Heinz Czaplewski
Soziale Erlebnisse eines Obdachlosen
Die Würde des Menschen ist angetastet!
Rede zur Kundgebung am Freitag, dem 6. November 1998 um 11:00 Uhr vor dem Rathaus Neukölln
Meine Damen und Herren,
meine Erfahrung mit den Sozialämtern war auch nicht immer die Beste. Ich kenne sehr viele Ämter. Auf meiner Wanderzeit ist es mir oft passiert, daß ich in größeren Städten beim Sozialamt bis zu 6 Stunden auf meinen Tagessatz gewartet habe, und dieser wurde mir nicht einmal in voller Höhe gewärt, da ich ofW (= ohne festen Wohnsitz) war. Oft wurde ich von den Sachbearbeitern schroff behandelt, wie der letzte Penner. Das Wort Penner soll keine Beleidigung sein, denn ich bin es geblieben.
1993 bin ich nach Berlin gekommen, ich bin hier auf das Herzlichste begrüßt worden. Von Bahnhof geschmissen binnen 3 Minuten, in der Notübernachtung Fasanenstraße vom Sozialarbeiter dumm angemacht worden und zum Sozialamt nach Hellersdorf geschickt. Dort versuchte man mir, plausibel zu machen, daß ich in der verkehrten Stadt bin. Man wollte mich abschrecken und einschüchtern. Das gelang nicht. So bekam ich eine Unterkunft in einem Obdachlosenwohnheim zugewiesen.
Aber das Tollste war: In einer Abteilung vom Sozialamt mußte ich noch drei Stunden warten. Als ich dann dran war, gab man mir zu bedenken, es sei Freitag und schon 13:00 Uhr, und die Kasse hätte geschlossen. Ich sollte am Dienstag der darauffolgenden Woche wiederkommen, wenn ich alle Formalitäten mit der Anmeldung erledigt hätte. Da mußte ich lachen! Kein Geld für die Anmeldung, kein Fahrgeld, nichts zu Fressen - und das bis Dienstag - immerhin 5 Tage. Mir blieb nichts anderes übrig, als Betteln zu gehen.
Direkt danach habe ich den Straftatbestand des Schwarzfahrens erfüllt und bin zu meiner Unterkunft, die mir zugewiesen war, gefahren. Ich habe mich beim Verwalter gemeldet und bin in ein Drei-Personen-Zimmer gekommen. Ich wollte erstmal Duschen, aber das erwies sich als schwierig. Die Duschen waren so versifft, daß man dreckiger herausgekommen wäre als man hineinging. So beschloß ich, daß ich sauber bin.
Aber ich mußte auch im Verlauf des Abends mal Scheißen. Das war ein Ding: Zuerst habe ich die Gummistiefel gesucht, die natürlich nicht da waren. Von drei Toiletten waren zwei verstopft und eine zugeschissen, ohne sauber zu machen. Natürlich fehlte die Brille. Die Toilette wackelte an allen Ecken. Mit dieser Nummer hätte ich im Zirkus auftreten können.
So gegen Mitternacht kam mein Kollege, der das Bett über mir hatte, total besoffen ins Zimmer. Kann passieren. Er kletterte ins Bett, aber nicht ohne mich zu wecken. Kaum lag er, mußte er kotzen. Natürlich in mein Bett. Ich zog die Bezüge ab und wollte vom Nachtdienst neue haben. In fremder Kotze liegt es sich schlecht. Es sagte: "Du hast doch gestern welche bekommen!" Ich schilderte ihm das Malheur, die Antwort: "Es gibt keine neue Bettwäsche! Hau den Kollegen doch aus seiner Bettwäsche raus und gib im Deine!" Daß ich schnellstens aus dem Haus verschwand, versteht sich von selbst.
Ich schilderte dem Sozialamt diesen Vorfall und wollte eine andere Unterkunft. Es sei nichts frei, hieß es. So verabschiedete ich mich mit Götz von Berlichingen. Aber es ging auch anders:
Nach 6 Monaten bin ich zum Sozialamt von Pankow gekommen, denn ich hatte mich im Bezirk Pankow niedergelassen und eine Meldeadresse. Dort wurde ich auch menschlich behandelt. Man gewährte mir meine Sozialhilfe sofort. Und mit der Zeit bekam ich eine Anstellung über "Hilfe zur Arbeit" für ein Jahr.
Die Politiker sagen: "Die Ämter sind für die Bürger da!" - Leider scheint dieses an einigen Ämtern noch nicht vorgedrungen zu sein. Wie wäre es mit Informationen, denn schließlich sind auch wir Kunden von diesen Ämtern? Gäbe es uns nicht, gäbe es mehr Arbeitslose. Also sollten sich die Sachbearbeiter von den Ämtern gefälligst so verhalten, sonst stehen sie draußen.
Heinz Czaplewski,
Vorsitzender von mob - obdachlose machen mobil e.V./strassenfeger
Beirat in der Bundesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen e.V.
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Thesenpapier zu Obdachlosigkeit und Armut
Bei unseren Kollegen vom "Herbstwind", dem Straßenmagazin für die Region Offenburg fanden wir folgendes Thesenpapier. Wir dokumentieren es an dieser Stelle, weil die darin genannten Aussagen deckungsgleich sind mit unserer Einschätzung der Situation und der daraus sich ergebenden Forderungen. Insbesondere die gleichberechtigte Mitwirkung Wohnungsloser und ehemals Wohnungsloser in allen Bereichen von Politik und sozialen Einrichtungen (dies würde auch ein Vetorecht bei Entscheidungen mit beinhalten) ist uns als Selbsthilfeprojekt ein wichtiges Anliegen.
- Die Sozial-, Wirtschafts-, Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungspolitik ignorieren bzw. nehmen die weitere Verarmung bzw. Verelendung von vielen Gruppen (bis zu einem Drittel der Gesellschaft) billigend in Kauf.
- Die Lebenslagen von Wohnungslosen sind Ausdruck absoluter Armut. Und dies in einem reichen Land. Die sozialen Spannungen wachsen in Deutschland und in Europa.
- Wohnungslose haben einen Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und die Gewährung entsprechender sozialer Hilfen.
- Soziale, kulturelle, ökonomische oder politische Teilhabe von Wohnungslosen findet weder vor Ort noch im gesellschaftlichen Rahmen zureichend statt.
- Frauen, seelisch Kranke, Drogen- bzw. Aidskranke, Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Perspektiven gehören zu den besonders gefährdeten Gruppen auf der Straße.
- Kommunale Hilfen für Wohnungslose und sonstige Armutsgruppen sind vielfach weder niedrigschwellig erreichbar noch konzeptionell auf die Lebenssituation wohnungsloser bzw. armer Menschen ausgerichtet.
- Verbote, bürokratische Regelungen, unterbesetzte persönliche Dienste, mangelhafte Standards dominieren die ambulanten bzw. stationären Hilfen.
- Ansätze für die Verbesserung der Lebenssituation von wohnungslosen Menschen sind:
- Niederschwelliger Zugang zu sozialen Institutionen, keine Abschiebung von Frauen, Paaren, Alten und Kranken...,
- Konzeptionelle Offenheit von stationären und ambulanten Hilfen für Beteiligung und Mitbestimmung von Wohnungslosen,
- Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen in professionellen Diensten, Übernahme von Angeboten und Einrichtungsteilen in Eigenverantwortung (z.B. Wärmestuben, Tagescafés, Streetwork, Straßenzeitung, Tag- und Nachtdienste etc.),
- Weiterentwicklung sozialer und kultureller Angebote an Wohnungslose im Sinne von Lobbyarbeit und Vernetzung,
- Aufbau von eigenen Organisationen und Wohnungslosen vor Ort und auf Bundesebene (Initiativen, eingetragene Vereine, Straßenzeitungen etc.),
- Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für Wohnungslose.
PRO - 95
Ein Theaterprojekt
Wien 95/96
Inhaltsverzeichnis
- Ein Projektbericht - Birgit Habres
- Die Rechnung ist aufgegangen - Christian Wetschka
- ... wenn sich einer schon aufgegeben hat .. - Günter Gepp
- Ich bin aufgetaut - Hans Krasensky
- ein Theater - Harald Fetz-Heim
- Therapie auf der natürlichen Basis - Herbert Reich
- PRO-95 - "... daß ich lange daran gezweifelt habe ..."- Ludwig Zeissner
- Versuch einer Rekapitulation der Geschehnisse während meines Aufenthalts in Zwettl - Ossi Grötzer
- Da habe ich das richtig rausschreien können - Pauline Eichinger
- Ein kleiner Wahnsinn - Peter Steiner
- Diese Unsicherheit bekam ich in den Griff - Reinhard Seisenbacher
- Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage - Sabine Schweizer
- Es hat sich gelohnt - Wolfgang Hübner
- Gespräche in denen ich mir selbst begegnet bin - Wolfgang Kieberger
1. Ein Wort vor vielen Worten
2. Stationen einer Entwicklung
3. Das Team Pro-95
4. Kalendarium zu PRO-95
5. Die Kosten
6. Exkurs "Der methodische Weg in der Theaterarbeit"
7. Kommunikation durch Kreativität
8. "So ein Theater " - Inhalt, Rollen und ihre DarstellerInnen
9. Reflexionen über PRO-95
Email an das Pro-95 Team:
PRO-95 hat uns über ein Jahr lang beschäftigt. Es hat uns in unsere Träume verfolgt. Es war Arbeit, und es war gemeinsamer Kampf um eine waghalsige Idee.
PRO-95 war und ist unser Kind. Wir haben es geliebt, gehätschelt, darum gerungen , daß es Kinderkrankheiten übersteht. Es hat uns Kraft und Zeit gekostet. Gelegentlich hat es uns an den Rand des Erträglichen gebracht. Es hat uns aber auch einander nähergebracht.
PRO-95 hat uns für vieles die Augen geöffnet. Es hat unseren Glauben an die menschlichen Fähigkeiten gefordert, uns aber nicht enttäuscht zurückgelassen. Wir haben Neuland betreten. Wir wurden mit Fragen konfrontiert.
Wir sind stolz auf unser Kind. Wir sind dankbar, daß wir uns als Team bewährt haben. Wir sind froh, daß wir uns von nichts und niemand unterkriegen ließen. Wir haben gelernt, mit offenen Fragen zu leben.
PRO-95 ist Vergangenheit. Wir legen Bericht. Wir sagen, was sich in der Kürze sagen läßt, was gesagt werden muß, vielleicht auch, was man nicht zu sagen bräuchte.
Die Gruppe, die vom 4. bis zum 9. August 1995 im Bildungshaus des Stiftes Zwettl die Produktion "So ein Theater" erarbeitete, war bunt geschichtet. Hausbewohner des Vinzenzhauses, Ex-Hausbewohner, Mitglieder der Meßgemeinde, haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen waren vertreten. Reinhard ist von der Lebenshilfe Baden zu uns gestoßen. Für seine Teilnahme haben wir uns gesondert und besonders zu bedanken. Um nichts weniger gilt dies für unsere Elfe Sarah. - Hätte das Projekt einen Monat später stattgefunden, hätte sich die Gewichtung der TeilnehmerInnengruppen sicherlich verändert, die Vielschichtigkeit der TeilnehmerInnengruppe wäre aber gleich geblieben. Die Buntheit der Gruppe entspricht dem Vinzenzhaus und dem Leben. In diese Buntheit haben wir unser Vertrauen gesetzt, mit ihr und aufgrund von ihr wollten wir Kreativität und mit der Kreativität Gemeinschaft entfalten. Der letzte Sinn des ganzen Projekts: Begegnung. Davon wird in diesem Bericht oft die Rede sein, und nichts davon ist übertrieben.
Auch von Krisen oder vermeintlichen Krisen wird (vor allem in den Reflexionen der TeilnehmerInnen) zu lesen sein. Wir sind stolz darauf, daß uns keine Krise über den Kopf gewachsen ist und daß wir das beste daraus gemacht haben. Wir haben in Zwettl nicht nur miteinander gearbeitet, wir haben miteinander gelebt - und in den Krisen versuchten wir einander zu finden. Gelegentlich ist es uns gelungen.
PRO-95, auch darauf ist immer wieder hinzuweisen, ist nicht als Einzelereignis zu verstehen. Es ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die vor mehr als drei Jahren im Vinzenzhaus begonnen hat (vgl. "Stationen einer Entwicklung" - Liste der Kreativprojekte). Inwiefern "Theaterarbeit" und "Kreativitätsförderung" in der "Obdachlosenarbeit" methodisch und pädagogisch von Bedeutung ist, ist auf der wissenschaftlichen Ebene keine Streitfrage mehr (Vgl. Diplomarbeit "Theater in der Sozialarbeit").Es ist aber eine Frage des persönlichen Einsatzes und der institutionellen Ressourcen. Das ist bei "Projekten" immer die Frage.
Vielschichtig wie die TeilnehmerInnen- und Teamzusammensetzung ist auch die Zusammensetzung der SpenderInnen, die PRO-95 unterstützt haben. Wir rechnen es uns auch als eine minimale, aber doch nicht zu unterschätzende Leistung an, daß es uns gelungen ist, SpenderInnen aus gesellschaftlich differenten Lagern für unser Sozialprojekt zu interessieren. Es ist wohl überflüssig zu sagen, daß ohne das Vertrauen unserer SpenderInnen die Durchführung unserer "waghalsigen Idee" aus dem Jahr 1994 unmöglich gewesen wäre. Wer auch immer in Worten, Taten oder mit Geldmitteln PRO- 95 unterstützt hat, hat in die Begegnung von Menschen investiert. Wir danken ihm im Namen aller TeilnehmerInnen!
Der Schwierigkeit, ein dermaßen komplexes Ereignis in einen mehr als gedrängten Bericht zu zwingen, waren wir nicht gewachsen. Nicht zuletzt behindert uns die Liebe zu unserem erwachsen gewordenen Kind. Wir sind weder objektiv noch genau. Wir schreiben aber dennoch, damit unsere Erinnerungen sich in späteren Zeiten an den wenigen Worten festhalten können. Im Schreiben haben wir bemerkt, daß das eine oder andere noch offen ist. So ist das, und es ist gut so. - Wem die Kürze und Zweidimensionalität des Berichtes nicht genügen mag, der sei an den parallel zu diesem Bericht entstandenen Dokumentarfilm zum Projekt verwiesen RO-95 ist ein Stück unseres Lebens und unserer Liebe.
2. Stationen einer Entwicklung..
- Einkehrwochenende im Stift Zwettl (Motto: "Auferstehung") 10. - 12. 4. 1992
- Tanznachmittag 28. 5. 1992
- Kreativwochenende im Bildungshaus Frauenberg (Motto: "Das Leben ist ein Lied - Der verlorene Sohn") 28. - 30. 8. 1992
- Meditative Tänze im Advent 8. 12. 1992
- Kreativtage Schottwien (Motto: Vom Menschwerden und Menschsein) 29. 4. - 2. 5. 1993
- Workshop 11. 12. 1993
- Kreativtage Oberleis (mit dramatischem Schwerpunkt) 6. 1. - 9. 1. 1994
- "Einfach so" (Clownerien nach Oberleis, aufgeführt beim Faschingsfest im Vinzenzhaus) 12. 2. 1994
- PRO-95 Kreativtage Stift Zwettl 4.-13.8.1995
- "So ein Theater" (Theateraufführung im Vinzenzhaus im Rahmen von PRO-95) 19.8.1995
Franz Aigner, geb. 1952: Autor und Regisseur von "Jeder für sich selbst" (Theaterprojekt realisiert von Obdachlosen), mehrjährige Mitarbeit im WUK (Werkstätten- und Kulturhaus), Mitarbeit an diversen Filmen in Zusammenarbeit mit der Filmakademie, Mitarbeit an diversen Kreativveranstaltungen im Rahmen des Vinzenzhauses
Alfons Gleißner, geb. 1960: Co-Autor "Jeder für sich selbst" Dichterlesungen, Drogenvorträge, Mitarbeit an diversen Kreativveranstaltungen im Rahmen des Vinzenzhauses
Birgit Habres, geb. 1968: Pädagogische Ausbildung, Chor- und Musikgruppenleitung, Kinder- und Jugendbetreuung, Mitarbeit an diversen Kreativveranstaltungen des Vinzenzhauses
Wolfgang Kieberger, geb. 1962: gewerkschaftliche Ausbildung in der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA), ehem. Bildungsreferent der GPA-Jugend Wien 10, ehem. stellv. Bildungsreferent der GPA- Jugend Wien, Vorsitzender des Kulturkreises im Vinzenzhaus
Claudia Rechtberger, geb. 1966: Leitung des Gebetskreises, div. Veranstaltungen im Vinzenzhaus
Sabine Schweizer, geb. 1966: gewerkschaftliche Gruppenleiterausbildung, "Hexen von heute" (Projektleitung), Mitgestaltung div. Veranstaltungen im Vinzenzhaus, dzt. Ausbildung an der Bundessozialakademie Wien
Mag. Christian Wetschka, geb. 1966: Studium der Germanistik und P.P.P; dzt. Doktoratsstudium der Philosophie, hauptamtlicher Mitarbeiter im Vinzenzhaus (Schwerpunkte: Alkoholseminar, Gruppen- arbeit, Liturgie, Obdachlosenbetreuung, Einzelbetreuung,...), Organisation der Gruppenprojekte im Vinzenzhaus
8.8.1994 Die Pianistin Brigitte Neidl besucht mit Sabine und Christian den Pfarrsaal Ober-Sankt- Veit, um das Pianoforte für ein mögliches Benefizkonzert zu begutachten.
12.8. - 15.8.1994 Erste konsequente und aufreibende Gespräche zur Planung von PRO-95 in Haselbach. Die Idee, einen "Verein" zur Organisation des Projekts zu gründen, kann sich nicht durchsetzen. Intensives und kontroverses Nachdenken über die Frage, wie man mit eventuellen Konflikten umgehen soll. Besprechung in der Gruppe oder Einzelgespräche? Franz und Christian werden sich nicht einig. Dennoch wird ein Modell für die Arbeitsstruktur gefunden: morgens Arbeitsgespräche in der Großgruppe, abends Feedbackrunden. Die Idee der "Spendenpredigt" ist längst geboren.
10.9.1994 Treffen des gesamten Teams bei Sabine. Erstellung der Projektbeschreibung, Entwurf der möglichen Bittbriefe.
14.9.1994 Treffen des Teams mit Harti (ehem. Heimleiter) in der Gfrornergasse. Vorstellung von PRO-95. Harti stimmt der Durchführung von PRO-95 (incl. der Spendenfinanzierung) zu. Ein "PRO-95"-Emblem wird ausgesucht.
30.9.1994 Treffen des Teams zur Vorbereitung des Benefizkonzerts, Fertigstellung der Projektbeschreibung.
Oktober 1994 Franz und Walter gestalten in mehreren Treffen Plakatwände, auf denen das Vinzenzhaus und PRO-95 dargestellt werden. Plakate für das Benefizkonzert werden verschickt oder direkt aufgehängt. Handzettel werden verteilt. Sabine, Alfons und Wolfgang K. verteilen u. a. vor dem Konzerthaus und vor dem Musikverein Handzettel. Michael und Walter hängen Plakate in den Geschäften rund um den Wolfrathplatz auf. Das Benefizkonzert wird u. a. in den LAMDA-Nachrichten angekündigt.
10.10.1994 Die GPA teilt uns mit, daß sie unser Projekt mit 10.000,- sponsern will. Dieses Werk geht auf Sabines Konto!
16.10.1994 Christian und Birgit besuchen die Pfarre von Pfarrer Michael Scharf. Von einer möglichen Spendenpredigt im kommenden Jahr wird gesprochen. Der Pfarrer wird im Pfarrgemeinderat nachfragen. Eine mögliche Theateraufführung des Endprodukts wird erwogen.
19.10.1994 Christian hält in der Gfrornergasse (unterstützt von Walter) einen Vortrag zum Thema: Droge Alkohol. Die hiebei eingenommenen 500,- werden für die Plakatwände verwendet.
23.10.1994 Der Kaplan von St. Stephan in Baden besucht mit Birgit die Gfrornergasse. Im Zuge einer Hausführung wird auch der Termin für die Spendenpredigt in Baden festgelegt: der dritte Fastensonntag 1995 (19. März 1995, 9 Uhr). Wir dürfen dann im Pfarrkaffee die Plakatwände aufstellen und Geld sammeln.
30.10.1994 Aktionstag für das Benefizkonzert. Das Team versammelt sich vor 9 Uhr vor der Kirche am Wolfrathplatz. Die Besucher der 9 Uhr- und 10 Uhr 30-Messen können sich die Plakatwände anschauen und erhalten Handzettel für das Benefizkonzert. Christian lädt die Pfarrgemeinde direkt "von der Kanzel" ein. Franz, Birgit, Sabine und Christian machen nachts eine Runde durch Hietzing. An erlaubten Stellen werden Plakate aufgehängt.
3.11.1994 Mehrere Telefonate mit Agnes wegen des Klavierstimmers. Noch ist nicht ganz klar, ob er wirklich rechtzeitig kommen wird. Am frühen Nachmittag Entwarnung: der Klavierstimmer kommt morgen zumittag.
4. 11.1994 19 Uhr 30: Der Saal ist voll. Zusätzliche Stühle müssen aufgestellt werden. Rund 80 bis 90 Gäste sind gekommen. Christian hält eine kleine Ansprache, die zum Spenden anregen soll. Anschließend geht das Benefizkonzert klaglos über die Bühne. Am Ende erhält Frau Neidl auch eine von Alfons kreierte Torte "in rot" als Danke vom PRO-95- Team. Sogar eine Zugabe mußte gespielt werden. Rund 8.500,- wurden an diesem Abend gespendet. Wir sind zufrieden.
24.2.1995 Erstes Arbeitsgespräch im neuen Jahr bei Christian. Walter ist nicht dabei, weil er einen therapeutischen Aufenthalt in Ybbs absolviert. Dafür ist Ludwig bei diesem Gespräch dabei, der jetzt in der Gfrornergasse wohnt und das Projekt tatkräftig mitunterstützen will. Bei diesem Arbeitsgespräch legen wir fest, daß wir am 6. 5. ein weiteres Benefizkonzert abhalten werden. Der Gitarrist Andi Forster hat sich für dieses Projekt angeboten. Vorgehen und Organisation wird sich an das erste Benefizkonzert anlehnen. Leider müssen wir auch erfahren, daß weder Alfons noch Claudia nach Zwettl mitfahren können, weil Claudia zu diesem Zeitpunkt im 7. Monat schwanger sein wird. Alfons bekommt zu diesem Zeitpunkt keinen Urlaub. Auch sind einige Leute, die sich schon lange für PRO-95 angemeldet hatten, wie es bis dato aussieht, ausgefallen. Mayerhofer ist verschollen, Rothmund bleibt für das nächste Jahr im Therapiezentrum Ybbs. Dennoch stehen bis jetzt 17 Leute auf der Liste... Auf der Spendenseite sieht es gut aus. Durch die Subventionen der Gewerkschaft und der Gemeinde Wien sieht es zur Zeit so aus, als würden wir unser Ideal- und Plansoll von 44.000,- erreichen.
12.3.1995 Fastenpredigt in der Pfarre Am Kordon im 14. Bezirk. Christian predigt über die "Beziehungsarbeit" im Vinzenzhaus. Im Pfarr-Cafe informieren wir die Interessierten über PRO-95. Das PRO-95-Team bekommt die Sonntagskollekte: ca. 6.000,-.
19.3.1995 Fastenpredigt in der Pfarre St. Stephan in Baden bei Wien. Christian predigt über die christliche Auslegung des Wortes "Vielleicht". Die Pfarrgemeinde spendet über 6.000,- nach dem Gottesdienst. Auch bei diesem Termin ist das PRO-95-Team anwesend - außer Wolfgang K., der krank darniederliegt und Walter, der zuletzt auf Krisenintervention in Ybbs war, geht es psychisch weiterhin sehr schlecht. Zur Zeit ist unklar, ob er sich bis zum Sommer noch einmal erholen wird.
2.4.1995 Das PRO-95-Team, verstärkt durch Peter P., Pauline, Ludwig versammelt sich im Gruppenraum in der Gfrornergasse zu einem weiteren Arbeitsgespräch. Auch Walter ist wieder auf dem Damm. Zwei Punkte auf der Tagesordnung: die Organisation des Benefizkonzerts ("Konzert in der Kirche") und der Einstieg in Zwettl. Was den ersten Punkt anlangt sind wir auf Grund unserer Erfahrungen vom Klavierabend Profis. Die Aufgaben sind rasch verteilt. Der zweite Punkt, ein erster Lösungsvorschlag wird von Franz vorgestellt, wird kontroversiell debattiert: soll es bei sehr verschiedenen Vorschlägen zum Inhalt unseres Stückes zu einem Mehrheitsentscheid (Abstimmung) kommen oder soll man mehr Zeit in die Findung eines Konsens investieren? Soviel ist wahrscheinlich deutlich geworden: der Konsens wäre uns allen schon wichtig.
22.4.1995 Handzettel-Austeil-Aktion vor dem Musikverein (Ludwig , Sabine und Wolfgang K.)
23.4.1995 Handzettel-Austeil-Aktion vor dem Konzerthaus
30.4.1995 Aktionstag für das Benefizkonzert am 6. Mai. Wie schon beim ersten Benefizkonzert im November teilen wir am Vormittag vor der Pfarrkirche Ober-St. Veit Konzerteinladungen aus. Christian lädt "von der Kanzel" aus ein. Am Abend wird noch einmal in der Gfrornergasse eingeladen. In der Nacht (bis 2 Uhr früh) plakatieren wir in zwei Gruppen in ganz Hietzing. Auch ein kurzer und sehr überraschender Polizeikontakt bringt uns nicht wirklich aus der Ruhe. In der Zwischenzeit sind Konzertankündigungen im PROFIL- GUIDE, im Pfarrblatt Ober-St. Veit und in der dieswöchigen Kirchenzeitung erschienen.
Eines beschäftigt uns in diesen Tagen ebenfalls intensiv: Christian hat - auf Grund eines Vorfalls mit dem Heimleiter - seine Kündigung per Ende Juni 1995 bei der Caritas deponiert. Momentan ist alles offen. Niemand weiß, wie es im Haus überhaupt weitergehen soll. Das ganze Mitarbeiterteam des Vinzenzhauses ist zerrissen. Wir glauben aber weiterhin an PRO-95.
6.5.1995 BENEFIZKONZERT in Ober St. Veit. Andi Forster und Alexandra Pölzlberger spielen ein gemischtes Programm für Flöte und Gitarre und finden großen Anklang. Die neugebaute Kapelle in der Parrkirche wird beinahe voll. Das Konzert geht an diesem lauen Frühlingsabend stimmungsvoll vonstatten. Abgesehen davon, daß uns vor dem Konzert bereits der Buffettisch in Brüche geht, gibt es keine Irritationen. Einnahmen: ca. 3.000,- Spenden.
16.5.1995 Wochenlange Auseinandersetzungen im Team des Vinzenzhauses haben dazu geführt, daß Harti Oberkofler beschlossen hat, seinen Heimleiterposten abzugeben. Jutta wird neue Heimleiterin. Christian bleibt noch bis nächstes Frühjahr. Auch PRO-95 ist gerettet.
9.7.1995 Vorbesprechung für alle TeilnehmerInnen in der Gfrornergasse. Einige TeilnehmerInnen haben sich von dieser Besprechung abgemeldet. Es ist sehr heiß in Wien. Wir sitzen in der Teestube, weil es im Gruppenraum nicht auszuhalten ist. Außerdem sind einige TeilnehmerInnen - mehr oder weniger überraschend ausgefallen - . Peter hat einen Totalabsturz erlebt, wahrscheinlich befindet er sich zur Zeit in Ybbs zur Krisenintervention. Harald muß im Zoo arbeiten, Walter muß nun - nach dem 5. Rückfall - wahrscheinlich doch ausziehen. ... Von einigen Interessenten ist noch nicht klar, ob sie doch mitfahren können. Ein Auf und Ab, wie es immer vor solchen Veranstaltungen war. Wir besprechen nicht nur die Modalitäten für die Fahrt nach Zwettl, sondern auch erste organisatorische Belange. Ernstl wird ein Plakat für die Aufführung am 19. 8. erstellen und sich wegen Bühnenbauelementen im Metropol erkundigen. Michi und unser neuer Zivi(ldiener) Thomas werden uns mit den Bussen nach Zwettl chauffieren und auch wieder abholen. Eines ist klar: PRO-95 ist nicht mehr aufzuhalten. Wermutstropfen: Unverhofft werden wir damit konfrontiert, daß Harti die zugesagte PRO-95- Kostenübernahme (25.000,-) nicht ins Jahres-Budget übernommen hat. Darüber sind wir nicht glücklich, aber die neue Heimleitung steht zu den gemachten Zusagen. Claudia hat vergangene Woche ihr Kind verloren. Walter muß bis Ende Juli ausziehen.
