Ulrike Helwerth
Vagabundin des Denkens
Zum 20. Todestag von Hannah Arendt.
Einige Anmerkungen zu ihrer feministischen Rezeption
Werk und Person von Hannah Arendt stehen derzeit hoch im Kurs. Über die politische Theoretikerin, früher oft für altmodisch oder konservativ erachtet, wird geforscht und geschrieben wie noch nie. Kaum ein Kongreß, keine Tagung, wo ihr Name nicht mindestens einmal fällt. Ihre Schriften sind zu einem Steinbruch geworden, aus dem nach Belieben Stücke herausgebrochen werden.
Auch bei Feministinnen ist Hannah Arendt en vogue, obwohl sie sich für die "Frauenfrage" nie besonders interessiert hat. Das rührt zunächst aus der schlichten Tatsache, daß es überhaupt so wenig bedeutsame Vordenkerinnen gibt. Hannah Arendt, Schülerin, Freundin und Geistesgefährtin großer Männer, ist eine der wenigen, denen die Ehre zuteil wurde, in den Kreis der "Klassiker" politischen Denkens aufgenommen zu werden. So war sie die erste Frau, die 1950 an der katholischen University of Notre Dame eine Vorlesung halten durfte. Drei Jahre später gelang ihr das gleiche in Princeton. Dort erhielt sie mit 53 Jahren auch ihre erste ordentliche Professur. Ihren Status als Alibi- oder Ausnahmefrau aber liebte sie überhaupt nicht. Über ihre Situation unter den Princeton-Männern schrieb sie: "Bei der Abschlußfeier und leicht beschwipst erklärte ich den dignified gentlemen, was ein Ausnahmejude ist, um ihnen klarzumachen, daß ich mich nicht notwendigerweise als Ausnahmefrau gefühlt hatte."
Hannah Arendt begriff sich vor allem als Jüdin. "Judesein" war für sie "unbezweifelbare Faktizität" ihres Lebens. Und ihre Erfahrungen mit Verfolgung, Flucht und Exil festigten in ihr das Bewußtsein, "Paria" zu sein - Ausgestoßene, Entrechtete. Nicht nur darin sah sich in einer Linie mit Rahel Varnhagen, der deutschen Jüdin der Romantik, und mit Rosa Luxemburg, ihrer "Heldin der Revolution": Außenseiterinnen, Grenzgängerinnen, mit denen sie sich intellektuell auseinandersetzte und tief verbunden fühlte: Bewußte Paria - Weltbürgerin und Heimatlose zugleich. Ein Selbstbild, das vielen Feministinnen vertraut ist, in dem sie sich wiederfinden.
Hannah Arendts Heimat war das Verstehen. ("Männer möchten immer furchtbar gerne wirken, ich möchte verstehen.") Ihr "leidenschaftliches Denken" aber läßt sich keiner akademischen Schule oder politischen Richtung zuordnen. Es ist voller innerer Widersprüche, Inkonsistenz und Eigensinn. Einmal schrieb sie: "Sie fragen mich, wo ich stehe. Ich stehe nirgendwo. Ich befinde mich mit meinem politischen Denken auf keiner heutigen oder sonstigen gängigen Linie. Nicht etwa, weil ich besonders originell sein möchte - es ergibt sich immer so, daß ich irgendwie nicht hineinpasse."
Allein diese Unangepaßtheit und ihr Anspruch auf "Selbstdenken" machen sie zum Vorbild. Außerdem nimmt sie in ihrer distanzierten Haltung gegenüber der institutionalisierten (männlichen) Wissenschaft spätere feministische Kritik in gewisser Hinsicht vorweg. Hannah Arendt war eine "Vagabundin politischen Denkens" schreibt die österreichische Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky. Gerade dieses geistige Umherschweifen, diese Unbestimmbarkeit, aber macht sie heute attraktiver denn je. Und die Subjektivität, die sie sich in ihrem Denken erlaubte, die Betonung des Narrativen, des "Story-telling".
Hannah Arendt verdanken wir eine hervorragende Analyse totalitärer Herrschaftssysteme, die nach dem Zusammenbruch der bipolaren Nachkriegsordnung wieder große Aktualität besitzt. Mit der überall wachsenden Gewalt und Diskriminierung geht auch ein Rückschlag gegen weibliche Freiheiten einher. Immer wieder hat Hannah auf den Zusammenhang von Machtverlust und zunehmender Gewalt hingewiesen. Macht und Gewalt waren für sie antagonistisch: Wo die eine herrscht, kann die andere nicht existieren. Dabei faßte sie Macht positiv: nicht als Herrschaft über andere, sondern als Vermögen zum politischen Handeln, im Sinne eines dialogischen und konsensualen Miteinanders. Hier liegt ein anderer wichtiger Ansatzpunkt für das große Interesse an ihr. Denn ähnliche Ansprüche erheben auch feministische Theorie und Praxis. Im Mittelpunkt des Arendtschen Handlungsmodells steht der Begriff der Pluralität. So heißt es in der "Vita activa": "Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird." Von Pluralität auszugehen heißt anzuerkennen, daß es viele und unterschiedliche Menschen gibt, heißt, diese Differenzen - in Meinungen und Interessen nicht nur zuzulassen, sondern beim Miteinander-Handeln positiv mitzudenken.
Feministinnen, die vom postmodernen Differenzgedanken umgetrieben werden, finden heute in Hanna Arendt eine "unüberspringbare" Vordenkerin, wie es jüngst die Berliner Philosophin Christina Thürmer-Rohr formulierte. Sie sei eine der "glaubwürdigsten Garantinnen des Differenzgedankens", "unausweichlich" auch bei der Suche nach einem neuen feministischen Selbstverständnis jenseits von "politischem Universalismus" und "totalisierenden Tendenzen". Nun machte Hannah Arendt, wie gesagt, aus ihrer Abneigung gegenüber feministischen Ideen keinen Hehl. (Eine Rezension von Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" lehnte sie zum Beispiel ab, weil sie das Werk schwach, unreflektiert und humorlos fand!) Schließlich war ihr jede Form von Identitätspolitik suspekt. Auch ihre persönliche Entwicklung diskutierte sie nicht gerne im Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau. Auf der einen Seite kokettierte sie mit ihrem "altmodischen" Rollenverständnis, auf der anderen reklamierte sie für sich selbstverständlich eine Freiheit, die das alte Geschlechterrollenkorsett sprengte. Außerdem beharrte sie auf einer strikten Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Das machte sie für die Geschlechterverhältnisse weitgehend blind. Die Frauenfrage hielt sie für eine soziale Frage, und der soziale Bereich war für sie kein Ort für politisches Handeln. (Das Private ist politisch - dieser Leitsatz der neuen Frauenbewegungen hätte sie zutiefst indigniert.) So sehr sie mit den Protestbewegungen der sechziger Jahre in den USA und Europa sympathisierte, so fragwürdig blieb ihr die "Women's Liberation". Auf einer deren Versammlung soll sie gesagt haben: "Die wahre Frage lautet doch: Was werden wir verlieren, wenn wir gewinnen?"
aus: * die tageszeitung, Dienstag, 5. Dezember 1995
Ulrike Helwerth fing 1985 bei der taz als Korrespondentin aus der schwäbischen Provinz an. 1989 kehrte sie als Frauenredakteurin zu ihrer Lieblingszeitung zurück. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit 1992 als freie Journalistin rund um das Thema "Frauen".
Oskar Negt
Die Krise der Arbeitsgesellschaft:
Machtpolitischer Kampfplatz zweier "Ökonomien"
Es sind nicht mehr die produktiven und plausiblen Einzelvorschläge, um die es bei der Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft geht; in einem jetzt gut ein Jahrzehnt umfassenden Diskussionsprozeß ist ein kaum überbietbarer Vorrat an Ideen, Projektvorschlägen und Lösungsperspektiven angelegt worden. Völlig Neues ist schwerlich zu erwarten. Was fehlt, ist der Zusammenhang. Auf drei Fragestellungen konzentriert sich dieser Aufsatz:
Erstens: In welche "Ökonomie" fügen sich die einzelnen Projekte? Entwickelt werden die Hauptgesichtspunkte zweier in Konkurrenz zu einander stehender Ökonomien: Die eine ist definiert durch Rationalität (Vernunft) des Gemeinwesens, die andere wesentlich an der betriebswirtschaftlichen Rationalität des Einzelunternehmens orientiert.
Zweitens: Welches Menschenbild ist bestimmend für diese zwei "Ökonomien?" Ist der autonome, eigensinnige, urteilsfähige, mit Zeitsouveränität ausgestattete oder der allseitig flexible, anpassungsfähige und jederzeit einsatzfähige Mensch gewollt?
Drittens: Bei der Lösung von Krisen dieses geschichtlichen Ausmaßes geht es um Macht und Herrschaftspositionen; politischer Kampf ist im Spiel. Die alten Klassenkampffronten, die an vielen Punkten noch erkennbar sind, werden freilich immer stärker durch neuartige Koalitionen und Bündnisse überlagert.
I.
Jede Epoche hat ihre vorherrschende Definition vom Menschen, ein zum erstrebenswerten Ideal erhobenes Selbstbild von Eigenschaften, an denen die Zeitgenossen sich untereinander als Gleichgesinnte erkennen. Für die große Zeit der griechischen Stadtstaaten (Polis) ist die aristotelische Bestimmung als "zoon politikon" (geselliges Lebewesen) gültig; in seinen Wesenseigenschaften gehört der Mensch, Anteil nehmend und aktiv handelnd, zum politischen Gemeinwesen.
Im Humanismus der Renaissance, gut anderthalb Jahrtausende später, tritt ein ganz anderer Prototyp des Menschen auf die geschichtliche Bühne. Ihn zeichnen menschliche Größe, sittliche Freiheit und gesellschaftliche Geltung aus, er ist der universell gebildete Mensch, der kühne Experimentator: "uomo universale".
Die klassische Periode, das 17. und 18. Jahrhundert, setzt die wesentlichen menschlichen Eigenschaften nach Innen; Persönlichkeitsautonomie ist für diese Zeit Zentralthema, die Achtung der Menschheit in meiner Person, so wie Kant es formuliert.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der industriellen Zivilisation, daß in dem Augenblick, da die gesellschaftliche Reichtumsproduktion geschichtlich bisher kaum vorstellbare Ausmaße angenommen hat, die Menschen also eine gewaltige Verfügungsmasse über die Objektwelt gewonnen haben, ihr Selbstverständnis immer stärker äußeren, gesellschaftlich produzierten Gesetzmäßigkeiten folgt.
So sind wir, je deutlicher Wirtschaftswachstum und Effizienzkriterien der Produktion und des Managements vom öffentlichen Bewußtsein Besitz ergreifen, mit einem Selbstbild des Menschen konfrontiert, in dem sich alles aufzulösen beginnt, was an eigensinnige Befestigungen in seinem Lebenszusammenhang erinnert: kollektive Ruhezeiten (Sonn- und Feiertage), heimatliche Verankerungen am Ort, der Stadt, der Region, gewachsene Bindungen durch Beziehungsarbeit in Familien, Haushalten, Nachbarschaften.
Geht man die in den vergangenen 15 Jahren gemachten Vorschläge zur Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft und zur Beseitigung chronischer Massenarbeitslosigkeit unter Gesichtspunkten der gegenwärtigen Selbstdefinitionsversuche des Menschen durch, stößt man auf wiederkehrende, längst zum Argumentationsritual geronnene Bestimmungen: Ziel in dieser Frontstellung der Suchbewegungen ist selbst für jene, die privat eher eine konservativ geprägte Auffassung vom Menschen und seinen familiären Verwurzelungen vertreten, der universell bewegliche Mensch, völlig ins Funktionale abgerutscht, von innerlichen Bindungen jeglicher Art so weit gelöst, daß er jederzeit die erkannten Marktchancen wahrzunehmen bereit ist.
II.
Ist der Blick für eine Krisenlösung ausschließlich auf die Willensentscheidungen, die Anspruchshaltungen und Qualifikationsmerkmale der lebendigen Arbeitskraft der Arbeitnehmer gerichtet, also jener abhängig tätigen Lohn- und Gehaltsempfänger, die vom unsicheren Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, dann ist der Horizont von Organisationsphantasie, von Symbolbegriffen und Fragestellungen von vornherein auf jenes politische Aktionsfeld begrenzt, das die Misere mit eindeutigen Schuldzuweisungen verknüpft: Es ist die mangelnde Fähigkeit, ja vielleicht sogar der innere, rebellische Widerwille gegen Erwartungen, sich bereitwillig und bedingungslos als arbeitende Trabanten um die Sonne des Kapitals und der Marktgesetze zu bewegen.
In der Differenzierung der Zeitstrukturen (unter dem seit Anfang der achtziger Jahre konstanten Stichwort "Flexibilität") liegt die magische Lösungsformel dieser vorwiegend betriebswirtschaftlichen Blickrichtung auf die Krise der Arbeitsgesellschaft. Gegenstand der Klage sind der Modernitätsrückstand der Arbeitskraft, einschließlich ihrer sozialstaatlichen Sicherheitsumklammerung, und vielfältige, durch Gewöhnung an einen relativ hohen Lebensstandard zusätzlich verstärkte Barrieren der Anpassungsfähigkeit und der Anpassungsbereitschaft.
In diesem Argumentationszusammenhang geht es um einen spezifischen Diskurs, an dem Politiker ebenso wie Wissenschaftler beteiligt sind. Die erkenntnisleitenden Interessen, die dabei im Spiele sind, ergeben sich aus einer machtpolitischen Vorentscheidung, die den Einzelvorschlägen, so arbeitnehmerfreundlich sie auch erscheinen mögen, ihre sachliche Neutralität nimmt. Denn alle Rationalitätskriterien, die diesen machtpolitischen Blick "von oben" lenken, sind der Kapital- und Marktlogik entnommen; deren organisierendes Bewegungszentrum ist die betriebswirtschaftliche Kalkulation.
Bleiben demzufolge die Machtstrukturen dieser dominanten Ökonomie unangetastet, verbunden mit dem trügerischen Schein, als würde eine die Gesamtgesellschaft erfassende Ökonomie lediglich aus der Summe der "schlanker" gewordenen Einzelbetriebe bestehen, dann zerbrechen selbst die vernünftigsten Lösungsvorschläge an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, deren eigentümliche, die Lebenswelt der Menschen bestimmende Bewegungsgesetze ja die Widersprüche der Arbeitsgesellschaft und vor allem chronische Massenarbeitslosigkeit in entscheidenden Punkten mitverursacht haben und in ihrer von jeder gesellschaftlichen Kontrolle abgezogenen Wirksamkeit die Misere tagtäglich zementieren.
Ein gewiß gutwilliger, jedenfalls alles andere als zynisch denkender Politiker wie Norbert Blüm bekundet Unverständnis gegenüber einer Welt, die absolut vernünftige Vorschläge, die Vorteile für beide Seiten - Kostenersparnisse für das Kapital, größere Zeitdisposition der Arbeitnehmer, im Sinne der Einschränkung und der schließlichen Aufhebung der Massenarbeitslosigkeit - praktisch nicht umzusetzen imstande ist. "Wir sind fähig", klagt Blüm in einem Artikel der Frankfurter Rundschau, "Menschen zum Mond zu transportieren, aber wir sind unfähig, eine intelligente Arbeitszeitreform, die die Wünsche der Arbeitnehmer mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten kombiniert, zu finden. Das ist keine Paragraphensache, das ist eine Sache des Mutes, der Kreativität der Beteiligten.''[1] Blüm merkt gar nicht, wie einseitig die Anforderungen sind, die er hinsichtlich der Flexibilität an die Kontrahenten richtet, die sich in ihren Interessen versöhnen sollen. An die Unternehmer appellierte er, das verstärkt zu tun, was sie ohnehin, bei Strafe ihres wirtschaftlichen Ruins, tun müssen: "Die Strukturprobleme müssen in erster Linie von den Unternehmen selbst bewältigt werden: durch ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit, Innovationen mit neuen Produkten und Produktionsverfahren, durch die Erschließung neuer Märkte, durch Kostenreduktion und Effizienzsteigerungen."[2]
Flexibilität im Blick auf die Unternehmer bedeutet also nichts anderes, als im Selbstbild des erfolgreichen, dynamischen Unternehmers, wie ihn Joseph Schumpeter verstanden hatte, bereits enthalten war. Betriebswirtschaftliches Haushalten, "lean production", "lean management", Kostenreduktion durch massenhafte Freisetzung lebendiger Arbeitskraft, schnelle Beweglichkeit im Wechsel der Industriestandorte, auch zum Ausland hin, ohne sich durch lokale oder regionale Bindungen verpflichtet zu fühlen - das alles sind doch konstituierende Elemente jener Krise unserer Arbeitsgesellschaft, zu deren Bekämpfung Flexibilität aufgeboten wird.
Ist hier das Selbstvertrauen der Unternehmerwelt bekräftigt, so wird um so massiver die Lebenswelt der Arbeitnehmer mit Forderungen konfrontiert, die mit entscheidenden Eingriffen in Gewohnheiten, Selbstwerteinschätzungen, Lebensstandardniveaus und mit kulturellen Umorientierungen verbunden sind. Die großen Vorteile der Flexibilität, die in der Fragmentierung der Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, in Teilzeit-Gleitzeit-Arbeit oder in Spardepots von Sabbatzeiten liegen sollen, haben, wenn sie sich am Ende nicht ausschließlich zu Lasten der lebendigen Arbeitskraft auswirken, ohne einen einzigen zusätzlichen und zukunftssichernden Arbeitsplatz zu schaffen, zur unabdingbaren Voraussetzung eine grundlegende kulturelle und soziale Umorientierung der gesamten industriellen Zivilisation, des Verhältnisses von Arbeit und Muße, der Beziehungen des Privatinteresses zur Öffentlichkeit, der individuellen Bedürfnisse zum Gemeinwohl.
