstrafen in den Haftanstalten Plötzensee und Moabit abgesessen - geht 1986 nach Hamburg und beginnt dort, nach einer Haftstrafe in Santa Fu und einem halben Jahr Psychiatrie in Ochsenzoll, eine Reinigungsfirma aufzubauen - mit verblüffendem Erfolg: Klaus verdient plötzlich Kohle zuhauf.
Einsamkeit bringt ihn zum Automatenspiel: Er wird rasch süchtig und verdaddelt Firma, Wohnung und Freundschaften - und flüchtet, inzwischen hochverschuldet, im Januar 1991 wieder nach Berlin. Durch Handzettel in Wärmestuben kommt Klaus L., wieder auf der Straße lebend, zu einem Obdachlosen-Theaterprojekt; verfaßt Texte für "Unter Druck - Kultur von der Straße e.V.", mischt mit bei der "Obdachlosen GmbH & Co KG" haut von dort ab nach Hamburg, wo er das Erste Hamburger Obdachlosentheater "Obdach-Fertig-Los" mitinitiiert (zusammen mit "anderes lernen e.V." wurde das bisher einzige Stück "Pension Sonnenschein" u.a. im Kieler Knast sowie zur Gründung der Eutiner Tafel in den dortigen Schloßterrassen aufgeführt - und wird ab Sommer 1996 in verschiedenen Städten Schleswig-Holsteins zu sehen sein).
In Berlin drehte Ingolf Seidel vom iRA-Theateratelier den semi-dokumentarischen Film "DER FEUDEL" - eine soziale Collage über ein inzwischen achtundvierzigjähriges Leben, das wie nur wenige andere Höhen, aber vor allem Abgründe hinter sich gelassen hat.
Du warst schon als Kind obdachlos
Du warst schon als Kind
eine Null
ungeliebt,
ungewollt,
viel zu dünn,
die Füße zu groß
Ja, du warst schon als Kind obdachlos.In der Schule, im Kindergarten,
man konnte dir nicht trauen.
Zu blöde zum Schreiben, zum Rechnen.
Mach' bloß nicht den Mund auf!
Wenn du den Teller nicht leer ißt,
wirst du nie stark und groß.
Ja, du warst schon als Kind obdachlos.Aus dir wird nie was!
Fass' bloß nichts an!
So wie du bist, bekommst du nie eine Freundin!
Wie kann ein Mensch nur so dumm sein!
Du kannst dich nicht benehmen!
Mit dir geh' ich nicht los!
Ja, du warst schon als Kind obdachlos.Bezahlte Hände streicheln meinen Körper.
Einsamkeit zum Schreien.
Ein Versager zu sein,
verfolgt dich überall hin.
Du läufst und läufst
und dein Hunger bleibt groß.
Ja, du warst schon als Kind obdachlos.
.... ein Text von Klaus Lenuweit, den er in der IGF Kiel-Friedrichsort und im Kulturladen Leuchtturm Mitte April im Rahmen einer Lesung von Texten obdachloser Autoren zusammen mit Oliver Müller und Kimmo Arland vortrug. Veranstalter war das Bildungswerk "anderes lernen e.V." (Eckernförde) in Kooperation mit der Ev. Stadtmission e.V., der Kieler Tafel e.V., KVW e.V., Straßenmagazin Hempel's.
Anläßlich der Lesung machte Jan Czemper vom Ev. Rundfunkdienst Nord ein Interview mit den Autoren, das im Mai von verschiedenen Hörfunkanstalten gesendet wurde. Auszüge aus den Fragen von Jan Czemper und die Antworten von Klaus Lenuweit bearbeitete Dieter Boßmann von "anderes lernen e.V." für den Gegenwind und "mixte" sie mit Texten von Klaus L. (eine Broschüre mit Texten von Klaus L. wird erstellt und kann bei "anderes lernen e.V.", Jungfernstieg 69, 24340 Eckernförde, angefordert werden).
?Jan Czemper: Wie bist du obdachlos geworden?