Ende Juli 1995 Ernstl hat das Plakat für die Aufführung am 19. 8. entworfen. Christian und Ludwig vervielfältigen das Plakat und erstellen auch Handzettel, die mit der August-Aussendung mitgeliefert werden. Horst hat zugesagt, sich um die Bühnenelemente zu kümmern. Die Intervention beim Metropol durch Ernstl war leider erfolglos.
4.8. - 13.8.1995: Arbeitsphase in Zwettl
Freitag, 4.8.1995 20 Personen kommen zum Abendessen im Bildungshaus Zwettl wohlbehalten an. Abgesehen davon, daß sich die Busse bei der Anreise nach KIosterneuburg verirrt haben, landen alle TeilnehmerInnen ohne Komplikation am Ort der Begegnung. Michael und unser Zivi Thomas haben die Busfahrten organisiert, Sabine, Birgit und Ernst sind mit den Privatautos unterwegs. Wir werden sie in der kommenden Woche für die Materialeinkäufe in Zwettl immer wieder brauchen. Nach dem Abendspaziergang, der nach kurzem Regenschauer am frühen Abend, doch stattfinden kann, moderieren Sabine und Birgit ein "warming up". Leute werden unter einem Tuch "gemischt", die Partner werden unter dem Tuch hervorgezogen. Es folgt ein Paarinterview, dessen Ergebnisse im Plenum präsentiert werden. Der Abend klingt aus mit Gesprächen, Musik und Nachtspaziergängen. Unsere tägliche Teamreflexion findet um Mitternacht herum statt.
Samstag, 5.8.1995 "Was könnten wir machen?" Mit dieser Frage beginnt unsere erste Gruppenarbeit (in vier Gruppen). Die Gruppen verteilen sich über das Stiftsgebiet und sammeln erste Ideenvorschläge. Freies Brainstorming. Diese Ideen werden noch vor dem Mittagessen vorgestellt, besprochen und sortiert. In der Nachmittagsarbeitsphase werden aus den vorhandenen Ideen drei Hauptideen (nun doch per Stricherl-Wertung) ausgewählt. Drei Gruppen werden gebildet, die Aufgabe bis zum Abendessen: aus den drei Ideen soll ein Stück entworfen werden, eventuell schon mit konkreten Szenenentwürfen. Die zugrundeliegenden Begriffe/Ideen: Szenen am Westbahnhof, Ritterspiele und ein Sozialarbeiterdrama, in dem es darum geht, daß einE SozialarbeiterIn so gut "sozialarbeitet", daß sie/er sich schließlich überflüssig macht. Die Gruppen verteilen sich wieder auf Wiesen und Bänke. Das Arbeitsklima ist gut, und es entstehen mehr oder weniger drei szenische Gerüste. Mehr als wir für den ersten Arbeitstag erwartet hatten. Manche erleben dieses Tempo vielleicht auch als Streß. Schon am Beginn dieser Woche sind wir mit der Unterschiedlichkeit und den unterschiedlichen Grenzen der Persönlichkeiten konfrontiert. Am Abend erleben wir eine intensive Feedbackrunde, die bestimmt ist von psychischen Spannungszuständen einiger TeilnehmerInnen. Reinhard betont, daß er mehr Zeit braucht, um sich an Menschen, Ort und Aufgabe zu gewöhnen. Wolfgang S. kämpft schon seit einigen Tagen mit Depressionen bzw. Aggressionen, aber er spricht es in der Feebackrunde an, was uns alle etwas entlastet. Ossi erleben wir als verwirrt und verwirrend. Die abendliche Feedbackrunde hat er beinahe verschlafen. Wolfgang H. erscheint zur Feedbackrunde gar nicht. Freude jedoch haben wir alle am Besuch von Alfred, Brigitte und Josef. Der Abend endet mit einem lustigen Beisammensein in der Stiftstaverne. Alfred hat alle eingeladen. Niemand bleibt der Einladung fern.
Sonntag, 6.8.1995 Da einige die Hl. Messe besuchen wollen und einige den Wunsch nach Freiraum haben, beschließen wir, den Vormittag freizunehmen. Einige fahren zum Stausee Ottenstein, einige sind in der Messe, einige durchwandern die Zwettler Natur. Mit der Arbeitsbesprechung am Nachmittag beginnt die "Kompilation" der drei Szenen-Folgen, die am Vortag ausgearbeitet wurden. Per Abstimmung beschließen wir, daß eine Gruppe aus Interessierten aus den drei vorhandenen Stücken ein einziges formt. Diese Gruppe formiert sich auf dem Hauptarbeitsplatz, der Wiese vor dem Haus. Andere haben einen weiteren freien Nachmittag. Schon während des ganzen Tages verfolgen alle mit, daß es Wolfgang S. bedeutend schlechter geht. Allerdings erscheint er sehr wohl in der abendlichen Feedbackrunde und artikuliert seine depressive Verstimmung. Er hat außerhalb des Hauses getrunken und verheimlicht es uns in der Runde nicht. Die Reflexionsrunde des Leitungsteams dauert dieses Mal beinahe zwei Stunden. Aber es entstehen schon konkrete Arbeitspläne für den nächsten Tag. Eines ist uns klar: ab Montag muß handwerklich gearbeitet werden.
Montag, 7.8.1995 Nach der Arbeitsbesprechung im Plenum geht es los. Die Dramaturgiegruppe vollendet ihren Stückentwurf, der gestern noch nicht fertig geworden ist. Dennoch steht soviel fest: unser Werk wird 10 Szenen haben, im Mittelalter spielen und vier Bühnenhintergründe benötigen. Die andere Hälfte der Gruppe fährt in die Stadt, um die Einkäufe für die Bühnendekoration zu tätigen. Wolfgang S. ist wie neugeboren, er möchte die Bühnenbilder malen. Wir freuen uns, daß er seine Krise überstanden hat. Durch Wolfgang K. bekommen wir beim hiesigen Baumax günstige Konditionen für die Malutensilien. Am Nachmittag nimmt auch schon die Musikgruppe ihre Arbeit auf: Birgit, Sabine und Wolfgang S. werden live-Musik erarbeiten. Diesmal gehört der begehrte Wiesenarbeitsplatz vor dem Stift ihnen. Aus Baden wird ein Liedertext gefaxt. Wir erfahren, wie so oft in dieser Woche, daß das Bildungshauspersonal überaus kooperativ und geduldig mit uns ist. Nach dem Mittagessen beginnen im kleineren Saal (kurz "Probenraum") die Proben zu den ersten beiden Szenen. Der mittelalterliche Sozialarbeiter als "streetworker" begegnet mittelalterlichen Saufbrüdern. Überraschenderweise hat sich ein Hauptdarsteller gefunden, der große Akzeptanz in der Gruppe hat: Ludwig. Er spielt den mittelalterlichen Sozialarbeiter, Pauline spielt seine keifende Gattin Gundi, Franz führt an diesem ersten Spieltag Regie, damit das Spiel in Gang kommen kann. Wolfgang H. arbeitet im Probenraum parallel zu den Proben an der Tonregie. Die Arbeit am Stück ist in Gang gekommen. Keiner zweifelt daran, daß es das Stück geben wird. Das Tempo und die Ernsthaftigkeit, mit der gearbeitet wird, ist einigen jedoch ein Problem. Wir werden daran erinnert, daß diese Woche eine "Arbeitswoche" und keine "Urlaubswoche" sein wird.
Dienstag, 8.8.1995 Morgenbesprechung. An die mangelnde Pünktlichkeit der Teilnehmer müssen wir uns scheinbar gewöhnen. Der Wunsch, daß in der Nacht die Türen nicht zugeknallt werden, erinnert an Hausversammlungen in der Gfrornergasse. Der Arbeitstag steht im Zeichen der weiteren Szenenerarbeitung. Das Regieteam Franz und Ernst will bis zur 5. Szene vordringen. Darunter fällt auch die erste Probe der Walkürenszene von Birgit und Sabine, die für allgemeine Erheiterung sorgt. Wolfgang S . arbeitet am Zauberwald-Bühnenbild. Sylvia schreibt Texte für ihre Hexen-Szene und läßt sich dabei von Goethes Faust inspirieren. Giselher kämpft mit der Rolle des mittelalterlichen Arztes. Die Dekorationsgruppe um Christian bastelt an Walküren-Brustpanzern und Helmen. Ossi formt mit Hingabe die Papiermasche-Brüste. Gegen Abend kommt es zu einem Probenabbruch bei der Erarbeitung der Hexenszene. Ludwig und Sylvia finden spielerisch nicht zueinander. Beide sind darüber wenig glücklich. Beim abendlichen Feedback landen die meisten Wertungen bei den Begriffen: Spaß und Kreative Entladung. Die Stimmung ist trotz des Probenabbruchs konstruktiv. Wegen des hohen Tempos und der raschen Fortschritte beschließen wir, den Mittwoch Vormittag wieder freizunehmen. Am späteren Abend fällt für längere Zeit im gesamten Stiftsviertel der Strom aus. Wir tappen im dunkeln und wandern mit in der Kapelle entwendeten Kerzen in der Stiftsfinsternis herum. Wolfgang S. muß die Arbeit am Zauberwald für heute unterbrechen und ärgert sich. Die Finsternis führt uns alle im Clubraum zusammen. Lagerfeuerstimmung. Übermorgen wird Vollmond sein.
Mittwoch, 9.8.1995 Trotz des freien Vormittages wird stellenweise gearbeitet (Hexeneinmaleins, Liedtexte,...). Pauline näht am Beraterkostüm für Reinhard. Das Arbeitsgespräch um 14 Uhr 30 beginnt mit einer Überraschung. Ludwig hat es sich gut überlegt: er legt seine Rolle zurück, weil er - als Alkoholiker - Probleme hat, einen betrunkenen Alkoholiker zu spielen. Außerdem belastet ihn der Probenabbruch von gestern nachmittag. Nun hat er Schuldgefühle gegenüber der Gruppe. Dennoch gibt uns diese Situation eine gute Gelegenheit, unser Problemlösungsvermögen auszuprobieren. Spontan werden Peter und Ossi für die Hauptrolle vorgeschlagen. Die Entscheidung über die Rollenvergabe soll aber erst bei den Proben erfolgen. Nicht wenig beeindruckend ist die Offenheit, mit der über diese Umbesetzung im Plenum gesprochen wird. Das erste Bühnenbild (Zauberwald) liegt gegen Abend fertig im Altenburger Saal. Sarah und Günter helfen Wolfgang S. beim Malen. Im Clubraum werden die silbernen Superbrust-Panzer für die Walkürenszene fertiggestellt, div. Schilder werden gemalt. Die gestern nicht fertiggestellte Hexenszene wird fulminant durchgespielt. Die Liedertexte sind fertig. Beim Feedback (Stimmungsbarometer) kommt Zufriedenheit mit der Arbeit zum Ausdruck. Ludwig quält sich mit Schuldgefühlen, er meint noch einmal, die Gruppe im Stich gelassen zu haben. Nach dem Feedback wird weitergearbeitet.
Donnerstag, 10.8.1995 Nach zwei düsteren Tagen scheint wieder die Sonne. Eine "Eilsänfte" wird gebaut. Das Material dazu läßt sich in der Umgebung des Stiftes (Wald- und Kartonviertel) leicht "organisieren". Allerdings zeigt sich auch die Stiftsbelegschaft wieder von der konstruktiven Seite. Bühnenbild zwei und drei wird von Wolfgang S. vorgezeichnet und von Vorbeikommenden vollendet. Verwandeln wir das Stift in einen Misthaufen? Auf den eben erst restaurierten Böden malen, kleben und schneiden wir. Bis in den Wald dröhnt unsere Tonanlage. Wir überlegen uns, ob wir je wieder nach Zwettl kommen dürfen... Ossi bewährt sich in seiner Rolle. Er wird sie behalten. Pauline bezeichnet ihr Rollenspiel als "Psychotherapie". Da sie neben ihrer Probenarbeit auch noch die ganze Näharbeit erledigt, machen wir uns ein wenig Sorgen um ihren Gesundheitszustand. So versorgen wir sie mit Getränken, Gesellschaft und zwingen sie zu Pausen. Wolfgang K. versucht sich an der Nähmaschine. Am Nachmittag ergibt sich eine Probenpause. Einige toben high durch die Gegend. Statt des üblichen Feedbacks tanzen wir unseren "Hit" Sally Gardens. Danach trägt die Musikgruppe die erarbeiteten Lieder vor. Heute ist Vollmondnacht. Im Wolfgang-Zimmer im alten Trakt sammeln sich über 30 Fledermäuse (echte!). Ein kleines Fest.
Freitag, 11.8.1995 Das Bildungshaus-Personal meint, wir wären eine "ruhige Gruppe", was nicht wenig Erstaunen bei uns auslöst. Um 16 Uhr 30 sind die Proben so weit gediehen, daß ein erster Durchlauf des gesamten Stücks über unsere Probebühne geht. Die Rückmeldungen gehen in Richtung Zufriedenheit. Dauer des ersten Durchlaufs: 55 min. Auch das vierte Bühnenbild ist trotz Wolfgangs Frisby-Unfall (Frisby-Turnier im Festsaal) fertig. Säulen, Hexenkessel und Kartonbaum sind vollendet. Die Materialien fanden wir wieder in der Stiftsumgebung. Böse Zungen sprechen bereits davon, daß wir "Mistkübel-Stierln" gehen. Zumittag besuchen uns Sabines Eltern. Sie bringen Stoffe für Kostüme aus Wien mit. Am Abend stoßen Alfons, Claudia und Markus zur Gruppe. Die Stimmung: so wie es sein soll, wenn sich ein Ganzes - über Umwege aber doch - "herausstellt". Statt des abendlichen Feedbacks wird ein zweiter Durchlauf des Stücks durchgeführt. In den Nach- und Nacht-Gesprächen taucht die heikle Frage auf, ob in den Szenenablauf ein Erzähler eingebaut werden sollte. Wolfgang K. könnte einen Hofnarr oder einen Bettelmönch spielen. Und: inwiefern sind die Hintergrundgeräusche (=Tontechnik) während der Dialoge störend? Sollten das Schlußlied nicht alle singen? Wir sind wohl alle ziemlich ausgebrannt, aber das "Werk" ist in den Mittelpunkt getreten. Heute beschäftigen uns weder Alkprobleme, Depressionen noch soziale Konflikte. Nur noch die kleineren unerschütterlichen Probleme bleiben uns erhalten: z. B., daß alle Mitwirkenden pünktlich zur Probe erscheinen. Disziplin haben wir wenig, und es geht doch. Zu später Stunde schneidern Sabine und Birgit ihre Walküren-Kostüme in der Kapelle ("weil dort der Boden noch sauber ist."). Eine Entheiligung oder auch eine Art Liturgie?
Samstag, 12.8.1995 Wir haben das Stück im Rücken. Und so dürfen wir uns auch diesen Vormittag freinehmen. In der Gruppe machen sich Erschöpfungserscheinungen bemerkbar. Sylvia und Christian bleiben den Tag im Bett. Die SchauspielerInnentruppe bringt es immerhin auf zwei Durchläufe des Werks . Abends werden bereits die Säle geräumt. Am Sonntag soll nichts mehr gearbeitet werden.
Sonntag, 13.8.1995 Um 10 Uhr 30 - der Zeitpunkt, an dem unser großes Feedback beginnen soll - machen wir die alte Erfahrung, daß wir es nicht schaffen, alle pünktlich an einem Ort zu sein. Dennoch: die Rückmeldungsrunde findet statt. Nach dem Mittagessen treten wir die Heimreise an. Einige fahren der nötigen Erholung entgegen, andere kämpfen mit dem Abschiednehmen.
14.8. - 19.8.1995: Arbeitsphase im Vinzenzhaus
Dienstag, 15.8.1995 Um 14 Uhr herum erste Probe im Vinzenzhaus. Harald hat den Bühnenvorhang montiert. Wir spielen schon in einem Anhauch von Dekoration. Sylvia ist leider noch krank. Christian muß als Hexe einspringen. Wir kämpfen mit Requisiten und Kostümen - im ungewohnten und größeren Raum verschwinden ständig Gegenstände. Außerdem haben wir bereits sehr viele Requisiten und Kostüme. Am Abend liefert Thomas die Lichtanlage. Die Kapelle wird zu einem Requisitenkammerl. Sakrilege sind bei dieser Produktion scheinbar nicht zu vermeiden . Ein Erzähler hat sich gefunden. Harald wird einen schwarzen Mönch spielen, der die Handlung des Stücks begleitet und Überleitungen schafft. Außerdem nimmt er sich des Bühnenbaus an. Ein Glücksfall. Christian und Pauline werden mit Kostümwünschen überhäuft. Bis zur Probe am Freitag soll alles vorhanden sein. Nach der Probe folgt eines der endlos langen Arbeitsgespräche. Wir beschließen, nach der Aufführung am Samstag uns eine "Premierenfeier" zu gönnen.
Mittwoch, 16.8.1995 Christian gebiert die Idee, die Vorrede in Versen zu sprechen und das im Kostüm eines Hofnarren - eine neue Idee für's Stück.
Freitag, 18.8.1995 Claudia, Franz, Christian und Markus holen die bereitgestellten Klick-Bühnen vom Volksoperndepot Stadtbahnbogen. Ing. Bättig von der Volksoper zeigt sich als sehr aufgeschlossen. Er entführt Christian auf den Schnürboden der Volksoper - andere Dimensionen. Der Transport der Bühnenteile erweist sich als körperliche und technische Schwierigkeit. Die Teile sind nicht nur sperrig, sondern auch noch schwer. Dennoch ist die Bühne noch vor dem Mittagessen im Kapellenraum. Am Nachmittag montieren Franz und Ernst die Lichtanlage. Christian schreibt und vervielfältigt die Programmhefte. Nach dem Abendessen findet die "Lichtprobe" statt, ein Durchlauf, bei dem man sich auf die neuen bühnentechnischen Gegebenheiten einstellen kann. Sylvia, unsere Hexe, ist wieder gesund. Da Birgit und Reinhard für diese Probe verhindert sind, springt Christian als Berater ein. Sabine muß wegen Partnermangel den Walkürenkampf gegen sich selbst spielen, und so ersticht sie sich eigenhändig auf offener Bühne. Ein Psychodrama nebenbei. Zwei Rollen sind inzwischen noch dazugekommen: Harald spielt den Erzähler (Bettelmönch Haraldus) und Christian den Hofnarr, der einleitende Worte in Versform vorträgt. Um 22 Uhr 15 trifft die Polizei im Haus ein. Die Anrufe der Nachbarn häuften sich. Tonanlage und offene Fenster haben wir übersehen. Niemand wird verhaftet. Trotz vieler Unterbrechungen eine hoffnungsvolle Probe.
Samstag, 19.8.1995 Ab 14 Uhr 30 treffen die SchauspielerInnen und Techniker ein. Eine der neuen Lampen in der Kapelle ist in Brüche gegangen. (Kunst kostet Geld). Harald, unser Erzähler, befindet sich aufgrund von Diebstählen im Haus in einer katastrophalen Verfassung. Zunächst will er seine Rolle nicht spielen. Nach einigen Gesprächen geht's dann doch (und wir haben wieder eine Krise bewältigt). Wolfgang S. kommt mit Krücken zur Probe. Es geht ihm gesundheitlich sehr schlecht. Diese Woche mußte er wegen seines kaputten Fußes ins Spital. Aber er würde er seine Rolle nie schmeißen. Christian betätigt sich nun auch als Inspizient hinter der Bühne. Er soll den Bühnenumbau organisieren. Er leistet damit Pauline, Sylvia, Günter und Peter hinter der Bühne Gesellschaft. Diese sechs sehen das ganze Stück erst auf Video. Die Generalprobe geht ab 16 Uhr inspiriert und mit wenigen Unterbrechungen über die Bühne. Wir wissen es jetzt schon: die Sache klappt. Alle Schauspieler sind bestens gestimmt. Ab 19 Uhr treffen die Publikumsmassen ein. Wir haben nicht mit einem solchen Andrang gerechnet. Nicht alle bekommen einen Sitzplatz, einige sehen wenig bis gar nichts, weil kein Platz mehr ist. Die Zusammensetzung des Publikums ist überraschend: Viele ehemalige MitarbeiterInnen sind gekommen, MitarbeiterInnen aus der Blindengasse, ArbeitskollegInnen unserer SchauspielerInnen, Ex-Hausbewohner (Mitwirkende vom letzten Theaterprojekt!), aber auch VertreterInnen der Caritas- Zentrale, der SOZAK und PÄDAK sind anwesend. Um 20 Uhr 10 geht's los. Das Stück dauert heute ca. 90 min. Die Stimmung ist inspiriert. Alle geben ihr bestes. Zusätzliche Texte und Pointen werden erfunden. In der Streitszene von Ossi und Pauline tauchen plötzlich "gefüllte Radieschen" auf. Als Sabines Walkürenschwert während des Kampfes zerspringt, haben wir einen neuen unerwarteten Bühneneffekt. Auch der erste Umbau, bei dem das Bühnenbild beinahe verkehrt aufgehängt wird, bringt Lacher. Und auch die nehmen wir dankbar entgegen. Hans geht während einer der Sandlerszenen sein Partner verloren. Er hat seinen Auftritt einfach vergessen. Zwei harte Minuten verbringt er alleine auf der Bühne und improvisiert den Monolog vom verlassenen Saufbruder - eine Sternstunde dieses Abends. Wolfgang S. verletzt sich während der Krankenhausszene. Giselher hat für heute nicht nur Lampenfieber, sondern einen zusätzlichen Text mitgebracht, der von Anspielungen voll ist, die wohl niemand gleich versteht. Sie verleihen unserem Werk ein Stück Komplexität und Intellektualität. Alles in allem dürften wir es geschafft haben, die Komplexität unserer Gruppe in unserer theatralischen Collage darzustellen. Unser Stück ist wie wir, ein Spiegel unseres Wahnsinns, unserer Sehnsüchte, unserer Grenzen. Nach der Aufführung häufen sich die Anregungen, das Stück ein weiteres Mal aufzuführen. Der Abend endet mit einer kleinen Premierenfeier in einem naheglegenen Lokal. Glückliche und gelöste Gesichter. Allen ist bewußt, daß wir ein großes Werk vollbracht haben. Wir haben die "persönlichen Geschichten" hintangestellt und optimal kooperiert. Wir haben einen uns nicht vertrauten Bühnenapparat bewältigt, wir haben ein komplexes Stück auf die Beine gestellt. Mit 18 Schauspielern auf der Bühne haben wir einen größeren schauspielerischen Aufwand als die meisten Burgtheaterstücke. Wir haben bei der dieser Aufführung nicht nur einen vorbereiteten Text interpretiert, sondern Situationen, Dialoge und Pointen erfunden. Wir haben es geschafft, daß noch während der Ur-Aufführung der kreative Prozeß zu erkennen und zu spüren war. Wir lachen über die Fehler und Irrtümer, die während der Aufführung passiert sind. Viele von uns haben in den letzten 14 Tagen Lebenserfahrungen gemacht. Wir haben uns ertragen und getragen. Wir haben uns Hände gereicht. Wir haben uns gegenseitig in unserer Kreativität angespornt und dabei unsere Grenzen erfahren. Alles das ist bei der Premierenfeier zu spüren. Über der Müdigkeit steht die Zufriedenheit mit all dem, was wir gemeinsam geschafft haben.
Sonntag, 20.8.1995 Der ganze Tag steht im Zeichen des Bühnenabbaus. Franz, Christian, Günter, Pauline, Wolfgang K. bringen im Laufe des Tages die ganze Bühne zum Verschwinden. Das Projekt neigt sich dem Ende zu.
Montag, 21.8.1995 Licht und Bühnenteile werden retourniert . Sonntag, 10.9.1995 Der Videofilm der Aufführung wird präsentiert. Eine Versammlung, der interessierten SchauspielerInnen in der Gfrornergasse.
Wir müssen vorausschicken, daß diese Aufstellung nur unvollständig sein kann, weil das Projekt zum Zeitpunkt der Dokumentationserstellung nicht abgeschlossen ist. Wir können also die Kosten für diese Dokumentation nur als geschätzte Größe angeben.
EINNAHMEN |
|
Beiträge der Teilnehmer |
19.440,-- |
Kostenbeitrag Vinzenzhaus |
20.000,-- |
Vortrag Christian 19.10.1994 |
500,-- |
Benefizkonzert 4.11.1994 |
6.550,-- |
Spende Kloster Baumgartenberg |
2.000,-- |
Subvention GPA Jugendabteilung |
10.000,-- |
Spende NAWI-Fakultätsvertretung |
3.000,-- |
Subvention Gemeinde Wien MA 13 Vizebürgermeisterin Grete Laska |
10.000,-- |
Spenden Fastenpredigten |
13.532,70 |
Benefizkonzert 6.5.1995 |
2.430,-- |
Spende Sabine privat |
400,-- |
Spende Theatergruppe Hundbreining |
2.100,-- |
Konto-Habenzinsen |
48,-- |
SUMME der Einnahmen bis einschl. 4.8.1995 |
90.000,70 |
AUSGABEN |
|
Aufenthaltskosten |
53.320,-- |
Postgebühren |
604,-- |
Transportkosten |
2.431,-- |
Dekorationsmaterial (Papier, etc.) |
5.128,-- |
Stoffe (Kostüme, Kulissen) |
2.916,-- |
Filmmaterial (Foto, Video) |
3.115,10 |
Getränke |
1.933,-- |
Lichtanlage |
700,-- |
Bankspesen |
288,-- |
SUMME der Ausgaben bis einschließlich 30.9.199 |
70.525,10 |
Voraussichtliche Ausgaben Enddok |
4.000,-- |
Voraussichtliche Endsumme der AUSGABEN |
74.525,10 |
EINNAHMEN nach Projektbeginn |
|
Spenden Premiereabend 19.8.1995 |
2.980,-- |
VORAUSSICHTLICHE ENDSUMME |
(+) 18.455,60 |
RÜCKLAGE für eventuelle weitere Aufführungen und Kreativprojekte im Vinzenzhaus der Caritas |
18.455,60 |
Wir wollen an dieser Stelle zu unserer Kalkulation Stellung nehmen. Die Kosteneinschätzung in unserer Projektbeschreibung bezog sich auf eine TeilnehmerInnenzahl von 25 Personen. Aus einer Vielzahl von Gründen (Urlaubszeit, Rückfälle, etc.) konnten schließendlich nur 20 Personen tatsächlich an PRO-95 teilnehmen. Dadurch haben sich die Einnahmen unwesentlich, die Ausgaben aber tatsächlich wesentlich verändert. Dazu kommt, daß wir sehr darauf geachtet haben dieses Projekt so billig als möglich zu machen und keine unnötigen Ausgaben zu tätigen. Wir schreiben diesen Verdienst der kaufmännischen Ausbildung einiger Teammitglieder zu, sowie der Fähigkeit aller "am Boden zu bleiben". Wir haben versucht Größenwahn in puncto Dekoration, Kostüme, etc. gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Team PRO-95
6. "Der methodische Weg in der Theaterarbeit ...
... Sie (die Kriterien) sind unter allen Umständen einzuhalten, sonst verliert die Methode ihren Sinn. Es sind dies die Freiwilligkeit und der sichere Ort.
Freiwilligkeit: Niemand kann zu dieser Arbeit gezwungen werden! Zwang widerspricht der Idee von Vertrauen, von freier Entfaltung und Phantasie.
Der sichere Ort: Sobald es um darstellendes Spiel geht, müssen die Mitwirkenden für die Dauer ihres Spieles die Ebene des Alltags verlassen. "(...) Voraussetzung dafür ist eben die Entlastung aller Beteiligten vom Anspruch und der Betroffenheit der Ernstsituation." Dies ist der Fall, wenn ein vom alltäglichen Lebensraum klar abgegrenzter Spielraum kreiert wird.