III.
Als Erste Ökonomie möchte ich jenen praktischtheoretischen Zusammenhang bezeichnen, in dem die Realitätsmacht der über die Produktion und die Arbeitsplätze Verfügenden den suggestiven Schein von naturgesetzlichen Abläufen vermittelt, deren Mechanismus von keinem Menschen zu beeinflussen ist. Die Hauptakteure dieser Ökonomie sind der Überzeugung, selbst lediglich Vollstrecker objektiver "Gesetze" zu sein, ohne Entscheidungsspielraum. Die Kapital- und Marktlogik, Zentrum dieser Ökonomie, ist allen menschlichen Eingriffen entzogen; sie ist härtere Materie als Beton, der irgendwann doch der Erosion zum Opfer fällt.
Die Veränderungspotentiale liegen dieser Ideologie zufolge ausschließlich bei der lebendigen Arbeitskraft, der Lebenswelt der abhängig Tätigen, also der Masse der Arbeitnehmer. Sie sind auf allen Ebenen entscheidende Manövriermasse im Interesse der Funktionserhaltung eines Systems der gesellschaftlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen, dessen Legitimationsgrundlage durchgängig von Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Gemeinwohlorientierung abgespalten ist.
Repräsentiert Blüm eine Position innerhalb der konservativ-liberalen Frontstellung, in der das moralische Problem "Massenarbeitslosigkeit" Anerkennung findet, aber keinerlei Folgen für die "nach oben" gerichteten Veränderungsanforderungen an die über die Arbeitsplätze Verfügenden hat, so drücken die strikten Theoretiker der mächtigen Kapitalfraktionen in der konsequenten Nachfolge von Milton Friedman und dessen These von der "natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit" mit großer Offenheit ihre Einstellung zum Arbeitslosenproblem aus, das für sie alles andere als ein bedrohlicher Index menschlicher und ökonomischer Verschwendung ist.
Meinhard Miegel, einer der konsequentesten Exponenten dieser Ersten Ökonomie, ist über Massenarbeitslosigkeit nicht besonders beunruhigt. In einer Großanzeige der Deutschen Bank, veröffentlicht u. a. in allen überregionalen Zeitungen, erörtert Miegel, warum unsere heutige Arbeitsgesellschaft in ihren innovativen Potentialen von einem unaufhebbaren Sockel an Arbeitslosigkeit geradezu zehrt. "Der ungleiche Zugang", sagt er, "zum Wissens- und Erkenntnisbau einer Gesellschaft (worunter Miegel den ,Ideenhaushalt einer Gesellschaft' versteht, O.N.) sowie die Ungleichverteilung von individueller Phantasie und Kreativität dürften die wichtigsten Ursachen für die fast ständige unfreiwillige Arbeitslosigkeit eines Teils der Erwerbswilligen sein. . . Bezogen auf den Arbeitsmarkt heißt das, daß ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit für die Betroffenen zwar hart, für die Bevölkerung insgesamt jedoch eher förderlich ist. Steigt die Arbeitslosigkeit aber über eine kritische Obergrenze, ist sie nur noch Indikator für ein lähmendes Auseinanderdriften von Erwartung und Leistungsfähigkeit. Ob in den hochindustrialisierten Ländern diese Obergrenze bereits überschritten ist, ist ungewiß. Die Arbeitslosenstatistiken sprechen dafür, die soziale Ruhe und Gelassenheit der Bevölkerung einschließlich der Arbeitslosen eher dagegen. . . Eine Bevölkerung sollte das Ziel der Vollbeschäftigung aktiv verfolgen und sich ihm nach Kräften annähern. Sie sollte aber nicht versuchen, es ganz zu erreichen. Denn der Preis hierfür wäre zu hoch: Stagnation..."[3]
Auf den Zynismus einer solchen Gesellschaftsbetrachtung will ich nicht eingehen; auch bleibt die Frage offen, wer die Erträglichkeit der Obergrenze von Massenarbeitslosigkeit festlegt und wer zu definieren befugt ist, worin gesellschaftliche Stagnation besteht. Zentral für meinen Argumentationszusammenhang ist, welche Kategorien, erkenntnisleitenden Interessen und Blickrichtungen in einer solchen Ökonomie bereits im Grundansatz ausgegrenzt oder bis zur Bedeutungslosigkeit marginalisiert werden. Im Kern ist diese Ökonomie eine der toten Arbeit, der Maschinensysteme, der Regelungskreise der Kapital- und Marktlogik, aus deren strikt betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen alles ausgeklammert wird, was für die individuelle Lebenswelt und die gedeihliche Gesamtstruktur einer Gesellschaft von Bedeutung ist: das Wohl und Wehe des Gemeinwesens politische Kultur, ohne die ein innergesellschaftlicher Friedenszustand nicht existieren kann, Moral und Verantwortung, ausgleichende Gerechtigkeit, die seit Aristoteles als wesentliches Moment des gesellschaftlichen Zusammenhalts gilt. Alle diese und andere, die Würde der Menschen betreffenden Kategorien fallen durch die Raster einer Ökonomie, die den betriebswirtschaftlich rational regulierten Einzelbetrieb zur Sozialutopie der gesellschaftlichen Gesamtordnung erhebt - in jüngster Zeit ein einziges Mal versucht, aber nach kurzer Zeit gescheitert: das Berlusconi-Syndrom.
Die entscheidende Barriere für die Übertragung der betriebswirtschaftlichen Mentalität auf die Gesamtgesellschaft besteht darin, daß im schlanker gewordenen Einzelbetrieb die sozialen Kosten auf andere, in der Regel auf das Gemeinwesen abgewälzt werden können, was in der Gesamtgesellschaft ausgeschlossen ist. Die rationalisierten Einzelbetriebe plündern das Gemeinwesen, ihre eingesparten Kosten übernehmen, weil der demokratische und soziale Rechtsstaat Verfassungsprinzip ist, andere; es ist ein ausgeklügeltes, auf organisierter Verantwortungslosigkeit beruhendes System der Kostenverschiebungen, bei dem die öffentliche Armut in gleichem Maße wächst, wie sich der privatkapitalistisch angesammelte Reichtum wie ein Alp auf die Lebensverhältnisse der Menschen legt.
Diese fatale Ökonomie, von der ich spreche, hat sich von allen Gemeinwohlvorstellungen verabschiedet, welche die große bürgerliche Tradition des ökonomischen Denkens von Adam Smith, David Ricardo über John Stuart Mill bis John Mainard Keynes, Walter Eucken - und Ludwig Ehrhard - auszeichnet, der als Ordo-Liberaler durchaus Vorstellungen hatte von einer Marktwirtschaft, die ihre eigenen "countervailing powers" zu institutionalisieren hatte. Im Übergang zu Fragestellungen der Zweiten Ökonomie, wodurch keine Rangordnung in der Wertehierarchie, sondern des gegenwärtigen Machtgefüges bezeichnet ist, möchte ich diese Traditionslinien kurz ins Gedächtnis rufen.
IV.
Seit in den Anfängen der bürgerlichen Epoche die National-Ökonomie entstanden ist und Überlegungen eine Rolle spielen, wie sich der Wohlstand eines Volkes vergrößern lasse, ist auch ein starkes Erkenntnismotiv gesetzt, den Bewegungsrhythmen in den wechselnden Beziehungen zwischen privater Reichtumsbildung und dem öffentlichen Wohl nachzuspüren. Gemeinwohl, Volkswohlstand, National-Reichtum (Wealth of Nations, die große programmatische Schrift von Adam Smith, am Anfang der wissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse), wie sonst auch immer die Sprache der Ökonomie sich verändern mag, drücken stets mehr und anderes aus, als die bloße Summe der Einzelinteressen und der Privatreichtümer. In dieser Geschichte der "Wandlungen in den Auffassungen vom Volkswohlstand", die Fritz Neumark, der zu Recht als Doyen der modernen Finanzwissenschaft bezeichnete Ökonom, in einem kleinen Büchlein[4] zu beschreiben versucht, ist ein Element der "Ökonomie des ganzen Hauses", wie Aristoteles und insgesamt die vorbürgerliche Ökonomie das verstanden hatte, mit aufbewahrt.
Einer Position wie der, die Mandeville in seiner Bienen-Fabel[5] vertrat: private vices, public benefits, in freier Übersetzung: die Realisierung und Durchsetzung der Eigeninteressen, und seien sie auch Untugenden, führt in der Summe der Konkurrenz dieser Interessen zur Vergrößerung des öffentlichen Wohls, stehen in der gesamten Geschichte der Ökonomie skeptische Überlegungen gegenüber, die Rousseau wohl am deutlichsten formuliert hat: "Comment est-il possible de s'enrichir sans contribuer à appauvrir autrui?" (Wie ist es möglich, sich zu bereichern, ohne dazu beizutragen, den anderen ärmer zu machen?) Diese wenig bekannte Schrift von Rousseau trägt den Titel: "Discours sur les richesses", die möglicherweise 1750 entstand.
Diese Frage bezog sich bei Rousseau durchaus gleichzeitig auf das Gesamtwohl eines Volkes und auf den einzelnen. Nur selten in der Geschichte des national-ökonomischen Denkens wurde das Wirtschaftswachstum und der Reichtum jener Klassen, welche über Produktion und Produktionsmittel verfügen, mit dem Gemeinwohl und dem Volkswohlstand gleichgesetzt. Daß eine solche Gleichsetzung heute so bruchlos geschehen kann, wie sie sich in den Äußerungen führender Wirtschaftspolitiker und der Sachverständigengremien zeigt, beruht darauf, daß die gesellschaftspolitische Auszehrung zum Standard europäischer Wirtschaftsbetrachtung geworden ist; dringend bedarf es einer Gesamtbetrachtung über gesellschaftlichen Nutzen und gesellschaftliche Kosten, die man als eine "Ökonomie für das ganze Haus" bezeichnen kann.
Was Jürgen Seifert in der Kritik des Gutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anläßlich dessen 25jährigen Jubiläums über die Ausgrenzungs- und Unterschlagungsmentalität dieser Gutachter gesagt hat, ist heute aktueller denn je: "Die Bundesrepublik kann sich die Dominanz eines begrenzt-ökonomischen Ansatzes nicht mehr leisten. Sie braucht eine Ökonomie auch für das soziale Ganze und auch für den Haushalt der Natur. Es geht um eine Ökonomie, die nicht das Ökonomische verabsolutiert, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes ,oikos' (Haus) für das ,ganze Haus' sorgt, also für die Arbeitslosen ebenso wie für die Umwelt, für die Alten ebenso wie für die Jugend, für die Gesundheit ebenso wie für die Verteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern.... Es geht um eine Ökonomie, die das soziale Ganze im Blick hat."[6] Und Seifert stellt einen Katalog der von diesem Gremium, und ja keineswegs nur von ihm, unterschlagenen Wirklichkeit auf, wenn er im einzelnen fragt: Warum fehlt die Bilanz der sozialen Asymmetrie? Warum fehlt die Ökologie? Warum fehlt die Analyse der Veränderungen in der Arbeitswelt? Warum fehlt der epochale Wandel im Geschlechterverhältnis? Warum fehlt die soziale Wirklichkeit der Jugendlichen und der Alten? Warum fehlt die reale Situation der Kranken und der Aus-der-Bahn-Geworfenen? Warum fehlt das Problem der sozialen Verödung?
Viele andere Posten dieser unterschlagenen Wirklichkeit wären diesem Katalog des fragmentierten Denkens und der begrenzten Interessenwahrnehmung der Verhältnisse hinzuzufügen. Heide Simonis, Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, stellt in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage: "Man bemüht sich um Technikfolgenabschätzung. Aber warum unternimmt niemand eine Beschäftigungsfolgenabschätzung?"[7]
Immer war mit der Idee des Volkswohlstandes mehr gemeint als die Summe konsumierbarer Güter oder die technischen Anlagen. Es ist bemerkenswert, daß die große politische Ökonomie des Bürgertums von Adam Smith bis David Ricardo ein Gefühl dafür entwickelt hatte, daß auf einem Reichtum, dessen Quelle die Verarmung des anderen ist, gleichsam kein Segen liege; dieser protestantische Geist des Kapitalismus hält sich durch. Vor Adam Smith, der die Harmonie der verschiedenen Nationalwirtschaften als erster theoretisch begründete und als Ziel praktischer Politik die Ökonomie des Haushalts entwarf, war der merkantilistische Erwerbsgeist ohne jeden Skrupel, den Reichtum des eigenen Landes bewußt auf Kosten des Nachbarlandes, ja zu dessen Schaden, zu erweitern, um dessen politischen Handlungsspielraum einzuschränken.
V.
Die Erste Ökonomie, wie ich sie zu charakterisieren versucht habe, ist Ausdruck einer Macht- und Herrschaftsposition. Der linksradikaler Neigungen kaum zu verdächtigende Ralf Dahrendorf hat das in einem Grundsatzreferat auf dem Bamberger Soziologentag von 1982 unmißverständlich ausgesprochen. Die Verfügung über lebendige Arbeitskraft ist auch ein Herrschaftsinstrument. Wenn Arbeit ausgeht, "verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das Fundament ihrer Macht". Dahrendorf hat freilich vergessen, dem hinzuzufügen, daß auch die Verfügung über Arbeitslosigkeit ein wichtiges Herrschaftsmittel sein, jedenfalls in vielfacher Hinsicht nutzbar gemacht werden kann, um erworbene und erkämpfte Sozialrechte der Arbeitnehmer, das Lebensniveau und die kulturellen Schutzschichten, die Menschen um sich gebildet haben, durch Aufrechterhaltung eines existentiellen Angstklimas auf jene Punkte zu reduzieren, die von den Arbeitnehmern wenig mehr übriglassen als den Dauerzustand von Betriebsfertigkeit und Einsatzbereitschaft.
Die Zweite Ökonomie greift den abgerissenen Faden des klassischen ökonomischen Denkens wieder auf und rückt den Lebenszusammenhang der Menschen, ihre konkrete Lebenswelt, ins Zentrum der Betrachtungen, um aus dieser Blickrichtung heraus zu urteilen und zu entscheiden, welche Auswege aus der Krise der Arbeitsgesellschaft langfristig sinnvoll sind und wo lediglich technische Manipulationen an Symptomen erfolgen, die Probleme von einem Ressort auf das andere, von einem Aktionsfeld auf das andere verschieben. Da es sich jedoch um eine kulturelle Krise handelt, ist der Blick auf das gesellschaftliche Ganze unabdingbare Voraussetzung für eine Änderung des öffentlichen Bewußtseins.
Welche Berechtigung es auch haben mag, die arbeitsgesellschaftlichen Utopien als ausgeschöpft zu betrachten und das endgültige Ende der Arbeitsgesellschaft zu verkünden: die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz andere Sprache. Es lassen sich kaum Hinweise darauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung, über deren gesellschaftliche Anerkennung individuelle Identität und Selbstwertgefühle sich bilden, im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertungen erfahren hat. Anläßlich der Niedersachsenwahl am 13. März des vergangenen Jahres ergab eine Umfrage, daß die Themen Arbeit - Arbeitslosigkeit den bei weitem höchsten Rang in der Skala der als lebenswichtig eingeschätzten Handlungsfelder der Politik einnehmen.
Von der großen Masse der Menschen wird Arbeitslosigkeit nach wie vor als ein Gewaltakt empfunden, als ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon Betroffenen. Sie gilt als Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule, der Lehre in der Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozeß erworben wurden und die jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in Gefahr sind, zu verrotten und dadurch schwere Persönlichkeitszerstörungen hervorzurufen.
Das ist der Grundskandal unserer Gesellschaft. Sie droht an ihrem Reichtum und ihren Überschußprodukten zu ersticken und ist gleichwohl außerstande, Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben. Ich rücke bewußt dieses moralische und kulturelle Problem der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund, die Frage der immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelten menschlichen Würde. Denn ist dieser Orientierungspunkt verloren, sind der pragmatischen Phantasie bloß technischer Lösungen keine Grenzen mehr gesetzt. Will man sich nicht darauf einlassen, mit der kompletten Umsetzung von Flexibilisierung und Fragmentierung des Arbeitslebens am Ende einen allseitig verfügbaren und jederzeit manipulierbaren Menschen zu erzeugen, dann müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein:
Die auf die Gesamtgesellschaft ausgeübten Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die von der Produktion ausgehen, bedürfen einer grundlegenden Reform. Strukturprobleme dieser herkömmlichen, von Betriebswirtschaft und Kapitallogik geprägten Erwerbsgesellschaft werden nur lösbar sein, wenn der Verfassungsgrundsatz in Artikel 14, Absatz 2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" wieder Eingang in das unternehmerische Denken findet und sich als eine Art Verantwortungsethik in den Köpfen der ökonomisch Mächtigen zur kulturellen Selbstverständlichkeit befestigt. Solange Wirtschaftsstandort und Lebensstandort verwechselt werden, ist der Erpressungsmacht mit Konkurrenzhinweisen Tür und Tor geöffnet. Die Vorherrschaft einer solchen regulativen Denkweise beschädigt und zerrüttet am Ende das Gemeinwesen.