!Klaus Lenuweit: ... durch Arbeitslosigkeit und und und... Es war halt ein Scheiß-Elternhaus, Erziehungsheim und von zu Hause x-mal abgehauen, und so bin ich halt auf der Straße gelandet und dann nach Berlin gekommen. Ohne Wohnung, ohne alles. Hab' da halt alles mitgemacht. Am Bahnhof Zoo und auf Scheißhäusern geschlafen, in Telefonzellen und in Parks. Alkohol spielte zeitweise eine große Rolle. Das ist sowieso ein ganz großes Problem unter Obdachlosen. Dann wieder Arbeit. Wieder Wohnung - aber schon so drin im Obdachlosenmilieu. Ich hab' auch heute ganz große Schwierigkeiten, in meiner Wohnung anders zu leben, als ich draußen gelebt habe, nämlich regelmäßig einkaufen zu gehen, mein Geld einzuteilen und Miete zu bezahlen und endlich aus diesem Obdachlosen... von diesem Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben weg. Das fällt mir ganz schwer, viel durch Leichtsinn oder Kleinkram, durch Ladendiebstähle und Schwarzfahren im Knast gelandet. Und wieder raus aus dem Knast und wieder auf der Straße. Insgesamt bin ich in Berlin und anderen Städten fast zwanzig Jahre lang obdachlos oder im Gefängnis gewesen. Im Gefängnis habe ich angefangen zu schreiben. Einfach um zu überleben, da kein anderer da war, um zu reden.
Das große Tor steht offen
Das große Tor steht offen,
es wird jetzt Zeit zu gehen,
die Monate vergessen,
bloß kein Wiedersehen!Nun will ich endlich leben,
nie mehr so einsam sein.
Nun will ich endlich reden,
wo jemand mich auch hört.
Wo nicht bei jedem Wort
die Zellentür stört.
Leben will ich und ein Bier,
eine Nacht mit Dir
verträumen. jeden Tag spazieren gehen
und vielleicht die frühen Falten
im Spiegel nicht mehr sehen.Schnell jetzt in die U-Bahn,
die Freunde warten schon,
die müssen einfach warten,
natürlich warten die.
Ich hab' doch auch gewartet,
so lange nur auf sie.
?Jan Czemper: Was sind Obdachlose, die eine Wohnung haben?
!Klaus Lenuweit: Menschen, die in dieser Gesellschaft keinen Platz haben: Rentner, Behinderte, Leute, die anders, irgendwie ausgegrenzt sind, psychisch Kranke, Menschen, wo sämtliche Kommunikation aufgehört hat, außer: zusammen fernsehen - und, wenn im Fernsehen nichts läuft, den Videorecorder an. Ansonsten hat man nicht sehr viel miteinander zu tun... eigentlich alle im weitesten Sinne des Wortes obdachlos.
Selbstgespräche
Das Schweigen spricht. Ich höre meinen Atem -
Selbstgespräche immer wieder. Meine Wohnung ist wie ein Gefängnis und ich bin der Gefangene, aber auch gleichzeitig mein Gefängniswärter. Ich hab' doch alles: Eine schöne Wohnung, Telefon, Fernseher, Musik, Geld, Bücher, Nachbarn, einfach alles. Sogar einen Briefkasten, in dem nie ein Brief ist. Der Postbote schüttelt nur noch den Kopf.
Heute habe ich wieder ausprobiert, ob meine Wohnungsklingel funktioniert, das mach' ich schon monatelang, aus Angst, sie könnte kaputt sein und ich weiß gar nicht, wenn Besuch kommt.
Quatsch! - Mich hat noch nie jemand besucht, noch nie hat das blöde Telefon geklingelt, ja, es hat sich noch nicht einmal jemand verwählt; aus Versehen bei mir angerufen. Ab und zu rufe ich die Zeitansage an, um eine andere Stimme, als meine eigene zu hören.
Und der blöde Hund meiner Nachbarin, jeden bellt er an, einfach jeden, nur mich nicht - als ob ich für ihn nicht existiere.
Aber ich werde es euch zeigen, was für ein toller Hecht ich bin; wieviel Post und Besuch ich bekomm'! Alle Geräte werde ich anstellen, Tag und Nacht. volle Lautstärke, alle Geräte einschließlich Toaster und Staubsauger - Ich werde laufend bei mir klingeln. Ich werde mich mit Gästen unterhalten und lachen werde ich, lachen - Ha!!
Der Postbote wird sich wundern, wieviel Post ich bekomme; Berge, ganze Berge von Karten und Briefen.
Eine Anzeige werde ich bekommen, wegen Ruhestörung. Und erst meine Nachbarn, na, die werden gucken und reden! Jeden Tag wird die Polizei kommen, Beschwerden über Beschwerden.
Ich werde jeden Morgen um 3 Uhr früh auf den Balkon gehen.
?Jan Czemper: Du hast jetzt eine Wohnung, wovon lebst du?