Es liegt in den Händen der Spielleitung diesen Ort zu schaffen; an dem alles spannend ist: jeder Ton, Geruch, Gedanke, jedes Wort, Gefühl und jeder Gegenstand soll die Möglichkeit zu neuen Entdeckungen bieten. Hier gibt es kein "Richtig" und kein "Falsch", auch keine erwarteten Ergebnisse. Dieses Anliegen muß allen Mitgliedern übermittelt und verständlich gemacht werden. Nur so kann ein angstfreier Raum entstehen, in dem Gedanken und Gefühle ihren Ausdruck finden, wo die "Hirnkontrolle" abgeschaltet und instinktiv reagiert werden kann; wo man sich primär erst einmal über Reaktionen freut, die eigenen wie die der anderen, und nicht sofort beurteilt, um aus eigener Unsicherheit die der anderen nur noch zu vergrößern. ...
Förderung der Kreativität: Durch die Schaffung einer spielerischen, neutralen und angstfreien Atmosphäre, haben die Spieler die Möglichkeit - und werden dazu aufgefordert - ihr eigenes kreatives Potential zu benutzen und ihre Fähigkeiten zu entdecken.
Erleben des eigenen Potentials: Menschen, die aufgrund von Mißerfolgen und Enttäuschungen bzw. wegen einer Behinderung aus Angst vor weiteren Niederlagen und Demütigungen aufgehört haben, Neues auszuprobieren, schränken ihre Mobilität immer mehr ein, verlieren das Vertrauen in ihre Fähigkeiten und damit den Glauben an sich selbst. Das Theaterspielen kann diesem Rückzug nicht nur Einhalt gebieten, es hilft den Menschen, ihre Angst abzubauen, und neuen Mut zu fassen. Das Ausprobieren neuer Lösungen mittels der Improvisation verhilft den Spielern ihre Angst vor (un)bekannten Situationen abzubauen. ... ... Die Spieler sind oft überrascht, zu welchen "Kunststücken" sie durch die spielerische Aktivierung ihres Körpers und der Lebensgeister fähig sind. Vor allem in einer Atmosphäre der Freude, die nur auf einer guten Vertrauensbasis entstehen kann, gelingen Dinge, die sie im täglichen Leben nie für möglich gehalten hätten.
Ein weiterer Aspekt betrifft das Zeichen- und Symbolsystem, innerhalb dessen sich im Theater der kommunikative Austausch vollzieht. Traum, Phantasie und die im Theater zugelassenen Symbolsysteme vermögen komplexere, die Tiefenstruktur der Subjekte bestimmende Sinngehalte in die Anschaulichkeit szenischer Situationen weiterzuleiten und damit der Erfahrung zugänglicher zu machen, als es in den restriktiven Verkehrsformen des Alltags und den dort zur Verfügung stehenden Ausdruckssystemen der Fall ist. Dies ist ein zentrales Moment, das die Zeichensysteme von Kunst generell charakterisiert, in ihm liegt die Sprengkraft der ästhetischen Kommunikation gegenüber den Erfahrungsmöglichkeiten in der Alltagswirklichkeit. So werden die in der Alltagskommunikation weitgehend exkommunizierten Sinngehalte im Theater zur legitimierten Anschauung gebracht, bilden dort ihre Zeichen- und Symbolsysteme aus und erhalten unter den Bedingungen der ästhetischen Produktion und Rezeption Möglichkeiten ihrer spielerischen Verwirklichung. ...
... Hebung des Selbstwertgefühls/Selbstvertrauens: Die persönliche Beteiligung jedes einzelnen Mitglieds ist "verlangt", d.h. Verbindlichkeiten einhalten. Verantwortung übernehmen, aber auch Mitbestimmung und Einfluß auf den Verlauf des Projektes. Überläßt die Spielleitung z.B. die Erarbeitung und Zusammenstellung der gefundenen Bilder und Situationen der Gruppe, übermittelt sie ihnen damit die Information. "Ich vertraue euch. Ihr könnt das."
Aufarbeitung von Problemen: Durch das Nachspielen von Problemen anhand verschiedener Techniken, können Konflikte auf theatralisch-spielerischer Ebene ausgetragen werden. Die Mitwirkenden gewinnen Abstand und Klarheit über ihre eigene Position. Daß der andere von seinem Standpunkt aus verstanden werden muß, ist auf keinem anderen Weg klarer zu machen als auf dem Weg des darstellenden Spieles: spielerisch in dieser unerhörten Chance, im anderen denken zu müssen, einen anderen verkörpern zu müssen, einen anderen in sich zu entwickeln. Das Spiel erlaubt eine Vorstellung, die über den Kopf hinausgeht: ... Sie lernen die Position anderer unweigerlich kennen, weil sie sie "spüren", sich "aktiv" auseinandersetzen: die Methode führt im Nachspielen und Aufarbeiten der Realität zu einer konstruktiven Entschärfung von Aggressionen. ...
Aus: Colloredo-Mannsfeld, Theresita - "Theater in der Sozialarbeit",
BAS Wien, Dipl.Arb. 1993, S. 39 ff
7. KOMMUNIKATION DURCH KREATIVITÄT
Ziele und Erfolge?
Jenseits der Frage nach der pädagogischen Effizienz des gegenständlichen Projekts, muß auch die praktische Überlegung stehen, daß etliche TeilnehmerInnen an PRO-95 seit vielen Jahren keinen "Tapetenwechsel" hatten, weil sie einfach keinen Urlaub machen können oder wollen. Auch darin erblicken wir einen Wert, daß Menschen, die kaum aus den eigenen vier Wänden (im weitesten Sinn!) rauskommen, im Rahmen dieses Projekts auch eine Art "Urlaub" hatten, wenngleich dieses Vokabel beim Durchschnittsbürger normalerweise andere Assoziationen hervorrufen würde als das, was in Zwettl und danach vonstatten gegangen ist. In einem kann man sich sicher sein, daß der Zwettl-Aufenthalt für alle TeilnehmerInnen ein wirksames Kontrastprogramm darstellte. Hie und da, und vielleicht nur für einige Stunden, aber vielleicht doch mag es gelungen sein, daß einige ihre unbewältigten Probleme, die in Wien wieder auf sie warteten, vergessen konnten. Alleine das würde als Rechtfertigung für ein derartiges Projekt mit "Obdachlosen" wohl reichen. Aber wir können auf ein qualitatives "Mehr" verweisen, was wir hier andeutungsweise auch tun wollen.
Die TeilnehmerInnen an PRO-95 haben ihr "Produkt" bereits präsentiert. Die Aufführung liegt schon einige Wochen zurück. Vom produktorientierten Standpunkt aus können wir getrost sagen, daß die gesteckten Ziele mehr als erreicht wurden. Wir haben die Bretter, die die Welt bedeuten, bestiegen, wir haben die Bretter aber auch organisiert, transportiert, auf- und abgebaut. Aber wir haben auch auf einen intensiven Prozeß im Bildungshaus Zwettl zu verweisen. In nur neun Tagen haben wir ein abendfüllendes Stück produziert, und in dieser Arbeit - in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk - geschah Kommunikation auf allen Ebenen. Die Dimension der Kommunikationsförderung und -erprobung zählte zu den Grundintentionen von PRO-95. Insbesondere war auch beabsichtigt, soziale Defizite der TeilnehmerInnen zu berücksichtigen und Entwicklungschancen anzubieten. Mit anderen Worten ausgedrückt, war es erklärte Absicht, eine Steigerung des Selbstwertgefühles durch das Wiederentdecken und das Kennenlernen von Fähigkeiten zu fördern. Durch Teamarbeit (z. B. beim Erarbeiten der Dekoration, von Liedertexten, usw.) und gemeinsames Schauspiel sollten Vorurteile und Berührungsängste abgebaut werden. Das Ziel war KOMMUNIKATION DURCH KREATIVITÄT und umgekehrt.
Die Steigerung von Kommunikation und die Hebung des Selbstwertgefühles ist nicht wirklich zu evaluieren, man kann sie nicht in Zahlen und Statistiken ausdrücken. Allerdings läßt sich durch die Reflexion der erfolgten Gruppenprozesse eine Einschätzung wagen. Und aufgrund der vorliegenden Beobachtungen und Reflexionen kann man das Resumé wagen, daß die pädagogischen Intentionen tatsächlich eingelöst wurden. Dies ist nicht zuletzt daran zu ermessen, daß das gesamte Projekt für alle TeilnehmerInnen anstrengend war. PRO-95 war in der Tat keine Urlaubswoche. Es gab niemanden in der Gruppe der TeilnehmerInnen, den das, was passiert ist, nicht mit- oder gar gefangengenommen hätte. Der Arbeitsprozeß war anstrengend und hat uns teilweise bis in den Schlaf hinein verfolgt - sei es in der Form von Faszination, Glücksgefühl oder auch in der Form von Betroffenheit und Ärger, in jedem Fall: Die Rechnung ist aufgegangen. Was sich kommunikativ ereignet und entwickelt hat, ist so komplex, daß man sich mit allgemeinen Hinweisen begnügen muß. Eine der allgemeinsten, aber aussagekräftigsten Tatsachen, ist jene, daß das Stück zustandegekommen ist und daß es zu keinem Zusammenbruch der Gruppe (Aggressionen, Destruktivität) gekommen ist. Die Kommunikation blieb immer aufrecht, sie orientierte sich am Fortschritt des Werkes, d. h. das Werk wurde wichtiger, persönliche Querelen ordneten sich dem Fortgang der Werkerstellung unter. Man muß sich immer wieder vor Augen halten: Es hätte auch anders sein können. Wir wissen das aus anderen Gruppenprojekten. Die Identifikation mit dem Stück ist im Laufe der zwei Wochen Arbeit auf ein Maximum angestiegen.
Welche "kommunikativen" und "kreativen" Erfolge können wir für PRO-95 in Anspruch nehmen?
- Einige haben neue Ausdrucksmöglichkeiten ausprobiert bzw. in sich entdeckt (Leute, die noch nie in ihrem Leben Theater gespielt haben, haben Hauptrollen übernommen und sich sogar im Extemporieren bewährt) - Einige haben sich im Spiel überwunden und haben Rollen gespielt, in denen sie ihrem zweiten Ich begegnet sind (P., die Ruhige und Besonnene spielte eine laute, keifende Alkoholikerin, z. B.), andere haben eigene Erfahrungen ins Spiel eingebracht, frühere Lebensrollen anklingen lassen - Kommunikation mit der eigenen Lebensgeschichte? - Einige haben sich (insbesondere bei der Aufführung) "freigespielt" - Einige haben in Bereichen experimentiert, die nicht zu ihrem Alltag gehören, haben Talente ausprobiert, die ihnen bislang nicht besonders bewußt waren (Malen, Basteln, Singen, Tanz,...) - Einige haben Kontakt zu Menschen gefunden, den sie im normalen Umfeld des Hauses wahrscheinlich nicht gefunden hätten, sie haben an anderen Seiten entdeckt, die ihnen bisher verborgen waren - Einige mußten sich überwinden, sich in die Gemeinschaft einzubringen (nicht davonlaufen, Feedback geben und aushalten, ...), sie sind gelegentlich über ihren Schatten gesprungen
- Einige haben ihre Krisen und Grenzen nicht verheimlicht (und auch nicht verheimlichen können), sondern sie mit anderen geteilt, sich mitgeteilt und die Gruppe damit herausgefordert (die "Schwierigen" waren eindeutig Bereicherungen für das "Ganze") - Viele - und wahrscheinlich alle - haben die Unterordnung unter das Werk vollzogen. Das ist eine wichtige Fähigkeit und Erfahrung, weil es ohne diese Fähigkeit keine "Werke" - und schon gar keine Kunstwerke geben könnte (und auch das Leben ist ein solches!)
Diese Liste ließe sich über mehrere Seiten hinweg fortspinnen. Alles, was gesagt werden kann, erschöpft sich in Andeutungen. Und alle Andeutungen verweisen darauf, daß PRO-95 für alle eine komplexe und bewegende Erfahrung war. Darüber hinaus sollte aber nicht vergessen werden, daß, wenn wir von Kommunikation reden, noch nicht wirklich von "Begegnung" reden. Wir können kommunizieren, ohne einander zu begegnen. Während der Arbeit in Zwettl und Wien geschah aber immer wieder auch Begegnung. Menschen haben sich als Menschen gezeigt und erwiesen. Wir haben nicht nur miteinander "gespielt", wir haben einander auch getragen und ertragen, wir haben einander berührt. Aber in diesen Erfahrungsbereichen von "Erfolgen" und "Zielen" zu sprechen, verbietet sich. PRO-95 war ein Forum der Begegnung. Doch hier fällt der Vorhang...
Team PRO-95
8. "So ein Theater" - Inhalt, Rollen und ihre DarstellerInnen
Irgendwo in einem Mittelalter der Gegenwart, der Vergangenheit und vielleicht auch der Zukunft. Ein Marktplatz, ein Ort, an dem Reisende ankommen und abreisen. Zwei Vagabunden, immer auf der Suche nach Arbeit, einer Flasche Schnaps und einem Extragulden, hat es hierher verschlagen. Bettelnd! In dieser Welt von gestern, heute und morgen treibt sich auch ein Sozialarbeiter herum. Einer, der über die Theorie der Ausbildung hinausgehen will, der sich in allen Ecken des Elends herumtreibt, um so die Probleme in ihrer vollen Realität und Härte zu erfassen, zu erleben. Dabei immer Lösungsmöglichkeiten suchend - dabei immer helfen wollend. In seinem Eifer, sich anderen zu widmen, sieht er nicht wie neben ihm seine Frau an seiner Vernachlässigung zugrunde geht. Wie sie immer mehr dem Alkohol verfällt. All seine Versuche zu helfen, zu schlichten und auszugleichen, schlagen in dieser Welt der vielen Zeiten fehl. Dann aber erfährt er von den Vagabunden von einem möglichen Weg. Da soll es einen Zauberwald geben, eine Hexe die Wunder wirken kann ... Unsicher macht er sich auf den Weg und tatsächlich trifft er auf die Magierin. Er erhält von ihr das ersehnte Elixir. Dieses Mittel wirkt wahre Wunder - es dauert nicht lange, die Wunder sprechen sich herum, und es kommt zu einem großen Freudenfest. Alle sind nun glücklich und zufrieden! Nun, genau gesagt - fast alle! Siggi's Frau trinkt mehr denn je, und auch die Obrigkeit, die Eminenzen und die reichen Händler sind mit der Situation nicht zufrieden. Das glückliche Volk ist ohne Neid, aber auch ohne Ehrgeiz ... es strebt nicht mehr nach Macht über die anderen, es läuft nicht mehr den Gulden hinterher, es ist ohne Angst und Unterwürfigkeit ... Es dauert nicht lange und "Siggi", so heißt der Sozialarbeiter in unserer Geschichte, wird zu den Obrigkeiten zitiert. Er ist es, der das große Glück in die Welt brachte - nun soll er dafür sorgen, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Denn dieser Zustand kann in keinem Fall toleriert werden. Die sich leerenden Kassen müssen sich wieder füllen. Die hohen Herren drohen Siggi aus dem Amte zu jagen ... Die Angst um seine Position treibt Siggi nun dazu, wieder das "Böse" in die Welt zu tragen. Gegen seine Überzeugung wird er nun zum Anstifter und Verführer - und er ist geschickt in dieser Intrige, die sein Auskommen retten soll. Es ist alles wie es war - die Welt nun wieder voller Lug und Trug - voll Neid und Gier. Es ist wieder wie es immer war, wie es ist und wie es wahrscheinlich immer sein wird. Traurig und deprimiert zieht sich Siggi in den Wald zurück. Er, der nur Glück bringen wollte, und nun das Böse bringen mußte, bleibt einsam zurück. Flötespielend auf einem Baumstumpf sitzend trägt er seine Träume zu Grabe...
Rollen und ihre Darsteller:
Sigesmund, Sozialarbeiter im Dienste des Grafen | Ossi Grötzer |
Gundi, sein Weib | Pauline Eichinger |
Erzähler | Harald Fetz-Heim |
Hofnarr | Christian Wetschka |
Sandler I | Hans Krasensky |
Sandler II, Gnom im Dienste der Hexe | Herbert "Wichtel" Reich |
Hexe | Sylvia Prochaska-Eberl |
Elfe | Sarah Habres |
Graf, Zuhälter II | Ludwig Zeissner |
Fahrgast, Tourist, Bandlkramer, Bischof | Robert Mayerhofer |
Berater | Reinhard Seisenbacher |
Arzt, reicher Tuchhändler | Giselher Horner |
Patient | Wolfgang Schrenk |
Krankenschwester, Walküre I | Birgit Habres |
Walküre II, Gundis Freundin Brunhilde | Sabine Schweizer |
Sänftenträger I, Zuhälter I | Peter Steiner |
Sänftenträger II | Wolfgang Kieberger |
Günter Gepp | Lustknabe |
Musiker, Sänger, Lied-Texte | Ossi Grötzer, Birgit Habres, Wolfgang Kieberger, Sabine Schweizer |
Bühnenbild, Maske, Kostüm | Pauline Eichinger, Wolfgang Schrenk, Wetschka, Günter Gepp,... und alle, die gerade Lust und Zeit hatten |
Tontechnik | Wolfgang Hübner |
Licht, Regie, dramaturgische und dramatische Koordination |
Ernst Asenbauer, Franz Aigner |
Heutzutage zählen nur mehr zwei Werte: Einkehr und Besinnung. - Z'erst kehrst ein und dann verlierst die Besinnung." Siggi (alias Ossi) in "So ein Theater"
An dieser Stelle können nur noch die Gedanken aller, die an PRO-95 beteiligt waren, stehen und diesen Bericht zum Ausklang bringen. Sehr viele haben sich dazu durchgerungen ihre Betrachtungen zu Papier zu bringen, einige haben es teils aus selbstauferlegter "literarischer Unfähigkeit" oder Unlust, teils aus gesundheitlichen Gründen vorgezogen sich in Schweigen zu hüllen.
Die anschließenden Reflexionen zeichnen ein rundes Bild unserer gemeinsamen Erfahrungen, denen sich sicherlich auch diejenigen, die hier stumm geblieben sind, anschließen können.
Team PRO-95
Die Idee zu PRO-95 entstand für mich eigentlich in Oberleis, Jänner ´94. Unsere Kreativwochenenden wurden nach und nach immer freier gestaltet, und die "Produkte" waren immer erstaunlicher. Schon die freie Aufgabenstellung von Oberleis bedeutete für mich einen mutigen Schritt weg von durchorganisierten Formen. Die Vorbereitung auf PRO-95 war mit viel Arbeit verbunden, welche sich aber nicht auf Inhaltliches bezog, sondern auf das Beschaffen von Mitteln (Geld), damit PRO-95 überhaupt ermöglicht wird. Die Vorbereitungszeit von einem guten Jahr barg schon so viele kleine Höhepunkte und Erfolge, daß ich manchmal Angst hatte, daß das Ergebnis von Zwettl unseren Bemühungen und Vorstellungen nie gerecht werden könnte. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich jemals so unvorbereitet gefühlt habe, wie an dem Tag vor der Abfahrt nach Zwettl. Kein sehr schönes Gefühl in Anbetracht der Tatsache, zu den Organisatoren zu gehören. Es war sehr unbefriedigend, sich über ein Jahr lang mit PRO-95 beschäftigt und es mit Erfolg realisierbar gemacht zu haben, und dann beginnt die Aktion, und man hat das Gefühl, man steht vor nichts. Dieses Gefühl hängt sicher auch damit zusammen, daß ich von Theater nicht viel verstehe und mich auch für keinen "Theatermenschen" halte. Also fällt es mir vielleicht leichter, meine Beiträge zum Geldorganisieren zu leisten, als daß ich mir zutraue, ein "Theater" auf die Beine zu stellen.
Meine Aufgabe in Zwettl sah ich dann auch mehr im "betreuen", was ich wahrscheinlich schon mein Leben lang mache, mit mehr oder weniger Erfolg. Aus so einer Rolle kommt man (leider) nur schlecht raus. Außerdem empfand ich es auch als meine Aufgabe und Pflicht. "Zwettl ist kein Urlaub" - und schon gar nicht für uns als Team, hab´ ich mir gedacht.
Was wir in Zwettl geschafft haben, war an unserem Theaterstück klar ersichtlich, und auch ich konnte dazu beitragen. Interessant für mich war und ist der Weg bis zur Aufführung. Am ersten Wochenende war ich in einer wirklich schlechten Verfassung. Am liebsten wäre ich gar nicht gefahren. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in so einem labilen Zustand gewesen zu sein. Es war auch zu spüren, daß einige verunsichert waren, was man angesichts der Situation verstehen kann. Neue Umgebung, ungewohnte Menschen, mit denen man ununterbrochen Kontakt hat, der Druck, "Theater" zu machen. Jeder reagiert anders auf dieses Gefühl der Unsicherheit. Ich hatte das Pech, daß es ein paar Menschen gab, die mich Anteil haben ließen an ihrem Unbehagen - und das mit Nachdruck. Bei diesen "Attacken" hatte ich aufgrund meiner persönlichen Lage keine Chance, angemessen zu reagieren. Ich wollte nur einfach heulen. Meine Gefühle stabilisierten sich im Laufe der Woche. Meine Intimfreunde und -feinde beruhigten sich, die Arbeit am Theaterstück ging voran, ich fand mich in einer Aufgabe wieder, die ich kenne: betreuen, klären und glätten, "durchstreicheln".
Gerne hätte ich diese 9 Tage anders genossen. Nämlich als Konsument. Es gab für mich viele Begegnungen, die ich gerne ausreichend kultiviert hätte, aber es gab immer jemanden, um den ich mich "kümmern" mußte, laut meinem Verantwortungsgefühl und Pflichtbewußtsein als Teammitglied. So sind viele Dinge offen geblieben, die wirklich erst nach Zwettl geklärt werden konnten... Die letzten Tage waren für mich dann wieder schlimm, wenn auch aus anderen Gründen als am Anfang. Mein Abschiedssyndrom machte sich bemerkbar. Abschied von Zwettl, von der inzwischen gewohnten Situation des Zusammenlebens und natürlich von manchen Menschen, die mir so nahe gekommen sind. Das ist kein Projektbericht, das ist ein Gefühlsbericht.
Birgit Habres
Die Rechnung ist aufgegangen... Betrachtungen eines Abschiednehmenden über ein Gottseidank unnotwendiges Projekt Höchst unnotwendige Exzesse über Sinn, Freiheit, Spiel, Produkte und Prozesse "...Was wir ertragen und getragen, wie wir uns ertragen und getragen..."
I
Ohne daß der Graf seinen Berater stützt, kann der seinen Weg auf die Bühne nicht bewältigen. Und auch am Ende der Thronsaal-Szene haben wir anderen es nicht zu vergessen: Ohne Unterstützung kommt R. nicht von der Bühne. Wie schon in Zwettl sind auch bei der Bühne Treppen sein Problem. Und noch etwas ist nicht zu vergessen: Auftritt und Abgang brauchen Zeit!
R., der von der Lebenshilfe Baden zu uns gestoßen ist, macht es uns leicht. Seine Behinderung ist sichtbar. Auf sie kann man sich einstellen. Schon nach dem ersten Abend war es uns klar, inwiefern wir auf seine körperlichen Defizite und sein eigenes Tempo Rücksicht nehmen müssen. Wenn er Stiegen steigen muß, braucht er Hilfe und Zeit. Das gilt auch für die Bühne. Auf die nicht sichtbaren Behinderungen der Teilnehmer kommen wir im Laufe der Projektwoche nur allmählich drauf. Im Spiel, im Miteinander- Leben, im Arbeiten am gemeinsamen Werk.
Bei genauerem Hinsehen ist es nicht übertrieben, wenn wir das Zutagetreten unserer persönlichen Defizite im Arbeitsprozeß mit dem gleichzeitigen Fortschreiten der Akzeptanz derselben sehen. Irgendwie ist uns das gelungen. Durch die Orientierung auf das "Produkt" (die Premierenaufführung am 19. 8. 95 in der Gfrornergasse) sind wir gezwungen, Krisen und Defizite in unserer Runde zu bewältigen. Persönliche Krisen müssen sich dem Prozeß der Werk-Erstellung unterordnen. So war es von Anfang an im "Team" geplant. Mit anderen Worten: Wir hätten viele Gelegenheiten gehabt, Konflikte offen auszutragen und uns gegenseitig zu verletzen; das hat aber niemand gewollt, zumal auch niemand das Endprodukt, den gemeinsamen und gemeinschaftlichen Konvergenzpunkt, in Frage stellen wollte. Die Sachorientierung, bzw. die Identifikation mit einem gemeinsamen Ziel kann nicht nur Ressourcen freisetzen, sondern auch zur Bewältigen von Defiziten führen. Das haben wir mehrfach erleben können. Wo eine mögliche Krise sich am Horizont andeutete, waren auch helfende, tragende Hände da. Nur durch das gegenseitige Tragen und Ertragen konnte unser Stück in knapp 9 Tagen aus dem Nichts entstehen. Nur durch dieses gegenseitige, oft unmerkliche Brückenbauen haben wir psychisch und sozial durchgehalten und eine Lebenserfahrung machen können.
Als L. in der Mitte der Woche die Hauptrolle wegen Identifikationsschwierigkeiten mit der Rolle zurücklegte (als Therapiepatient hätte er einen Betrunkenen spielen müssen), erwies sich der Glauben an das gemeinsame Werk, die Tragfähigkeit der Gruppe und der Wille, Konflikte zu bewältigen, noch bevor sie ausgebrochen sind. Der unerwartete Rücktritt Ls. wurde zu einer Herausforderung für die ganze vesammelte Gruppe, als solche erkannt und bewältigt. Innerhalb weniger Minuten hatten wir zwei Personen gefunden, die bereit waren, die Hauptrolle zu übernehmen und die auch über hohe Akzeptanz in der Gruppe verfügten. Erstaunlich offen wurde über die Fähigkeiten und die Belastbarkeit der neuen Kandidaten reflektiert - und bis zum Abend stand fest, wer die Hauptrolle übernehmen würde.
So wie in diesem Fall war es immer: das Werk wurde nie in Frage gestellt, wenngleich gelegentlich einige Skepsis über die dramaturgische Umsetzung zum Ausdruck kam. Ab dem Mittwoch in Zwettl war es für alle ersichtlich: die Identifikation mit der Gruppe, dem Prozeß und dem "Werk" war so stabil, daß wir wahrscheinlich alle kommenden Krisen bewältigen könnten. Es war "etwas" gewachsen. Ein lebensfähiger "Organismus" war entstanden.
Was das bedeutet, konnten wir noch am Tag der Aufführung in vollen Zügen erfahren, als H. bekannt gab, daß er am Abend nicht spielen werde. Einige unglückliche Vorfälle im Haus hatten ihn unsanft aus seinem seelischen Gleichgewicht geworfen. Man sah es ihm an, als er dennoch zur Generalprobe erschien. Er war den Tränen nahe, und so nervös, daß zunächst wirklich nicht daran zu denken war, daß er seine Rolle spielt. Aber auch in diesem Fall siegte der Glaube und die Identifikation mit dem "Ganzen". Sowohl in der anschließenden Generalprobe als auch am Abend gelang es ihm, sich selbst zu vergessen und im Spiel seinen Ärger aufzulösen.
II.
In der ersten Wochenhälfte fiel uns auf, daß P. ständig am Arbeiten war. Sie machte keine Pausen. Wenn sie nicht ihre Rolle spielte, arbeitete sie an Kostümen und am Bühnenbild. Schließlich vergaß sie auch noch zu trinken, und auch schlafen konnte sie auch nicht wirklich. Sie hatte sich unsere Warnung in der Einladung zu PRO-95 "PRO- 95 ist keine Urlaubswoche!" scheinbar wirklich zu Herzen genommen. In unseren Reflektionsgesprächen war klar, daß wir P. unterstützen müssen, sonst "kippt sie uns um", wie jemand in einer Runde anmerkte. Und so begannen wir, P. zu Pausen zu zwingen, brachten ihr zwischendurch Getränke, usw. Tragen und Ertragen...
W. erlebte in der Arbeitswoche in Zwettl zwei depressive Phasen, die er der Gruppe gegenüber in den Feedbackrunden und auch sonst nicht keineswegs verheimlichte. Das "Ertragen" bestand in diesem Fall darin, daß alle Ws. Schwankungen aushielten, daß wir ihm aber trotzdem vermittelten, daß er trotz seines irritierenden Zustandes zur Gruppe dazugehört. Und eines war intuitiv klar: Konfrontationen vermeiden. Sie würden ihm und uns nicht helfen. Auf diese Weise fand W. immer wieder zur Arbeitsmotivation zurück und brachte sich vielseitig in die Produktion ein.