Aber es wäre eine Verkennung des Ernstes der Situation, wollte man Krisenlösungen in erster Linie einem neuen Kodex ethischer Verpflichtungen aufbürden. Ohne Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Reichtumsproduktion, ohne Infragestellung des Produktionsmythos und des Warenfetischismus kann eine Umverteilung von Arbeitsplätzen nicht gelingen. In diesem eingemauerten Kontext des Bestehenden könnte das Resultat nichts anderes sein, als es sich im betrügerischen Wettlauf zwischen Hase und Igel zeigt: ein Arbeitsplatz wird neu geschaffen, drei werden vernichtet. Die mikroelektronische Vernichtungsmaschinerie lebendiger Arbeitskraft ist immer schon am Ziel angekommen.
Lothar Späth und Herbert A. Henzler (ein McKinsey-Unternehmensberater) erwähnen bedrückende Prognosen[8]: Würde man den höchsten Stand der heute verfügbaren Technik überall dort realisieren, wo dies möglich ist, fielen von den noch bestehenden 33 Millionen Arbeitsplätzen 9 Millionen weg: Die Arbeitslosigkeit würde auf weit über 30 Prozent ansteigen. Selbst wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, so ist die damit bezeichnete Tendenz doch nicht zu bezweifeln.
VI.
Nicht nur die Krisenfolgen sind neuartig, auch die Struktur der Krise hat sich verändert; die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Massenphänomen ist von den herkömmlichen Wellenbewegungen von Konjunktur und Rezession abgekoppelt. Es ist aus diesem Grunde immer unwahrscheinlicher, daß das Problem der chronischen Arbeitslosigkeit im begrenzten Horizont betriebswirtschaftlicher Kostenüberlegungen zu lösen ist.
Eine ganz andere Ökonomie wäre erforderlich, um die allmählich ins Unermeßliche wachsenden menschlichen, sozialen und politischen Kosten von Massenarbeitslosigkeit einzudämmen und am Ende überflüssig zu machen. Es ist ein Problem, das das Wohl und Wehe der Gesamtgesellschaft betrifft; deshalb greifen hierarchisch-ökonomische Regelungen zu kurz. Wenn eine Ökonomie im Spiel ist, dann kann es nur eine des "ganzen Hauses" sein. Die darin zur Sprache gebrachte öffentliche Vernunft hätte die gesamtgesellschaftlichen Kosten zum Ausgangspunkt, Gesellschaftsreform zum Ziel.
Die Arbeitsgesellschaft in der von den Produktions- und Verwertungsregeln des Kapitals geprägten Form aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben wird immer kostspieliger, am Ende unbezahlbar. Verschleiert wird das dadurch, daß jedes Ressort, jeder gesellschaftliche Bereich die eigenen Kosten auf andere abzuwälzen versucht und die Selbsterhaltung durch Kredite und Anleihen finanziert. Woher soll denn bei leeren Haushaltskassen und diesem Überschuldungssystem das Geld für Reformen genommen werden? Dem ist die geschichtliche Erfahrung entgegenzuhalten: Nichts ist teurer, als überholte Verhältnisse am Leben zu halten, nichts kostspieliger als die Nicht-Reform.
Aber die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit, das sich in einem schmerzlichen Prozeß von 50 Jahren, mit eigentümlichen Berufsethiken und vielfachen Bedürfnissen nach gegenständlicher Tätigkeit, herausgebildet hat, ist nicht der illusionäre Idealismus der Aufhebung der Arbeit, sondern der Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen der Arbeit, die der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dienen.
In dieser Perspektive kann ein Umbau der Arbeitsgesellschaft nur gelingen, wenn er gleichzeitig beiträgt zur ökonomischen Krisenlösung und zur Erfüllung der Emanzipationswünsche der Menschen. Andre Gorz, der bedeutendste Vordenker einer am Gemeinwesen und dem ökologischen Gleichgewicht orientierten Alternative zur herkömmlichen Erwerbsgesellschaft, trifft den entscheidenden Punkt, wenn er fordert, an die Stelle kapitalfixierter Arbeit müßten ganz andere Arbeitsformen treten, "beziehungsintensive Tätigkeiten, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens und so weiter, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen, nicht instrumentell rationalisierbar sind und jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft liegen"[9]. Das wäre aber kein Jenseits der Arbeitsgesellschaft, sondern eine Erweiterung, Vertiefung, Vervielfältigung der kulturell anerkannten Arbeitsformen, die durch den geschichtlich spezifischen und einmaligen Konflikt von Lohnarbeit und Kapital vereinseitigt und verengt wurden.
Dieser Spezialfall neigt sich dem Ende zu. In diesem Sinne gibt es ein Ende der Arbeitsgesellschaft; aber alle Tätigkeiten, die Gorz aufzählt, sind Arbeitsformen, die es immer gegeben hat und ohne die auch heute jede Gesellschaft zerfallen würde. Um ihnen einen höheren gesellschaftlichen Rang geben zu können, bedarf es eines gemeinwesenorientierten Umdenkens, das der sozial-kulturellen Logik folgt.
Nur wenn die von drückender Erwerbsarbeit freigesetzte Lebenszeit einen eigenen, autonomen Gestaltungsraum findet, also wesentlich Emanzipations- und Orientierungszeit ist, werden die Menschen das bestimmte Gefühl haben können, nicht bloßer Verwertungsrohstoff auf anderen Feldern zu sein. Das setzte voraus, daß Kreativität, Eigeninitiative, Unbotmäßigkeit und Mußefähigkeit von Kindesbeinen an ein maßgebender Wert der Erziehung, des Bildens und des Lernens ist. Davon sind wir weit entfernt. Aber viele Schritte führen in die Richtung einer solchen Gesellschaftsreform, die nach meiner Einschätzung einzig und allein aus der gegenwärtigen Kulturkrise Auswege zeigen könnte.
Für welche der beiden "Ökonomien" man sich entscheidet, hängt wesentlich davon ab, wie das Bild vom Menschen aussieht, das man sich in seinen Träumen gezeichnet hat und den Vorstellungen entsprechen, die aus Erfahrungen mit Mitmenschen gewonnen sind, denen man im Alltag Anerkennung und Achtung entgegenbringt. Wer den allseitig funktionsfähigen Menschen will, leistungsbewußt, anpassungsfähig, wendig und ohne Bindungen, die ihn am Aufstieg hindern könnten, wird in den Kategorien und Untersuchungsfeldern der Ersten Ökonomie genau jenen Realitätszusammenhang finden, der seinen Erwartungen an eine wünschbare und erstrebenswerte Gesellschaft entspricht. Daß dies keine Idealgesellschaft ist, wird ihn kaum stören, er wird sogar den Typus eines Sozialcharakters in Kauf nehmen, der politisch alle Merkmale eines leistungsbewußten Mitläufers hat vorausgesetzt, er ist jederzeit einsatzbereit und störungsfrei funktionsfähig.
Der Mensch der Zweiten Ökonomie hat einen ganz anderen Zuschnitt; er ist eigensinnig, auf autonome Urteilsfähigkeit und eigentümliche Lebensstile bedacht, die rebellische Elemente enthalten. So können Menschen dieses Typs große Opfer bringen und entschieden kampfbereit sich zeigen, aus keinen anderen Gründen, als dem Gefühl, daß politische Machtverhältnisse gestört sind oder soziale Gerechtigkeit verletzt ist - massiver Widerstand, um die bedrohte Würde zu sichern.
Es ist für mich keine Frage, daß eine hochentwickelte Industriegesellschaft auf Dauer ohne Demokratie funktionsunfähig ist. Nicht-entfremdete Formen gegenständlicher Tätigkeit, gesellschaftlich anerkannte und bezahlte Erwerbsarbeit in lebenswichtigen Beziehungsbereichen, die heute noch in Schwarzmarktregionen liegen, sind Wesensbestandteil einer innergesellschaftlichen Friedensordnung, in den industriell entwickelten Ländern ebenso wie in jenen Gesellschaftsordnungen, die ihre menschlichen Produktionsprozesse einer durchgängigen Arbeitsgesellschaft noch vor sich haben.
Aber der Kampf dieser beiden Ökonomien erschöpft sich nicht in individuellen Willensentscheidungen; es ist ein politischer Kampf. Die Zweite Ökonomie zur ersten zu machen, wäre Motiv und Ziel einer neuen Gesellschaftsreform. Sie ist überfällig, nicht zuletzt aus Kostengründen. Da es aber um Macht- und Herrschaftsverhältnisse geht, um die sich die Erste Ökonomie organisiert, ist die Veränderung kein leichtes Spiel; auch keine bloße Frage des guten Willens und der überzeugenden Argumente. Es ist eine politische Kampfsituation epochalen Ausmaßes, in der Koalitionspartner in allen gesellschaftlichen Schichten zu suchen und zu finden sind - bei aufgeklärten und verantwortungsbewußten Managern ebenso wie unter Lehrern und Arbeitern; das strategische Bewußtsein für eine solche Kampfsituation ist im Wachsen begriffen.
Anmerkungen
[1] Frankfurter Rundschau vom 5. März 1994.
[2] Ebd.
[3] Meinhard Miegel, Vollbeschäftigung - eine sozialromantische Utopie?, in: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog (Hrsg.), Arbeit der Zukunft. Zukunft der Arbeit, Stuttgart 1994, S. 44 und S. 48/49
[4] Fritz Neumark, Wandlung in den Auffassungen vom Volkswohlstand, Frankfurt am Main 1964.
[5] Bernard de Mandeville, The fable of the bees, or private vices, public benefits, veröff. 1714.
[6] Jürgen Seifert, Wir brauchen eine "Ökonomie für das ganze Haus",in: vorgänge, 28 (1989) 2, S. 25.
[7] Frankfurter Rundschau vom 12. März 1994.
[8] Vgl. Herbert A. Henzler/Lothar Späth, Sind die Deutschen noch zu retten?, 1993.
[9] André Gorz, Die Arbeitsgesellschaft ist faktisch tot, in: die tageszeitung vom 10. März 1994, S. 12.
Aus: Politik und Zeitgeschichte, B 15/95,S.3-9
Oskar Negt, Dr. phil., geb. 1934; Studium der Philosophie und der Soziologie in Frankfurt am Main und Göttingen; seit 1970 Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Hannover.
Volker Stamm
Die rationale Anordnung der Menschen
Einführung
A. Randgruppen in der traditionellen Gesellschaft
B. Der Höhepunkt der Internierungspolitik
C. Der Übergang zur liberalistischen Armenpolitik
Anmerkungen
Das Geld begann also, die Arbeit zu reglementieren und die gesellschaftlichen Institutionen zu vereinheitlichen. Dabei wurde die Grundlage eines neuen Herrschaftsmodells geschaffen: Zuerst im Arbeitsprozeß, dann, wenngleich nur in Ansätzen, im zentralstaatlichen Bereich traten verdinglichte, »sachgesetzliche« soziale Beziehungen an die Stelle der direkten Vergesellschaftung, der unmittelbaren Konfrontation von Herr und Knecht. Damit war die Zerstörung der traditionellen Formen des gesellschaftlichen Lebens eng verknüpft, denn sie paßten nur schlecht in die Logik der Wirtschaftsgesellschaft. Da sie nicht der Ökonomie des Marktes, sondern der Selbstversorgung verpflichtet waren, widersetzten sie sich der Einbindung in eine Wirtschaft, deren Hauptinteresse die Expansion war. Sie boten zudem eine Möglichkeit zum Überleben für die, die sich der neuen Zeit nicht anpaßten oder ihr Widerstand leisteten. Menschen waren jedoch knapp, wenn man sie als Arbeitskräfte definierte.
Das moderne Herrschaftssystem begann die Gesellschaft zu reorganisieren, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Wegen seiner indirekten Mechanismen fiel es ihm leichter, allgegenwärtig zu sein, sich im Denken und Handeln, teilweise sogar in den Empfindungen jedes Einzelnen festzusetzen. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich äußerst brutaler Methoden bediente, um Menschen und Verhältnisse zubefehden, die ihm entgegenstanden. Hierzu waren neuartige Methoden der Erfassung und Kontrolle notwendig. Noch im Paris des 18. Jahrhunderts konnte ein Angeklagter glaubhaft versichern, er wohne »in einer Straße, deren Namen er nicht wisse«, bei einem Wirt, den er ebenfalls nicht mit Namen kannte.[1] Meldevorschriften wurden von interessierten Wirten oder Gästen nicht befolgt. Dieser Zustand forderte dazu heraus, neue Wissenschaften einzuführen, deren Zweck und Auftrag es war, Ordnung in den Staat zu bringen, die Unübersichtlichkeit der traditionellen Gesellschaft zu beseitigen. Die Statistik und die Stadtplanung verdanken diesen Bemühungen ihren Aufschwung; in Hamburg z.B. wurden anläßlich der Reform des Armenwesens 1788 nicht nur alle Straßen bezeichnet und registriert, sondern auch alle Häuser numeriert, um sie den Kontrollorganen besser zugänglich zu machen.[2]
Parallel zur Erfassung und rationellen Anordnung der Menschen und zur [77] Neubestimmung des Arbeitsbegriffes, angepaßt an die Bedingungen der Warenproduktion, veränderten sich die Zeit und der Raum der Arbeit. Ich hoffe, damit die vier Eckpfeiler der totalen Umwälzung zu Beginn der Neuzeit bestimmt zu haben: Inhalt und Organisation der Arbeit, die als Sinn des Lebens deklariert wurde, Zeit und Raum[3] ihrer Verausgabung.
A. Randgruppen in der traditionellen Gesellschaft
Die Polizeiorgane des Ancien régime hinterließen eine umfassende Dokumentation über diejenigen Teile des Volkes, die sie »les classes dangereuses« - die gefährlichen Klassen - nannten. Um das umfassende Spektrum der Randgruppen besser erkennen zu können, werfen wir zunächst einen Blick auf die Bezeichnungen, mit denen Arme belegt wurden.
Als arm galt, wessen Lebensunterhalt nur auf seiner Arbeitskraft beruhte: »[...] derjenige ist wirklich arm, der auf keine andere Weise seinen Lebensunterhalt findet als durch den Fleiß und die Arbeit seines Geistes oder seines Körpers.«[4]. Die Arbeit unterscheidet den Armen vom Bettler, doch beide zählen zu den kleinen Leuten, deren einziger Rückhalt die Arbeit oder das Betteln war. »[Das Volk] ist gezwungen, zu arbeiten oder zu betteln.«[5] Der Bettler, dessen Tätigkeit durchaus als legitim erscheint, wie wir hier schon sehen, verfügt also nicht einmal über einen Arbeitsplatz, sei es wegen Krankheit, Gebrechen und Alter oder Mangel an Beschäftigung. Einen wesentlichen Platz in diesem Mikrokosmos der Unterklassen nehmen die Vagabunden ein. »Vagabund ist derjenige, der seine Unterkunft und seine Heimat verlassen hat, um zu stehlen und zu rauben und, wie man sagt, von einem Ort zum anderen zu streifen, müßig und eher geneigt, Böses als Gutes zu tun.«[6] Der Vagabund steht endgültig außerhalb der Gesellschaft, während Arme und Bettler noch zum 'Dritten Stand' zählen. Er gilt als »sans aveu«, als einer, der sich keinen Gesetzen und Regeln unterwirft, aber auch keinen Schutz genießt. Eng mit ihm verwandt ist in der Begriffswelt der traditionellen Gesellschaft der Libertin. »In Ausschweifung [libertinage] zu leben, bedeutet, nach seiner eigenen Vorzustellung zu leben, ohne sich den Regeln der Religion oder Vernunft zu unterwerfen.«[7]
Die Unterschichten sind also gespalten in die, die noch ihren legitimierten Platz in der Gesellschaft haben, und die, die außerhalb stehen. Doch die Übergänge sind fließend. Jeder Arme, der seine Beschäftigung verliert, und hierfür gibt es mehr als genug Gründe, wird zum Bettler. Bei diesem Abstieg hat er allerdings noch Glück, er bleibt im 'Dritten Stand'. Die Not indes mag [78] ihn zwingen, eines jener kleineren Delikte zu begehen, die für die Armen typisch sind: Holz- und Geflügeldiebstähle auf dem Land, Prostitution der Frauen in der Stadt. Sofort bestätigt er die Furcht der Bürger und Adelsherren, die sie die Armen als gefährliche Klasse einstufen läßt, vor denen Ernte und Leben nicht sicher sind. Eine besondere Bedrohung rührt von der Anfälligkeit der Unterklassen für Agitation, für »emotions« her, besonders in Zeiten des teuren Brotes. Dann stürmten die Armen Getreidelager und -transporte und bedrohten die Reichen auf der Jagd nach Spekulanten, die für das Elend verantwortlich gemacht werden konnten. Solche Unruhen gingen leicht in allgemeine Gesetzlosigkeit über, so etwa 1709 bei Lyon, als arme Bauern Getreidetransporte überfielen, dann aber die gesamten Reisewege unsicher machten, Wegelagerer wurden.[8] Aber auch zu »normalen« Zeiten bestanden enge Verbindungen zwischen Bettlern und Gesetzlosen»Sie [die Bettler, V. St.] sind also Leute, die den Jaunern treffliche Dienste leisten, die ihnen eine Menge von Nachrichten zutragen können. [...] Mit einem Wort, sie sind die beständigen Kundschafter der Jauner.«[9]
Was die Menschen zum Betteln oder zur Vagabondage trieb, war das Elend auf dem Land und in den Städten. Doch es gab noch andere Gründe, die diesen Schritt erleichterten und die mit der allgemeinen Lebens- und Arbeitsweise zusammenhingen. Sie erklären eigentlich erst diese besondere und verbreitete Form der Marginalität, die sich von der des 19. Jahrhunderts wohl unterscheidet. Ich schätze das Elend der Menschen im Frühkapitalismus nicht geringer ein, doch es gab offenbar Hemmnisse, die bedrückende Enge der großen Städte zu verlassen und auf den Landstraßen den Lebensunterhalt zu suchen.