!Klaus Lenuweit: Ich hab' durch ein Theaterprojekt in Berlin drei Filme gemacht... dadurch hatte ich, über's Arbeitsamt finanziert, einen Job und krieg' jetzt Arbeitslosenhilfe. Im Moment verkauf' ich auch Hinz & Kunzt, ab und zu mal.
?Jan Czemper: Handeln deine Texte alle von Obdachlosigkeit?
!Klaus Lenuweit: ... die handeln schon von Obdachlosigkeit. Sie sind auch alle in dieser obdachlosen Situation entstanden. Wobei für mich Obdachlosigkeit einfach mehr ist, als keine Wohnung zu haben: Es bleibt auf der Straße eben alles auf der Strecke, was einen Menschen ausmacht, von Wärme und Geborgenheit, Sexualität, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Ich kenne viele Obdachlose, ohne die andere Obdachlosigkeit wegreden zu wollen.
Täglicher Wahnsinn
Eine Wohnung, doch innerlich obdachlos.
Manchmal brauch' ich an einem Tag die Kraft für einen Monat. Große Sprüche und sonst nichts. Die Flasche Rotwein ersetzt kein Gespräch. Den Tag vertrinken, vertrunken, versoffen, saufen, ertrinken - um die Angst ein Luftschloß bauen. Hab' ich was zu sagen, oder red' ich einfach nur? Wo kann ich meinen Kopf umtauschen? Manchmal möchte ich mit mir nichts zu tun haben. Leere läßt sich nicht wegreden, nicht wegsaufen. Das, was ich nicht weiß, schreib' ich auf; für das, was ich weiß, brauch' ich kein Schreibpapier.
Am liebsten würde ich vor mir selbst weglaufen. Theater gespielt und nun hast du das Theater. Der Vorhang ist gefallen und nun fallen die Schauspieler - Erdbeben in mir, Stunden quälen sich dahin.
Es gibt viel zu tun, warum bin ich nur so müde?!
?Jan Czemper: Was ist die Botschaft Deiner Texte?
!Klaus Lenuweit: Die Botschaft bin eigentlich ich... das sind oft auch Situationen gewesen, wo ich nicht weiter wußte, und wo ich dann einen Text geschrieben hab': Da könntest du jetzt wieder einen Schritt machen, das Thema ist eigentlich schon abgehakt.
Heut' ist wieder nicht mein Tag
Jede Nacht träum' ich mich hier weg Jeden Morgen im Spiegel das gleiche Gesicht Heut' ist wieder nicht mein Tag! Das gekochte Ei zwischen den Frotteesocken Erdbeermarmelade auf der Zahnbürste Ich knöpf' mir das Hemd auf dem Rücken zu Scheißspiel! Ich such' im Klo die Feuerleiter kauf' mir auf dem Arbeitsamt eine Badehose, der Sozialarbeiterin mach' ich einen Heiratsantrag. Nein, heute ist wirklich nicht mein Tag!
Ich möcht' so gern Theater machen und hab' mit mir Theater vierundzwanzig Stunden lang. Sehe in den Kühlschrank - schon wieder ZDF! Rede kluge Worte im Verein - doch beim Schuheausziehen habe ich schon Schwierigkeiten Vereinsvorstandsmitglied billig abzugeben Kennwort: Wir verkaufen alles, was sich bewegt. Ich trau' mich schon gar nicht mehr auf den Flohmarkt.
Rolltreppen haß' ich ebenso wie überfüllte S- und U-Bahnen mir reicht der Shell-Atlas als Orientierungshilfe nicht mehr aus. Nun steh' ich an der Autobahn und tramp' zum Wittenbergplatz wenn das Bettelschild zum Ausweis wird, wenn eine Mark wichtiger ist als ein nettes Wort. Ich möcht' mir mal selbst begegnen, um mir selber die Meinung zu sagen.
Ich lauf' vor deinem Lächeln weg und vor deinen Händen, die so besitzergreifend sind. Morgen mal' ich mir meine eigene Sonne oder wärme mich an deinem Bild, gehe zur freiwilligen Feuerwehr oder küß' einfach ein Straßenschild. Beweg' dich - und es bewegt sich was.
Ab Juli gibt's im Kieler Straßenmagazin "Hempel's" einen dreiteiligen Beitrag von Dieter Boßmann über Klaus Lenuweit; für September 1996 ist eine Veranstaltung (Kooperationspartner: "Hempel's") mit Klaus in Kiel geplant, in der er Texte lesen wird und mehrere Filme über ihn gezeigt werden.
Text war im Internet veröffentlicht
URL: Unbekannt
Autor: Unbekannt