Ähnlich verhielt es sich mit den alkoholischen Irritationen von X., die uns in den ersten drei bis vier Tagen nicht weniger belasteten. Was uns aber vor allem belastete: wir wußten nicht, warum es X. hier in Zwettl plötzlich und tagelang so schlecht ging. Einige Gespräche mit X. (auch unter Bäumen) brachten dann etwas Klärung. Das Waldviertel war für X. kein neutraler Ort. Es war für ihn ein Ort mit Vergangenheit. Die Ortsveränderung und die hohen Erwartungen Xs. an die Gruppe, verbunden mit unbewältigten Erinnerungen an Jugend-Erlebnisse im Waldviertel stürzten X. in eine Verwirrung, die sich erst auflöste bzw. verminderte, als X. seinen Platz in der Produktion fand. X. übernahm dann eine der größten Rollen im Stück.
Dergleichen erlebten in dieser Woche einige, nämlich, daß es Zeit brauchte, bis sie sich "einbringen" konnten, daß sich aber dann Unsicherheit und das Gefühl, am falschen Ort zu sein, auflösten. Darin liegt ein wichtiger Sinn des stattgefundenen Prozesses: daß jeder (!) gemäß seinen Fähigkeiten, Grenzen und seiner inneren Dynamik, seinen Ort im Geschehen findet. Das kann früher oder später erfolgen, aber es muß kommen. Und so war es auch: jeder, der an PRO-95 teilnahm, hat seinen Platz im Prozeß-Ganzen gefunden. Jeder ist zum Teil eines Abenteuers geworden, zum Träger wie zum Getragenen. Das ist eine existentielle Erfahrung, die wir alle immer wieder suchen und versuchen.
III.
Erster Abend in Zwettl. Kurz vor Mitternacht. O., L. und ich unternehmen einen nächtlichen Waldspaziergang. Wir landen am Friedhof. In der Nacht, so stellen wir fest, sieht O. gar nichts. Als er beginnt, über die Gräber zu stolpern, nehme ich ihn am Arm und führe ihn, bis wir wieder zurück sind.
Vieles, das Wichtigste vielleicht, passierte "nebenbei", außerhalb der eigentlichen Arbeit, außerhalb der Gruppe. Immerhin: in Zwettl arbeiteten wir nicht nur miteinander, es ist nicht übertrieben zu sagen: wir lebten miteinander und erlebten uns in diesem Miteinanderleben. Die eingeübten Grenzziehungen und Rollenverteilungen "Klient" - "Betreuer" lösten sich auf.
Nebenbei ergaben sich Spaziergänge, Gespräche, sokratische Dialoge beim Federballspielen, Fledermausparties, Teilen, Erschöpfung, Depression, Lachen und gelehrte Gespräche. Nebenbei sind Fragen aufgebrochen, nebenbei fanden sich Antworten. Nebenbei geschah Begegnung, Masken aufsetzen und Masken ablegen...
IV.
"Den Weg, den wir gegangen, den siehst du nicht..."
Produkt- und Prozeßorientierung2 sind zwei Pole, nach denen sich kreative Ereignisse einordnen lassen. Bei einer Kritik einer Aufführung der Salzburger Festspiele steht der produktorientierte Blickwinkel absolut im Vordergrund. Wie der Prozeß des Zustandekommens der Produktion gelaufen ist, wie die kreativen Exzesse der beteiligten Künstler ausgesehen haben, spielt kaum eine Rolle. Bei PRO-95 ging es um die Ausgewogenheit beider Pole. Schon beim ersten Gespräch über PRO-95 im Sommer 94 war den Organisatoren klar, daß der Prozeß immer so laufen müsse, daß das geplante Werk, die Aufführung in der Gfrornergasse, nicht gefährdet werden dürfe. Damit war gesagt: auch wenn es Konflikte geben würde, dürften diese nicht so ausarten, daß wir am Ende nicht mehr miteinander arbeiten können. PRO-95 sollte also nicht zu einer Gruppentherapie ausarten (hier ist der Prozeß wichtiger als das Produkt!). Auf der anderen Seite war auch klargestellt, daß es nicht darauf ankommen dürfe, "wie" das Werk am Ende aussieht, welcher Art und welcher Aussage es sei, usw. Wichtig war allein, daß es ein präsentierbares gemeinsames (!) Werk geben sollte. Das "Produkt" sollte unser Orientierungspunkt bleiben. Die Grenze der Prozeßorientierung lag also dort, wo das Werk gefährdet gewesen wäre, die Grenze der Produktorientierung lag dort, wo der Gruppenprozeß ins Negative umkippen hätte können. PRO-95 sollte also ein Forum der Begegnung und des Kennenlernens werden (Prozeß), wobei aber die Kommunikationsstruktur durch die Arbeit an einem gemeinsamen Werk strukturiert werden sollte.
Rückblickend können wir auch hinsichtlich der genannten Pole sagen, daß es sowohl eine Identifikation mit dem entstehenden Werk als auch eine Identifikation mit dem Prozeß gab. Während die Identifikation mit dem Werk umso mehr ansteigt, je mehr dieses Gestalt annimmt, verhält es sich mit der Identifikation mit dem Prozeß nicht so einfach. Daß ein letztlich produktiver Prozeß abläuft, läßt sich natürlich nicht so einfach erkennen. Das Prozeßbewußtsein spielt sich quasi im Unbewußten der Gruppe ab, und es läßt sich auch nur indirekt feststellen (wie z. B. in der Fähigkeit, Krisen zu begrenzen und zu bewältigen). Allerdings steigt die Identifikation mit dem Prozeß mit dem Fortschritt der Produktion. Je mehr ich erkennen kann, daß das gemeinsame Werk wächst, umso mehr vertraue ich auch den ablaufenden Prozessen (was sich auch in einer zunehmenden Prozeßkritik äußern könnte).
Die steigende Prozeßidentifikation erwies sich bei PRO-95 darin, daß die Gruppe bei Krisen nicht in offene Konflikte ausbrach. Und Konfliktmöglichkeiten hätte es einige gegeben: Unpünktlichkeit bei den Proben, Hauptdarstellerwechsel, Depressionen, Alkoholvorfälle,... Wie schon angedeutet, erwies sich der positive Prozeß auch daran, daß die einzelnen anfangs weniger integrierten Teilnehmer im Laufe der Woche allmählich einen Platz im Produktionsprozeß fanden.
Das Vertrauen auf den Prozeß ist von größter "psychohygienischer" Bedeutung. Auf den Prozeß vertrauen bedeutet auf Entwicklungen vertrauen, die im Moment noch nicht sichtbar sein können. Es gehört zum Wesen der depressiven Lebensposition, daß dieses Prozeß- und Entwicklungsvertrauen abhanden kommt. Das Leben wird nicht von seinen Möglichkeiten her gesehen, sondern von seinen Grenzen und seiner punktuellen Statik. Leben, das sich nicht verändert und dem die Möglichkeit zur Veränderung abgesprochen wird, wird als wertlos und sinnlos erlebt. Das Vertrauen auf die ständig und stetig voranschreitende Entwicklung, auf Wachstum und Reifung ist ein elementares Lebensprinzip, das, wenn es nicht mehr wahrgenommen wird, zum Sinnverlust führen muß. Sinnlosigkeitsgefühl und fehlendes Vertrauen in Prozesse bedingen einander.
V.
PRO-95 ist eine Leistung.
Als wir am Freitag abend am 4. August in Zwettl ankamen, war vom Endprodukt nichts zu sehen und zu ahnen. Weder Form noch Inhalt waren in irgendeiner Weise vorgegeben. Wir standen buchstäblich vor einem Nichts, das wir mit unserer Kreativität auffüllen mußten. Aber so war es auch geplant. Am Sonntag abend war die Hälfte unseres Stückes skizziert, Montag zumittag war das Grundgerüst des Stückes, die Szenenfolge, fertiggestellt, und die Proben konnten beginnen. Knapp fünf Tage später - am Freitag nachmittag - erfolgte der erste Durchlauf unseres Werkes. Bis dahin waren auch Kostüme, Dekoration und Requisiten zum größten Teil fertiggestellt. Auch die Tontechnik war bis dahin perfekt - und niemand zweifelte an der Uraufführung, bis zu der noch eine Woche Zeit war. Licht- und Bühnentechnik blieben Aufgaben für die Tage vor der Premiere in Wien. Der Entstehungsprozeß des Stückes im engeren Sinn war für Zwettl vorbehalten gewesen.
Das Tempo des Entstehungsprozesses war enorm. Daran läßt sich auch der wachsende Identifikationsgrad der Teilnehmer mit Prozeß und Produkt ermessen. Auch wenn in den ersten Probentagen die Identifikation mit dem Stück nicht bei allen gleich ausgeprägt war (W. sagte z. B. "Ich wollte schon immer einmal bei einem Mißerfolg dabeisein!"), so tat dies der Zusammenarbeit keinen Abbruch. Die noch fehlende Identifikation stieg spätestens bei der Probenarbeit in Wien auf ein Maximum an. Am Ende war das Stück wirklich unser aller "Kind".
Beim ersten Durchlauf dauerte das Stück 55 Minuten. Bei der Aufführung am 19. 8. 95 dauerte es ca. 80 Minuten. Trotz der kurzen Arbeitszeit hatten wir ein abendfüllendes Stück auf die Beine gestellt. In ihm waren mehrere Bühnenumbauten, eine ausgeklügelte Ton- und Lichtregie und die Auf- und Abtritte von 18 Schauspielern zu koordinieren. Kostüme, Requsiten und Bühnenbild haben wir selbst erstellt. Selbst die Bühne haben wir eigenhändig abgeholt, auf- und abgebaut. Überhaupt haben wir vieles geschleppt, geräumt, montiert,... Wir haben Plakate und Programme erstellt und verteilt. Wir haben Zeit, Schlaf, Energie und Gesundheit eingesetzt. Wir hätten uns weniger antun können. Scheinbar wollten wir jedoch an unsere Grenzen gehen. Und das sind wir auch.
Warum haben wir es getan? Warum haben wir geschleppt, geschrieben, gelacht, gekämpft? Warum haben wir geklebt, gestrichen, genäht, gebastelt, gesungen, getanzt? Warum haben wir Frustrationen eingesteckt, Leute bei Laune gehalten, Gespräche geführt, auch wenn man schon nicht mehr konnte? Weil wir nichts davon alleine getan haben. Immer haben wir gemeinsam geschleppt, geräumt und gesucht, immer haben wir gemeinsam gebastelt, gestrichen und gesungen. Und wir haben es getan, weil wir wußten, daß unter uns und mit uns etwas entsteht, wofür das Endprodukt letztlich nur ein Symbol war.
VI.
Unser Endprodukt ist eine Collage. Darüber sollte die "Handlung" nicht hinwegtäuschen. Walkürenkämpfe, Rocky-Horror-Picture-Show, monologisierende Hofnarren und Bettelmönche, Hexe, Strizzis und philosophierende Ärzte, die Kelly-Family und lallende Sandler - alles das ergibt eine gewollt schrille und bunte Collage. Daß unser Stück eine komplexe Collage geworden ist, ist sicherlich kein Zufall. Es entspricht den Menschen, die dieses Stück miteinander erfunden und einstudiert haben. Unser gemeinsames Werken führte zu einem Patchwork unserer Persönlichkeiten.
Natürlich fallen einem in diesem Zusammenhang gleich die üblichen Schubladen ein: Alkoholiker, Suchtkranke, Obdachlose, Depressive, usw. Ja, natürlich könnte man die Teilnehmer an diesem Projekt mit diesen Kategorien beschreiben. Mit kranken Kategorien allerdings. Was wäre mit dieser Begrifflichkeit gesagt? Wir hätten damit auf trennende Aspekte verwiesen und damit auf Kategorien, auf die es in unserem Prozeß eigentlich nicht ankam, außer in dem Sinn, daß wir ihnen bewußt keine Bedeutung zukommen lassen wollten. Entscheidend war letztlich, was jeder an Stärken, Fähigkeiten und Motivation einzubringen hatte. Nicht daß einer vier Therapien hinter sich hat, war in Zwettl oder bei der Aufführung in der Gfrornergasse entscheidend. Entscheidend war, was jeder einzelne bereit war von sich herzugeben, als Schauspieler, Dekorationsbastler, als Zuhörer und Wahrnehmer der Grenzen anderer, als Helfer und Überbrücker, als Herausforderer und Kritiker, als Mensch einfach - und nicht als Kategorie irgendeines Schematismus.
VII.
Selbsttranszendierung, ist es das, worum es in PRO-95 gegangen sein könnte? "Selbstverständlich!", möchte ich als Philosoph darauf antworten! Worum sollte es denn sonst gegangen sein? Es geht immer darum, daß wir Grenzen überschreiten. Ein Tag, an dem wir keine Grenzen überschritten haben, war ein minderwertiger Tag!
Welche Grenzen habe ich in Zwettl überschritten? - Da wäre einiges zu nennen. Auffallend - nicht nur für mich - war allerdings der Schwerpunkt meiner Tätigkeiten. Nicht daß ich Texte geschrieben hätte oder wie früher (in meiner Schulspielzeit) selber auf der Bühne gestanden wäre. Auch Musik gemacht habe ich nicht (was sich manche vielleicht noch vorstellen hätten können). Ich - obschon technisch unbegabt (so meine Mutter und der Rest der Menschheit) - bin in der Dekorationsabteilung gelandet und staune immer noch darüber, wozu ich imstande war. Gemeinsam mit R., O. und G. habe ich höchst unglaubliche Dinge fabriziert: Papiermasche-Panzer und Helme, einen Hexenkessel, eine Kamera-Attrape, eine Papierspritze, einen mannshohen Baum, Thronsaal-Säulen, Schilder, Schwerter, ja sogar eine Sänfte... Daß ich dann zuletzt auch noch den Pinsel schwang, um das Bühnenbild zu vervollständigen, fiel mir gar nicht mehr besonders auf. Das ist Selbst-Transzendierung pur!
Und von nicht wenigen anderen Fällen wäre zu berichten...
VIII.
"In Spiel und Tanz verbirgt sich, was wir sind - und was wir gerne wären - und nicht wagen zu sein..."
Jede Sinnfrage orientiert sich an der ersten und letzten Sinnfrage, der Frage nach dem Sinn des Lebens. Von dort nimmt jede Sinnspekulation ihren Ausgang, und dorthin mündet alles Fragen nach dem Sinn. Das gilt auch für PRO-95. Wenn wir nach dem Sinn von PRO-95 fragen, so müssen wir unsere existentiellen Positionen in Rechnung stellen. Um die pädagogische und sozialarbeiterische Sinnfrage zu beanworten, müssen wir es auch wagen, nach dem Sinn in unserem Leben zu fragen. Wenn es um den Sinn geht, lassen sich die Dinge nicht mehr künstlich auseinanderhalten. Die Fragen nach dem Sinn von PRO-95 und nach dem Sinn des Lebens berühren sich. Der Philosoph und Sozialarbeiter hat das Wort.
Eines liegt auf der Hand, im Bereich des Vinzenzhauses landen vermehrt Menschen, denen der Sinn ihres Daseins nicht mehr erkennbar ist (oder war). Das gilt für Mitarbeiter nicht weniger als für die "sozial Gestrandeten", die sich um eine neue Sinngebung bemühen.
Der Sinn des Lebens erschließt sich, sobald wir den Aufgabencharakter des Lebens ins Blickfeld genommen haben. Als ständig sich in Entwicklung Befindender ist der Mensch sich selbst quasi "in Auftrag gegeben". (Im christlichen Kontext: Als Teil der Schöpfung ist er sich in Einheit mit der gesamten geschaffenen Welt anvertraut.) Der Mensch ist danach ausgerichtet, sein Dasein zu gestalten, sich zur Reifung zu bringen, seine Existenz zu entwerfen, sich im Entwerfen "weiter zu bringen". Dieses "Sollen" ist in seine Natur eingeschrieben, biologisch, psychisch, sozial und spirituell.Dabei nimmt dieses Entwerfen zumeist jene Gestalt an, von der wir sagen können: ich habe eine Aufgabe. Wie im einzelnen diese Lebensaufgabe beschaffen ist, kann manin der individuellen Lebensgestalt(ung) sehen. Allgemein läßt sich aber feststellen, daß es zur Aufgabe des Lebens gehört, in mir enthaltene Möglichkeiten zu verwirklichen. In diesem Verwirklichen von Lebensmöglichkeiten erfahren wir Sinn. Wir erfahren Sinn, wenn wir erfahren, daß wir uns entfalten, daß sich Knoten lösen, Entwicklungen einstellen, Bewegung da ist. Der letzte Sinn aller Entfaltungen und Lebensbewegungen ist die Verwirklichung der möglichen Freiheit. Der Mensch ist auf der Welt, um seine Freiheit zu verwirklichen. Je mehr er in der Verwirklichung von Freiheit voranschreitet, umso mehr erfährt er sich im Einklang mit seinem in sich angelegten "Sinn für Sinn". Ein erstarrtes Dasein, das sich nicht als Aufgabe wahrnehmen kann, ist dieser "Sinn" abhanden gekommen.
Die Verwirklichung der Freiheit ist dem Menschen gewissermaßen "aufgegeben". Er "soll" sich freispielen von jeder Abhängigkeit und Gebundenheit, von jeder Sucht und jeder Symbiose mit Menschen und Institutionen, von jeder Zweckgebundenheit, ja selbst von den augenscheinlichen Notwendigkeiten des Lebens, der Gebundenheit an körperliche Zustände. Frei soll der Mensch seine Zwecke wählen und sie auch wieder loslassen können. Frei soll er sich selbst gegenüberstehen. Und frei soll er dann auch Gott gegenüberstehen. Darin besteht die letzte und höchste Würde des Menschen.
Ein Weg in die Verwirklichung der Freiheit führt über das Spiel. Im Spiel vermag der Mensch, von sich selbst Abstand zu nehmen, sich in ein anderes zu versenken, ohne davon abhängig zu werden (außer im Falle der Spielsucht). Im Spiel vermag er, sich freizumachen vom einengenden Bewußtsein.
Alle Kultur und Kunst wurzelt im Spiel. Kultur und Kunst ist insofern wichtig für den Menschen, als er darin seine Uraufgabe verwirklicht sieht, nämlich, sich von allen Zwecken des Daseins freizuspielen.
Aus dieser Perspektive gesehen, hatte PRO-95 die Aufgabe, ein Spiel zu ermöglichen. Ein Spiel, in dem wir uns freispielen konnten, in dem einige von uns ihre mitunter oft nicht so heitere Lebenssituation vergessen konnten. Indem wir das Stück und unsere Rollen selbst erfunden haben, haben wir nicht nur mit unserer Fantasie gespielt, sondern unsere eigene bewegliche Identität ins "Spiel" gebracht. Was meinen wir, wenn wir "ich" sagen? Welchen Gesetzen folgt dieses "Ich"? Wie wirklich und verbindlich ist dieses "Ich"? Inwiefern ist dieses "Ich" gespielt und spielbar?
Das Spiel - und das Schauspiel als Urform und mögliche Einheit aller Kunstformen - ist eine Möglichkeit für den Menschen, sich der Uraufgabe seines Lebens zu widmen, nämlich sich von sich selbst zu befreien. Das Schau-Spiel relativiert Wirklichkeiten, indem es Gegenwirklichkeiten entwirft. Spiel und Sinn, Spiel und Freiheit sind so eng aufeinander bezogen. Sie verhalten sich zueinander wie Möglichkeit und Wirklichkeit, Aufgabe und Weg.
Auch diesen "Zwecken" war PRO-95 verschrieben. Das ist keine nachträgliche Interpretation, das ergibt sich tatsächlich aus der "Geschichte" unserer der Kreativprojekte seit 1991. Immer wieder haben wir in kleinen Dosen die Erfahrung machen dürfen, wie lustvoll und erhebend es ist, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen freizuspielen, durch ihre Kreativität und Kraft freizuspielen. Es war die spielerische Befreiung und das Spiel der Freiheit, das uns reizte - und die Lust, die befreiende Spielerfahrung mit anderen zu teilen, sie anderen zum Geschenk zu machen. Wer einmal von dieser Art, sich von sich selbst zu lösen, gekostet hat, wer einmal den unendlich weiten Boden, auf dem wir gehen und "ich" sagen, gespürt hat, kann wirklich spiel-süchtig werden. Etwas davon mag uns bewogen haben...
Das Schauspiel - und die Wahrheit - ist jedem Menschen zugänglich und zumutbar. Nicht jeder kann Musiker, Dichter oder Maler sein, jeder Mensch aber ist imstande zu spielen. Das Spielen-Können, und auch das Rollenspielen-Können, gehört zu der anthropologischen Grundausstattung menschlicher Fähigkeiten. Die menschliche Identität gründet sich nicht zuletzt auf der Fähigkeit, Rollen zu übernehmen, zu gestalten, zu kreieren, zu variieren. Menschliche Identität schließt den Unterschied zwischen Spiel und Nicht-Spiel ein, sie bedarf aber des Spiels als Möglichkeit des Nicht-Spiels. Inwiefern Identität aber immer Spiel ist und sein muß, bleibe hier einmal dahingestellt.
Auf diesem "Boden" des gemeinsamen Kommunikationsspiels begegnen wir einander täglich, und auch in unserem Theater-Spiel haben wir uns in dieser Weise einander und aufeinander "zugespielt": Weil wir "ich" sagen können, können wir schauspielen. Weil wir schauspielen können, können wir "ich" sagen. Weil wir schauspielen können, erfahren wir, wie sich unser Ich weiten und (auf)lösen kann.
Das ist das zweifellos Faszinierende an Masken: daß sie der Schlüssel zu unserem Ich sein können. Seit es Menschen gibt, gibt es Verkleidung und Maske - und gibt es das Fasziniertsein von Masken. Was sich hinter diesem Faszinosum verbirgt? Daß wir immer wieder glauben, daß, wenn wir alle Masken ablegten, unsere unsterbliche Seele zutage treten würde. So gesehen liegt im Maskenspiel mehr als Spiel mit der eigenen Identität, in ihm liegt etwas Metaphysisches, etws Religiöses.
Die zurecht auftauchende Frage führt weiter in die Philosophie: Inwiefern zeigt die Maske auch die Gestalt der Wahrheit? Die Wahrheit, so dem griechischen Wortsinn folgend, ist das "Un-Verborgene" (Aletheia), das dem Vergessen Entrissene. Demnach ist die Wahrheit zunächst verborgen und vergessen, das aber wiederum heißt, daß die Wahrheit zunächst nur in dieser Gestalt zugänglich ist, nämlich als Maske. Masken verheißen die Wahrheit, denn sie soll hinter der Maske sein. So ist das Spiel mit Masken ein Spiel mit der eigenen Wahrheit, ein Spiel mit den eigenen Grundlinien im Leben. Aber ist das wieder "nur" Spiel? - Aber in genau diesem Sinne war PRO-95 Spiel.
Im Spiel vermag der Mensch, über sich selbst hinauszugehen. Gelegentlich überschreitet er die im Alltag scheinbar unüberwindlichen Grenzen hin zu in ihm verborgenen Möglichkeiten, überschreitet er aber auch Grenzen zu Erfahrungen und Menschen. Daß dies lustvoll und suchtvoll geschehen kann, dafür stehen wir ein.
IX.
"Was immer wir suchen: im Spiel erfinden wir's."
Mit PRO-95 schließen sich die Kreise.
Die Entwicklung der Kreativprojekte hat uns über die letzten vier Jahre begleitet und geeint. "Uns", das ist ein kleines Team aus Mitarbeitern (frei und angestellt), Hausbewohnern und Ex-Hausbewohnern im Vinzenzhaus: Franz Aigner, Alfons Gleißner, Claudia Rechtberger, Sabine Schweizer, Birgit Habres, Wolfgang Kieberger (und längere Zeit auch Gerda Gelbmann, von der wir vieles lernen konnten, vor allem was Bewegungsarbeit betrifft) und meine Wenigkeit. Nach dem von Franz und Alfons ins Leben gerufenen Theaterprojekt "Jeder für sich selbst" (1991/92) haben wir uns 1992 auf den Weg gemacht. Vom Einkehrwochenende im April 92, den diversen kreativen Workshops (Beweglicher Nachmittag, Meditative Tänze im Advent,...) über das Kreativwochenende in Frauenberg (Sommer 92), Schottwien (Frühjahr 93) bis zu Oberleis (Winter 94) haben wir uns durch unsere Möglichkeiten und Grenzen experimentiert. Sukzessive haben wir uns durch ein Sammelsurium an Methodik und Gruppendynamik bewegt: Meditation, Tanz, Bewegung, Pantomime, schauspielerische Improvisation, Rollenspiel, usw. Am meisten Eindruck gemacht haben zweifellos die Möglichkeiten des Schauspiels. Man könnte auch sagen, daß wir uns seit dem Einkehrwochenende immer mehr zum Schauspiel hinentwickelt haben. Nebenbei erlernten wir aber auch so schöne und wichtige Dinge, wie Organisieren, Delegieren, Geld aufstellen, usw. - "Kreativmanagement" könnte man sagen. Oder: wir mußten lernen, den Weg von einer Idee bis zu ihrer Realisierung in allen Aspekten zu bewerkstelligen. Nur mit dem "Gebären" von schönen Ideen konnten wir uns nie zufriedengeben.
In Oberleis haben wir dann intensiv und überraschend erfahren, wie befreiend einerseits die Theaterarbeit sein kann, wie sehr sie aber auch Konflikte aufbrechen lassen kann. Eines der in Arbeit befindlichen "Stücke" in Oberleis konnte erst Wochen später vollendet werden. Damit hatten wir in unserer Vorbereitung nicht gerechnet. In Oberleis ist etwas offen geblieben, vielleicht kann man auch sagen, daß wir uns die befreiende und vereinende Kraft der Theaterarbeit noch einmal beweisen mußten. Wir hatten uns aber auch zu beweisen, daß mit dem richtigen "setting" ein konfliktarmer Produktionsprozeß zu gestalten wäre. Und in Zwettl wurde es uns bewußt, wie wichtig in dieser Hinsicht auch die Ausrichtung auf ein mögliches Endprodukt ist, wie diese Ausrichtung der Kräfte dieselben zu zentrieren vermag.
Mit PRO-95 haben wir erfahren, wie weit wir in der Theaterarbeit gehen können. Und wie weit wir miteinander - als Team nach dem bisher zurückgelegten Weg - gehen können. Was sich insbesondere in den letzten beiden Kreativwochenenden angedeutet hat, sollte sich einmal klarer zeigen. Es hatten sich Möglichkeiten für kreatives Arbeiten gezeigt, von denen wir nicht sicher wissen konnten, inwiefern sich solche Ansätze im "Ernstfall" verwerten lassen könnten. Jetzt wissen wir es: mit allem, was wir bisher erarbeitet haben, mit unserer Methodik und unserem persönlichen Einsatz sind wir imstande, innerhalb kürzester Zeit, das dramaturgische (Regie, Licht, Ton, Dekoration,...) und dramatische Potential einer Gruppe zu mobilisieren und eine Produktion auf die Beine zu stellen. Insofern haben wir uns mit PRO-95 bewiesen, was wir seit Oberleis nur ahnen konnten. Die Fragen, die wir in Schottwien und Oberleis gestellt haben und gestellt bekamen, haben wir uns und anderen mit PRO-95 beantwortet.
Für mich persönlich schließt sich ein weiterer Kreis. PRO-95 ist der Abschluß meiner Gruppenarbeitsprojekte im Vinzenzhaus. In ihnen hat sich manifestiert, wie sich kreatives Potential auch in der Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik - in der Arbeit mit Obdachlosen, Suchtkranken, Behinderten - mobilisieren läßt. Was ich am Anfang dieser jahrelangen Entwicklung nur ahnen konnte, hat sich bestätigt: mit der richtigen (positiven) Einstellung und dem richtigen Team geht alles!
X.
Als Abschiednehmender, als einer, der in den nächsten Monaten seine Gfrornergassenzeit nach bald 10 Jahren beendet, bin ich versucht (der Problematik solcher Versuchungen bin ich mir bewußt), in PRO-95 ein Mikrodrama meiner Zeit in der Sozialarbeit zu sehen.
Was sich mit PRO-95 einmal mehr für mich bewahrheitet hat, die "wichtigste Einsicht" sozusagen, ist die Notwendigkeit des Unnotwendigen. Wir PRO-95-Teilnehmer haben gespielt, in aller Ernsthaftigkeit, sogar mit Verletzungen, aber gespielt. Was wirklich Spiel ist und sein will, ist nicht notwendig. Oder anders gesagt: PRO-95 war - sozialarbeiterisch gesehen - nicht notwendig. Wie auch! Aber genau darin liegt der Wert und die Würde der ganzen Angelegenheit. Seit Sommer 94 haben wir an der Umsetzung dieses Spiels gearbeitet. Wir haben Benefizkonzerte veranstaltet, Bettelbriefe geschrieben, sind in Pfarren gegangen, usw. - alles um eine "unnotwendige" Sache durchzuführen. Nicht wenige haben sich gedacht: da wird Geld hinausgeschmissen... Aber, wie man sieht, haben wir uns nicht beirren lassen in unserem Wahnsinn. Wir waren für das Spiel, für das Unnotwendige - an einem Ort, an dem es weiß Gott viele Notwendigkeiten gibt. Von der Hausordnung angefangen bis zu den Notwendigkeiten einer Schuldenregulierung und Alkoholtherapie.