Die Zuordnung der Bettler zum 'Dritten Stand' zeigt, daß ihrer Tätigkeit eine gewisse Legitimität nicht abgesprochen wurde. Doch es gibt explizite Aussagen, die das bekräftigen. In einem Brief an den Contrôleur général schreibt der prévôt der Kaufleute von Lyon: »Da sie nichts haben, um ihr Dasein zu fristen, ist es nur gerecht, ihnen die Freiheit zu lassen, sich ihren Lebensunterhalt zu suchen.«[10] Oft wurden internierte Bettler durch Intervention hochgestellter Personen aus ihrer Haft befreit. Es verwundert also nicht, wenn die Bettler selbst ihren Erwerb als von den Zeitumständen diktiert, aber anderen Berufen der Armen durchaus ebenbürtig verteidigten. Wiederholt fanden sich Bettler mit einem durchaus bemerkenswerten Geldvermögen - ein Zeichen, daß Bettelei nicht als allerletzter Ausweg aus einer verzweifelten Notlage angesehen wurde.
Auch die Vagabunden hatten gute Gründe, sich nicht als Ausgeschlossene zu betrachten. Viele durchaus ehrenwerte ökonomische Aktivitäten und Berufe des Ancien régime waren so stark an die lokale Mobilität gebunden, [79] daß die maréchaussée, der die Verfolgung der Vagabunden oblag, oft eklatante Irrtümer bei der Identifizierung der Opfer beging und deshalb mehrfach gezwungen war, verhaftete Wanderarbeiter wieder freizulassen.[11] Eine wichtige Aufgabe der Pariser Polizei war es zu überprüfen, ob es sich bei einer verdächtigen Person tatsächlich um einen Dienstboten oder Arbeiter handelte, oder ob ein Vagabund oder Bettler sich nur als solcher ausgab:
»Man lasse sich von denen, die dort [in den Armenvierteln. V. St. wohnhaft angetroffen werden und die sich als Arbeiter ausgeben, die Bescheinigung der Meister oder Leiter der Werkstätten zeigen, wo sie zur Zeit beschäftigt sind. Ansonsten lasse man sie verhaften.«[12]
Ein für die damalige Zeit erstaunlicher statistischer Aufwand wurde betrieben, um die gewünschte Identifizierung als »anständiger«, also arbeitender Armer besorgen zu können. Jeder und jede, die eine neue Stellung antraten, hatten Rechenschaft über persönliche Daten und bisherige Arbeitsstellen abzulegen. Beim Verlassen ihrer Herren erhielten sie ein Zertifikat über die geleisteten Dienste, dessen Fehlen zur Einstufung als Vagabund führte.[13] Auch seriöse und seßhafte Personen, Wirtsleute z.B., konnten ohne weiteres in den Verdacht geraten, zu den Banditen, »à la race des brigands«, zu gehören.[14]
Die Nichtbegüterten kannten keine andere Art des Reisens als die zu Fuß, nur mit dem Nötigsten versehen. Jede Verzögerung zwang sie, ihren Lebensunterhalt unterwegs zu verdienen oder zu erbetteln. »Tatsächlich ist die Landstraße der bevorzugte Ort der Armut.«[15] Ebenso erging es Gesellen auf der Wanderschaft, die keinen Meister fanden, oder brotlosen Dienstboten. Schwierigkeiten, zwischen Handwerkern und professionellen Bettlern zu unterscheiden, hatten auch die Behörden in Hamburg:
»Fremde Handwerksburschen sollen ohne Schein der hiesigen Alten ihrer Zunft, welche sodann für sie einzustehen haben, hier nirgends anders, als auf den Herbergen ihrer Zunft, wozu sie gehören, logieren, und sich des Bettelns auf den Gassen und in den Häusern gänzlich enthalten, widrigenfalls sie als gemeine Bettler angesehen und behandelt werden sollen.«[16]
Durch ihr Gewerbe selbst zur Wanderschaft gezwungen waren die Hausierer, deren Einnahmen kaum ihren Mann oder ihre Frau nährten, so etwa jener, anläßlich dessen Verhaftung zu Protokoll gegeben wurde: »Im Winter verkauft er einige Kalender, im Sommer Messer, Scheren und Brillen, die er im halben Dutzend einkauft.« Im übrigen sprach er Gebete für die, die dafür zahlten.[17] Derlei kleine Händler verfügten über keinen festen Wohnsitz; sie zahlten für Unterkunft und Verpflegung mit einem Teil ihrer Waren und baten am nächsten Tag um Almosen, um ihre Vorräte ergänzen zu können. [80]
»Bringen sie irgendwo etwas von ihrer Waare an, so bedingen sie sich gemeiniglich ein Stück Brod oder etwas Schmalz, Butter, Mehl oder ein Mittag- oder Nachtessen in den Kauf ein, oder bitten sichs als Almosen aus. Und wird ihnen nichts abgekauft, so machen sie die gleiche Bitte, die ihnen dann selten abgeschlagen wird.«[18]
Auch durchziehende Handwerker »schwatzen dem Landmann zu ihrem Arbeitslohn immer auch noch irgend ein Almosen ab...«[19] Einige Autoren rechneten die Händler ganz allgemein zu den Vagabunden. In einem Essay to prove that Regrators, Engrossers, Forestallers, Hawkers, and Jobbers of Corn, Cattle, and other Marketable Goods are Destructive of Trade, Oppressors to the Poor, and a Common Nuisance to the Kingdom in Ceneral hieß es noch 1718:
»Sie sind eine Art Vagabunden. [...] Alles, was sie besitzen, tragen sie mit sich herum, [...] ihr ganzes Kapital sind einfache Reitkleider, ein gutes Pferd, eine Liste der Jahr- und Wochenmärkte sowie eine erstaunliche Portion Unverschämtheit. Sie tragen das Kainsmal, wandern wie er von Ort zu Ort und machen es zu ihrem Gewerbe sich wie ein Eindringling zwischen den anständigen Händlern [gemeint ist der Produzent, V. St.] und den ehrlichen Konsumenten zu zwängen.«[20]
Schon im hohen Mittelalter traten die Händler zumeist in bewaffneten Gruppen auf.
»Wie sollte man Räuber von unbekannten Händlern unterscheiden, die ebenfalls in Horden auftraten, die häufig eine fremde Sprache sprachen und sich oft, wie aus den Gesetzen von Alfred dem Großen zu erschließen ist, mit einer ganzen Gefolgschaft von Dienern umgaben, die allem Anschein nach auch noch bewaffnet waren?«[21]
Zu diesen Gruppen gesellte sich die Schar der Musikanten, Wanderschausteller, Ärzte, Dentisten und Scharlatane[22], die ein fester Bezirk nicht ernähren konnte. Das traf auch auf einen sehr respektablen Berufszweig zu, den der Schneider, deren Werk oft seinen Träger überdauerte. Wo sie einmal tätig waren, fanden sie in den zehn folgenden Jahren kaum noch Beschäftigung. Ihre solide Arbeit war es, die sie zwang, sich zuweilen Bettlern und Vagabunden anzuschließen. Gemeinsam mit diesen streiften häufig Wanderprediger und Pilger über das Land; ihre dubiose Legitimation vermochte niemand nachzuprüfen.
Die Autobiographie Thomas Platters gibt uns Aufschluß über die Lebensweise dieser Leute im 15. und 16. Jahrhundert.[23] Im Alter von 9 Jahren machte sich Thomas mit einem älteren Vetter auf die Wanderschaft durch die verschiedensten Schulen des deutschsprachigen Raumes, eine Wanderschaft, die bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr dauern sollte.[24] Während der Zeit, als er mit seinem Vetter reiste, mußte der jüngere Thomas für beider Lebensunterhalt sorgen, d.h. er wurde zum Betteln geschickt. In Breslau gab es mehr als 1000 Schüler, die sämtlich von Almosen lebten. Einige [81] verblieben 20 oder 30 Jahre in diesem Stand, so gut ließ es sich offenbar mit Hilfe der Jüngeren leben.[25] Kleinere Diebstähle ergänzten die Einkünfte - Thomas berichtet mehrfach über seine Erlebnisse beim Stehlen von Gänsen. Die Schüler glichen nicht nur in bezug auf ihre Einkommensquelle den Vagabunden, sie blieben auch selten lange in einer Stadt, sondern zogen, jenach Qualität der Schule oder Unterkunft, von einem Platz zum anderen. Häufig hielten sie sich in Schänken und Spelunken auf. »Zuweilen gingen wir im Sommer in die Bierhäuser Bier heischen.«[26] Montaigne war noch deutlicher: »Hundert Schüler haben die Syphilis, ehe sie bei Aristoteles angekommen sind.«[27]
Das Problem der Unstetigkeit existierte also schon lange, bevor der entstehende Kapitalismus Menschen in großem Stil »freisetzte«; es gehörte zum gewohnten Bild des Lebens. Der König selbst hatte lange Zeit das umherstreifende Volk angeführt, seinerseits wieder ein Anziehungspunkt für andere Vagabunden. »[Der König] verbringt sein Leben auf den Landstraßen, gefolgt von seinen berittenen Hofmitgliedern, Nomaden wie er.«[28] Trotz der familiären Fürsorge, trotz der Bindungen an die Dorfgemeinschaft war die Gruppe der Bettler und Vagabunden schon vor dem Zerfall des Feudalismus sehr zahlreich.[29] Sie fanden schlichtweg »einen gewissen Reiz in diesem unsteten Leben, ohne Vorschriften und Verpflichtungen«.[30]
Die Vielfältigkeit der Marginalen erklärt, welch kleinen Schritt es für einen von seinen Gläubigern bedrängten Kleinbauern, für einen Handwerker, der seine Kräfte schwinden sah, einen Tagelöhner, dessen Frau verstorben war, oder eine entlassene Dienstbotin bedeutete, sich dem Zug der Heimatlosen anzuschließen, die wenn nicht ihr Glück, so doch den Lebensunterhalt aufder Wanderschaft suchten. Sie alle finden wir in der Reihe derjenigen wieder, die die Gesamtheit der Vagabunden ausmachten. Zweifellos strahlte ihr Lebensstil einen gewissen Reiz aus und zog die an, »die es als das größte Glück ansahen, von der Arbeit entbunden und von jeder Verpflichtung, jeder Last, jeder Unterordnung ausgenommen zu sein, frei von allen Sorgen für den nächsten Tag«.[31] Ihre Gesellschaft bildeten professionelle Gewalttäter, Deserteure und Soldaten, die noch nicht kaserniert waren. Diese »Experten der Plünderung, bewaffnete Räuber«[32] »machten sich mit ihren Säbeln und Degen von jeder Länge Tag und Nacht in den Straßen, Schanken, Tanzlokalen und abgelegenen, verrufenen Orten breit, wo sie jede Art von Ausschweifung begingen«.[33] In Hamburg z.B. war zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Garnison noch unbezahlt und »also mit Weibern und Kindern zum Betteln privilegiert«.[34]
War die bloße Existenz dieser Armee aus brotlosen Schulmeistern, Sittenlehrern und Wanderpredigern, echten und simulierenden Geisteskranken [82] und Zigeunern, ehrbaren Handwerkern und Wegelagerern schon beunruhigend genug, so erregten sie sofort eine Panik unter den Bürgern, wenn sie sich zusammenschlossen und ihren Almosenforderungen durch Drohungen Nachdruck verliehen. Diese waren oft übertrieben oder gar absurd, so im Fall jenes Vagabunden, der im Jahr 1744 warnte: »Wenn ihr mir keine Almosen geben wollt, werde ich mich der Bande von Cartouche anschließen«[35] - Cartouche, der berühmteste Bandit seiner Zeit, war 1721 hingerichtet worden.[36] Einige aktenkundige Vorkommnisse genügten jedoch, fast jeder Legende den Rang eines Faktums zu verleihen. Bei den größeren Pächtern erhoben Umherziehende schließlich etwa ein Drittel von dem, was diese den Bodenherren schuldeten; 20 oder 30 fremde Nachtgäste waren bei ihnen keine Seltenheit.[37] Tatsache allerdings ist, daß sich die Vagabunden oft zusammenschlossen, um vor den Staatsorganen geschützt zu sein, daß sie in dieser Häufung eine Heimsuchung für kleinere Orte darstellten, die ihren Forderungen preisgegeben waren, und daß Brandstiftungen durchaus nicht nur in Gerüchten vorkamen.
Die angeblichen oder tatsächlichen Geheimgesellschaften der Außenseiter, ihre soziale Organisation und ihr Doppelleben zogen der Phantasie der Zeitgenossen kaum Grenzen. Verbreitet, und vielleicht nicht zu Unrecht, war die Meinung, daß sie das in der Nacht bei Spiel, Wein und freizügigem Leben verpraßten, was sie tagsüber den gutmütigen Bürgern abgeschwatzt hatten.[38] Tatsächlich verfügten die Bettler über eine differenzierte soziale Organisation mit fester Arbeits- und Gebietseinteilung.[39] Es gab eigene 'Universitäten', die von ehemaligen Studenten geleitet wurden; Beutelschneider mußten in Paris, ehe sie in diese 'Zunft' aufgenommen wurden, im Beisein der 'Meister' zwei 'Meisterwerke' ablegen.[40]
Der »liber vagatorum« (1509) unterscheidet 26 Kategorien von Bettlern[41]. Nähere Aufschlüsse hierüber erhalten wir aus Rom. Das Protokoll eines polizeilichen Verhörs liefert interessante Einzelheiten über die innere Organisation der Marginalen. Ein fünfzehnjähriger Bettler wurde verhaftet, als er in einer Kirche Almosen erbat . Er erzählt von den verschiedenen Geheimgesellschaften Roms: Die erste Gruppe bilden die 'grancetti', die Beutelschneider. Die 'sbasiti' sitzen lamentierend auf dem Boden und versuchen, durch vorgetäuschte Krankheit Mitleid zu erwecken, während die 'baroni' angeben, arbeitslos zu sein. Weiter gibt es die Gruppe derer, die so tun, als seien sie von Sinnen oder verhext, und andere, die verdammt sind, ihr Leben lang zu tanzen, da ihre Vorfahren es versäumten, vor dem heiligen Sakrament niederzuknien. Die 'fogliardi' stehlen in der Nacht Kleidungsstücke und betteln am Tag. Wieder andere stehlen das Brot von den Pferden, mit denen es zu den Landarbeitern aufs Feld gebracht wird. Sie nennen [83] sich 'burchiaroli', denn burchio bedeutet Pferd in der Gaunersprache, in lingua furbesca. Der Verhaftete kannte insgesamt 19 Geheimgesellschaften, darunter eine der Frauen. Die Armen hielten engen Kontakt untereinander und veranstalteten regelmäßig Versammlungen, um ihre Anführer zu wählen.[42]
In Paris lebten die Armen in Straßenzügen zusammen; ihre Zufluchtsorte wurden »Cours des miracles« genannt. Henri Sauval gibt mit einer ausführlichen Beschreibung zugleich einen zeitgenössischen Eindruck von diesen Orten wieder[43]
:
»Hier lebte man von Räubereien und setzte in Faulheit, Völlerei und jeder Art von Verbrechen und Lastern Fett an. Jeder ließ es sich für den Augenblick wohlergehen und aß abends mit Vergnügen, was er den Tag über mit Mühe und mit Schlägen verdient hatte, denn man nannte dort 'verdienen', was man sonst als 'rauben' bezeichnet. Es war eine grundsätzliche Übereinkunft in der 'Cour des miracles', nichts für den nächsten Tag zu verwahren. Jeder lebte dort in zügelloser Freiheit, man beugte sich weder dem Glauben noch dem Gesetz und kannte keine Taufen, keine Heirat und keine Sakramente. Dem Augenschein nach schienen sie Gott zu huldigen; zu diesem Zweck hatten sie am Ende ihres Hofes, in einer großen Nische, ein Bildnis von Gott dem Vater aufgestellt, das sie in einer Kirche gestohlen hatten. [...] Die am wenigsten häßlichen Frauen und Mädchen prostituierten sich für zwei liards, die anderen für einen double, der größte Teil jedoch umsonst.«
Die Bettler und Vagabunden teilten in der traditionellen Gesellschaft den Alltag mit dem Volk. Dieses Zusammenleben veränderte sich über Jahrhunderte hinweg kaum, wohl aber die Beurteilung und »Behandlung«, die die Randgruppen durch die Regierungsgewalt erfuhren. Das Mittelalter war sich darin lange nicht schlüssig. Eine starke Denkströmung erkannte in ihnen Menschen, die durch ihr Elend ausgezeichnet waren, die Jesus Christus besonders nahestanden, da auch er ein irdisches Leben in Armut geführt hatte. »Christus hat durch sein irdisches Leben die Armut geheiligt.«[44] Religiösen Vereinigungen diente die Armut als Modell; die Armen galten als ihre Herren. Gleichzeitig bot die Armut den Reichen Gelegenheit zu mildtätigen Werken, trug also zu deren Seelenheil bei. Die Worte der Bibel, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher in den Himmel gelange, waren ebenso verbreitet wie das Gleichnis von Lazarus.[45] Bisweilen wurde sogar ein Recht der Armen auf die Güter der Kirche und den Überfluß der Reichen postuliert.[46] Der Straßburger Prediger Geiler von Kaiserberg hielt eine gewaltsame Aneignung des Reichtums für legitim, wenn den Armen das Ihre verwehrt wurde.[47]
Doch ab dem 13. Jahrhundert wurde diese Toleranz, ja oft Verherrlichung allmählich von einer anderen Einstellung überlagert. In der Armut sah man von nun an hauptsächlich eine Gefahrenquelle für die öffentliche Ordnung. [84] »Die Stunde sei verflucht, in der der Arme geschaffen wurde«, heißt es im Roman de la Rose.[48] Auf die Ursachen und den Ausdruck dieses Wandels werden wir zurückkommen; eins fällt allerdings hier schon auf: Ob nun von den »pauperes Christi« oder den »classes dangereuses« gesprochen wird, wir erfahren nichts über die ökonomische Position der Armen, über ihren Platz in der Gesellschaft. Das religiöse Äquivalent der »gefährlichen Klassen«, ein Begriff, der von einer diffusen Furcht geprägt schien, war kaum weniger schillernd; es umfaßte die Vielzahl derer, die als »miseri«, »infirmi«, »vulnerati«, »orphani«, »senices«, »simplices«, »captivi«, »oppressi« oder »ignobiles« galten.[49] Unter ihnen befanden sich oft ehemalige Begüterte, die ihr früheres Leben aufgegeben hatten.[50] Offenbar bestand noch kein Bedarf, die Armut als ökonomisches Problem zu interpretieren. Sobald sich die Ökonomie ihr aber zuwandte, wurde sie auch verfolgt.
Die geschilderte Zwiespältigkeit findet sich in den Fürsorgeeinrichtungen des späten Mittelalters wieder. Fast immer gingen sie auf private oder kirchliche Initiativen zurück; selten waren sie eine Angelegenheit der Städte. Die Menschen erblickten in den Armen eine Gruppe, deren Weg und Schicksal unerforschbar, jedenfalls nicht zu kontrollieren oder zu beeinflussen waren: Sie galt es zu unterstützen, ohne weitere Fragen zu stellen, wo immer sich das Elend zeigte. Doch niemand dachte daran, die Armut selbst zu beheben. Die Dinge sollten in ihrer von Gott gegebenen Ordnung bleiben. Die Aufgabe der Linderung von Not nahmen die Hospitäler wahr, die nicht nur die stadtbekannten, sondern auch die vagabundierenden Armen »betreuten« .
Für die Kirche war die Fürsorge für die Armen ein so zentraler Punkt ihrer Existenz, daß sie auch solche Details regelte wie z.B. das Verbot für Bischöfe, einen Wachhund zu halten, denn dieser könnte ja Bettler beißen oder davon abhalten, um eine Gabe zu bitten.[51] Welche auch zahlenmäßig hohe Bedeutung den periodischen Speisungen zukam, belegen einige überlieferte Angaben. Sie ermöglichen es, eine Vorstellung von der Zahl der Bettler zu gewinnen. Unter den Armen weithin bekannt war die Verteilung von Schinken, die das Kloster Cluny regelmäßig zu Beginn der Fastenzeit vornahm. Dort fanden sich etwa 16.000 Arme ein.[52] In Poitiers wurde 1428 und 1.429 zu Weihnachten Brot an mehr als 2.000 Arme verteilt; bei der »charité de la blée« (wohltätige Austeilung von Getreide) jeweils am 3. Mai trafen in Niort fast 8.000 Bedürftige ein, bei 240 besteuerten Haushalten im Dorf. Am Mardi gras gab die Stadt Périgueux gesalzenes Fleisch an 4.000 Menschen aus. Wegen des großen Andrangs kam es bei der Verteilung der Almosen bisweilen zu Katastrophen, so bei der Bestattung des Herrn Jean de Beaubau, Sénéchal d'Anjou, als vor der Kirche Münzen verteilt wurden. [85]
»Es wurden elf gezählt, die sofort starben; viele andere arme Frauen und Kinder wurden verletzt, so daß kurz darauf 15 oder 16 weitere wegen des Geldes starben.«[53]
Auch in Florenz brachte der Ansturm der Armen zu Zeiten der Almosenverteilung chaotische Zustände mit sich. 1330 ordnete ein Verstorbener in seinem letzten Willen an, daß sich alle Bedürftigen in einer Kirche zu versammeln hätten und dann, einer nach dem anderen, heraustreten sollten, um ihre Gabe geregelt zu empfangen. Die Vorsichtsmaßnahme schien durchaus gerechtfertigt zu sein; es versammelten sich 17.000 Menschen.[54] Auch hier galt als arm, wer sich in Armut prasentierte, eine Überprüfung fand nicht statt. In der Zeit der Krise konnte es jedoch geschehen, daß die Angst der Bürger ihre Wohltätigkeit überwog. Drohte etwa die Pest, so wurde die Stadt »gesäubert«, die Tore geschlossen, ebenso dann, wenn politische Instabilität, wie während des Hundertjährigen Krieges, eine Welle von Gewaltverbrechen hervorrief.
Zwischen den oben beschriebenen unterschiedlichen Beurteilungen der Armut konnte sich das Mittelalter nicht entscheiden; zu einer eindeutigen Fixierung des Armenbildes kam es erst im 16. Jahrhundert, sie hatte umfassende praktische Konsequenzen. In welche Richtung sich die Mehrdeutigkeit aufzulösen begann, zeigt die Stellungnahme der katholischen Kirche an. Sie mußte, wollte sie Position für ein neues Verhältnis zu den Randgruppen beziehen, nicht nur die christlichen Vorbilder der Armut uminterpretieren. Im übrigen entsprachen ihren persönlichen Herrschaftsformen direkt Begriffe wie Gnade, Opfer und Mildtätigkeit. Gleichzeitig hegte sie jedoch ein starkes Mißtrauen gegen asketische Bewegungen, die oft genug an ihrer institutionellen Basis rüttelten. Dieser Konflikt konnte innerhalb des kirchlichen Typus von Macht nicht behoben werden. Die Ansprachen des Geiler von Kaiserberg, der sich zwischen 1478 und 1510 meist täglich an die Bevölkerung Straßburgs wandte, dokumentierten dies. Er, der offen das Recht der Armen auf milde Gaben und die Gefahr betonte, die von der zunehmenden Zahl der Bettler ausging, wußte keinen anderen Ausweg, als die Fürsorgepflicht an die weltlichen Behörden zu delegieren.[55] Damit war das Ende des kirchlichen Konzepts der Armut offen eingestanden; ihm hat das Element der Polizei gefehlt. Der historische Auftritt des Staates zeichnete sich ab. Dies ist der Fall in derselben Periode, in der wir die ersten Zentralisierungsversuche des Geldwesens beobachteten.
Zum Abschluß wollen wir noch dem Schicksal einer besonderen Gruppe von Außenseitern nachgehen, einer auch heute noch verfolgten Randgruppe: den Zigeunern. Sie ließen sich durch ihr äußerliches Bild, ihre Sitten leicht ausgrenzen. Die Reaktion auf sie nimmt, in verschärfter und exoti-[86]scher Weise, vieles von dem vorweg, was den Armen später generell widerfahren sollte.[56]
Die ersten Zigeuner erschienen in Frankreich während der Herrschaft Karls VI. (1380-1422). Sie selbst trugen zur Verbreitung der Legende bei, sie stammten aus Ägypten und seien einer schweren Sünde ihrer Vorfahren wegen dazu verurteilt, sieben Jahre ruhelos umherzuwandern. Sie galten also nicht als Vagabunden, sondern als Pilger und genossen Schutz und Ansehen. Die Zigeuner lebten von Almosen, die freigebig gewährt und noch nicht an ihrer produktiven Wirkung gemessen wurden. »Eine Gesellschaft, die noch an die Mobilität im kaufmännischen Leben und an religiöse Aufwallungen gewöhnt ist, nimmt sie gut auf.«[57]
Im 16. Jahrhundert hatte sich die Haltung der Bevölkerung und der Behörden bereits gewandelt. Das Bild der Zigeuner wurde, in Übereinstimmung mit der triumphierenden Arbeitsmoral, fixiert als das von »Vagabunden, Zigeuner genannt, ohne anderen Beruf als offen zu stehlen«[58], »die vor allem dem vertrauensvollen und abergläubischen Volk sein Schicksal wahrsagen«.[59] Viele Freveltaten und Verbrechen wurden ihnen nachgesagt, von denen die meisten sich auf den Diebstahl von Geflügel und Früchten des Feldes bezogen. Daß es den Autoritäten nicht um einzelne Delikte ging, zeigt die kollektive Strafe, die alle Zigeuner traf, unabhängig von ihrem individuellen Verhalten: Sie hatten sofort das Königreich zu verlassen, »sans autre forme de procès« - so wurde mehrfach, am konsequentesten zur Zeit Colberts, dekretiert. Handelten sie dem zuwider, und eine andere Möglichkeit blieb ihnen nicht, da auch die Grenzen der übrigen Staaten Europas verschlossen waren[60], so wurden sie Opfer »körperlicher Strafen«. Sie hierfür freizugeben, schien letztlich auch der Sinn der ineffektiven Verbannung gewesen zu sein. Erst die Zwangsarbeit der Männer auf den Galeeren, der Frauen in den Arbeitshäusern und Manufakturen konnte das Ärgernis endgültig beseitigen, das in der Art ihres Lebenswandels begründet lag. Dies war ihre eigentliche Schuld, die die Kollektivstrafe rechtfertigte. »Ihre jeder Produktion, wenn nicht jedem Profit fremde Lebensweise, ihre Wanderschaft sind nur schwer zu verstehen«[61], und sie »sind gefährlich« für eine Gesellschaft, die ohnehin mit ihren mobilen Mitgliedern im Kampf lag, wie wir sehen werden. So beruhte die Bedeutung der Verbannung auf die Galeeren oder in die Arbeitshäuser nicht allein, vielleicht nicht einmal hauptsächlich, auf ihrem unmittelbaren ökonomischen Wert; sie war vielmehr symbolischer Art. Der Mobilität auf der Straße wurde die Fesselung auf der Galeere entgegengesetzt, dem freien Leben der Frauen, um das sich so viele Gerüchte rankten, die Disziplin des Arbeitshauses.
Die Fremdartigkeit der Zigeuner, der Grund ihrer frühzeitigen Unter-[87]drückung, ließ sie zu einem Gegenstand der Bewunderung für alle Schichten der Bevölkerung werden, als der Kampf um die Disziplin von der Obrigkeit schon fast gewonnen war. Nun konzentrierten sich die Sehnsüchte auf offensichtliche Außenseiter; ihre Erfüllung im alltäglichen Leben war in so weite Ferne gerückt, daß sie sich nur noch an diese exotischen Fremden heften konnten. Es blieb nicht bei bloßen Wunschvorstellungen. Die königlichen Edikte verboten wiederholt Bürgern und adeligen Herren bei hohen Strafen, die Zigeuner wegen ihrer Kenntnisse der Pferde und ihrer Schaustellungen bei sich aufzunehmen. Eine beachtliche Zahl von Menschen schloß sich ihren Zügen an, »üble Individuen beiderlei Geschlechts«, wie die Chronisten berichten, in Wirklichkeit aber so unterschiedliche Figuren wie der berühmte Bandit Cartouche und der bretonische Edelmann Pechon de Ruby.
B. Der Höhepunkt der Internierungspolitik
Das 16. Jahrhundert war die Periode, in der sich die Haltung der offiziellen Stellen gegenüber den Randgruppen klärte - die Gefühle des Volkes blieben noch lange mehrdeutig - und in der die Ursprünge der Internierungspolitik der späteren Jahrzehnte zu suchen sind.
Ein erstes Modell der neuen Politik lieferte Flandern. In Ypres wurde 1525 die Sorge für die Armen der Stadt übertragen, die einen umfassenden Plan entwarf, um der unkontrollierten Wohltätigkeit Einhalt zu gebieten. Seine Fundamente waren die obligatorische Arbeit für die gesunden Armen und die auf den Einzelfall abgestimmte Unterstützung für die Alten und Kranken. Stadtfremde Bettler wurden verjagt, das Betteln innerhalb der Stadtmauern untersagt. Dies folgte durchaus logisch aus dem System, denn es glaubte ja alle Unterstützungsberechtigten erfaßt und ihnen einen Platz zugewiesen zu haben. Diese Grundidee nun erlebte in Frankreich eine zusätzliche Verbreitung, da die Stadt Ypres in der Auseinandersetzung mit den Bettelorden die Theologische Fakultät der Sorbonne angerufen hatte, um ein Gutachten erstellen zu lassen. Diese gab nach langen Recherchen ihre Zustimmung; die neue Armenpolitik hatte damit die Unterstützung der Kirche gefunden.[62] Rückblickend auf die Geschichte seiner Heimatstadt Hamburg beschrieb Johann Georg Büsch eine ähnliche Entwicklung:
»Jene alten Armenordnungen reden noch von keiner anderen, als der liebevollen Behandlung der Armen und Vorsorge für dieselben. Auch für die fremden und durchziehenden Bettler ward mehr Nachsicht gehegt, als billig Statt haben sollte. Allein [88] mit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts fühlte man die Notwendigkeit, andere Wege zu gehen, und eines Teils die Arbeit der schuldlosen Armen unter gehörige Aufsicht zu stellen, anderen Teils den muthwilligen und den fremden Bettler zur Arbeit zu zwingen. Man machte also den Entwurf zur Anlegung eines Arbeitshauses.«[63]
Doch folgen wir der chronologischen Entwicklung in Frankreich. Es war Lyon, die Seidenstadt, die 1534 dem Vorbild von Ypres folgte. Der Bürger Jean Broquin legte den Notablen einen Plan vor, »um die Armen zu versorgen, damit sie nicht mehr in der Stadt umherlaufen«.[64] Er sah verschiedene Kategorien des Elends vor, denen mit speziell auf sie abgestimmten Maßnahmen begegnet werden sollte, in der soeben zitierten Absicht, die Armut von der Straße und unter die Kontrolle der Stadt zu bringen. Die Waisen wurden in einem Hospiz erzogen, bis sie eine Lehre beginnen konnten. Verwaiste Mädchen wurden darauf vorbereitet, später als Dienstboten beschäftigt zu werden. Die Kranken kamen im Hotel Dieu unter; alle anderen Fälle wurden individuell geprüft. Die Kontrolle schrieb folgendes Verfahren vor:
»Die armen Familienväter und Arbeitsleute, die durch ihre Kinder stark belastet sind und die ihr Beruf nicht ernähren kann, die daher gezwungen sind, mit ihren Kindern in der Stadt zu betteln, sollen in ihren Wohnungen besucht werden, [...] um zu sehen, wie viele Kinder sie ernähren müssen und welches Gewerbe ihre Frauen ausüben. Wenn daraus folgt, daß sie zu sehr mit Kindern belastet sind, wird man ihnen einen wöchentlichen Betrag zuwenden.«[65]
Gesunde, aber dennoch müßige Arme sollten zur Arbeit gezwungen werden, bei Brot und Wasser an Ketten gefesselt, alle Fremden ein Almosen erhalten und sodann die Stadt verlassen. Dieser Plan wurde mit der Errichtung der Aumône générale 1534 realisiert. Er erregte unter den kirchlichen Traditionalisten noch immer Ärger; der Inquisitor von Lyon z.B. befand, daß Unglaube und Häresie weitaus größere Übel seien als der Zustrom fremder Bettler.[66]
Dieses vorausgreifende Projekt blieb bis 1656, als die Einschließung der Armen zur nationalen Politik erklärt wurde, auf einige Städte beschränkt, denen Lyon als Vorbild diente. Das machte auch seine Schwäche aus, die sich im letzten Punkt des Plans von Broquin niederschlug. Für fremde Bettler gab es noch keine andere Lösung, als sie zu vertreiben, sei es nach einer Beschenkung oder einer körperlichen Strafe.[67] Überall herrschte die gleiche Ratlosigkeit: »Überhaupt finde ich, [...] daß man nie recht gewußt habe, wie man es mit denselben [fremden Bettlern, V. St.] anfangen sollte.«[68] Die Vagabondage im nationalen Rahmen wurde dadurch eher noch verschärft. Als Symbol für die Zeit der Einschließung kann in Frankreich die Gründung des Hôpital général von Paris im Jahre 1656 gelten.[69] Es faßte mehrere [89] schon bestehende Institutionen zusammen, die Salpétrière, Bicêtre z.B., und bedeutete doch etwas gänzlich Neues. Die Direktoren des Hôpital übten eine fast unbeschränkte Macht über die Armen von Paris aus. »Sie haben jede Entscheidungsgewalt über Leitung, Verwaltung, Handel, Polizei, Rechtsprechung, Bestrafung und Inhaftierung hinsichtlich all der Armen von Paris, sowohl in wie außerhalb des Hôpital général.«[70]
»Dazu erhalten die Direktoren Galgen, Pranger, Gefängnisse und Verliese in dem Hôpital général und an den Stellen, die dazugehören, wieviel ihnen notwendig erscheinen, ohne daß gegen die Anordnungen, die sie innerhalb des Hôpital erlassen, Einspruch erhoben werden kann; die von ihnen erlassenen Befehle für außerhalb des Hôpital werden ihrer Form und ihrem Inhalt gemäß ausgeführt, ungeachtet jeder Opposition oder jedes Einspruchs, sei er bereits vollzogen oder noch einzureichen, und ohne dem stattzugeben, wird ungeachtet jeder Verteidigung und jedes juristischen Schrittes Aufschub nicht gewährt.«[71]
Auch der Protest der Organe der ordentlichen Justiz gegen diese Vollmachten blieb ohne Erfolg. Das Hôpital général machte die vorherige Armenverwaltung des Königs, die Grande Aumônerie, funktionslos. Die Strategie der Kontrolle war über die der Almosen hinweggegangen. 1662 verfügte der König, daß in jeder Stadt seines Reiches ein Hôpital général gegründet werden solle. Maßgeblich war es Colbert, der erkannte, daß die Organisation der Arbeit nur in zentraler, gesamtstaatlicher Weise erfolgen konnte.[72] Colbert maß der Angliederung von Manufakturen an die Internierungshäuser besondere Bedeutung bei; merkantilistische Ideen spielten hierbei eine wichtige Rolle, wie wir bald sehen werden.