Dennoch: wer bei dieser Zweckbestimmtheut und Orientierung am Notwendigen stehenbleibt wird irgendwann existentiel "stehenbleiben". Es ist und bleibt meine Überzeugung, daß es wichtig ist, Unnotwendiges einzuplanen, Visionen, Spiel und Wahnsinn zuzulassen. Man soll sich um Himmels willen nicht von den nackten Erfordernissen der Sozialarbeit, den nüchternen Zwecken der Betreungsarbeit usw. einfangen und bestimmen lassen. Wer über den Rahmen der Bedingtheit durch materiele und substantielle Grenzen nicht von Zeit zu Zeit hinausschreitet, der wird sich früher oder später als Gefangener in Strukturen und Methoden wiederfinden. Es muß ein "Nebenbei" geben.
PRO-95 hat etwas von Wahnsinn an sich gehabt. Und nicht wenige haben gesagt: da kann ich nicht mitmachen, weil es für mich zu anstrengend für mich ist. Andere werden geglaubt haben: das kann eh nichts werden. Einige andere aber haben an die Notwendigkeit der Unnotwendigkeit geglaubt. Wir haben daran geglaubt, und jetzt wissen wir es, daß es immer wieder notwendig ist, etwas zu tun, was gegen den Alltag, gegen die Regeln und Normen ist, weil sonst die Gefahr zu groß ist, in den Regeln und in zwischenmenschlicher Sterilität unterzugehen.
Abgesehen vom Kunst-Markt ist jede Kunst unnotwendig. Und sie muß es sein. Auch Religion ist in ihrem Kern ohne Notwendigkeit, da sie auf die Freiheit des Menschen abzielt und von dort ausgeht. Gott liebt den Menschen ohne Wenn und Aber, ohne Zweck und Notwendigkeit. Das Unnotwendige, das Schöne und das Heilige erwachsen aus einem gemeinsamen Wurzelgrund.
PRO-95 ist ein sichtbar gewordenes Plädoyer für das Unnotwendige und den Wahnsinn, ein Plädoyer für das "Nebenbei". Wo sonst, wenn nicht im Unnotwendigen und im Wahnsinn, erkämpfen wir uns gelegentlich ein Stück Freiheit? Der Weg dorthin heißt Kreativität. Diese Kraft habe ich in den vergangenen 10 Jahren schätzen gelernt. In PRO-95 hat sich dies vertieft.
Manchmal meint man, einen Endpunkt erreicht zu haben. Manchmal meint man, einen Höhepunkt erreicht zu haben.
Christian Wetschka
... wenn sich einer schon aufgegeben hat ...
Was fällt dir spontan zu PRO-95 ein? Wichtig war, daß ich Leute kennengelernt habe, die ich noch nicht kannte. Ein paar waren offen, und ein paar waren verschlossen, an die ist man nicht rangekommen.
Gibt es Leute, die du überhaupt nicht kanntest und die du in der Woche besonders gut kennengelernt hast? Wen ich besonders kennengelernt habe, war der Giselher. Ihn habe ich zwar in der Gfornergasse kennengelernt, aber er war zuerst auch irgendwie verschlossen. In Zwettl bin ich ihm dann nähergekommen... Er ist ein toller Kerl. Er ist gescheit, und man kann von ihm viel lernen - so wie auch der Herbert. Der war mein Zimmerkollege. Wir sind sehr gut miteinander ausgekommen. Es hat auch keine Probleme gegeben.
Was waren deine Aufgabengebiete bei der Produktion? Vor allem Basteln und Malen, was mir sehr viel Freude gemacht hat. Ich habe an den Bühnenbildern mitgemalt, wir haben eine Sänfte gebaut, Rüstungen, einen Fotoapparat, Schilder, usw. Dann haben wir einen Stromausfall gehabt, da habe ich mich um die Kerzen gekümmert, damit wir ein Licht haben...
Du bist aber auch auf der Bühne gestanden... Ja, als Sänftenträger und Arbeitsloser. Und als Bühnenarbeiter... Und ans Tanzen kann ich mich erinnern - mit der Birgit war es ganz lustig zu tanzen, sie hat mich immer mitgerissen...
Tanzt du normalerweise? Nein, überhaupt nicht. Ich bin kein Tänzer. Na ja, Volkstänze tanze ich schon gerne. Es war irgendwie Zwang, aber es war auch irgendwie lustig.
Hast du dir das Stück so vorgestellt wie es geworden ist? Nein, vorgestellt habe ich mir etwas Anderes. Aber am Schluß hat es mir sehr gut gefallen... Das Beste vom ganzen Stück war die Hexe, weil der Sylvia die Hexe auf den Leib geschrieben ist... Am Anfang war es ein ziemliches Chaos, weil keiner gewußt hat, was wir machen...bis sich die große Gruppe aufgelöst hat. Und wie es dann die kleineren Gruppen gegeben hat, ist etwas zustande gekommen... Zuerst habe ich es gar nicht beachtet, aber am Schluß ist mir aufgefallen, daß die Zeit sehr schnell vergangen ist. Wie es dem Ende zugegangen ist, hat es mir irgendwie leid getan, daß wir wieder nach Hause fahren.
Hat das ganze Projekt irgendetwas für dich gebracht? Der Sinn ist, daß man immer wieder etwas dazulernt. Und daß man von anderen etwas dazulernen kann.
Was hast du dazugelernt? Daß man irgendwie durchält, auch wenn es einem gerade nicht gefällt. Ausdauer, daß man nicht aufgibt, und daß es auch andere Menschen gibt, die dir dabei helfen. Aber man muß auch selber etwas dazu beitragen...
Du kennst die Gfrornergasse schon 10 Jahre... Wenn es nicht mehr ist... Glaubst du, daß solche Aktivitäten für ein Haus wie die Gfrornergasse einen Sinn haben? Ja. Ich glaube aber, daß es sehr auf die Leute ankommt, die sich dafür interessieren... Für jeden einzelnen kann es einen Sinn haben - wenn sich einer schon aufgegeben hat, daß er wieder irgendwie neu anfängt, daß du ihn wieder aufbaust, daß er wieder eine Freude hat zu einem neuen Anfang.
Würdest du noch einmal mitmachen? Ja, auf jeden Fall. Warum? Man lernt immer wieder etwas Anderes kennen.
Günter Gepp
(Sänftenträger, Arbeitsloser, Bühnenarbeiter)
Was fällt dir spontan zu PRO-95 ein? In der ersten Phase, wo wir das Stück zusammengeschreiben haben, habe ich eigentlich nicht daran geglaubt, daß wirklich was rauskommt. Erstens waren da zu viele Vorschläge - und dann war dann die Geschichte mit dem Zeiserl, der die Rolle zurückgelegt hat. Einerseits war es ja gut, weil er hat mir in der zweiten Rolle besser gefallen. Es war natürlicher. (...) Was mich sehr überrascht hat, waren Wolfgang und Giselher in der Krankenszene - und der Steiner Peter...
Kann man sagen, daß du einige Leute durch die Arbeit am Stück besser kennengelernt hast? Eigentlich schon. So habe ich doch einige nur vom Sehen gekannt. Und die paar Wörter, die man so redet, waren nicht sehr aufschlußreich. Wie siehst du die Entwicklung des Stückes? Es hat so ausgeschaut, wie wenn wir nichts zustandebringen. Der eine hat das gesagt, der andere das. (...) Wir haben, glaube ich, 12 Ideen gehabt und haben es dann doch zu einer guten Aufführung gebracht. So wie wir uns das auch vorgestellt haben. Ich war zufrieden.
Welche Probleme hat es sonst gegeben? Na ja, hauptsächlich mit den Proben. Manche waren sehr unpünktlich. Der letzte Donnerstag war ja ganz krass. Da hat es geheißen 14 Uhr, und dann haben wir um 7 Uhr am Abend angefangen. Und dann bei der Aufführung. Da ist mein Partner später auf die Bühne gekommen, und ich war allein. Da habe ich halt improvisiert...
Was hat das Projekt für dich gebracht? Sehr viel. Ich glaube, ich bin nicht der Mensch, der so aus sich herausgeht. Ich bin bei dem Stück aufgetaut. Ich bin viel freier geworden.
Eine Frage an dich als Hausbewohner: Glaubst du, daß ein solches Projekt für ein Haus wie Gfrornergasse sinnvoll ist? Ich glaub schon, daß es etwas bringt. Für die Leute untereinander. Und es waren ja auch andere Hausbewohner bei der Aufführung dabei...Und weil es eine Abwechslung ist.
Würdest du wieder mitmachen? Ja sowieso. Ich würde wieder mitmachen.
Hans Krasensky
Es war schon ein Theater mit "So ein Theater", weil das Theater um das Theater mehr Theater war als "So ein Theater" selbst.
Was könnte man nicht alles darüber schreiben! Über die Leute, die es spielten, darüber, wieviel Mühe und Aufwand es war, wie es zum Stück kam, ja Romane!
Ich, Haraldus, der Bettelmönch und Erzähler - alias Harald Fetz-Heim - will berichten!
Eigentlich brauchten wir zu dem Stück keine Schauspieler oder besonders ausgebildete Leute, da eigentlich jeder seine Lebensrolle spielte. Ein Sandler spielte einen Sandler, ich den Erzähler - ich liebe den Schwatz, Pauline die Frustrierte, bei Sabine bin ich mir nicht so sicher, oder doch? Die Hexe und und und. Christian war der heimliche Puppenspieler, der mit viel Schläue seine Puppen an unsichtbaren Schnüren tanzen ließ. Hoffentlich ist mir der Regisseur nicht böse, aber er war auch sehr super, denn er kümmerte sich darum, daß jeder auf der Bühne im rechten Licht stand - und das hat nicht unbedingt etwas mit den Lampen zu tun.
In Zwettl war ich nicht dabei. Aber so wie die Leute verbraucht zurückkamen, verstehe ich, warum unsere Leute irgendwie bei den Proben in Wien ein wenig müde wirkten, nicht so ganz überzeugend waren oder mit der Einstellung "Ich kann eh schon alles!" So als hätten sie auf den linken Fuß "ich bin müde" und auf dem rechten "bin ich tätowiert". Krasensky schaut, wie gut ich springen kann und Paulinchen seh ich auch ganz anders. Irgendwie unecht, komisch und trotzdem gut. Ich habe nicht soviel Theatererfahrung, um wissen zu können, ob das so sein muß, aber jetzt weiß ich mehr. Der, der sonst den ganzen Tag vom Theater sprach und darüberhinweg vergaß, uns von seinem Samariterleben zu erzählen (was an ein Wander grenzt), war Sandler Nummer 1. Sodaß auch ich schon vom Theater träumte. - Aber es hat sich zwischen allen Akteuren ein Band der Zusammengehörigkeit, ich glaube sogar ein wenig Achtung und Sympathie gebildet. Wie die Verschwörer. Jeder von uns war aufgeregt und nervös, doch es wurde mit einem Zuckerguß Lässigkeit überspielt wie bei den Profis.
Der große Tag. Die letzte Probe war gleich locker und lang wie alle anderen. Man zeigte seine Rolle, neckte und meckerte, lachte und machte sein Spiel, wie es sich gehörte. Wie es war, wie es sein sollte - und wie es nicht gewesen ist. Alle fieberte der Premiere entgegen, die Scheinwerfer spendeten unangenehme Hitze. Eine Stunde vorher hatten wir uns schon verkleidet. Ruhige nervöse Erwartung wie Weihnachten breitete sich aus. Die ersten Leute trafen ein, mehr und mehr und noch mehr, und ich wurde immer nervöser. - Der Auftritt begann, und siehe da, dem Puppenspieler Christian zerrissen lautlos die Fäden seiner Marionetten, und jeder spielte so, wie er sein Leben lang schon gelebt hatte. Ein Wunder? Nein, ein Stegreiftheater, das das Leben schrieb.
Herzlichen Dank an alle, die mir soviel Freude bereitet haben.
Euer Bettelmönch
Haraldus
Therapie auf der natürlichen Basis...
Nach dem Motto: In der Kürze liegt die Würze möchte ich, besser gesagt: darf ich meine Meinung zu PRO-95 äußern. Ganz bewußt mache ich es aus der Sicht des Teilnehmers an der Sommerwoche in Zwettl und als Mitwirkender beim Stück "So ein Theater!".
Zunächst zur Aktion PRO-95. Jedes Unternehmen und jede Anregung und Förderung einer Sache, sei es finanziell oder materiell oder beides zugleich, die geeignet ist, die eigene Aktivität zu wecken, die in jedem Menschen schlummernden Kräfte zu wecken, aufzuspüren und erkennen zu lassen, jedes Bestreben also, den Menschen (besonders im Vinzenzhaus der Caritas), heraustreten zu lassen aus dem engen Ich-Kreis zum Du und Wir, hat einen, ich möchte sagen, unvergänglichen Wert für sich und die Gemeinschaft. Es ist ein wesentlicher Teil des ständigen Ringens um die Realisierung der persönlichen, einmaligen Note jedes Menschen und ein Weitergeben an die Gemeinschaft. Besonders bei den Egoismen der heutigen Zeit und den Versuchungen, sich in das eigene Schneckenhaus zurückzuziehen oder den oft zweifelhaften Methoden einer Selbstverwirklichung ist jede echte und für die Gemeinschaft föderliche Art hervorzuheben, zu betonen und zu fördern. Daher mein ehrlicher und offener Dank an die Aktion PRO-95, seinen Förderern und Spendern. Es war ein echter Dienst an und für die Menschen, die Suchenden, die Irrenden und die um ein echtes Menschenbild Ringenden. Nun zu meinen persönlichen Eindrücken zur Zwettler Sommerwoche 95, gleichsam eine Auslese des Positiven und Negativen. Für mich war es zweifelsohne eine unvergeßliche Woche des Beisammenseins mit noch oder ehemaligen Bewohnern aus dem Vinzenzhaus - mit den Betreuern, mit den Mitarbeitern, wobei es wirklich gelungen ist, nicht nur ein Beisammensein- und Zusammenleben weitab der Gfrornergasse und des Heimes zu erleben, sondern wieder echte Gemeinschaftswerte aufkommen zu lassen. Jeder war täglich von neuem herausgefordert, sich dieser Gemeinschaft zu stellen, sich einzugliedern, ohne die persönliche Note, sein persönliches So-Sein leugnen oder verbergen zu müssen. Eine Rücksichtnahme auf die jeweils immer wechselnden Begebenheiten, neu auftretenden täglichen Fragen, neue Sichten des eigenen Ichs, aber auch Lichtpunkte und Schattenseiten im Charakter des anderen echt liebenden Mitmenschen, eben dieses Einfühlen und Mitgestalten an jedem neuen Tag machte diese Zeit in Zwettl und die schöne Umgebung zu etwas Unvergeßlichem, zu einem prägenden Erlebnis und vielleicht auch zu einem Nachdenkfaktor für und über das eigene Ich. Das Zusammensein mit den Mitmenschen in den Zimmern, die erforderliche Rücksichtnahme, das gemeinsame Essen und die Gespräche dabei und das gemeinsame "Basteln" bei der Erstellung des Theaterstücks machte, so sehe ich es, diese Zeit in Zwettl sicher sehr wertvoll. Solche Zeiten bergen in sich auch die Gefahr, daß man die Nerven des anderen strapaziert und die Fasern der Geduld reissen können. Aber ernste, nicht zu lösende Differenzen gab es nicht, keine lautstarken Streitereien oder Gehässigkeiten, und auch keine stillen Intrigenspiele. Die ausgewogene Zeit auch des gemütlichen Beisammenseins, der Spaziergänge mit anderen, mit den lockeren, heiteren oder auch "philosophischen" Gesprächen sorgte für Therapie auf der natürlichen Basis, nämlich der schlichten, persönlichen, offenen Begegnung. Kleinere Differenzen konnten den Tages(ab)lauf und bestimmte Reglementierungen, bzw. Zeiteinteilungen, wie es eben eine Arbeitswoche (es war keine Urlaubswoche in diesem Sinne), erfordert, nicht wesentlich stören. Man hat sich zusammengefunden zu echtem, anstrengendem Probespiel, zum Abwiegen von Ansichten zum Thema des künftigen Theaterspiels, zur Lösung der Problemfragen des Stücks. Jeder gab sein Gutes, sehr oft sein Bestes und wurde so unbewußt (also nicht mit Zwangsmaßnahmen) zu einem Baustein der Gemeinschaft. Jenes Wechselspiel des Gebens, des Verzichtens auf mitunter Liebgewordenes, des Abstandnehmens vom Justamentstandpunkt, aber auch die Erfahrung des Empfangens, des Beschenktwerdens, machten diese Zeit zu einer schönen Zeit. Schön, daß wir beisammen waren, uns besser kennengelernt haben, gemeinsam etwas geschaffen haben - also rechnerisch gesehen etwas nach Wien mitgebracht haben, nämlich ein Rollenspiel, bei dem jedem eine Rolle zugeschrieben war, die zu ihm paßte. Eine Offenlegung des eigenen Seins ohne Schein vor dem anderen echt (ich betone es abermals) lieben Mitmenschen.
Zum Stück und zu meinen Rollen. Zweifelsohne hatte das Thema des Stücks, seine Ausgestaltung und seine persönliche Gestaltung ohne fixe Dialoge, ja vielfach freier Dialoge eine persönliche Sprengkraft gleichsam. Es sollte keine Lächerlichmachung etwa des Sozialarbeiters oder des Betreuenden und Betreuten sein oder die Sinnlosigkeit jeder Arbeit an sich oder an der Gemeinschaft oder die Sinnlosigkeit des Gutseins gezeigt werden, sondern es sollte, so sehe ich es als Mitdarstellender, eine kritische, prüfende Sicht dessen sein, was echte Therapie ist und sein kann. Es sollte gezeigt werden, wo die Gefahren liegen, wo etwa Geduld und langsames Zugehen auf das Ziel notwendig sind.
Ein plötzliches Überfordertwerden, ohne Rückschläge miteinzubeziehen, eben jenes Moment der persönlichen Entscheidung zum Positiven und Negativen in sich und um sich herum, all diese Fragen bewegten das Stück. Jener Satz, der sich im Text des Hofnarren und im Programm des Aufführungsabend findet, wurde im Stück realisiert: "Wir haben Masken abgelegt, um uns zu finden. Wir haben Masken aufgesetzt, um uns zu ertragen. Was immer wir suchen, im Spiel erfinden wir's." Ich persönlich finde es immer für gut, wenn Fragen, Probleme, ja sprengende Kraft nicht übertüncht werden, sondern bewußt gesehen, geprüft, be- und verarbeitet werden durch mich selbst, von und mit der Gemeinschaft offen ausgetragen werden und keineswegs verharmlos werden. Solange der Mensch lebt, ist und bleibt er ein mit sich und der Gemeinschaft Ringender. Er ist ein nach Werten Suchender und bedarf der Hilfe durch die Gemeinschaft, indem er sich von der Gemeinschaft angenommen weiß.
Es war also keine Persiflage der Sozialarbeit, kein negatives Bild "Gescheiterter", sondern das Bild des eben von mir eben geschilderten Menschen. Und ich glaube, nicht nur die Mitwirkenden, sondern auch Zusehenden und Zuhörenden haben zum Miteinander gefunden. Die Dialoge waren echt aus dem "Inneren" kommend, wenn auch oft scharf pointiert, lebensecht, gelegentlich mit Ansatzpunkten zum positiven Nachdenken.
Was meine Rollen betraf, versuchte ich, mich überall einzuleben, das Stück für diesen Abend zu meinem eigenen zu machen. Dadurch kam es zu einem tiefen Einfühlungsvermögen in das Leben anderer, in die Seinsweise sogenannter Gescheiterter, der Gestrandeten und zum Sehen der Ursachen dessen. Kurzum, ich lebte mit allen Fasern und hoffe, auch der Gemeinschaft etwas von mir selbst gegeben zu haben, wie auch ich viel von den anderen Darstellenden empfangen habe - ein offenes Herz zum Geben und ein offenes Herz zum Nehmen.
Jetzt schließe ich, obwohl noch viel zu sagen wäre. Ich danke noch einmal allen für das Erlebte und die Möglichkeit zur Mitgestaltung.
Sandler, Gnom, Sänftenträger Herbert Reich
(Ehrenamtlicher Mitarbeiter im Vinzenzhaus)
P. S. Weitere Aufführungen wären sicher gut!
PRO-95 - "...daß ich lange daran gezweifelt habe..."
Kaum daß ich im Vinzenzhaus von PRO-95 gelesen hatte, habe ich mich ziemlich rasch entschlossen, bei diesem Unternehmen mitzumachen. Ich bin dann auch bei allen folgenden Zusammentreffen (einmal bei Mag. Christian und zwei weitere Male im Haus) dabei gewesen. Es wurde bei diesen Treffen um und über die Vorbereitungen gesprochen (Transport der Teilnehmer, Zimmereinteilung, Besorgung von Licht und Bühne). Auch bei den Spendenaktionen bin ich dabei gewesen. Bei der ersten Messe, bei der Christian gepredigt hat, ging es mir nicht besonders gut. Ich litt an einer Depression und wollte an diesem Sonntagmorgen eigentlich nicht mitfahren, habe es aber nichtsdestotrotz getan. Die Predigt von Christian war - wie die Spenden zeigten - sehr gut. Die anschließende Jause im Pfarrsaal war für mich nicht so positiv. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Doch auch das ging vorbei. In Baden, bei der zweiten Predigt, ist es dann ganz anders gewesen, nämlich das Gegenteil. Etwas manisch habe ich mich zu dieser Zeit schon gefühlt. Für mich ganz gut, für andere nicht so gut. Als Christian mich und einen Ex-Hausbewohner in seiner Predigt erwähnte, war ich - da es um mich ging - den Tränen nahe. Nach der Hl. Messe habe ich Menschen zum Vorhaben PRO-95 befragt und auf Tonband aufgenommen, was für mich auch positiv war. Das Benefizkonzert einige Wochen später hat mir auch gut gefallen. Da ich etwas ungeduldig bin, ist das etwas verwunderlich. Es war nicht zu lang und nicht zu kurz.- Soweit zur Einleitung für unser ziemlich großes Vorhaben.
Im Stift Zwettl angekommen, geschah dann einiges, das ich von meiner Sicht zu schildern versuchen werde. Beifügen möchte ich gleich jetzt, daß es schade ist, daß einige, die sich angemeldet haben, aus verschiedenen Gründen nicht mitfahren konnten und wollten. Einer, der nicht in Zwettl mitgewesen ist, da er leider keinen Urlaub bekommen hatte, hat dann in Wien doch noch eine Rolle bekommen, die er dann, wenn auch mit großen Schwierigkeiten verbunden, doch noch gespielt hat. Harald, ein Hausbewohner, der mir seit längerem sehr nahe steht, spielte den Erzähler. Er machte seine Sache, wie auch alle anderen Teilnehmer, sehr gut.
Momentan fällt mir so manches ein, sodaß ich nicht weiß, was ich zuerst zu Papier bringen sollte. Für mich persönlich ist wichtig, daß ich (zumindest mit meinen Augen gesehen), einer Person etwas näher gekommen bin. Es hat sich fast aus Zufall so ergeben. Ich wußte, daß ich versuchen werde, mit dieser Person etwas mehr Zeit zu verbringen, um über dies und das zu sprechen. Sie hat mich auch sehr zum Nachdenken angeregt. Durch unsere Spaziergänge um das Stift haben wir uns - so sehe ich es - besser kennengelernt. Wir haben einiges über meine Krankheit (Manie/Depression) gesprochen. Auch über meine Vergangenheit als Alkoholiker und meine Kindheit und Jugend wurde manches gesprochen. Als einige Tage später vor dem Mittagessen bekanntgegeben wurde, daß sie das Haus verläßt, hat mir das gar nicht gefallen. Bei ihrem Abschiedsessen am vergangenen Freitag, habe ich ihr das auch gesagt.
Doch nur zum Stück und zur Arbeit des PRO-95-Teams. Nachdem wir angekommen waren, haben wir unsere Zimmer bezogen und zu Abend gegessen. Anschließend sind einige Teilnehmer spazieren gegangen. Dabei hat es sich ergeben, daß ich das erste Mal mit Sylvia länger gesprochen habe.
Sonntag haben wir dann Kleingruppen gebildet, um Themen zu suchen und dann vorzuschlagen. Den Weg bis zum endgültigen Inhalt des Stücks werde ich nicht beschreiben, es schreiben ja auch noch andere Teilnehmer. Ich habe etwas anderes zu berichten, das für mich wichtig gewesen ist.
Als wir von einigen Vorschlägen und Geschichten (es waren einige) drei an der Zahl durch Abstimmung ausgewählt hatten, kamen wir zu dem Entschluß, aus den drei Stücken eines zu machen. So ähnlich kam es dann schlußendlich auch. Mir persönlich gefällt das Stück und der Inhalt vom jetzigen Standpunkt aus ganz gut. Ich muß hier gestehen, daß ich lange daran gezweifelt habe, daß aus dem Projekt etwas wird. Und dies aus verschiedenen Gründen. Einen werde ich auch anführen.
Mir ist aufgefallen, daß sich einige Personen absonderten. Ich dachte, daß es daran läge, weil einiges in den allabendlichen Feedbacks nicht besprochen wurde. Nach einigen Tagen habe ich dann gesehen, daß diese Teilnehmer an Liedern und Musik dazu schreiben. Auch bei den Bastelarbeiten und Malereien für das Bühnenbild ging am Anfang nicht allzuviel weiter. Aber mit der Zeit wurde alles doch fertig. Ich denke, das ist bei allen großen Unternehmungen so.
Doch zurück zur Erarbeitung der Handlung am Beginn der Woche. An einem sonnigen Nachmittag saßen wir im Hof des Stiftes zusammen, wir waren eine kleine Gruppe und hatten eben die Aufgabe, aus drei Vorschlägen ein Stück zusammenzufassen. Wir kamen auch bald zum Ziel. Im Zuge der Rollenverteilung kam es, und das wunderte mich sehr, ich war sogar überrascht, daß ich die Hauptrolle des Sozialarbeiters spielen sollte. Ich sagte halt zu. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was mich da erwartete. Aber es dauerte nicht lange bis zum Mittwoch. Während der Proben fiel mir auf, daß ich keinen Alkoholiker spielen kann und wollte. Aus Überzeugung nicht. Zweitens konnte ich für mich eine Szene in der Mitte des Stücks auch nach längerem Proben nicht spielen. So entschloß ich mich nach langem Überlegen, die Rolle zurückzulegen. Ich habe es am Mittwoch beim Feedback der Gruppe mit mulmigen Gefühlen mitgeteilt. Und es war gut so. Es wurde ein Hauptdarsteller gefunden. Die Wahl fiel auf Ossi. Ossi spielte den Siggi immer besser, und so wurde die Aufführung auch ein Erfolg. Ich persönlich habe zwei kleine Rollen übernommen: den Grafen und einen der Zuhälter. Es hat mir bis zum Schluß großen Spaß gemacht. Ich für mich hätte das Stück noch einige Male aufführen können.
Wenn ich so dahinschreibe, fällt mir noch so manches ein, das für mich in diesen Tagen noch wichtig war. Es hat mir zum Beispiel sehr leid getan, daß es einigen Leuten nicht gut gegangen ist. Ein Teilnehmer kippte in eine Depression, was mir sehr weh getan hat, weil ich weiß, wie das ist. Anderen ging es gesundheitlich nicht gut, oder einige konnten wegen des Ortswechsels nicht gut schlafen (ich habe gut und viel geschlafen!).
Werde meinen Bericht hiemit beenden. Ich denke, das Wichtigste ist gesagt. Der Inhalt des Stücks steht sowieso im Programm, bzw. haben die Leute, die dies lesen, so hoffe ich, das Stück im Vinzenzhaus gesehen. Wenn es wieder einmal zu so einem Projekt kommen sollte und ich habe noch Kontakt zum Vinzenzhaus werde ich - falls es möglich ist - sicherlich mitmachen.