Wie in Frankreich war auch in England eine generelle Einschließung aller Armen beabsichtigt:
»[...] wenn solche Arbeitshäuser eröffnet werden, ist es sinnvoll, alle Beamten, deren Aufgabe es ist, nach der Öffentlichen Ordnung zu sehen, unter Androhung schwerer Strafen dazu zu verptlichten, alle Gasthäuser und Unterkünfte zu kontrollieren und alle Vagabunden und Landstreicher und andere arbeitsscheue Personen, die keinen ersichtlichen Lebensunterhalt haben und nicht einer gesetzmäßigen Beschäftigung nachgehen, und alle anderen Personen, die in den jeweiligen Gemeinden, obwohl sie nicht deren Einwohner sind, beim Betteln oder beim Gesuchen um Unterstützung angetroffen werden, zu zwingen, in dem Arbeitshaus der Grafschaft zu verbleiben, wo sie jede Arbeit verrichten müssen, für die sie die Kuratoren oder der Leiter des Arbeitshauses als geeignet ansehen.«[73]
Überall galt: »Landstreicher und Consorten waren's auch, die zur Erbauung der Zuchthäuser nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in Amerika Anlaß gaben.«[74] Das erste deutsche Zuchthaus entstand 1620 in Hamburg, dann wurden weitere in Basel (1667), Breslau (1668), Frankfurt (1684), Spandau (1684), Königsberg (1691), Halle (1717), Kassel (1720), Brieg und Osnabrück (1756) und Torgau (1771) errichtet.[75] [90]
Unter der Bevölkerung der Anstalten waren »Vagabunden, Diebe und muthwillige Bettler«[76] am häufigsten anzutreffen, doch kaum ein Herrscher, kaum eine wohlhabende Familie ließ die günstige Gelegenheit vorübergehen, sich unbequemer Kritiker als Geistesgestörte und Querulantenzu entledigen oder sich von der Mühe zu befreien, kranke Verwandte pflegen zu müssen."[77] Der Albergo dei Poveri in Genua ist daher repräsentativ für alle ähnlichen Häuser: ein »Schmelztiegel der Krankheit, der Schuld,des Elends und der Einsamkeit«.[78] In Bicêtre, »zugleich Hospital und Gefängnis«[79], waren ebenfalls vielerlei Menschen versammelt, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden sollten. Eine Behandlung, die der Anstalteinen therapeutischen Sinn gegeben hätte, fand nicht statt:
»Die Promiskuität war dort vollkommen. Angekettete Sträflinge erwarteten neben Waisenkindern ihren Abmarsch ins Zuchthaus. Staatsgefangene kamen in Kontakt mit von Krätze geplagten Personen, Geschlechtskranke waren mit Geistesgestörten und Epileptikern eingeschlossen. Die Geschlechter [...] waren dort ebenso vermischt wie die Altersklassen.«[80]
Die Akten des Zucht- und Arbeitshauses in Hüsingen zeichnen die individuellen Schicksale der Insassen auf. Sie berichten zum Beispiel von einer Frau, die wegen »liederlichen, gottlosen Lebenswandels« für 6 Jahre eingewiesen wurde, und von einem Mann, der darum bat, »seine schon 16 Monate in der Nachbarschaft vagierende jüngere Schwester gegen ein Kostgeldaufzunehmen. Das Mädchen sei dienst- und arbeitslos und gebe sich dem Müßiggang und der Trägheit hin«. Andere Häftlinge saßen wegen Diebstahls, Totschlags, Ehebruchs oder schlichter Armut ein.[81] Im »Waisen-, Toll-, Kranken-, Zucht- und Arbeitshaus« in Pforzheim fanden sich »alle und jede in hiesigen Landen sich befindende Unbändige, Ungehorsame, Halsstarrige, Böse und Lasterhafte, wie auch verschwenderische und liederliche Haushalter, so der Welt nichts nützen, sondern andern nur bös Exempel mit Fluchen, Spielen, Müßiggang und dergleichen geben«.[82] Dazugehörte z.B. ein ehemaliger Zollinspektor, »um seines geführten Lebens und verfertigter vieler pasquillantischer Schriften halber«.[83] Den von Krankheiten entstellten Menschen drohte das gleiche Schicksal; sie wurden »aus dieser wider alle Polizei laufenden Unanständigkeit« interniert, mit Rücksicht »auf die mit Leibesfrüchten beladenen Weibspersonen«.[84]
In München wurde auf Initiative des Grafen Rumford, der nicht nur der Erfinder des Englischen Gartens ist, ein Arbeitshaus gegründet, in einer verlassenen Manufaktur. Dort herrschten Ordnung, Fleiß und Wirtschaftlichkeit, wie der französische Übersetzer der Werke Rumfords bemerkte; mehr als 1500 Arme »erfreuten sich hier einer angenehmen und glücklichen Existenz«, statt die Schmach und die Plage der Gesellschaft zu sein.[85] [91]
In Wien ging man den umgekehrten Weg: Es wurden nicht Arbeitshäuser gegründet, denen Manufakturen angeschlossen waren; vielmehr riefen die Behörden Manufakturen ins Leben und nutzten sie als Arbeitshäuser.[86] Beide Einrichtungen waren offenbar beliebig austauschbar. Und dies ist kein Einzelfall: Der Kanzler de Pontchartrain war für unsere Ohren bemerkenswert offen, als er an einen Leutnant der »maréchaussée« schrieb: »[...] das Wort Manufaktur bedeutet das gleiche [...] wie Hospital oder Festung.«[87] Damals war dies jedoch ein Gemeinplatz.
Ein weiteres Beispiel vom europäischen Kontinent führt uns an Überlegungen zur Erklärung dieser Internierungspolitik heran. Ende des 18. Jahrhunderts setzten sich in Hamburg endgültig merkantilistische Konzepte der Wirtschaftspolitik durch. Die Produktion sollte gefördert, der Import verringert werden. Unter diesem Gesichtspunkt war es ein Skandal, daß breite Schichten des Volkes ohne Beschäftigung blieben. Dem abzuhelfen wurde 1788 die Armenanstalt gegründet, initiiert von Johann Georg Büsch und zunächst geleitet von Caspar Voght. Ihre Hauptaufgabe war es, »die Armen mit Arbeit zu versorgen« und so »die Straßen vollkommen von der Bettlerplage zu befreien«.[88] Die Bettler konnten sich fortan nicht mehr auf den Mangel an freien Stellen berufen. Die Armenanstalt lehnte sich an das Modell des Verlagswesens an; sie stellte das Rohmaterial und nahm den Armen die fertige Ware ab. Widerspenstigen drohten Essensentzug und Dunkelhaft. Nach dem Scheitern aller anderen Mittel sollte so gewährleistet werden, daß »auch dem rohesten und trägsten Menschen ein Sporn werde, Arbeitsfleiß in sich zu wecken und erst seine Hand, und dann auch wieder seinen Geist daran zu gewöhnen«.[89]
Das englische Internierungssystem setzte sich aus vier Elementen zusammen: den gewöhnlichen Gefängnissen, den Bridewells, kleinen Arbeitshäusern in fast allen Grafschaften, den »correction houses« und den großen Arbeitshäusern.[90] Dieser Institutionenverbund entstand vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen England und Frankreich, welches Luxusgüter über den Kanal exportierte, sich aber fremden Waren verschloß. Das Ärgernis sollte durch zusätzliche produktive Anstrengungen in England aus der Welt geschafft werden. Ziel der Armengesetzgebung war daher, »alle die Personen, verheiratet oder ledig, der Arbeit zuzuführen, die über keine Mittel verfügen, sich durchzubringen, und die keiner der üblichen täglichen Beschäftigungen nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen«.[91] Die Verwirklichung dieser Absicht wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts ständig verschärft. Waren die Gemeinden, Träger der Armenfürsorge, zunächst nur verpflichtet, den Armen Arbeit anzubieten, so berechtigte sie der Workhouse Test Act von 1722, die Bedürftigen durch Entzug der Un-[92]terstützung zur Arbeit in den Workhouses zu zwingen. Daß die Gemeinden Träger der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren, wurde damit begründet, daß dort, in einem übersichtlichen Rahmen, den speziellen Verhältnissen eher Rechnung getragen werden könne und daß sich dort den Armen leichter Arbeit böte als in den städtischen Zentren. Zu diesem Zweck hatten die Armenaufseher das Recht, jede fremde Person, die unterstützungsberechtigt werden konnte, an »seinen oder ihren ordnungsmaßigen Wohnort«[92] zurückzuschicken. Die Leute wurden da angesiedelt, wo ihre Kontrolle am leichtesten fiel, ungeachtet ihrer über Jahrzehnte gepflegten Lebensgewohnheiten. Doch die Verantwortlichkeit der Gemeinden stellte sie vor große Probleme, da eine »community« allein ein Arbeitshaus nicht betreiben konnte. Bristol war die erste Stadt, deren Gemeinden sich zusammenschlossen, um gemeinsam ein Workhouse zu errichten. Es folgten Tiverton, Exeter, Hereford, Colchester, Kingston, Shaftsbury, Sudbury, Worcester, Plymouth, Norwich und Gloucester.[93]
Den Gemeinden stand es durchaus frei, privaten Unternehmern die Sorge für die Beschäftigung der Armen zu übertragen. Die privaten Arbeitshäuser, deren Besitzer sowohl ein Fixum pro Aufgenommenen als auch die Erträge der geleisteten Arbeit erhielten, gaben freilich Anlaß zu heftigster Kritik. Besonders in Phasen schwacher Konjunktur, wenn die von den Insassen hergestellten Produkte nicht abgesetzt werden konnten, also als einziger Erlös die Kopfgelder blieben, versuchten die Unternehmer, die Verpflegung zu drücken. Ein Kritiker beschrieb die inneren Zustände:
»Eine gründliche Kenntnis der inneren Wirtschaft dieser armseligen Aufnahmestätten des Elends, oder besser Gemeindegefängnisse, Arbeitshäuser genannt, ist nicht leicht zu erlangen: hier, wie an anderen Orten der willkürlichen Herrschaft, gilt Kritik als Meuterei und Verrat und ist stets mit doppelter Bestrafung verbunden. Besondere Vorfälle, die jede menschliche Gesinnung schockieren, sind zuweilen nach außen durchgedrungen. [...] Eines ist bekannt [...], daß diese Arbeitshäuser Stätten der Verwahrlosung und der Unordnung sind, daß Junge und Alte, Kranke und Gesunde ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht in mangelhafte Unterkünfte gepfercht werden, nicht einmal groß genug, einigermaßen angemessen die Hälfte der elenden Wesen aufzunehmen, die zu einer solch beklagenswerten Behausung verurteilt sind, und daß ein schneller Tod fast immer das Los der Betagten und Gebrechlichen, aber auch der Jungen und Widerstandsfähigen ist, als Folge des Wechsels von gesunder Luft in solche Brutstätten der Fäulnis.«[94]
Befriedigend waren allerdings die Zustände in den kommunalen Arbeitshäusern auch nicht. Das von St.-Martin's-in-the-Fields galt z.B. als »sehr baufällig und in der Gefahr einzustürzen«.[95]
Die Anstalten erwiesen sich gleichwohl nicht als rentabel, so daß vermutet wurde, die Insassen verschwendeten mutwillig Rohstoffe, um alle Versuche [93] scheitern zu lassen, sie zur Arbeit zu zwingen. Ihre eigentliche Bedeutung lag allerdings auf einem anderen Gebiet: Sie dienten zur Abschreckung derer, die versuchten, ohne Arbeit von öffentlicher Unterstützung zu leben.
»Ich muß Ihnen mitteilen, daß der größte Vorteil, der der Öffentlichkeit entsteht, wenn sie diese Einrichtungen [die Arbeitshäuser, V. St.l unterstützt, in der Erweckung des Erwerbssinnes der Armen liegt. Viele aus unserem Volk, die vorher hauptsächlich von wöchentlichen oder monatlichen Zuwendungen lebten, [...] befleißigen sich nun der Arbeit, und da sie erkennen, daß sie, wenn sie Unterstützung von der Allgemeinheit erhalten wollen, auch für die Öffentlichkeit arbeiten müssen, strengen sie sich an, beschaffen sich Spinnräder und andere notwendige Materiale und arbeiten von früh bis spät, um zu vermeiden, daß sie in das Arbeitshaus kommen.«[96]
Dieser Effekt wurde auch in Maidstone, Kent, dem Arbeitshaus zugeschrieben. Dort habe eine große Zahl »fauler Individuen« die Maske der Arbeitsunfähigkeit fallengelassen. Sie sorgten nun durch eigene Anstrengung für ihren Unterhalt, um sich nicht den Einschränkungen des Arbeitshauses unterwerfen zu müssen.[97] Und aus Lancashire, Aston-under-line, wurde berichtet: »Die Furcht vor dem, was Einschließung genannt wird, hat mehrere unserer Armen angespornt, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.«[98]
Deutlich war ein Gefälle in der Strenge der eingeleiteten Maßnahmen von Nord- nach Südeuropa zu beobachten. »Die Regierungen, besonders im Süden, praktizieren ein Übermaß von Toleranz und begünstigen aus ihrer Schwäche heraus die Untätigkeit und Arbeitsunwilligkeit.«[99] In Spanien fand Lallemand kein Arbeitshaus, dessen Prinzip den im Norden angewandten entsprach.[100]
Diese Entwicklung, von der Respektierung der Armen bis zu ihrer konsequenten Verfolgung, habe ich deshalb ausführlich geschildert, weil sie, nach dem Geld, das zweite Element zu dem Bild der modernen Welt liefert. Alle zitierten Beispiele haben eins gemeinsam - sie bekunden die Programmatik, die Arbeit als neuen Grundwert einzuführen, den Müßiggang oder vielmehr, was dafür gehalten wurde, als Ursache aller Laster zu qualifizieren. Eine Umschichtung im Wertesystem geht hier unverkennbar mit der Ausprägung eines ökonomischen Begriffs und, wichtiger, dem daraus abgeleiteten Verhalten, den Lebensformen einher, die für die moderne Ökonomie fundamental sind.
Es galt also, »alle, die in Muße leben und nicht für vernünftigen Lohn arbeiten wollen, oder das, was sie haben, in Tavernen ausgeben«[101], dem Anblick der Bürger zu entziehen. Das Gründungsedikt des Hôpital général ist eindeutig; es bezeichnet Bettelei und Müßiggang als Quellen jeglicher Unordnung. Müßiggang bedeutet Revolte; er war an die Stelle des Hochmutes - superbia, radix malorum omnium, so hieß es noch im Mittelalter[102] - als [94] fundamentale Sünde getreten. »In unserer Welt, wo die Erde nur noch Disteln und Unkraut hervorbringt, ist er [der Müßiggang, V. St.] die Verfehlung par excellence.«[103] Eine entgegengesetzte Bewertung erfuhr die Arbeit - von einer Strafe für den Sündenfall wurde sie zum universellen Heilmittel.[104] Die Literatur spiegelte diesen Wandel: Dante noch lobte die Armut als christliche Tugend, die dann vom heiligen Franziskus wiederentdeckt wurde.
»Die Frau, des ersten Gatten einst beraubt,
elfhundert Jahre verschmäht, verachtet,
blieb ohne Werbung, bis dann dieser kam.«[105]
Doch bei seinen Nachfolgern hat sich die Botschaft umgekehrt: »Oh Armut, was bist du ein Hort des Zornes und des Neides...«[106]
Hinter der ordnenden Aufgabe der Zwangsanstalten trat ihre direkte ökonomische Bedeutung als Produktionsstätten zurück; meist arbeiteten sie ohne Gewinn. Profit zu erzielen war explizit nicht ihr Zweck, darüber waren sich Direktoren, Kaufleute und örtliche Handwerker einig.[107] De la Pagne, selbst, wie er sagt, ein Opfer der willkürlichen Einkerkerung in Bicêtre, beschreibt, wie in dieser Anstalt 90 Menschen damit beschäftigt waren, die Brunnen zu bedienen und täglich Kosten von 100 livres verursachten. Die gleiche Aufgabe hätte von 8 blinden, also billigen Pferden übernommen werden können, zu 12 livres pro Tag.[108]
Die bloße Beschäftigung der Gefangenen, ohne auf einen anderen Nutzen als den der Disziplinierung zu achten, war oft für die geringe Rentabilität dieser Häuser verantwortlich. Sie beeinträchtigten die sozialen Zusammenhänge der Armen, versuchten sie in der Bevölkerung zu isolieren und gaben dem Staat ein Domestizierungsinstrument an die Hand, dessen Anwendung jederzeit erfolgen konnte. Die kleinen Leute, »arme Bauern, auf dem Weg, Proletarier zu werden, die sich noch weigerten, regelmäßig in den Dienst des Kapitals zu treten«[109], waren von nun an dem Zwang zur Arbeit und der Armut ausgeliefert.
Die Moral der Arbeit vereint sich mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik; einige Elemente, von uns bisher angeführt, beginnen sich zusammenzufügen. Überall wurde es als Skandal empfunden, wenn die Nation gezwungen war, Waren zu importieren, sich so von dem Ziel zu entfernen, im Handel mit dem Ausland einen Überschuß zu erzielen, während ein Teil der Bürger nicht produktiv tätig war.[110] So wie Wm. Bailey argumentierten viele andere, fast alle ökonomischen Schriftsteller der merkantilistischen Lehre:
»Wir könnten Leinentuch durch die Arbeit unserer heimischen Armen herstellen und dabei einer großen Zahl von Männern, Frauen und Kindern Beschäftigung und [95] einen Lebensunterhalt bieten. [...] Stattdessen werden gegenwärtig hohe Summen ins Ausland gesandt, um die Armen, die Grundbesitzer, Fabrikanten und Kaufleute fremder Länder zu ernähren, zu bekleiden und zu bereichern.«[111]
Da die im Inland angewandte Arbeit vermehrt werden sollte, setzte sich im übrigen der Vorschlag nicht durch, die Vagabunden zu lebenslänglicher Verbannung auf den Galeeren zu verurteilen.[112] Produktivität hat hier eine ganz besondere und nur heute allgemeingültige Bedeutung: Sie sollte in Waren, in Tauschwerten ausgedrückt werden. Der Austausch von Geldgrößen schuf erst die Möglichkeit, die Arbeit fast unbegrenzt auszudehnen, und er stigmatisierte diejenigen Arten von Arbeit, die nicht zur Handelsware beitrugen. Der prophetische Satz der Florentiner Philosophie galt nicht mehr: »Er sieht nicht, daß es besser ist, in Zufriedenheit wenig zu haben als im Überfluß zu leben, vom Ehrgeiz geplagt.«[113]
Fortan wurde immer mehr produziert, und in die Köpfe zog tatsächlich »foco«, Feuer oder Wahnsinn, ein. Infolge der Entwicklung der fabrikmaßigen Herstellungsweise konnte erstmals ein Produktionsverfahren genutzt werden, das eine einigermaßen zuverlässige Relation zwischen menschlicher Anstrengung und deren Ergebnis zu setzen erlaubte. Eine Produktion dagegen, die in hohem Maße vom Wetter und der Natur, im allgemeinen Bewußtsein: vom Willen Gottes, vom Schicksal abhängig ist, neigt eher dazu, dieses ihr Äußeres auch in anderen Bereichen zu akzeptieren. Ihr entspricht die Einstellung, daß das Schicksal der Armen Gottes Wille und daher vom Menschen zu akzeptieren sei, viel mehr als der Lebensweise städtischer Produzenten. Dieser Auffassung war jedes Denken in Begriffen der Effizienz und der direkten Äquivalenz fremd - genau das aber war von nun an gefordert.[114]
Die Bettler sind nicht in der Lage, für die Gaben, die sie erhalten, ein Äquivalent zu liefern. Daher werden sie nicht länger geduldet. In früheren Zeiten boten sie zwar auch kein Äquivalent, aber immerhin eine Gegengabe, die gefragt war, unabhängig von ihrem materiellen Wert: ihre Gesänge, ihre Geschichten oder ihre pure Existenz, als Gelegenheit, Mildtätigkeit zu üben. »Sie verkauften zu einem guten Preis ihre Dienste, die nicht geringzuschätzen waren, auch wenn sie kein materielles Gut erzeugten.«[115] Die enge Verknüpfung dieses Prozesses mit dem Geld liegt auf der Hand, da es den Begriff der Äquivalenz erst exakt bestimmbar und daher sinnvoll macht.
Ehe wir noch einige Folgeerscheinungen der Grundlegung der Wirtschaftspolitik untersuchen, soll der bisherige Stand festgehalten werden. Die ungeklärten Punkte zeigen, wie dringlich es ist, später noch einmal an einem anderen Ende anzusetzen. Die Teile des Gesamtbildes, die nur sehr willkürlich aus dem vorliegenden Material abstrahiert werden könnten, folgen von [96] selbst aus der Beobachtung der Vielfalt. Was in der Wissenschaft als das Allgemeine gilt, soll hier nicht durch abstrakte Gedankengänge herausgeflltert, sondern in konkreten Lebensformen aufgespürt werden, an der Basis des Geschehens, weil es sich nur dort manifestiert.
Das Geld ermöglicht eine Produktionsform, die nach Arbeit, nach abstraktem Reichtum hungert. Gleichzeitig begründet es ein Machtsystem, das zur Disziplinierung der Arbeit unerläßlich wird. Doch wir wissen bisher noch nichts über die spezifische Form der geforderten Arbeit, und es ist noch nicht klar, welches Bild der Welt hinter dem Modell des vom Menschen wenn nicht lenkbaren, so doch beeinflußbaren Lebens steht.
Einige Jahre nach seiner Gründung beherbergte das Hôpital général von Paris 6.000 Personen, ein Prozent der Einwohner.[116] Die Zahlen in anderen Städten waren, relativ zur Summe der Bevölkerung, nicht geringer. In Poitiers. waren 2.000 Menschen interniert, in Bordeaux 400 - 900, in Orleans 2.400, in Montpellier 300, ebenso in Beauvais.[117] Die 48 Arbeitshäuser Londons beherbergten etwa 4.000 Insassen.[118]
Bei der Lektüre der zeitgenössischen Beschreibungen der Zwangsanstalten verstärkt sich unser Eindruck, daß die Internierungshäuser für die Armen weit mehr gefüllt waren als die traditionellen Gefängnisse. Das Arbeitshaus in Hamburg enthielt 600 Gefangene, das Wiener Almshausen versorgte gar 3.000 Menschen. Allein in einem der beiden Hospitäler fanden sich ca. 2.000 Menschen, während die Zitadelle etwa 130 Gefangene einschloß, eine Zahl, die der der 'normalen' Gefangenen in anderen Städten vergleichbar war.[119]
Es bestand nur die Möglichkeit, einen kleinen Teil der Armen und Nicht-Seßhaften festzusetzen; doch die Voraussetzung des ständigen Zugriffs mit seiner Einschüchterungskraft war damit geschaffen. Ebenso wichtig war, einer von den Wertvorstellungen abweichenden Gruppe einen besonderen Platz zuzuweisen, sie vom Volk, dessen Teil sie waren, zu isolieren. Den Agenten der Repression wurde ihre Aufgabe nicht leicht gemacht. Ein Vorfall aus dem Jahr 1675 soll aus den Archiven der Charite von Lyon zitiert werden. Er gibt das Mißgeschick zweier Wachen dieser Institution wieder, ausgesandt zur Armenjagd:
»[...] sie trafen einen jungen Gesellen an, etwa l7 oder l8 Jahre alt, der in einem Laden bettelte. Als sie ihn verhaften wollten warf er sich auf den Boden und wollte nicht mit ihnen gehen. Da sie nicht sehr weit von dem Haus der Charité entfernt waren, machten sie sich daran, ihn auf die Beine zu stellen, als aus der Kneipe des Herren Fraisse eine Gruppe von Maurern heraustrat, die sie bedrohten - die einen mit den Maßhölzern in der Hand, die anderen, indem sie Steine nach ihnen warfen. So zwangen sie die Wachen, den genannten Bettler laufenzulassen. Als diese ihren Weg fortsetzten, wurden sie am Place de Bellecour von einer Menschenmenge angegriffen, in [97] der sich Männer und Frauen aller Altersstufen befanden. Darunter erkannten sie eine Müllerin, die Frau des Delayen, die ihnen Beleidigungen entgegenschleuderte und sie zugleich mit Steinen bewarf. [...] Junge Frauen stellten sich an die Zimmerfenster des Herren Carret, des Seidenzwirners. und nannten sie Henker, die man verprügeln müsse. Sie forderten zwei Schmiedegesellen, Jean Lolive und René Babin, auf, aus ihrer Werkstatt zu kommen und Steine zu werfen.«[120]
Mehrmals beklagen königliche Ordonanzen »die Schwierigkeit, die Bettler zu verhaften, aufgrund des Schutzes, den ihnen die Diener hochgestellter Herrschaften, Bürger, Handwerker und die kleinen Leute gewähren«.[121] Eine Verfügung des Parlamentes von Bordeaux (1662) hebt nachdrücklich diejenigen hervor, die den Ordnungskräften ihre Aufgabe erschweren:
»Es wird hiermit jedermann ausdrücklich untersagt, welchen Standes er auch sei, Bürgern und anderen, insbesondere allen Handwerkern, Arbeitern, Gehilfen und Dienstboten, des einen oder anderen Geschlechtes, die Wachen des Hôpital zu beleidigen oder in irgendeiner Weise zu belästigen, gleich unter welchem Vorwand. Zuwiderhandelnde werden exemplarisch bestraft.«[122]
In England waren die Arbeitshäuser so verhaßt, daß sie zuweilen, um Ärger zu vermeiden, nicht mit diesem Namen bezeichnet wurden:
»Arbeitshaus ist ein Begriff, dem die Vorstellung der Erziehung und Bestrafung anhaftet. Viele unserer Armen empfinden eine solche Abneigung dagegen, in ihnen zu leben [...], daß alle Vernunft und Argumente auf Erden nicht dagegen ankommen. Daher wird es eine Menge Ärger ersparen [...], die Arbeitshäuser mit einem sanfteren und weniger anstößigen Begriff zu bezeichnen.«[123]
Wir wollen nun den gleichen Prozeß noch einmal verfolgen, den wir bisher hauptsächlich für Frankreich nachgezeichnet haben. Im ersten Fall handelt es sich um die auch hier verspätete Entwicklung in Deutschland, im zweiten um ihr Scheitern im Süden, in Rom.
Nach Aufhebung der Gutsherrschaft im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen und der Einführung der Gewerbefreiheit war ein traditionelles Mittel der Kontrolle der Bevölkerung entfallen, die Menschen waren nicht mehr direkt an ihre Herren gebunden. In den Vertretern der alten Ordnung finden wir die aufmerksamsten Kommentatoren dieser Loslösung:
»Was der Meister heute ist, kann jeder Gesell morgen werden, das Gewerk existiert nicht mehr, die Disziplin ist fort. [...] So ist denn in dem seitdem verflossenen Zeitraum sowohl unter den Landleuten als auch unter den Städtern eine ganz neue, bis dahin unbekannte Klasse entstanden, nämlich die Heimatlosen - oder mit einem neumodischen, der Fremdheit wegen angenehmeren Namen, die Proletarier.«[124]
Die Vorschläge, die von der Marwitz unterbreitet, sind uns dem Tenor nach schon bekannt: keine Unterstützung für Arbeitsfähige, Belastung der Nicht-Seßhaftigkeit. »Immer wird es darauf ankommen, das Verbleiben in [98] der Heimat vorteilhaft, das Umherlaufen aber beschwerlich und kostbar zu machen.«[125] Hinzu kommt ein enges Kontrollnetz über dem wandernden Volk. Mittels eines Wanderbuches müsse jeder in der Lage sein, seinen gesamten Lebenslauf lückenlos nachzuweisen. Unser Zeuge ist durchaus auf der Höhe der Zeit; auch er träumt von einem perfekten Überwachungssystem. »Daß solche Anordnungen noch eine Menge Nebenbestimmungen und Rücksichten erfordern würden, leuchtet ein.«[126]
Alle »Anordnungen, Nebenbestimmungen und Rücksichten« blieben in Rom langfristig ohne Resultat. Kluge Päpste der Gegenreformation hatten einen klaren Blick dafür, wie Ordnung in die Stadt gebracht werden konnte.[127] Sie förderten die Industrialisierung mit allen Mitteln - ihr Therapierezept war ebenfalls die Arbeit. Sixtus V. errichtete mit gewaltigem Aufwand ein neues Haus, das Platz für 2.000 Bettler bot. Der Architekt, Dom. Fontana, beschrieb es als »grandissimo« und »commodissimo«; es verfügte über drei große Säle und getrennte Räume für Alte, Männer, Frauen und Kinder. Dort lernten die jungen Frauen nähen, die Jungen lesen und schreiben, sie erhielten auch eine Berufsausbildung.
Doch es war klar, daß das Vagabundentum nur durch die Förderung der Industrie dauerhaft abgeschafft werden konnte. Römische Chroniken berichteten gegen Ende des 16. Jahrhunderts wiederholt, daß der Papst beschlossen habe, einen Weg zu finden, wie den Armen ein Arbeitseinkommen gegeben werden könne. Aus diesem Grunde wolle er das Woll- und Spinngewerbe in der Stadt einführen. Clemens Vlll. erläuterte, seine Vorgänger hätten dieses Handwerk gefördert, um vor allem den armen Witwen und den jungen Mädchen Arbeit zu besorgen.
Dies deutet auf eine weitere Gruppe neben den Bettlern hin, die nicht in das Bild einer »gesunden« Stadt paßte, wie es der Gegenreformation vorschwebte: die Prostituierten. Pius V. und Sixtus V. hätten sie am liebsten aus der Stadt gejagt, doch die Bedürfnisse der versammelten kirchlichen Würdenträger und diplomatischen Gesandten sprachen dagegen. Die Botschafter Spaniens, Portugals und von Florenz fanden es nicht unter ihrem Stande, gegen einen Vertreibungsbeschluß zu protestieren, und einer Delegation von 40 hervorragenden Bürgern, die Pius V. mit demselben Ansinnen aufsuchten, hielt der Papst entgegen, sie sollten zwischen ihm und den Prostituierten wählen. Doch der Papst gab schließlich nach, und die Kurtisanen blieben. Nach dieser Niederlage sann er auf andere Abhilfe, und hierbei verfiel auch er auf die Arbeit und die Errichtung eines Gettos, die Absonderung.
Während der Renaissance hatten sich die Prostituierten über die ganze Stadt ausgedehnt. Alle Reisenden berichten von ihnen und ihrer unglaubli-[99]chen Zahl, die sie mit 10.000 bis 30.000 angaben, bei kaum mehr als 100.000 Einwohnern. Diese Angaben sind sicherlich von der Abenteuerlust der Besucher gefarbt worden, doch mehrere tausend »cortigiane« mag es gegeben haben.[128] Der Heilige Stuhl behinderte sie nicht; noch 1490 reagierte Innozenz Vlll. auf den Plan, die freie Ehe zu ächten, mit den Worten: »Das ist nicht verboten.« Alsbald gab es kaum noch einen Priester, der nicht nach dem päpstlichen Kommentar handelte. Kirchliche Institutionen vermieteten Häuser an Prostituierte, ebenso hochgestellte Familien. Die Lebensweise der berühmtesten Maitressen ist oft dargelegt worden; ihre herrschaftlichen Häuser mit geschwungenen und goldverzierten Treppen, Wände mit kunstvollen Stickereien und wertvollen Bildern geschmückt, und Teppiche, so kostbar, daß es der spanische Botschafter aus »Höflichkeit« vorzog, auf einen Diener auszuspucken und nicht auf den Boden, täuschen allzu leicht eine gesicherte und geachtete Stellung vor, die auch in den Zeiten für die große Mehrheit der Frauen nicht bestand, als sie nicht offen verfolgt, sondern öffentlich und gern »gebraucht« wurden.
Dies hatte mit der Gegenreformation ein Ende. Als die völlige Vertreibung der Prostituierten am Widerstand hoher Bürger scheiterte, wurden alle »Frauen mit schlechtem Lebenswandel« angewiesen, ihre Häuser zu verlassen und sich in einem Stadtviertel nahe der Piazza del Popolo anzusiedeln. Ein neues Getto war geschaffen; die dort wohnenden Spanier wurden ausquartiert, um Wohnräume freizumachen. Den Frauen war es strikt untersagt, ihren Distrikt zu verlassen. Taten sie es dennoch, so wurden sie ausgepeitscht, ihr Besitz konfisziert. Derlei Maßnahmen waren stets von offener Unterdrückung begleitet, so bezeichnenderweise von der Verschärfung des Abtreibungsverbots.
Doch all diese Versuche der Disziplinierung, deren konsequenteste Modelle wir hier geschildert haben, versagten, weil die Industrialisierung nicht durchsetzbar war. Rom hatte keinen Bedarf an kontinuierlicher Arbeit; es lebte von den Reichtümern, die die Kirche aus aller Welt empfing oder abzog. Alle Arten von Dienstleistungen versprachen leichteren Gewinn als Straßenbau und Seidenspinnerei. Rom blieb also weiterhin das Zentrum der katholischen Welt, der Bettelei und der Prostitution.
C. Der Übergang zur liberalistischen Armenpolitik
Mit dem Entstehen der Manufakturen und Fabriken setzte der Staat all seine Mittel ein, ihnen die Arbeitskräfte zu liefern, die sie benötigten, ange-[100]paßt an die neuen Arbeitsformen. Er verhinderte nicht nur, daß die freigesetzten Handwerker oder Bauern in Bettelei und Vagabundentum auswichen, er sorgte auch durch ausgedehnte Arbeitsbeschaffungsprogramme dafür, daß die Arbeit als Grundwert und als realer Zwang die Bevölkerung erfaßte.