Graf und Zuhälter Ludwig Zeissner
Versuch einer Rekapitulation der Geschehnisse während meines Aufenthaltes in Zwettl
Zwettl war für mich nicht unproblematisch. Immer wenn ich vesuche, meinen Emotionen nachzugeben, mich fallenzulassen, diesen Prozeß dadurch jedoch noch fördere, daß ich nicht nur antialkoholische Getränke zu mir nehme, habe ich Angst, irgendjemand kommt daher und will mir klarmachen, daß das eben nur ohne Rauschmittel funktionieren kann; das sei psychologisch begründbar. Auch in Zwettl war das so. - Die Ortsveränderung und diverse andere Gründe haben mich ein paar Tage lang irritiert. Die ganze Woche war für mich ein Entwicklungsprozeß, indem es mir gelungen ist, mich in die Gruppe zu integrieren.
Als ich am Freitag nach Zwettl gefahren bin, habe ich vorher schon ein ziemlich enervierendes Gespräch mit Herrn Schuster gehabt. Ich habe einfach nicht verstanden resp. verstehe auch jetzt nicht, daß seitens der Gemeinde Wien in puncto Vergabe von Gemeindewohnungen verschiedene Maßstäbe angewendet werden.
Jedenfalls war ich ziemlich aufgewühlt, als ich meine Reise angetreten habe. Endlich im Waldviertel angelangt, war ich erschüttert und betroffen über meine emotionale Reaktion. Das Waldviertel hat in mir viele positive Gefühle ausgelöst, daß ich von ihnen richtig mitgerissen wurde. Die üblichen Kontrollmechanismen haben ausgesetzt und ich habe einfach "über die Stränge" geschlagen.
Ich muß dazu ausführen, daß ich vor etwa 15 Jahren fast jedes Wochenende im nördlichen Teil des Waldviertels verbracht habe. Es war für mich ein Ruhepol in einer sehr ereignisreichen Zeit. Ich habe mich damals mit meinen Eltern nicht so recht verstanden und war ziemlich introvertiert. Deshalb ist mir die freundschaftliche, meist intellektuelle und vor allem lockere Art meiner Bekannten aus dieser Gegend sehr entgegengekommen.
Ich habe bei der Ankunft diesen wunderschönen, von den Leuten noch nicht vereinnahmten und geschundenen Wald gesehen und habe dabei an die Erlebnisse gedacht, die ich damals gehabt habe. Dabei habe ich meine damaligen Verhaltensweisen (Sex, drugs & Rock´n Roll) allzu deutlich nachvollzogen. (Sex war leider nicht möglich, aber das andere hat schon seine Richtigkeit).
Jedenfalls habe ich dadurch einige Leute durcheinandergebracht:
I) meinen Zimmerkollegen, Wicki den Starken, der meine "Anfangseskapaden" wirklich hat aushalten müssen; II) die mit Verantwortung gesegneten Mitarbeiter, die anfangs nicht recht wußten, wie am besten mit mir umzugehen wäre; III) den Rest der Gruppe; IV) nicht zuletzt mich selbst.
Erst als ich in aufregend sanfter Weise darauf hingewiesen worden bin, vielleicht doch einzusehen, ein gewisses Fehlverhalten an den Tag gelegt zu haben, habe ich dieses geändert. Als Franz und der Großteil der Gruppe mir durch den freiwilligen Rücktritt von Ludwig die Hauptrolle in dem geplanten Stück angeboten hat, hat sich meine anfängliche Nutzlosigkeit ins Gegenteil verkehrt. Ich hatte plötzlich eine Aufgabe, die mir viel Freude bereitet und viel Spaß gemacht hat.
Vom Stück selbst muß ich sagen, daß es zwar irgendwo schon von Franz und Ernstl konzipiert, ausgearbeitet, verbessert und ergänzt worden ist, daß aber jeder Schauspieler bei seinem Text Gestaltungsfreiheit hatte. So kam es auch, daß es anläßlich der Aufführung spontan zu neuen Einfällen (vielleicht Eingebungen) kam.
Ich bin überzeugt davon, daß die Freude an der Aufführung manche Mißverständnisse und Fehler bei weitem überwogen hat und daß die Aufführung letztendlich ein voller Erfolg war.
In propria persona: Ich habe mich sehr mit der Rolle identifiziert, andererseits wären mir pausenlos neue Statements eingefallen, hätten wir mehr Zeit für Proben gehabt.
Ossi Grötzer (alias Siggi)
P.S.: Ich möchte mich dafür bedanken, daß Sylvia kennenlernen durfte, die Hexe, deren unwahrscheinliche Sensibilität mir die Tränen in die Augen getrieben hat.
Da habe ich das richtig rausschreien können...
Was fällt dir spontan zu PRO-95 ein? Ich erinnere mich vor allem an die Gemeinschaft, an die Fahrt nach Zwettl, an den Aufenthalt, das ganze drum und dran. Es war sehr gemischt eigentlich, aber es war trotzdem schön, weil es zum Teil stressig war. Aber die Gemeinschaft, das bevorzuge ich, das tut mir gut.
War es sehr anstrengend? Na ja, sehr... Es war nebenbei viel zu tun. Drei Bühnenbilder, die Kostüme... Die Rolle haben wir zum Großteil einfach in der Nacht einstudiert.
Was war deine Rolle? Ich war das Weib vom Sozialarbeiter, ich war die Gundi. Er hat sich mehr um die anderen Leute gekümmert, und ich bin halt auf der Strecke geblieben. Um mich hat er sich zuwenig gekümmert. Darunter hat unsere Ehe sehr gelitten, was dann auch ins Trinken ausgeartet hat. Ich bin immer tiefer gesunken. Meine Freundin, die Brunhilde, hat mich zum Trinken verleitet, da bin ich dann auf den Geschmack gekommen und dann immer mehr ins Trinken reingekommen.
Im Laufe der Woche in Zwettl hast du einmal gesagt, daß diese Rolle für dich wie eine Therapie ist... Ja, weil ich den Frust, den ich die ganzen Jahre hindurch aufgestaut habe, richtig loswerden habe können. Da hab' ich es richtig rausschreien können.
Welchen Frust? Durch meine verpatzte Ehe halt. Und dadurch, daß ich immer geschluckt und geschluckt habe, ist es mir auf einmal zuviel geworden. Und da habe ich das richtig rausschreien können.
Ist es dir gut gegangen beim Spielen? Ja. Es war irgendwie eine Erleichterung, ein Freimachen von innen heraus...
Wie war die Premiere? Es war beeindruckend, daß alles so gut gelaufen ist. Und ich habe mich richtig in meine Rolle hineingesteigert. Ich habe die Angst nicht gehabt, daß ich hängenbleib', obwohl ich es das erste Mal gemacht habe.
Wie ist es dir mit den anderen Schauspielern gegangen? Es war ganz gut. Mit dem Ossi habe ich gut zusammengespielt, weil er ja schon voriges Jahr mein "Tröster" war (Anm. bei der Produktion "Einfach so"/Oberleis 1994), also ich habe ihn ja schon gekannt.
Würdest du nocheinmal bei einem derartigen Projekt mitmachen? Ja.
Pauline Eichinger (alias Gundi)
Meiner Meinung nach war und ist zu PRO-95 zu sagen: es stand auf einem ziemlich hohen Niveau. Für mich war es ein bunter Haufen von Selbstdarstellungen unterschiedlichster Art. Ich natürlich auf den Brettern der Welt - meiner kleinen Welt. Es war sehr professionell. Ich hätte mir vorstellen können, daß für das Gesamtprojekt viele Ideen da waren. Ich glaube, daß wir ein gutes Team waren, obwohl es manchmal auch etwas schwierig war. Von mir einmal abgesehen, möchte ich sagen, daß es ein Super- Teamwork, sinnvolles Arbeiten zu einem kleinen "Wahnsinn" hin (im positiven) war. Es wird mir ewig in bester Erinnerung bleiben. Es ist sehr gut über die Bühne gelaufen (wenn auch bei einer vielleicht zu kleinen Bühne - manche Leute hätten vielleicht mehr daraus machen können auf einer größeren...). Die Hauptverantwortlichen - sie brauchen wir nicht näher zu nennen - haben vieles zum Guten beigetragen. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, eine nochmalige Aufführung des Stücks zu machen.
Es sind genau die Dinge passiert, die bei einem solchen Großprojekt mit den verschiedensten Charakteren zu einem Bruch führen hätten können. Einige haben das aber nicht zugelassen, was ich sehr gut fand. Es hätte vielleicht schlimmer werden können.
Sich in Rollen reindrängen zu lassen, die bemerkenswerterweise sehr gut ausgefallen sind... Es sind auch immer wieder konstruktive Impulse falsch aufgenommen worden. Auch außerhalb des Stiftes ist die lehrreiche Arbeit und das Training sehr gut weitergegangen. Ich möchte da nicht näher auf irgendwelche Personen hinzielen, die letzten Endes bei der Uraufführung alles doppelt so gut machten und alles 100%ig "rüberbrachten". Es wäre natürlich ein Wahnsinn gewesen, hätte die Hälfte der Teilnehmer Kritik an den Tag und an den Mann gebracht. Was ich damit sagen möchte: es haben immer dieselben Leute geredet - Quacksalbereien, manchmal sogar Idiotien. Aber es hat wunderbar geklappt.
Peter Steiner
Diese Unsicherheit bekam ich in den Griff...
Heuer durfte ich das erste Mal bei einer Theatergruppe dabei sein. Ich wollte immer schon bei einer Theatergruppe dabei sein. Ich habe mich darauf sehr gefreut. Ich wußte, daß es für mich nicht leicht sein würde, in dieser Gruppe Fuß zu fassen. Aber nach einigen Tagen, ging es mir schon recht gut in der Gruppe. Ich lernte viele liebe, neue, lustige Leute in diesen 9 Tagen kennen. Ich hatte auch einen lieben Zimmerkollegen, der heißt Peter. Mit dem war ich gleich acht Tage hindurch bis 3 Uhr in der Früh auf. Die neun Tage waren alle sehr hart für uns. Aber sie waren nicht nur hart, sie waren für mich und für alle anderen auch sehr schön. Den Beweis von unserer so harten Arbeit haben wir ja vor Publikum am 19. August am Abend präsentiert. Es war für mich in dieser Woche nicht nur alleine schön, es war die ganze Woche auch sehr spannend, obwohl ich an den ersten Tagen noch energielos im Stift herumirrte. Aber diese Unsicherheit bekam ich auch bald in den Griff - auf diesem Gottseidank nicht sinkenden Schiff. Beim sinkenden Schiff fallen mir gerade die lieben Ratten ein. Aber die Ratten gehören zu einer anderen Geschichte. Also ich war in den neun Tagen nicht von Ratten umgeben. Nein, ich hatte lauter liebe, nette Leute um mich. Ein paar Leute von dieser Gruppe mochte ich besonders gerne. Da gibt es mal den Giselher, der ist für mich ein ruhender Pol in dieser Gruppe gewesen. Und wenn man ihn was fragte, antwortete er in Gedichtform. Über den Peter Steiner gibt es nicht viel zu sagen, außer daß ich ihm als einen guten Freund gewonnen habe und daß ich ihn trotzdem mag, auch wenn er leider nur ein Rapidfan ist. Für den Schrenk Wolfgang war ich in der Gruppe immer das Überbleibsel. Auch er zählt jetzt zu meinen besten Freunden. Jetzt habe ich bald wieder eine Seite über Zwettl geschrieben. Ich habe mich auch sehr gefreut, daß unser Theaterstück so gut angekommen ist. Wir haben uns hoffentlich alle sehr gefreut, daß es so war. Zuerst wollte ich über diese wirklich spannende Theaterwoche gar nicht meinen Senf dazugeben. Aber Christian hat mich doch dazu bewogen, doch meine Eindrücke von Zwettl hier niederzuschreiben. Und ich denke, mir ist es, glaube ich, soweit gut gelungen.
Reinhard Seisenbacher
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage ...
Auf den Spuren von PRO-95
Ich werde versuchen mich kurz zu fassen, denn vieles, das ich sagen könnte, wurde bereits von anderen gesagt.
PRO-95 ist unser Kind, das der OrganisatorInnen und das der ProjektteilnehmerInnen. Ein anstrengendes, besitzergreifendes, schwer zu bändigendes Kind, das wir aufgezogen haben, es lieben und kosen, und je weiter die gemeinsam verbrachte Zeit weg ist, desto niedlicher wird es, desto verklärter wird unser Blick, werden unsere Gefühle.
PRO-95 ist ein Unikum. Ein Ding, von dem ich zwar wußte, daß es groß werden würde, dessen Ausmaße ich zu Beginn jedoch, trotz ständigem "Ins-Bewußtsein-Rufens", nicht wirklich erfassen konnte. Auch jetzt kann ich kaum glauben, daß alles, wofür wir fast eineinhalb Jahre gearbeitet hatten, schon wieder vorbei sein soll.
Da war Aufregung über den Wahnwitz PRO-95, Freude über die Finanzentwicklung, Lust an der Öffentlichkeitsarbeit, Euphorie über die Besucherzahlen, Stolz auf das Geschaffene, aber auch Verärgerung über unbeantwortete Schreiben, Erschöpfung aufgrund von nächtelangen Arbeitsaktionen, Neid auf die Unbeschwertheit der TeilnehmerInnen, Angst vor unbewältigbaren Krisen, Frust nahe am temporären Burn- Out und Kampf mit der eigenen Rolle. Was heute geblieben ist, ist die sentimentale Liebe zu unserem gemeinsamen Kind, dem ich so viel zu verdanken habe. Was bleibt, sind Erinnerungen an knuddelige und weniger knuddelige Menschen, an divergierende Meinungen, die letztlich im Zusammenhalt münden, an Freundschaft, die tief wurzelt.
Ich habe gelernt, meinen produktbezogenen Dickschädel zu zähmen und mich in der Rolle der Teamerin zurechtzufinden. Ich habe gelernt, daß ich nicht perfekt sein muß, um akzeptiert zu werden, ganz im Gegenteil, daß persönlicher Perfektionismus eine sehr subjektive Angelegenheit ist, die in einer Gruppe nur bedingt erfolgreich ist.
PRO-95 hat wieder einmal meine These, vom sich selbst antreibenden Menschen, bestätigt. Es war eine harte Schule, durch die wir alle gegangen sind, nahezu alle taten dies im "Self-Management", durch Kooperation und Kommunikation. Viele mußten ihre Grenzen erkennen lernen und haben ihre Grenzen überwunden - in der gemeinsamen Arbeit und im Zusammenleben.
PRO-95 war kein Erholungsaufenthalt sondern Knochenarbeit, trotzdem hat jedeR Freizeit dafür verwandt, ja sogar noch dafür bezahlt. Und ich glaube, jedeR konnte sich ein Stück "Wichtigkeit" für sich und sein Leben mitnehmen. Irgend etwas, das jedeR in Zwettl in ihren/seinen Koffer gepackt hat, um es mit nach Hause zu nehmen, zu hegen und zu pflegen und nie wieder zu verlieren.
"So ein Theater..." - Der Schlußpunkt? Mit Wehmut höre ich jedeN darüber nachdenken, ob PRO-95, der Höhepunkt unserer Kreativprojekte, auch gleichzeitig das grandiose Finale derselben sei. Ich für meinen Teil, wäre jederzeit zu neuen Abenteuern bereit. Ihr kennt doch das Motto "Dies sind die Abenteuer des Raumschiffes Enterprise (vulgo PRO-95 Team) ... neue Galaxien, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat ...usw.". Wir müssen uns allerdings darüber im klaren sein, daß es für uns - in unserem kleinen Rahmen - keine Steigerungsstufe auf dieser theaterspezifischen Schiene mehr gibt, denn die nächste Konsequenz wäre die ständige Institution der Obdachlosentheatertruppe, und die würde unsere Finanzmöglichkeiten und unsere Kräfte womöglich übersteigen. Doch wenn wir uns mit dem Wahnsinn zufrieden geben, den wir schon kennen, dann stehen uns noch immer genügend unerforschte Gebiete auf der großen Landkarte der Methoden des sozialen Lernens offen.
Ich kann an dieser Stelle nur betonen, daß wir als Team, aber auch als TeilnehmerInnen an Kreativprojekten, eine gemeinsame Geschichte haben. Es mag mir verziehen werden, daß ich mich, anläßlich dieses literarischen Ergusses, bei meinen TeamkollegInnen im besonderen bedanken möchte. Ohne Euren Einsatz während der letzten eineinhalb Jahre, wäre PRO-95 ein Hirngespinst geblieben. Straight und verläßlich - auch ich hätte dieses "Monstrum" an Organisation nicht ohne Euch in Angriff genommen.
Abschließend bedanke ich mich auch bei unseren TeilnehmerInnen, die PRO-95 erst zu dem gemacht haben, was es war - die eine leere Hülle an Organisation mit Leben ausgefüllt haben. Auch ich finde es schade, daß "So ein Theater" eine Eintagsfliege gewesen sein soll, und stehe jederzeit zu weiteren "Aufgüssen" zur Verfügung ...
Walküre und Freundin - Sabine Schweizer
Welche Rolle hattest du? Tontechnik. Ich habe Musikkassetten zusammengeschnitten, verschiedene Hintergrundmusik gemacht. Für die Waldszene, Marktszene...für alle Szenen eigentlich.
Hat es dich nicht gereizt, selber auf die Bühne zu gehen? Nein. Früher ja, aber jetzt nicht mehr. Ich bin schon mit dem Entschluß hinausgefahren, nicht zu spielen, ich wollte nur Ton machen. Ich hätte nichts anderes gemacht. Vielleicht basteln...
Hat es Krisen gegeben? Krisen hat es auch gegeben. Kleinigkeiten. Aber nicht so, daß irgendwer auf irgendjemanden wirklich böse war. Aber es hat sehr wohl Auseinandersetzungen und Diskussionen gegeben. Manchmal auch ein bißchen "heißer". Zum Beispiel wie ich meinen Raum in Anspruch nehmen wollte, den ganzen Raum - am Anfang, wie ich aufgebaut habe. Und auf einmal kommt der Franz rein und pickt den Boden für die Probebühne ab, und ich frage ihn: was machst du da? Und er: da proben wir, die Musik kannst du nicht so laut spielen. Du mußt dich schon nach den anderen richten. Wo ich geglaubt habe, der Raum gehört von Haus aus mir, das ist meiner, und da habe ich meine Ruhe, und da kann ich machen, was ich will. Dann hat es geheißen, da drinnen werden auch die Proben gemacht. Da bin ich ein bißchen heißgelaufen. Ich glaube, der Franz hat es mir angemerkt. Ich habe mir gedacht, jetzt hast' erst wieder keine Ruhe, weil mir jeder reinpfuscht: Was wird denn das, und warum machst denn das so...Weil so war mein Vater. Wenn ich arbeite, bin ich gerne mit mir alleine.
Wie hat sich das Problem gelöst? Indem ich mit Kopfhörer gearbeitet habe. Damit die anderen nichts hören. Damit sie sich in ihrem Proben nicht gestört fühlen...
Du warst ja bei allen Proben dabei. Wie hast du die schauspielerischen Leistungen gefunden? Einiges recht gut, und dann hat es einiges gegeben, wo ich mir gedacht habe, das kann eigentlich nichts werden, wo ich innerlich enttäuscht war, wo ich mir gedacht habe, es wird wieder ein Käse, obwohl wir 9 Tage Zeit haben. Vom gleichen Thema und vom Aufbau her immer dasselbe...daß wir wieder aus Fetzen was machen. Bis zum Schluß war ich dieser Meinung. Und dann ist doch etwas Professionelles herausgekommen. Am Ende war ich dann irrsinnig überrascht. Da war ich innerlich befriedigt. - Wenn man bei den Proben dabei war, hätte ich mir nie gedacht, daß soetwas dabei herauskommt. Es war ein Stück Arbeit. Und es hat sich gelohnt.
In der Woche ist ja relativ viel an Kommunikation passiert. Meistens so "nebenbei". Was hast du davon mitbekommen? Nicht viel. Weil es mir eigentlich wurscht war.
Warst du nie mit jemanden spazieren? Nein. Wo? Wann? Keine Zeit gehabt! - Auf der Wiesen bin ich gelegen, und da habe ich meistens schon relaxed. Da bin ich gelegen und habe den anderen zugehorcht.
Und mit deinem Zimmerkollegen? Mit dem Wolfgang habe ich schon einiges geplaudert. Über Gott und die Welt sind wir hergezogen. Ein großes Zimmer haben wir auch noch gehabt. Da haben wir schreien müssen. So daß uns die anderen auch noch hören.
Hat es für dich irgendeinen Höhepunkt gegeben an der ganzen Geschichte? Einen Höhepunkt? Ja, die Hexenszene, wie wir die auf Band gehabt haben - mit Musik und Sprache. Das war eigentlich schon ein Höhepunkte. Daß es gleich nach dem dritten Mal geklappt hat.
Glaubst du, daß solche Aktivitäten für Häuser wie die Gfrornergasse - und du kennst die Gfrornergasse ja schon viele Jahre - irgendwie wichtig sind? Ganz sicher, wegen der Kommunikation, dem Kennenlernen, dem Miteinanderarbeiten - weil es irgendwo auch ein Arbeitsprozeß war. Und weil es eine Abwechslung ist, auf alle Fälle.
Würdest du wieder mitmachen? Ja, auf alle Fälle. Wenn ich einen Raum für mich habe...
Wolfgang Hübner
Gespräche, in denen ich mir selbst begegnet bin...
Liebe Sarah!
Nicht ohne Stolz und doch auch mit etwas Wehmut möchte ich die vergangene Zeit ein wenig an mir (uns) vorüberziehen lassen. Nicht daß ich nicht mehr weiß, daß du dabei warst - fast möchte ich sagen: ein Kind der ersten Stunde! Nein, einfach so noch einmal in Erinnerungen verschiedenster Art schwelgen.
Nicht lange verweilen mag ich bei den Monaten der Vorbereitung. Bei den Benefizkonzerten, bei den Predigten unseres Gurus (Wetsch-Guru!), bei diesem endlos scheinenden Diskussionen um des Kaisers Bart. Obschon diese Aktionen nicht nur die Existenzgrundlage für dieses Projekt darstellten, sondern jede für sich auch die eine oder andere Erinnerung in mir wachruft. Laß meine Gedanken hinwegfliegen über diese hundert Eindrücke und über die tausend gesprochenen Worte, deren letztendlicher Sinn uns teilweise für immer verborgen bleiben wird. Laß mich kein Wort über Ängste verlieren, denn es war von Anfang an irgendwie klar, daß es klappen würde. Es war nur eine Frage des Wie.
Laß meine Gedanken verweilen beim ersten Abendessen im Stift Zwettl, diesem ihm eigenen Geruch, den ich immer noch zu riechen wähne. Diesem nach-und-nach- Eintreffen aller Beteiligten, der bekannten und unbekannten Gesichter, Gesichtern, mit denen ich in diesen Momenten noch nichts anzufangen vermochte, Gesichtern, die Erinnerungen in mir wachriefen, Gesichtern, die nie ankamen. Noch einmal erlebe ich unser Kennenlernspiel und freue mich auf den nächsten Tag, wo alles beginnen soll.
Immer noch ängstlich, erinnere ich mich an den ersten Arbeitskreis, in dem die Frage aufgeworfen wurde: Was soll es werden? Nicht der Arbeitskreis machte mir angst. Nein, vielmehr die Angst, daß man/frau sich für etwas Tragendes, Humorloses entscheiden würde. Schon in diesem Stadium keimte in mir der Wunsch, ein Lied zu schreiben. Meine Sorge kippte in Freude um, als alle befanden, daß Musik und Humor wichtige Zutaten des Stückes sein sollten. Und schon ging es an die Geschichte. Kreativität gewann die Oberhand, und schon am Wochenende war die Geschichte soweit gediehen, daß wir uns sonntags etwas Ruhe gönnen konnten.
Dies gab mir die Möglichkeit, mit Musik im Ohr durch die Zwettler Wälder zu laufen, meinen Gedanken nachzuhängen, Vergangenes und Zukünftiges in meinem Gehirn verschmelzen und ein Heute daraus entstehen zu lassen.
Die Woche begann dann auf verschiedenste Arten. Probend, malend, einkaufend, textend, Spannungen aufbauend und dergleichen mehr. Es fällt mir schwer, die Tage im chronologischen Ablauf zu schildern, weil sie trotz ihrer ständigen Neuheit immer wieder gleich waren und es nicht nur mühsam und langatmig, sondern für den geneigten Leser auch eher langweilig wäre, hier einzelne Erlebnisse aus dem Verbund des Ganzen zu reißen und in ihrer Schutzlosigkeit breitzutreten.
Rückblickend betrachtet - als Gesamtheit - bestanden die Tage aus Proben, neuen Ideen, großteils lachenden Gesichtern, nicht in den Brunnen geschmissenen Kindern, immer wieder eingestreuten Freizeiterlebnissen, am Ende der Woche durch von Erschöpfung gekennzeichneten Menschen ergänzt, immer kürzer werdenden Nächten, von Fledermäusen durchzogenen Besprechungen.
Wenn ich jetzt mich und meine eigenen innersten Empfindungen hier so zum Ausdruck bringen darf oder soll, so muß ich gestehen, daß ich auch jetzt, wo alles vorbei ist, noch nicht weiß, ob es gut oder schlecht war.
Die Erfahrung. Das Erlebnis. Die Begegnung. Es gab nicht wenige Gespräche, in denen ich mir selbst begegnet bin, Gespräche, die ich nachträglich gerne ungesprochen machen würde - und Gespräche, die wieder nicht geführt worden sind.
Laß mich nun, bevor ich schließe, noch kurz bei der Aufführung verweilen. Eine Woche nach Zwettl. Vieles überwunden, noch mehr schon vergessen. Es war ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Ein Hinauswachsen über sich selbst. Und du kannst sagen, was du willst: So bringen wir es nie wieder.
Laß mich zum Schluß noch verweilen bei meinem Dank an alle, bei meinen Dank für das, was ihr mir gabt. Auch wenn's nicht immer nur ein Lachen war: auch die Traurigkeit ist Teil von uns. So dank ich euch allen für alles in der Hoffnung, daß der Brunnen mir das nicht gebrachte Opfer verzeiht.
Mit lieben Grüßen
Wolfgang Kieberger
Vilém Flusser
WOHNUNG BEZIEHEN IN DER HEIMATLOSIGKEIT
(Heimat und Geheimnis - Wohnung und Gewohnheit)
Gegen meine Gewohnheit und vom Thema »Heimat und Heimatlosigkeit« gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west- und osteuropäischen, afrikanischen, ostasiatischen und indianischen Kulturemen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern. Das äußert sich täglich in meiner Arbeit. In bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen.
Erschwerend und anfeuernd kommt hinzu, daß ich mich für die Phänomene der zwischenmenschlichen Kommunikation, also für die Lücken zwischen Standorten und für die diese Lücken überspannenden Brücken interessiere. Wahrscheinlich ist dieses Interesse auf mein eigenes Schweben über den Standorten zurückzuführen. Dies zwingt mich und erlaubt mir, das Transzendieren von Heimaten nicht nur konkret zu erleben und zu bearbeiten, sondern auch theoretisch darüber nachzudenken. Der folgende Beitrag soll dieses konkrete Erleben, tägliche Bearbeiten und theoretische Überlegen des Themas »Heimat und Heimatlosigkeit» dokumentieren.
Zuerst will ich, so scharf wie möglich, zwischen »Heimat« und »Wohnung« unterscheiden, wobei ich mir peinlich bewußt bin, mit der deutschen Sprache spielen zu müssen. Das deutsche Wort »Heimat» findet, unter den mir geläufigen Sprachen, nur im tschechischen Wort »domov« ein Äquivalent, und dies wohl dank des Drucks, den das Deutsche auf das Tschechische jahrhundertelang ausgeübt hat. Vielleicht ist der Begriff »Heimat» nur im Deutschen heimisch - der Begriff, nicht aber das Erlebnis? Doch sogar bei dem Erlebnis habe ich meine Bedenken. Erlebt der provenzalische Bauer in Robion seine geschichtliche, weil vielgeschichtete Heimat (an deren Struktur spätpaleolithische, neolithische, ligurische, griechische, römische, visigotische, burgundische, arabische, fränkische, provenzalische, italienische und französische Ahnen mitgebaut haben) im gleichen Sinn, in welchem etwa der brasilianische wandernde Landarbeiter seine »terra» oder der israelische Kibbutznik sein »Eretz Israel« erleben?
Während der weitaus größten Zeitspanne seines Daseins ist der Mensch ein zwar wohnendes, aber nicht ein beheimatetes Wesen gewesen. Jetzt, da sich die Anzeichen häufen, daß wir dabei sind, die zehntausend Jahre des seßhaften Neolithikums hinter uns zu lassen, ist die Überlegung, wie relativ kurz die seßhafte Zeitspanne war, belehrend. Die sogenannten Werte, die wir dabei sind, mit der Seßhaftigkeit aufzugeben, also etwa den Besitz, die Zweitrangigkeit der Frau, die Arbeitsteilung und die Heimat, erweisen sich dann nämlich nicht als ewige Werte, sondern als Funktionen des Ackerbaus und der Viehzucht. Das mühselige Auftauchen aus der Agrikultur und ihren industriellen Atavaren in die noch unkartographierten Gegenden der Nachindustrie und Nachgeschichte (»hinc sunt leones») wird durch derartige Überlegungen leichter. Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder von Kornseminar zu Kornseminar[1] pendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Golfstaaten und die russischen Wissenschaftler in Harvard erscheinen dann nicht als bemitleidenswerte Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen, sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte. Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben. Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekannterweise das Tun aus dem Leiden emportaucht (»Wer nie sein Brot in Tränen aß ...«).
Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert, sondern eine Funktion einer spezifischen Technik, aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim, jenseits seines wachen Bewußtseins. Wenn die Fasern zerreißen oder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut aufbrachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, daß mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen, der angeblich den überall wehenden Geist kennzeichnet. Im London des ersten Kriegsjahres, in diesem für Kontinentale chinesischen England, und unter Vorahnungen des kommenden Entsetzens der Menschlichkeit in den Lagern erlebte ich damals die Freiheit. Das Umschlagen der Frage »frei wovon?« in »frei wozu?«, dieses für die errungene Freiheit charakteristische Umschlagen, hat mich seither in meinen Migrationen wie ein »Basso continuo« begleitet. So sind wir alle, wir aus dem Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchenden Nomaden.
Es sind zumeist geheime Fasern, die den Beheimateten an die Menschen und Dinge der Heimat fesseln. Sie reichen über das Bewußtsein des Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen; ins nicht gut artikulierte, kaum artikulierte und unartikulierte Gedächtnis. Ein prosaisches Beispiel: das tschechische Gericht »svickova« (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort »Heimweh« gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile - jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden.
Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar, zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte. Das deutsche Wort »Heimweh« oder das französische »nostalgie« erfaßt dies weniger gut als das portugiesische »saudade«. Aber, nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage »frei wovon?« in die Frage »frei wozu?«, wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sichselbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, daß jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und daß in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, daß erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden. In meinem Fall: Nach dem Zerhauen eines gordischen Knotens nach dem anderen, des Prager, des Londoner, des Paulistaner, habe ich nicht nur die Gleichwertigkeit (oder auch Gleichunwertigkeit) aller dort angesiedelten Vorurteile erkannt, und vorwegnehmend auch die der in Robion angesiedelten, sondern vor allem auch, daß meine Freiheit zu urteilen, mich zu entscheiden und zu handeln mit jedem Zerhauen zunimmt. Diese Erkenntnis erlaubt, mit sich immer verbessernder Virtuosität die Knoten, einen nach dem anderen, zu zerhauen. Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das ist der Grund, warum mir der Zionismus, trotz aller Sympathie, existentiell nicht zusagt.
Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind sie in dieses Geheimnis gebadet. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, von der Verderblichkeit eines geheimnisvollen Gefesseltseins an Dinge zu sprechen. Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten. Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit.
Ich habe in dieser Hinsicht zwei Erfahrungen, die einander widersprechen. Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug. Alle Menschen, mit denen ich in Sao Paulo geheimnisvoll verbunden war, leben, und ich stehe mit ihnen in Verbindung. Paradoxerweise ist daher das Zerhauen des Prager gordischen Knotens leichter gewesen als das des Paulistaner, wiewohl das Geheimnis, das mich an Prag gebunden hatte, dunkler ist als das im Fall von Sao Paulo. Eine allerdings makabre Erfahrung.
Die geheimnisvollen Fesseln, die mit den Menschen der Heimat verbinden (also etwa Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Feindschaft), zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen. Es sind nämlich die dialogischen Fäden der Verantwortung und des Einstehens für den anderen. Ist etwa die Freiheit des Migranten, dieses über allen Orten schwebenden »Geistes», eine verantwortungslose, solipsistische Freiheit? Hat er etwa seine Freiheit auf Kosten des Mitseins mit anderen errungen? Oder ist verantwortungslose Einsamkeit das Los des Migranten (wie es die romantischen Dichter wahrhaben wollen)? Das oben erwähnte Umschlagen aus der Vertriebenheit in die Freiheit verneint diese Frage. Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich habe sie selbst übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.
Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können.
Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initiationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, häßlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den häßlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog, der entweder in Pogromen oder in Veränderung der Heimat oder in der Befreiung der Beheimateten aus ihren Bindungen mündet. Dafür bietet mein Engagement in Brasilien ein Beispiel.
Ich will zuerst den Begriff »Brasilien« von den ihn verdeckenden eurozentristischen Vorurteilen (etwa »Dritte Welt», »Unterentwicklung« oder »Ausbeutung«) befreien. (Vorurteile, diese vorbewußt gefällten Urteile, sind übrigens in allen Heimaten heimisch.) Die Bevölkerung Brasiliens bestand bis tief ins 19. Jahrhundert aus drei einander überlagernden Schichten. Aus Portugiesen, die zum Teil aus der Heimat geflüchtet waren, zum Teil das Land für Portugal administrierten. Aus Afrikanern, die als Sklaven hingebracht wurden. Und aus Ureinwohnern, die immer weiter ins Hinterland abgeschoben wurden (wobei diese Ureinwohner wieder in eine einst herrschende Oberschicht, die Tupis, und eine beherrschte Unterschicht, die abfällig sogenannten Tupinambas, eingeteilt werden konnten). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft wurde und die Afrikaner begannen, sich arbeitslos in Städten zu häufen, wurden europäische Einwanderer, vor allem zuerst Norditaliener, in die Landwirtschaft (Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr) berufen. Der ersten Einwanderungswelle folgten andere, zum Beispiel die der Polen, der Syrio-Libanesen, der Japaner und immer neuer Portugiesen. Bei meiner Ankunft dort war die letzte dieser Wellen die der Juden, aber inzwischen sind weitere dazugekommen, bis der Einwandererstrom in den sechziger Jahren versiegte. Wichtig ist festzuhalten, daß dieser Strom vor allem den Süden des Landes betraf und den Norden beinahe unberührt ließ, so daß sich das Land in zwei Regionen teilte. Gegenwärtig gibt es eine massenhafte Strömung aus dem Nordosten in den Süden, und die uns aus dem europäischen Fernsehen bekannten Bilder betreffen zum Großteil diese massenhafte Strömung.
Vor der Sklavenbefreiung war zwar ständig von einer brasilianischen Heimat in Poesie und Prosa romantisch die Rede, aber die Wirklichkeit (die berüchtigte »realidade brasileira«) strafte diese Rede Lüge. Es gab die dünne portugiesische Oberschicht, die sich um die Häfen häufte, um die letzten Nachrichten aus den verlorenen Heimaten Lissabon und Paris entgegenzunehmen. Man fühlte sich vertrieben. Die große Masse der Bevölkerung war afrikanisch, hatte aber zu Afrika keine bewußte Beziehung. Die nackt aus den Sklavenschiffen an die brasilianischen Strände geworfenen Menschen trugen nur in ihrer von schwerer Arbeit betäubten Innerlichkeit die verlorenen Kultureme, die dann allerdings in Form von Musik, Tanz und religiösen Riten ausbrachen, um den Boden einer jeden künftigen brasilianischen Heimat zu bilden. Die Ureinwohner, die immer weiter abgeschoben wurden, waren kein echter Teil Brasiliens, sondern nur eine teils mythisch-verherrlichte, teils brutal vergewaltigte Hintergrunderscheinung. Das unterscheidet übrigens Brasilien (und Argentinien und Uruguay) vom übrigen Lateinamerika, daß die Ureinwohner dort nur einen ideologisch verbrämten Hintergrund bilden.
Die europäischen, nah- und fernöstlichen Einwanderer begannen seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Frage nach Brasilien als einer Heimat zu stellen. Ist es möglich, aus derart heterogenen Elementen ein Netz von geheimen Bindungen zu weben, wie wir es aus den alten Heimaten kennen? Es gab einen Ansatz zu diesem Weben: die portugiesische Sprache. Sie war, im Vergleich zu der in Portugal gesprochenen, zwar einerseits archaisch (es haben sich darin Renaissance-Elemente erhalten), zum anderen Teil verwildert (afrikanische Elemente waren eingedrungen). Aber gerade dies erlaubte dem Portugiesischen zu einer lingua franca zum Beispiel zwischen arabischen und japanischen Sprechern zu werden. Ist es möglich, eine brasilianische Sprache herzustellen, die fähig ist, eine brasilianische Kultur zu tragen und zu übertragen und somit aus dem Land Brasilien eine Heimat für eine künftige Gesellschaft zu machen? Diese für alle Beteiligten begeisternde Frage bildet, meiner Meinung nach, den Nährboden für alles, was in diesem Jahrhundert dort hergestellt wurde, angefangen mit Brasilia bis zur Bossa nova.
Als ich in Brasilien ankam, wurde ich, sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien, von diesem Taumel mitgerissen. Ich tauchte in die Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter. Und erst der »golpe«, der Staatsstreich der Armee, hat mich ernüchtert. Und zwar nicht, weil ich, wie die europäischen Beobachter, darin eine reaktionäre Intervention, sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat erkannte. Ich will etwas näher auf diese meine Enttäuschung mit der brasilianischen Heimat (und mit allen Heimaten überhaupt) eingehen:
Brasilien war existentiell ein »no man's land», als die Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert begannen. Es war niemandes Heimat. Daher der Schlachtruf der eine Heimat erzwingen wollenden Patrioten: »Este pais tem dono« (Dieses Land hat einen Besitzer). Nicht eine afrikanische, asiatische oder andinische Kolonie war es, wo Kolonisatoren Einheimische beherrschten, sondern, etwa wie die Staaten, ein leeres Land, aus dem die Einheimischen vertrieben wurden. Daher wurden die Einwandernden nicht als häßliche Fremde, sondern vorurteilslos als heimatlose Schicksalsgenossen empfangen. (Aus Zeitmangel kann ich hier nicht auf den Unterschied zwischen Brasilien und den Staaten eingehen.) Diese vorurteilslose Stimmung unterschied sich so stark von der europäischen Stimmung der Heimaten, aus denen die Einwandernden vertrieben worden waren, daß es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren. Außerdem war man in diesem Niemandsland Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte. In meinem Fall: Eine brasilianische Philosophie war, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen, überhaupt erst zu schaffen. So begann man, dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht, wie in der verlorenen Heimat, durch die Geburt aufgelegt waren, sondern frei hergestellt wurden. Und so erkannte ich, was den Patriotismus (sei er lokal oder national) so verheerend macht: daß er aufgelegte menschliche Bindungen heiligt und daher die frei auf sich genommenen hintanstellt; daß er die Familienverwandtschaft über die Wahlverwandtschaft stellt, die echt oder ideologisch biologische über Freundschaft und Liebe. Ein Freiheitstaumel erfaßte mich: Ich war frei, mir meine Nächsten zu wählen.
Dieses Weben eines künftigen geheimen Codes, einer künftigen brasilianischen Heimat, dieses Verwandeln von Abenteuer in Gewohnheit und dieses Heiligen der Gewohnheit blieben begeisternd, solange immer neue Einwanderer~vellen aufgenommen wurden. Das im Weben begriffene Netz blieb offen. Zum Beispiel: Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren. Trotzdem jedoch begann es sich zu institutionalisieren. Die Aufnahme darin wurde immer schwerer. Es begannen sich Vorurteile zu kristallisieren. Das heißt, man begann, mit dem Errichten einer neuen Heimat Erfolg zu haben.
Hinzu kamen in den fünfziger Jahren zwei Erfahrungen, die es in den Griff zu bekommen galt. Die erste ist unter dem Begriff »defasagem« (etwa »Dephasierung«), die zweite unter dem Begriff »populismo» zu fassen. In dem Maß nämlich, in dem sich ein autonomer brasilianischer Kern herauszubilden begann, ging der lebendige Kontakt mit den großen Zentren (vor allem in Amerika) verloren, und ich erkannte, was ich aufgegeben hatte, als ich mich in Brasilien engagierte - nämlich die Freiheit von geographischer Bindung. Es begannen in mir Zweifel zu entstehen, ob in der gegenwärtigen informatischen Revolution nicht jede geographische Verbundenheit reaktionär ist; ob man den Vorteil, keine Heimat zu haben, aufgeben sollte.
Die zweite Erfahrung, die mit dem »populismo«, ist radikaler. Die wirtschaftlich-soziale Schichtung war in den fünfziger Jahren etwa diese: Die große Masse der Bevölkerung lebte halbnomadisch, folgte den Ernten der Monokulturen in Elend, Hunger und Krankheit, und sie war die Herausforderung, aus dieser kulturlosen Menge eine Heimat zu machen. Darüber saß das größtenteils aus Einwanderern bestehende Proletariat der Städte und darüber das Bürgertum, das teils aus Einwanderern, teils aus den Nachkommen der portugiesischen Eroberer aufgebaut war. Das Weben der Heimat war Sache der Bürger. Und die Frage war: An wen haben wir uns zu wenden? An die Arbeiter der Städte, um sie bewußt zu machen? Oder an die passive Masse, um sie dem Gewebe der Gesellschaft einzuverleiben? Beides zugleich war unmöglich. Denn um die Städter zu mobilisieren, mußte man politisieren, und um die Masse anzugehen, mußte man wirtschaftlich handeln und entpolitisieren. Also entweder sich für die Freiheit oder für das Bekämpfen von Hunger und Krankheit engagieren. Es ist sehr schwierig, sich einer so unmöglichen Wahl klar zu stellen. Ich versuchte es, und ich bin daran gescheitert.
Die »populistische« Tendenz, die mit Vargas zur Herrschaft kam und deren letzter Ausläufer der vor seinem Amtsantritt verstorbene Präsident war, glaubte, der unmöglichen Wahl so zu entgehen: Man mußte zuerst die Arbeiter politisch mobilisieren, um nachher die Masse aufsaugen zu können. Dies führte zu faschistoider Demagogie und zu einer Vulgarisation aller kulturellen Unternehmungen. Die zweite Tendenz, die »technokratische», packte das Dilemma an seinen Hörnern. Es gilt zuerst einmal, die Not zu beheben, und um dieses tun zu können, muß man zentral planen. Eine solche Planung setzt Diktatur voraus und das »provisorische» Unterbinden aller sozialen, politischen und kulturellen Störung der Planung. Diese »technokratische« Tendenz ist in der Armee verkörpert - einer aus Bürgern bestehende Gruppe. Nach 1964 wurde mir klar, daß der Sieg der Technokratie über den »populismo» der einzige Weg ist, um endlich aus Brasilien eine Heimat werden zu lassen. Und es wurde mir auch klar, wie diese Heimat aussehen würde: ein gigantischer, fortgeschrittener Apparat, der in Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen keiner europäischen Heimat nachstehen würde. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1972, bis ich mich unter Schmerzen entschloß, mein Engagement an Brasilien aufzugeben und in der Provence, diesem Antibrasilien, zu wohnen.
Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. In meiner brasilianischen Erfahrung: Die Bindungen, die ich dort eingegangen bin, habe ich aufrechtzuerhalten, denn ich bin verantwortlich für meine brasilianischen Mitmenschen, so wie sie verantwortlich für mich sind. Aber ich habe außerhalb von Brasilien andere Bindungen aufzunehmen und in diese neuen Bindungen meine brasilianische Erfahrung einzubauen. Nicht Brasilien ist meine Heimat, sondern »Heimat» sind für mich die Menschen, für die ich Verantwortung trage.
Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den »Nächsten«. Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen.
Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.
Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohnten Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher: die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum. Aber auch das vergangene Jahr, die verlorenen Heimaten, die abenteuerlichen Abgründe der Geschichte und Vorgeschichte, die heranrückende abenteuerliche Zukunft und die unvoraussehbare weite Zukunft. Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinholen und um Ungewöhnliches machen zu können. Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Informationen empfangen und um Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.
Diese Dialektik zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Redundanz und Geräusch ist, laut der Hegelschen Analyse, die Dynamik des unglücklichen Bewußtseins, welches ja das Bewußtsein schlechthin ist. Bewußtsein ist eben jenes Pendeln zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Privatem und Öffentlichem, von dem Hegel sagt, daß ich mich selbst verliere, wenn ich die Welt finde, und daß ich die Welt verliere, wenn ich mich selbst finde. Ohne Wohnung wäre ich unbewußt, und das heißt, daß ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre. Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde; es ist das Primäre.
Aber es gibt nicht nur eine äußere Dialektik zwischen Wohnung und Welt, zwischen Gewohntem und Ungewohntem. Es gibt auch eine der Wohnung, der Gewohnheit selbst innewohnende Dialektik. Indem die Gewohnheit für das Ungewohnte offen steht, indem sie erlaubt, Ungewohntes als Information wahrzunehmen, wird sie selbst nicht wahrgenommen. Ich nehme, wenn ich mich an meinem Schreibtisch setze, die dort herumliegenden Papiere und Bücher nicht wahr, weil ich an sie gewöhnt bin. Was ich dort wahrnehme, sind nur die neu eingetroffenen Bücher und Papiere. Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene. Es gibt diesbezüglich die bekannte Heideggersche Untersuchung der unter dem Bett liegenden Pantoffel. Ich nehme zwar meine Wohnung nicht wahr, aber ich empfinde sie dumpf, und diese dumpfe Empfindung heißt in der Ästhetik Hübschheit. Jede Wohnung ist für ihren Bewohner hübsch, weil er an sie gewöhnt ist. Das zeigt der bekannte ästhetische Zyklus: »häßlich - schön - hübsch häßlich«. Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.
Dieser Exkurs in die Ästhetik war nötig, um das Phänomen der Heimatliebe (und der Vaterlandsliebe) in den Griff zu bekommen. Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche, das etwa in Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen stehen. Patriotismus ist vor allem ein Symptom einer ästhetischen Krankheit.
Die irrtümlich als Schönheit empfundene Hübschheit einer jeden Heimat, diese Verwechslung zwischen Ungewöhnlichem und Gewohntem, zwischen Außerordentlichem und Ordinärem, ist in manchen Heimaten jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Katastrophe. Wenn ich die Provence oder das Allgäu für schön halte, und dies nicht, weil ich diese Gebiete entdeckt habe, sondern weil ich an sie gewöhnt bin, dann bin ich Opfer eines ästhetischen, nicht aber notwendigerweise eines ethischen Irrtums. Halte ich jedoch Sao Paulo für schön, dann begehe ich eine Sünde. Denn die alle Phänomene verdeckende und abrundende Wattedecke der Gewohnheit läßt mich dann das dort herrschende Elend und Unrecht nicht mehr wahrnehmen, sondern nur noch dumpf empfinden. Es wird dann ein Teil der heimatlichen Hübschheit, die ich als Schönheit empfinde. Das ist das Katastrophale an der Gewohnheit.
Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewußtseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen. Aber sie ist auch eine Betäubung, weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird. Verwechselt man Wohnung mit Heimat, Primäres mit Sekundärem, dann zeigt sich dieser innere Widerspruch noch klarer. Denn da der Beheimatete in seine Heimat verstrickt ist, so kann sie nur unter bewußter Anstrengung das Wahrnehmen der Welt dort draußen erlauben.
Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt zwar Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert. Er ist ein in diesem Sinn geheimnisloses Wesen. Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimnis, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.
Die Evidenz, in welcher der Heimatlose lebt, stellt sich für ihn als Problem, nicht als etwas unheimlich Anmutendes dar. Der Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat hat ihn für ein anders geartetes Geheimnis geöffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen. Sein Problem lautet: Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in den von mir mitgeschleppten Geheimnisbrocken schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner im Geheimnis verankerten Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.
(aus: Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Antobiographie. Mit einem Nachwort von Milton Vargas und editorischen Notizen von Edith Flusser und Stefan Bollmann. Düsseldorf, Bensheim: Bollmann Verlag 1992, S. 247 -264. ISBN 3-927901-19-9.)
"Na, du alter Berber"
Beschreibung der Spurensuche zum Begriff "Berber".
Ein Werkstattbericht von Hannes KIEBEL.
Beim Leben und Überleben auf der Straße ereignet sich der Begriff BERBER wie etwas, das in ihm denkt, ohne daß er davon weiß, als ein Mythos, der vor aller Wahrnehmung und allem Denken Besitz ergriffen hat. Und es geschieht das Erlebnis des Sieges der Phantasiewelt über die Realität; dieses Erlebnis hat mich nie mehr losgelassen.
1. Mein Leitmotiv vor Augen, die jahrelange Spurensuche überblickend: es war wohl im Herbst 1970, als ich zum ersten Mal das Wort BERBER hörte. Für das Kreisjugendamt L. im Spessart hatte ich Klaus Sch., "entmündigt", 29 Jahre alt, mehrfach aus sozialen Einrichtungen "entwichen", zum Zwecke der sozialen Rehabilitation in die Arbeiterkolonie Schernau in der Pfalz "verbracht". Bei der Ankunft auf der Kolonie wurde Klaus Sch. von einigen Männern, die ihn als Landstreicher kannten, freundlich begrüßt mit »Na, du alter Berber«. - Ich nahm wahr, daß Landstreicher, die sich kennen, als BERBER gelten. [Literatur- und Fundstellen]
2. Im Sommer 1980 fragten Stuttgarter Kollegen von der "Berber-Initiative" an, ob ich zu der Herkunft des Begriffes BERBER etwas sagen könne. Ich konnte es nicht. Im September 1980 erschien in Stuttgart das Blatt DER BERBER, zu dem Ernst Klee wertete: "Ungelenk und gespickt mit orthographischen Fehlern berichtet die Stadtstreicher-Streitschrift von jenen, die allnächtlich ihr "Biwak" im Freien suchen müssen. Daß niemand gegen das Absacken in den sozialen Untergrund gefeit ist, zeigt eine Todesanzeige für den einzigen Sohn des damaligen Generalbundesanwalts: »Der 26jährige Hans Peter ... lebte in letzter Zeit ebenso wie ihr auf der Straße.« - Von der Streitschrift DER BERBER gab es bis Mai 1981 vier Ausgaben.
3. Mit Blick auf ein neues Selbstwertgefühl veranstaltete die Berber-Initiative am 12. und 13. September 1981 in Stuttgart einen bundesweiten Berber-Kongreß unter dem Schirmsatz »Allein machen sie dich ein, und gemeinsam sind wir unausstehlich«. Im Vorfeld des Berber-Kongresses schrieb der Journalist "hb" (das ist: Heinz Beekmanns) in der Stuttgarter Zeitung den Artikel "Warum Berber?", aus dem ich zitiere:
»Die Brockhaus-Enzyklopädie sagt unter dem Stichwort "Berber" folgendes: Sammelname für die mit den semitischen Arabern in N-Afrika zusammenwohnenden hamitischen Stämme, etwa 6-7 Millionen; sie sind Reste einer in vorgeschichtlicher Zeit aus dem Ostmittelmeerraum eingewanderten Altschicht vorwiegend europid-mediterraner Rasse. - Weiter ist aus dem Brockhaus zu erfahren, daß die Berber vor allem in Marokko und Algerien in größeren geschlossenen Gebieten ihre Kultur und Sprache bewahrt haben. Unter den Berbern gibt es Nomaden, Halbseßhafte und Ackerbauern. Ein stolzes Volk sind die Berber, ein freiheitsliebendes Volk, nicht zuletzt haben sie das beispielsweise im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft in Algerien bewiesen.
Warum nun nennen sich ausgerechnet jene, die wir gemeinhin am Rande unserer Gesellschaft ansiedeln, ebenfalls "Berber"? Die Adaption des Namens ist keine der jüngsten Vergangenheit, sie liegt Jahrzehnte zurück. Zur Geschichte: in den fünfziger Jahren gab es noch zahlreiche Gelegenheitsarbeiter, weil es noch Gelegenheitsarbeiten gab. Auf dem Bau, in der Land- und Forstwirtschaft - Arbeiten, bei denen nach festem Wohnsitz und Steuerkarte oft nicht gefragt wurde. Nichtseßhafte waren das damals, die solche Arbeiten übernahmen; Nichtseßhafte, die nach Tagen oder Wochen weiterzogen: Leute, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten, nicht dem Sozialamt zur Last fielen,. dies bewußt nicht wollten. Diese Leute nannten sich "Berber".
Ein Sprung in die Mitte der sechziger Jahre: wirtschaftliche Rezession, die Arbeitsplätze werden knapper. Die Gelegenheitsarbeiter aus den fünfziger Jahren werden von der Sozialhilfe "aufgefangen". Aber so mancher will diese Hilfe nicht, schläft auch lieber im Freien, als in staatlichen Notunterkünften "verwaltet" zu werden. Der Gedanke der Selbsthilfe gewinnt vor allem in jüngster Zeit an Bedeutung, findet Anhänger unter den Betroffenen. "Da baut sich ein neues Selbstbewußtsein auf", erklären Kenner der Szene; ein Selbstbewußtsein, das auf staatliche Unterstützung weitgehend verzichten will, das für den Weg zur Selbsthilfe allenfalls Starthilfe will. "Berber" - eine Bewegung innerhalb der Nichtseßhaften-Szene, nicht mehr. Und: Nicht jeder Nichtseßhafte ist ein "Berber".«
Soufflierend konnte ich die Auffassung von Heinz Beekmanns unterstützen: es war eine Kost für alle, für alle verständlich. [Literatur- und Fundstellen]
4. Die Deutsche Presse-Agentur in Hamburg erwähnte 1984 in einem dpa-Hintergrundbericht zu »Die Situation der Nichtseßhaften in der Bundesrepublik« unter anderem "Landstreicher - Penner - Berber": »Medien und Bevölkerung verwenden unterschiedliche Ausdrücke für Nichtseßhafte. Neben dieser offiziellen Bezeichnung taucht häufig der undifferenzierte Ausdruck Obdachlose auf. Gängige Begriffe sind Land-/ Stadtstreicher und Tippelbruder, darüber hinaus Penner, seltener Berber. Letzterer ist ein Begriff, der von Betroffenen selbst mit einem gewissen Stolz gebraucht wird. ... Der Berber, abgeleitet wohl von den nordafrikanischen Nomaden, versteht sich noch am ehesten aus der Tradition der "Monarchen", unabhängige Selbstversorger, die sich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten und auf soziale Hilfestellungen verzichteten.« [Literatur- und Fundstellen]
5. Zur Ausstellung "Wohnsitz: Nirgendwo" war 1982 ein umfangreicher und fachkundiger Katalog erschienen, in dem auch ein Teil des Lebensberichts von Harry Domela abgedruckt ist. - 1985 konnte ich das Buch von Harry Domela "Der falsche Prinz", erschienen 1927 im Berliner Malik-Verlag, in einem Antiquariat erwerben.
Harry Domela schrieb seine Lebensgeschichte 1927 in Köln, in der Untersuchungshaft; einige Monate später veröffentlichte der Berliner Malik-Verlag die spektakulären Abenteuer des baltischen Landstreichers, der für einen der größten Skandale der Weimarer Republik sorgte. - Harry Domela, geboren 1904, Sohn eines Müllers und Landwirts aus Grusche/ Lettland, wird durch den ersten Weltkrieg aus einem deutsch-baltischen Elternhaus herausgerissen und in ein Kinderasyl gesteckt; er kämpft als Vierzehnjähriger 1918 für die baltischen Barone gegen die Letten, wird dafür aus seiner Heimat ausgewiesen und zieht als ungelernter Saisonarbeiter fast zwölf Jahre durch mehrere Städte Deutschlands. Alle Versuche, durch Arbeit zu einem gewissen Wohlleben zu kommen, scheitern, da er staatenlos und ohne Paß ist. So werden die Straße, das Obdachlosenasyl und das Gefängnis sein eigentliches Zuhause, Hunger, Kälte und Einsamkeit seine ständigen Begleiter. In dieser ausweglosen Situation wagt er das ganz große Spiel: er erhebt sich in den Adelsstand. 1926 wird aus dem arbeitslosen Stadtstreicher Harry Domela ein "Prinz von Preußen", Sohn des ehemaligen Kronprinzen. Mit dem Fatalismus des Spielers nimmt Harry Domela die "neue Rolle" an und präsentiert sich an vielen Orten "seinem Volke". Die große Welt fühlt sich geschmeichelt, vor einem Preußenprinzen dienern zu dürfen.
In der Tat, eine spannende, hintersinnige Geschichte, die Harry Domela in der Gefängnishaft wegen Hochstapelei in Köln aufgeschrieben hat. Nach dem Lesen des Buches begann für mich eine Zeit der bewahrenden, nicht besserwisserisch liquidierenden Entmystifizierung des Mythos "BERBER" -, ja, so läßt sich meine weitere Spurensuche umschreiben.
Anfang der 1920er Jahre lief Harry Domela in den Straßen Berlins umher, müde und zerschlagen, ohne Arbeit, ohne Obdach. Er kommt in das Gerichtsgefängnis Charlottenburg, in eine Zelle zu zwei anderen Gefangenen, die ihm erklärten, Kietz sei die Umgebung irgendeines Bahnhofes oder eines bestimmten Lokales. Zoo-Diele sei der Wartesaal vierter Klasse im Bahnhof Zoologischer Garten. - Nach der Entlassung ist seine Situation: »Ein Tag glich dem andern. Betteln, vagabundieren, essen, schlafen unter den primitivsten Verhältnissen, mitten im Trubel der Großstadt. Der Kietz war meine Welt. Ich spürte, wie allmählich diese Umgebung Macht über mich gewann. Ich begann mich treiben zu lassen, versank in die hoffnungslose, ungeistige, formlose Welt des Lumpenproletariats moderner Großstädte.« Und er leidet unsäglich: »Heute plagte mich wiederum maßloser Hunger. Tags zuvor hatte ich in einer Hotelküche zuletzt Essen erhalten; ein anderer "Berber" (Kietzgenossse) hatte mich darauf hingewiesen.«
Harry Domela erwähnt den Begriff BERBER noch an zwei weiteren Stellen. BERBER steht für Genosse in einem Kietz: der Genosse ist ohne Obdach, ohne Arbeit und schlägt sich bettelnd und vagabundierend, oft solidarisch unterstützt von anderen Kietz-Genossen, durch endlose Tage wie Nächte. [Literatur- und Fundstellen]
6. Meine Anfrage bei der Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion in Mannheim führte zum "Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache in 8 Bänden" von Heinz Küpper. Im Band 1 von 1982 steht:
»Berber = m 1. alter Mann. Eigentlich Stammesangehöriger der nichtsemitischen Urbevölkerung West-Nordafrikas; Berber sind vielfach Bartträger, und ihre Gesichter sind von Sonne und Witterung stark zerfurcht. Halbw. 1955ff. - 2. Nichtseßhafter. Hergenommen vom Nomadenleben der Berberstämme. 1976ff. - 3. gewalttätiger Angehöriger der gesellschaftlichen Unterwelt; Schläger, der einen Fußgänger in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt und ihn von Taschendieben ausrauben läßt. siehe berbern, 1960ff. - 4. zeitarmer Berber = Mensch, der eine Verabredung nicht einhält. Jug. 1955ff.
berbern - müßiggehen; Untätigkeit bevorzugen. Beruht wahrscheinlich auf einem doppelten Mißverständnis: Die Berber halten aus klimabedingten Gründen eine lange Mittagsruhe. Nach deutschem Selbstverständnis ist Untätigkeit am hellichten Tag gleichbedeutend mit Arbeitsscheu, und diese wird als "asozial" = kriminell empfunden. (siehe Berber 3.). Das paßt wiederum zum kriegerischen Erscheinungsbild der Berberstämme (erwachsen aus der Selbstbehauptung gegen arabische Vorherrschaft seit dem 7. Jh.). 1960ff.« [Literatur- und Fundstellen]
Bereits 1970 gab es im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Band VI, von Heinz Küpper neben "Berber" auch "berbern" im Sinne müßiggehen, "gammeln" mit Hinweis auf
7. Hubert Fichte: Die Palette. Roman 1968. An zwei Stellen äußert sich Hubert Fichte zu "berbern" im Sinne von "gammeln" und an neun Stellen zu "Berber". Als charakteristische Stelle führe ich an: »Immer mehr kommen und holen sich ihre Armenprelu. Der Blume von Saaron Geld reichte nicht aus, um jedem Rentner mit zwanzig Mark für einen Berber vom Hauptbahnhof auszuhelfen. Zum Schlafen kämen immer mehr.« - Ort der Handlungen ist Hamburg; die Palette ist eine Szenen-Kneipe. [Literatur- und Fundstellen ]
8. Bei einem meiner Antiquariatsbesuche stieß ich 1987 auf die Flugschrift von dem Jesuiten Bernhard Duhr: Großstadt-Elend und Rettung der Elendesten, von 1920. Überwiegend ist in der Schrift die Rede von der Heilsarmee in London; in einem einleitenden Kapitel zu Großstadt-Elend lese ich: »Da sind die vielen Tausende von vagierenden Knaben und Burschen, die Hunger, Not oder Leichtsinn in die Stadt getrieben und die nun wie in Berlin als "Päckeljungen" oder "Berber" die Bahnhöfe unsicher machen. Heimlos irren sie umher, aller Verführung preisgegeben, zu allen Verbrechen angelockt.« In einer Fußnote wies Bernhard Duhr auf Veröffentlichungen des Jesuiten Constantin Noppel hin, den ich von meinem Studium her als einen Mit-Macher bei Grundlagen zum "Reichsjugendwohlfahrtsgesetz" von 1924 erinnerte. [Literatur- und Fundstellen]
9. Constantin Noppel (1883-1945) hatte bereits 1914 die Leitung der katholischen Fürsorgearbeit für gefährdete und straffällige Jugendliche in Berlin übernommen (Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe); er verantwortete ein katholisches Jugendschutzheim für erziehungsschwierige schulentlassene männliche Jugendliche und für "allein-erziehende Mütter". Die Not der Jugend und die Verpflichtung der Caritas, sie zu mindern - das war es, was Constantin Noppel in den Bann zog, wovon er sich persönlich gefordert spürte. - Im September 1919 veröffentlichte Constantin Noppel einen Fachaufsatz mit dem Titel "Berliner Berber", aus dem ich zitiere: »Was sind Berber, Berliner Berber? Bekannt ist das Wort Päckeljungen für die Knaben und Burschen, die sich zumal in der Kriegszeit an den Bahnhöfen unsrer Großstädte herumtrieben. Von den Jungen selbst habe ich aber in Berlin diese Bezeichnung nie gehört. Wenn sie sich nach ihrem Bahnhofhandwerk benennen wollten, dann sprachen sie von "Berbern". Das klingt für einen sechzehn- bis siebzehnjährigen Jungen auch viel besser als Päckeljunge.«
Nach dem Waffenstillstand des ersten Weltkriegs »setzte in Berlin eine ziemlich scharfe Kontrolle der Bahnhöfe, Absteigequartiere, sog. Pennen usw. ein. Namentlich die republikanische Sicherheitswehr auf den Bahnhöfen griff sehr schnell zu. Für die Ortsfremden und Wohnungslosen bedeutete dies gewöhnlich eine längere Schutzhaft, wobei in dem Trubel, der zeitweise auf dem Polizeipräsidium herrschte, wohl auch der und jener mal etliche Zeit vergessen wurde.« Tatkräftige Ideen der Hilfe, Schaffung eines Heims bei freiwilliger Aufnahme, Arbeitsbeschaffung für die "Berber" unter dem Grundsatz "Ein arbeitsfähiger Junge darf kein Almosen empfangen" kennzeichnen die Arbeit von Pater Noppel, der auch fordert »daß wir an unsrer Jugend selbst unter so schwierigen Verhältnissen wie jene unsrer Berber nicht verzweifeln dürfen.«
Mit Hilfe von Hans-Josef Wollasch in Freiburg i. Br., der 1983 zum 100. Geburtstag von P. Constantin Noppel die Schrift "Ein Kaufmannssohn aus Radolfzell als Pionier für Jugendpflege und Seelsorge" vorlegte, konnte ich im Juli 1992 das Archiv der Oberdeutschen Provinz der Jesuiten in München aufsuchen. In den Faszikeln "Ortsfremde Jugend" und "Berlin" konnte ich tiefe Eindrücke über das Wirken von Constantin Noppel in Berlin gewinnen; zum Begriff BERBER gab es keine neuen Erkenntnisse. [Literatur- und Fundstellen ]
10. Bei weiterer Spurensuche in Fachzeitschriften/-büchern las ich eine Fülle zu "Krieg und Jugendverwahrlosung/ Kriminalität". Die BERBER blieben mir verborgen. - Die Spur der Gepäckjungen habe ich gesichert durch den Aufsatz "Aufgaben und Organisation des Straßendienstes" des Arbeiter-Samariter-Bundes aus dem Jahre 1926: »Die geschichtliche Entwicklung des Straßendienstes liegt noch nicht weit zurück. Sein Vorläufer ist die Kinderschutzkommission der SPD gewesen, die versuchte, die Zeitungs- und Milchkinder zu erfassen. Dann begann man vor etwa 8 Jahren damit, die Gepäckjungen auf den Bahnhöfen fürsorgerisch zu bearbeiten und wurde in der Folge sehr bald auf die Bettelkinder aufmerksam.« Der Straßendienst hatte die Aufgabe, «der Gefährdung vorzubeugen, dort den jungen Menschen nachzugehen, wo das Elternhaus versagt, ihn auf seinen unsicheren Wegen zu beobachten und zu gegebener Zeit dazwischen zutreten.« [Literatur- und Fundstellen]
11. Der Geheime Ober-Justizrath W. Starke sprach im November 1880 über "Jugendliche Verbrecher in der Stadt Berlin" und erwähnte auch Londoner Verhältnisse: »Ragged schools - Schulen der Zerlumpten, so hießen Anfangs die Pflegestätten und Schulen für die von der Straße aufgelesenen Kinder der Armuth, denen man im Hinblick auf ihre Heimathlosigkeit im Volksmunde den Namen "Straßenaraber" oder "Straßenbeduinen" gegeben hatte.« - Ja, das war eine Spur in die richtige Richtung, meinte ich und recherchierte zu London. [Literatur- und Fundstellen]
12. Der Waisenhausdirektor Dr. Banardo wirbt in London seit Anfang der 1870er Jahre mit Portraitaufnahmen von seinen Zöglingen um karitative Spenden. »In den Photographien wird der verwahrloste Zustand bei der Neuaufnahme der anschließenden geregelten Lehrlingsausbildung in einer mustergültig ausgestatteten Heimwerkstatt gegenübergestellt.« - Im Stil sind die Bildreklamen für das Waisenhaus von Dr. Banardo den Genrephotographien von Otto Reyländer nachempfunden; besonders die Photographie "A Little Street Arab" überschwemmte den damaligen Zeitungsmarkt. [Literatur- und Fundstellen]
Ein weiteres, ansprechendes Bild fand ich bei Immanuel Friz, der das Leben und Wirken von Dr. Banardo würdigte: "Im ganzen aber läßt sich nachweisen, daß die in der Provinz gescheiterten Existenzen doch mit Sicherheit früher oder später nach London kommen: nach Monaten oder Jahren heimatlosen Wanderns erreichen diese kleinen Nomaden aus der Wüste der Verlassenheit schließlich die Hauptstadt; sie ist der Strudel, der langsam aber sicher die Schiffbrüchigen an sich zieht."
Nachdenklich halte ich inne: Straßenaraber, kleine Beduinen, verelendete Mädchen und Jungen als Nomaden aus der Wüste -, gibt es hier eine Gedanken-Brücke zu den "Berbern" in Berlin, von denen Constantin Noppel und Harry Domela berichten? [Literatur- und Fundstellen]
13. Zeitgleich zu einigen Spuren, die ich bereits schilderte, waren:
Anne Bohnenkamp und Frank Möbus hatten Ende der 1980er Jahre das Buch "Mit Gunst und Verlaub! Wandernde Handwerker: Tradition und Alternative" herausgegeben und in einem Glossar der Walzsprache "Berber: echter Landstreicher, der die Städte meidet" und "Landstreicher: Berber" erwähnt. Frank Möbus teilte mir 1991 mit, daß seine allerdings subjektive Vermutung ist, »daß dieses Wort nicht sehr alt ist. Zumindest denkbar ist aber, daß "Berber" ein Derivat des bei Georg Henisch: teutsche sprach vnd weißheit, thesaurus linguae et sapientiae germanicae, Augsburg 1616, S. 282, nachgewiesenen Verbes "berbelen" für plappern, unverständliche reden ist. Verlockend möglich, aber nicht überzeugend.«
Der frühere Landstreicher, mein lieber Freund Josef Marr aus Wallenhorst, machte mich im April 1992 in Osnabrück mit Dieter Keppel, geboren 1940, bekannt. Die Berberzeit von Dieter Keppel war vom 18. August 1955 bis zum 15. Januar 1985: er erinnere sich, daß er die Begrüßung »Na oder wie du alter Berber« oder »wie du alter Berber, lebst du auch noch« zuerst im Herbst 1969 in Mannheim und dann Heiligabend 1969 in Weilburg/ Lahn hörte. In der Folgezeit sei das Wort BERBER in seinen Sprachgebrauch übergegangen: Berber war der, der sich ein, zwei Tage in einer Stadt aufgehalten hat und dann weitergezogen ist zum nächsten oder anderen Ort. [Literatur- und Fundstellen]
14. Einigen Menschen hatte ich erzählt, daß ich meine Spurensicherung beenden und einen Werkstattbericht schreiben will. Ich überlegte, ob ich bei meinen über Jahre andauernden Erkundungen nicht voreilig bestimmten Perspektiven den Rücken gekehrt habe. Vollzieht man eine Wende, dann hat man das, was gerade noch vor Augen lag, im Rücken und sieht es nicht mehr. Mein einschlägiges Manöver bestand darin, daß ich den Begriff BERBER an den Ort zurückbrachte, wo er für mich passiert war: es war eindeutig Berlin. [Literatur- und Fundstellen]
15. Ich hatte noch eine Hand frei und wandte mich der Universitätsbibliothek Bochum zu. Mit Sinn für die Vielschichtigkeit des Themas schweifte mein Blick nochmals in einschlägige Fachzeitschriften. Nichts. Wie hinaus aus der Bredouille? Da die Geschichte viele Töne bereithält, - nun, ich fand einen Schlüssel zum Verständnis im Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch, I. Band, von 1976: Berber ist die Bezeichnung für ein starkgebautes Arbeitspferd und kommt vor in Gransee (Altglobsow), Eberswalde (Klein Zietken) und Fürstenwalde (Erkner). Im übertragenen Sinne wird Berber gebraucht für "großer, derbgebauter Bursche", vor allem in Templin (Metzelthin). Ein weiterer Hinweis galt "Baks", ein Wort für "großer Bursche"; auch synonym für Lümmel, Backochse, Bambuse und Berber in der Bedeutung "grober, derber Bursche". -
Eine große Zufriedenheit stellte sich bei mir ein: in der Brandenburg-Berlinischen Raumschaft steht BERBER für »großer Bursche, der arbeiten kann wie ein Pferd«. Eine einfache Lösung, da mir andere Texte durchweg ein bißchen problematisch im interpretatorischen Überschuß erschienen waren. [Literatur- und Fundstellen]
16. Aber, da war noch ein Merkzettel zu einer Hörfunksendung des DeutschlandRadios Berlin von März 1994 zu "Schlafsack oder Fürstenbett. Berber und Millionäre in Baden-Baden" von Monika Köhn, in der Norbert feststellte (O-Ton): »Wie nennt man das jetzt - Berber? Oder? Dann bin ich ein Berber! (lacht) Ja, hoffentlich laufen nicht so viele Leute über mich drüber! (lacht)« Mag es so sein, ich beende meine Spurensuche und bilanziere: [Literatur- und Fundstellen]
17. Die BERBER selbst, so vermute ich, mögen das Theoretisieren nicht, das unnötige Erschweren der Sache durch abstrakte Begriffe. Die Wechselfälle der Geschichte, des Lebens haben sie nicht wehleidig, sondern überlebensklug gemacht. So gesehen beinhaltet der Begriff BERBER manche Ansichten, Überzeugungen, Erfahrungen und gilt als Schatz und Stolz, die wohlerworben sind, durch traurige und fröhliche Erlebnisse wieder und wieder bestätigt: Bastion in wilden Zeiten, innere Heimat. Er bietet alles, auch das Unvereinbare: grenzenlose Freiheit und engmaschige Sicherheit in einem: unter Umständen sogar den Anschub zu einer kommunikativen Installation.
18. Der geneigten Leserin/ dem geneigten Leser wollte ich mit diesem Werkstattbericht eine Art Wegweiser und Schaufenster für den Begriff BERBER geben. - Heute finden wir diesen Begriff in vielen Zusammenhängen, wie BERBER-Brief, BERBER-Sommer, BERBER-Kongreß, BERBER-Dorf, Berbersee, "Berber willkommen" und Berbertracht. Die Eigenbezeichnung BERBER half kräftig mit, vor allem im Alltagsgebrauch, das verleumderische Wort "nichtseßhaft" wegzutun. [Literatur- und Fundstellen ]
Hannes KIEBEL
Bochum
Literatur- und Fundstellen-Verzeichnis, Anmerkungen
zu 1.
SCHERNAU: vormals Arbeiterkolonie, heute: Alten-, Pflege- und Übergangsheim in Martinshöhe/Pfalz, Bamsterhof. Träger: Pfälzer Arbeiterkolonie-Verein e.V.
DER BERBER (Stuttgart), Nr. 1 - September 1980, Nr. 2 - Dezember 1980, Nr. 3 - Februar 1981, Nr. 4 - Mai 1981.
KLEE, Ernst: Nichtseßhafte. Berber rebellieren. "Gemeinsam sind wir unausstehlich". In: Die Zeit (Hamburg), 26. Juni 1981.
zu 3.
KIEBEL, Hannes: "Allein machen sie dich ein und gemeinsam sind wir unausstehlich...!" Anmerkungen zum Ersten Stuttgarter Berberkongress am 12. und 13. September 1981. In: KüNSTLERHAUS BETHANIEN (Hrsg.): Wohnsitz: Nirgendwo. Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, 427-438.
"hb" (Heinz BEEKMANNS): Warum Berber. In: Stuttgarter Zeitung (Stuttgart) Nr. 110, 14. Mai 1981. (Aus Stuttgart).
Siehe auch: MEHLIS, C.: Die Berberfrage. Mit drei in den Text gedruckten Abbildungen. Sonder-Abdruck aus dem "Archiv für Anthropologie". Braunschweig 1909, Neue Folge, Band VIII, Heft 4 .
zu 4.
DPA-Deutsche Presse-Agentur GmbH (Ha): Die Situation der Nichtseßhaften in der Republik. dpa-Hintergrund. Verantwortlich: Albrecht Nürnberger. Nr. 3109/3.5.1984. Hier: 5 und 6.
zu 5.
DOMELA, Harry: Heute sind wir zu zweit, da wird es nicht so schlimm. Aus: DOMELA: Harry: Der falsche Prinz. Berlin: Malik-Verlag 1927. In: KüNSTLERHAUS BETHANIEN (Hrsg.): Wohnsitz: Nirgendwo. Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, 131-136.
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela. Im Gefängnis zu Köln von ihm selbst aufgeschrieben, Januar bis Juni 1927. Berlin: Malik-Verlag 1927. (Fundstellen: 50, 54, 55, 56, 57, 75, 79). Insgesamt: 6 Auflagen mit 121 Tausend Exemplaren.
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Mit einem Nachwort von Wieland Herzfelde. Königstein/Taunus: Verlag AutorenEdition im Athenäum Verlag 1979. (Fundstellen: wie in der Ausgabe von 1927).
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Berlin/ Weimar: Aufbau Verlag 1983. (Fundstellen: 42, 46, 47, 48, 63, 66).
zu 6.
KüPPER, Heinz: Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache in 8 Bänden. Stuttgart: Ernst Klett 1982. Hier: Band 1, 346.
KüPPER, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Band VI, Jugenddeutsch von A - Z. Hamburg/ Düsseldorf: Claassen Verlag 1970, 72. Literatur-Hinweis zu Berber: alter Mann, Nacht Depesche (Berlin), vom 10. August 1967, und zu berbern: FICHTE, Hubert: Die Palette. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, 48.
zu 7.
FICHTE. Hubert: Die Palette. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1968. (Fundstelle: berbern - 48, 220; Berber - 66, 115/116, 168, 195, 240, 286, 360).
FICHTE, Hubert: Die Palette. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981 (1989). (Fundstellen: berbern - 48, 210; Berber - 64, 111, 161, 161/162, 187, 230, 273, 343).
zu 8.
DUHR, Bernhard S.J.: Großstadt-Elend und Rettung der Elendesten. Freiburg i. Br.: Herder 1920. (Flugschriften der "Stimmen der Zeit", 19. Heft), 4-5.
zu 9.
WOLLASCH, Hans-Josef: Ein Kaufmannssohn aus Radolfzell als Pionier für Jugendpflege und Seelsorge. Zum 100. Geburtstag von P. Constantin Nopppel SJ (1883-1945). In: HEGAU. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee, 28/1983/Heft 40, 7-58.
NOPPEL, Constantin: Berliner Berber. In: JUGENDFüRSORGE. Mitteilungen der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge (Berlin) 14/1919, 51 - 54.
NOPPEL, Constantin: Die Tätigkeit des Jugendhelfers in der Hauptverhandlung. In: ZENTRALBLATT für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung (Berlin) 7/1915, 160-163.
NOPPEL, Constantin: Das caritative Jugendheim. In: ZEITSCHRIFT für kath. caritative Erziehungstätigkeit (Freiburg i.Br.) 7/1918/3-4, 17-28.
NOPPEL, Constantin: Die Not unserer kath. männlichen Jugend, insbesondere der ortsfremden, und die Aufgaben der Caritas. Das caritative Jugendheim. Freiburg i. Br.: Caritasverband für das katholische Deutschland 1918.
NOPPEL, Constantin: Neue Aufgaben der caritativen Erziehung. In: ZEITSCHRIFT für katholische caritative Erziehungstätigkeit (Freiburg i. Br.) 8/1919/Juni, 19-25.
NOPPEL, Constantin: Jugendzeit. Ein Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands. Freiburg i. Br.: Herder 1921 (Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit. Erste Reihe: Kulturfragen, Heft 8).
DITTMER, Margarete: Wandernde Jugendliche. In: BERICHT über die zweite Tagung über Psychopathenfürsorge. Berlin 1921, 39-46.
JORNS, Auguste: Jugendliche Wanderer. In: RATGEBER für Jugendvereinigungen (Berlin) 11/1917, Heft 2/3.
DEHN, Günther: Berliner Jungen. In: Die INNERE MISSION im Evangelischen Deutschland (Berlin-Spandau) 7/1912, 97-104 .
SCHRöDER, Hugo: Wilde jugendliche Wanderer. In: SOZIALE PRAXIS und Archiv für Jugendwohlfahrt (Berlin, Leipzig) 33/1924, Nr. 44, Sp. 934-937; Fortsetzung in Nr. 45, Sp. 957-959; Schluß in Nr. 46, Sp. 979-981.
zu 10.
AUFGABEN UND ORGANISATION DES STRASSENDIENSTES. Nach einem Vortrag des Fürsorgers Thee, Berlin-Friedrichshain. In: Der ARBEITER-SAMARITER (Chemnitz) 17/1926, Heft 3, 42-43.
Über die ungünstige Einwirkung des Krieges und seiner Folgeerscheinungen vgl.:
HELLWIG: Krieg und Kriminalität der Jugendlichen. Halle 1916.
WITTIG: Die ethisch minderwertigen Jugendlichen und der Krieg. Langensalza 1918.
GOLIAS: Krieg und Jugendverwahrlosung. Leipzig 1919.
MOSES: Zum Problem der sozialen Familienverwahrlosung unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Kriege. Langensalza 1920.
WITTIA: Der Einfluß des Krieges und die Kriminalität der Jugend lichen. Langensalza 1920.
HELLWIG: Die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung in Preußen und im Reich nach den am 1. Juni 1922 geltenden Bestimmungen. Berlin 1922.
zu 11.
STARKE, W.: Jugendliche Verbrecher in der Stadt Berlin. Vortrag. Berlin: Julius Sittenfeld 1880, 17.
zu 12.
SCHMANDT, Peter: Armenhaus und Obdachlosenasyl in der englischen Graphik und Malerei (1830-1880). Marburg: Jonas Verlag 1991, 113-115.
FRIZ, Immanuel: Dr. Barnardo der Vater der "Niemandskinder". Ein Bild seines Lebens und Wirkens. Überarbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ida Frohnmeyer. Basel: Verlag Friedrich Reinhardt 1949, 63.
zu 13.
BOHNENKAMP, Anne/ MöBUS, Frank (Hrsg.): Mit Gunst und Verlaub! Wandernde Handwerker: Tradition und Alternative. Göttingen: Wallstein Verlag 1989, 192, 201.
Schreiben Frank MöBUS, Göttingen, an Hannes Kiebel am 11. Februar 1991.
Notizen zum Gespräch Dieter Paul KEPPEL mit Hannes Kiebel am 20. April 1992 in Osnabrück.
zu 15.
BRANDENBURG-BERLINISCHES WöRTERBUCH. Hg. von Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Sprachwissenschaftliche Kommission. I. Band A - E, bearbeitet von Joachim Donath, Heinz Gebhardt, Gerhard Ising, Annemarie Wiese, Joachim Wiese. Berlin: Akademie-Verlag in Arbeitsgemeinschaft mit Karl-Wachholtz-Verlag, Neumünster 1976, 444 (Baks), 543 (Berber).
zu 16.
KöHN, Monika: Schlafsack oder Fürstenbett. Berber und Millionäre in Baden-Baden. Manuskript. DeutschlandRadio, Künstlerisches Wort, Feature, März 1994, 2.
zu 18.
BERBER-BRIEF: BB-Berber Brief, Redaktion: Hans Klunkelfuß, Mühldorf am Inn. Mehrere Ausgaben ab 1987.
BERBER-SOMMER: KARR, K.P./ WEHNER, Walter: Berbersommer. Kriminalgeschichten aus der Großstadt. Essen: A 4 Verlag 1992.
BERBER-KONGRESS: vgl. zu 2. und 3.; dann: Kongreß der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen vom 19. bis 22. Juni 1991 in Uelzen. - "Die Ossis halten doch nur die Hand auf". 200 Obdach- und Besitzlose trafen sich zum "Berberkongreß" in Uelzen. In: die tageszeitung, 25. Juni 1991. - TRAPPMANN, Klaus: Generalstreik ein Leben lang. Vagabunden, Berber, Obdachlose. Hörfunksendung des Westdeutschen Rundfunks am 13. Oktober 1991 (WDR 3).
BERBER-DORF: Dieses "Dorf" ist eine diakonische Einrichtung mit starken Selbsthilfe/-verwaltungselementen in Esslingen. Eine Information gab der Fernsehfilm von Juliane ENDRES "Ein Dach über dem Leben. Von Bürgern, Berbern und Pastoren" am 6. August 1994 in Südwest 3.
BERBERSEE. "Catwiesel der Landstreicher" (das ist: Hans-Joachim Roßmann) erwähnte am 15. Juli 1994 anläßlich einer Lesung in Berlin den Sander See, wo sich gelegentlich die Berber treffen, "die echten, die alten Füchse der Landstraße". - Vgl. CATWIESEL: Da, wo Träume ihre Freiheit haben!, in: CATWIESEL'S ERZäHLUNGEN. Die Freiheit der Steine. Ahlhorn: Rüdiger Gehrmann, 2. Auflage 1994, 34-35
BERBER WILLKOMMEN. Diese Einladungsworte sind die Überschrift zu einem Beitrag von Amely WEITNAUER in caritas aktuell, Nr. 3/ August 1994, 6-7. Im Beitrage selbst kommt BERBER nicht vor, sondern die Begriffe "Nichtseßhafte" und "Penner".
BERBERTRACHT. Der Bötzinger Abgeordnete Ulrich Brinkmann zog als Berber durchs Land, in Berbertracht und mit Tarnungsbart. "Wenn ein Sozialdemokrat zu Testzwecken Platte macht". In: Badische Zeitung (Freiburg i. Br.) Nr. 191, 19. August 1994, 6; "So schlimm habe ich mir das nicht vorgestellt". SPD-Abgeordneter war zwei Wochen als "Berber" unterwegs. In: Südkurier (Konstanz) Nr. 191, 19. August 1994, 5.
KIEBEL, Hannes: "nichtseßhaft" - ein Begriff wird in Kürze 100 Jahre alt. In: Gefährdetenhilfe (Bielefeld) 35/1993/1, 24-26.