Dieser strenge Staatsinterventionismus widerspricht den Regeln des voll ausgeprägten Kapitalismus -- wie jeder andere Markt soll sich auch der Arbeitsmarkt selbst regulieren. Die beschriebenen Zwangsmaßnahmen dienten daher nur einem Übergangsstadium, so lange notwendig, bis den Menschen Alternativen zur bedingungslosen Auslieferung an den Arbeitsmarkt verstellt waren. Danach erst erwies sich das »freie Konkurremsystem« als funktionsfähig, selbstverständlich flankiert von möglichst privater »Wohlfahrt« und dem staatlichen Zwangsapparat dort, wo es geboten schien.
Als England 1803 eine Blockade über Elbe und Weser verhängte und Hamburg durch die Franzosen besetzt wurde, somit der gesamte Handel zum Erliegen kam, war der äußere Anlaß eingetreten, die vorbildlichen und ehrgeizigen Projekte der Armenkontrolle[129] endgültig aufzugeben und das Schicksal der Randgruppen einerseits dem Arbeitsmarkt, andererseits der privaten Fürsorge zu überlassen. »Hilfeleistungen bei bereits eingetretener materieller Notlage - nicht Arbeitsbeschaffung, sondern 'Geldunterstützung nach Maßgabe der Hilfsbedürftigkeit' kennzeichnet jetzt die Hamburgische Sozialpolitik.«[130] Nach der wirtschaftlichen Erholung blieb die Auffassung bestehen, daß die früheren Projekte unrealisierbar seien. Wie stark sich die Meinung gewandelt hatte, zeigt ein Blick auf die Position des Senats:
»Zwar verkenne der Senat nicht die Zeitumstände und Rücksichten auf das Gewerbe, meine aber doch, daß vielfach mehr gänzlich erloschenes Ehrgefühl als wahre Not den Zudrang zur Armenanstalt vermehre. Die Unterstützungen müßten möglichst erschwert werden, vielleicht jede Unterstützung nicht eingezeichneter Armen gänzlich aufhören.«[131]
Hier wird deutlich, daß der Zudrang zur Armenanstalt aus »erloschenem Ehrgefühl«, der früher Anlaß zur allgemeinen Empörung und zum sofortigen Eingriff des Staates gewesen wäre, um diesen unmoralischen Zustand zu beenden, nun die sozialen Aktivitäten weiter verminderte. An die Stelle der Armenanstalt (obwohl diese formal bestehen blieb) trat das Wichernsche 'Rauhe Haus'; Reflexionen, die nicht über den familiären Rahmen der Armen hinausgingen, die in den privaten Lebensbedingungen die Wurzel der Verwahrlosung sahen, ersetzten solche, die abwägten, wie die Arbeit als Grundlage der neuen Zeit am effizientesten gestaltet werden könne. [101]
»Wenn Wichern durch die Hamburger Elendsviertel geht, nimmt er zunächst so gut wie nichts anderes wahr als - Promiskuität (und die extremste Form der Verlumpung). Das ist sein Anhaltspunkt, von dem aus er sich an die Familien heranarbeitet. Er untersucht diese Familien, zerstörte Familien, illegale Konkubinate, uneheliche Kinder - Väter, die ihre Familie vernachlässigen, Mütter, die ihre Kinder verwahrlosen lassen - ein kleines Chaos nach dem anderen. Dazwischen gelegentlich ein kleiner Kosmos, eine ordentliche Familie. Das vornehmste Arbeitsfeld des Sozialarbeiters ist das 'Familienleben', sind die 'privaten' Beziehungen und Probleme der Armen. Bemerkenswert ist hier, wie sich das scheinbar Konkreteste in eine Fiktion verflüchtigt.«[132]
In England wurde die Politik des laissez-faire den Armen gegenüber schon früh diskutiert, im 17. und 18. Jahrhundert von so prominenten Autoren wie J. Locke, D. Defoe und R. Dunning. Defoe bemerkte: »Es erscheint mir wunderlich, aufgrund welcher guten Gründe [...] wir davon ausgehen, daß es unsere Aufgabe ist, ihnen [den Armen, V. St.] Arbeit zu suchen und sie zu beschäftigen, statt sie zu verpflichten, sich selbst Arbeit zu verschaffen und ihr nachzugehen.«[133] Doch war der »freie« Arbeitsmarkt noch nicht genügend konsolidiert, um das Problem der Armen ohne staatliche Eingriffe zu »lösen«.
Im 19. Jahrhundert hatte sich das Bild gewandelt. Die Armen wohnten in riesigen Vierteln, fast ohne jede äußere Kontrolle, völlig auf sich selbst gestellt. East End in London war eines davon. »Die Armenviertel wurden zu einer ungeheuren terra incognita, periodisch von unerschrockenen Missionaren und Forschern beschrieben, die die unersättliche Nachfrage der Mittelklasse nach Reiseerzählungen befriedigten.«[134] Diese Ansammlung der Armen für die Zeitgenossen kaum von Kriminellen unterscheidbar, war eine Quelle ständiger Angst für die Bürger, doch sie reagierten nicht mit verstärkter Kontrolle, der Anordnung der Armen unter ihren Augen, sondern mit räumlicher Trennung. Für ein Jahrzehnt relativ ungetrübter ökonomischer Entwicklung von 1870 bis 1880 war die Society for Organizing Charitable Relief and Repressing Mendicity (C.O.S.) federführend in der Herstellung der Beziehungen zwischen dem East End und dem wohlhabenden West End.[135] Ihre umfangreiche Publikationstätigkeit enthält wertvolles Material, um einige Höhepunkte liberalistischer Fürsorgepolitik kennenzulernen.
Die Gründung der C.O.S . erfolgte 1869, um der Vielfalt der staatlichen und privaten Unterstützungsmaßnahmen zu begegnen. Mit großer Sorge beobachteten die Bürger Londons, meist Angehörige der liberalen Berufe, daß »clever paupers« dies ausnutzten und von verschiedenen wohltätigen Vereinen unterstützt wurden, so daß der Bettlerlohn höher war als der der »honest poor«, die einer Arbeit nachgingen und dabei durch das schlechte Bei-[102]spiel demoralisiert wurden. Es galt also - dies war die Grundintention der C.O.S. -, alle Alternativen zur Arbeit so beschwerlich wie möglich zu gestalten und die Lösung des Armenproblems den Marktkräften zu überlassen. Die Organisation selbst nahm kein Blatt vor den Mund: »Laßt sie [die Armen, V. St.] auf sich selbst gestellt sein, und allein der Druck der Umstände wird sie im Laufe der Zeit über den Arbeitsmarkt verteilen, bis sie allmählich wieder dort im Wirtschaftsleben aufgenommen werden, wo die Nachfrage am größten ist.«[136]
Ab 1875 war Charles S. Loch Sekretär der C.O.S.; er entwarf ihre Ideologie. »Während seines ganzen Lebens entfernte sich Loch nur wenig, wenn überhaupt, von seiner tiefen Feindschaft gegen jeden staatlichen Eingriff. [...] Seine gesamte Laufbahn und die der Organisation, die er beherrschte, beruhten auf der Behauptung, daß Elend (und zu einem beachtlichen Maß auch Armut) die Folge moralischer Schwäche der Individuen sei.«[137] Insbesondere die Arbeitslosigkeit galt Loch nicht als Problem, dem sich staatliche oder soziale Einrichtungen zu widmen hätten, wenn es überhaupt ein reales Problem sei. In seinen Berichten erschien der Begriff Arbeitslosigkeit stets in Anführungszeichen.
Erst die Furcht vor Revolten und der Ausbreitung des Sozialismus in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bewirkte eine Abkehr von dieser Politik. Der Aufstand der Arbeitslosen am 8. Februar 1886 machte den realen Charakter ihrer Probleme auch den Bürgern klar. Etwa 20.000 Beschäftigungslose hatten sich auf dem Trafalgar Square versammelt, um ein öffentliches Arbeitsbeschaffungsprogramm zu fordern.[138] Auf dem Weg zum Hyde Park wurden die Symbole des Wohlstandes angegriffen, Clubs der Reichen, Juweliergeschäfte, Läden, Kutschen. »In einem Wort, das West End war für einige Stunden in den Händen des Pöbels «[139] In den beiden folgenden Tagen erfuhr London, was Paris seit der »grande peur« 1789 kannte: Gerüchte über Plünderungen und Aufstände überstürzten sich, ihre Verbreitung rief tatsächlich Aktionen der Armen hervor. Verängstigte Händler drohten dem Staat, bewaffnete Gruppen aufzustellen, wenn er nicht selber für Ordnung sorge.
In diesem Augenblick erschien die Ideologie des C.O.S. als gefährlich; gegen ihren Widerstand wurde ein umfangreiches Hilfsprogramm entworfen, um die Bedürftigen zu unterstützen, vor allem aber sie zu befrieden. Neue Stimmen regten sich, die uns heute vertraut erscheinen: »Ich bin allmählich zu der Überzeugung gelangt, daß das Hauptübel unseres gegenwärtigen Systems der Armenunterstützung darin liegt, daß es versäumte die Mitarbeit der arbeitenden Klassen selbst zu gewinnen.« Dies schrieb Alfred Marshall 1886 an einen Verfechter der nun überholten Konzeption des C.O.S.[140]
Anmerkungen
[1] Zit. bei Billacois, François et al., Crimes et criminalité en France.17e-18e siècles, Paris 1971, p. 243.
[2] Vgl. Hamburgisches Armen-Collegio (Hrsg.), Vollständige Einrichtungen der neuen Hamburgischen Armen-Anstalt. Erster Band Hamburg 1788, Teil II.
[3] Zur Veränderung des ländlichen Raumes siehe Kap. V, C dieser Arbeit, zur Neugestaltung einer Stadt siehe z. B. Descimon, R. und Nagle, J.: »Les quartiers de Paris du Moyen Age au XVlll[e] Siècle<<, in: Annales 5/1979.
[4] Camus, J. P., Traite de la pauvreté évangélique, Besançon 1634, p. 5; zit. bei Gutton, J. P., La société et les pauvres. L'exemple de la généralité de Lyon 1534-1789, Paris 1971, p. 9.
[5] Blervache, Clicquot de, Essai sur les moyens d 'améliorer en France la conditiondes laboureurs, des journaliers, des hommes de peine vivant dans les campagnes et celle de leurs femmes et de leurs enfants, Chambéry l789, p. 102; zit. bei Gutton, op. cit., p. 9.
[6] Mereville, François Simon de, Traité de la jurisdiction des prévôts des maréchaux, Paris 1629, p. 35.
[7] Gutton, op. cit., p. 13.
[8] Gutton, op. cit., p. 89.
[9] Schöll, U., Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben nach Akten und anderen sicheren Quellen, Stuttgart 1793, p. 503.
[10] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 120; siehe auch Reuss, Rodolphe, La justice criminelle et la police des moeurs à Strasbourg au XVIe et au XVlle siècle, Strasbourg 1885, p. 95.
[11] Gutton, op. cit., p. 143.
[12] Delamare, Traité de Police (4 Bde.), Bd. 1, p. 194, Amsterdam 1729.
[13] Siehe ebenda, p. 193.
[14] Mit diesen Befürchtungen verbrachte der holländische Reisende Arnold van Buchel eine Nacht, »nicht ohne zu zittern«, auf seinem Weg nach Paris. A. van Buchel, »Déscription de Paris« (1585), in: Mémoires de la société de l'histoire de Paris et de I'Ile de France, Bd. 26, 1899, p. 68.
[15] Sigal, Pierre André, »Pauvreté et charité aux Xl[e] et Xllé siècles«, in: Mollat, Michel (Hrsg.), Etudes sur l'histoire de la pauvreté (Moyen âge-XVI[e] siècle), 2Bde., Paris 1974, Bd. 1, p. 152.
[16] Hamburgisches Armen-Collegio, op. cit., Teil 1, p. 45.
[17] Gutton, op. cit., p. 148.
[18] Schöll, J. U., Abriß des Jaunerwesens, op. cit., p. 416.
[19] Ebenda, p. 418.
[20] Zit. in: Thompson, E.P., »Die >sittliche Ökonomie< der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert«, in: Puls, Thompson u.a., Wahrnehmungsformen und Protestverhalten, Frankfurt 1979, p. 31.
[21] Duby, G., Krieger und Bauern, op. cit., p. 104.
[22] Lallemand, L., op. cit., p. 156.
[23] Siehe Platter, Thomas, Lebensbeschreibung, Klosterberg-Basel, 1944.
[24] Siehe Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, München 1978, p. 286-288, p. 357-361.
[25] Ebenda, p. 358.
[26] Ebenda, p. 451.
[27] Ebenda, p. 448.
[28] Friedmann, Georges, Où va le travail humain? Paris 1950, p. 26.
[29] Siehe Grand, R./ Delatouche, R., L'agriculture au Moyen Age de lafin de l'empire romain au XVle siècle, Paris 1950, p. 228.
[30] Ebenda, p. 229.
[31] Le Trosne, Guillaume François, Mémoire sur les vagabonds et sur les mendiants, Soissons, Paris 1764, p. 3.
[32] Lallemand, L., op. cit., p. 156.
[33] Archives departementales Rhône, B, maréchaussée, 1741, dossier Duclos, F.H.; zit. bei Gutton, op. cit., p. 177.
[34] Büsch, Johann Georg; Erfahrungen Bd. 3, Hamburg 1792, p. 262-263.
[35] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 201.
[36] Hobsbawm, Eric J., Die Banditen, Frankfurt 1972, p. 60.
[37] Siehe Postel-Vinay, Gilles, La rentefoncière dans le capitalisme agricole, Paris 1974, p. 62-63; siehe auch Le Trosne, Guillaume F., Mémoire sur les vagabonds, op. cit., p. 4.
[38] Vgl. Lallemand, L., Histoire de la charité, op. cit., Bd. 4.1., p. 157.
[39] Lallemand, L., op. cit., Bd. 4.1., p. 159; Misraki, Jacqueline, »Criminalité et pauvreté en France à l'époque de la guerre de cent ans«, in: Mollat, M., Etudes sur la pauvreté, op. cit., Bd. 2, p. 539.
[40] Paultre, Christian, De la répression de la mendicité et du vagabondage en France sous l'ancien régime, Paris 1906, p. 42-43.
[41] Ebenda, p. 34-35.
[42] Nach Delumeau, Jean, Vie économique et sociale de Rome, op. cit., Bd. I, p. 405-407.
[43] Sauval, H., Histoire et recherches des antiquités de la ville de Paris, Paris 1724, 3 Bde., Bd. 1, p. 512. Zit. bei Paultre, op. cit., p. 40-41.
[44] Gutton, op. cit., p. 216. Siehe auch Marshall, Dorothy, The English Poor in the Eighteenth Century (1926), London 1969, p. 16.
[45] Graus, »Au bas Moyen âge: Pauvres des villes et pauvres des campagnes«, in: Annales (ESC) 1961, p. 1055; siehe auch E. Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 á 1324. Paris 1975, p. 556-557.
[46] Vgl. Mollat, Michel, »La notion de pauvreté au moyen âge«, in: Revue d'Histoire de l'Eglise de France (RHEF) 1966, p. 9.
[47] Vgl. Rapp, Francis, »L'église et les pauvres à la fin du moyen âge: I'exemple de Geiler de Kaiserberg«, in: RHEF 1966, p. 41.
[48] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 217.
[49] Siehe Mollat, M., »La notion...«, art. cit., p. 5.
[50] Duby, G., »Les pauvres des campagnes dans l'occident médiéval jusqu' au XIII[e] siècle«, in: RHEF 1966, p. 28.
[51] Siehe Grand/ Delatouche, L'agriculture..., op. cit., p. 224.
[52] Duby, G., art. cit., p. 28.
[53] Zit. in Favreau, Robert, »Pauvreté en Poitou et Anjou à la fin du moyen âge«, in: Mollat, M. (Hrsg.), Etudes sur l'histoire..., Bd. 2, p. 604. Die weiteren Angaben ebenda, p. 600-601.
[54] Vgl. Ronciere, Charles-M. de la, »Pauvres et pauvreté à Florence au XIV[e] siècle«, in: Mollat, M. (Hrsg.), Etudes..., op. cit., Bd. 2, p. 669.
[55] Vgl. Rapp, Francis, »L'église et les pauvres...«, art. cit., p. 42.
[56] Vgl. zum folgenden Asséo, Henriette, »Marginalité et exclusion. Le traitement administratif des Bohémiens«, in: Problemes socio-culturels en France au XVIIe siècle, Paris 1974.
[57] Ebenda, p. 17.
[58] Königl. Edikt von 1673, zit. ebenda, p. 44.
[59] Charles, François Jacques, Dictionnaire universel de Justice, Police, Finance (1725), Art. >Bohemien<, zit. Asséo, op. cit., p. 50.
[60] 1619 z.B. dekretierte Philipp III. von Spanien: »Sie mögen innerhalb von sechs Monaten aus unserem Reich ausreisen, und sie mögen dorthin nicht zurückkehren, bei Strafe des Todes.« In England wurden zur Zeit der Herrschaft Heinrichs VIII. in dem Act concerning outlandish people calling themselves Egyptians ähnliche Bestimmungen erlassen. Vgl. L. Lallemand, Histoire..., op. cit., Bd. 4.1, p. 200-201.
[61] H. Asséo, op. cit., p. 39.
[62] Vgl. Gutton, op. cit., p. 249-251.
[63] Büsch, J. G., Erfahrungen, Bd. 3, Hamburg 1792, p. 238.
[64] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 273.
[65] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 272.
[66] Ebenda, p. 273.
[67] Vgl. auch E. Le Roy Ladurie, Les paysans de Languedoc, op. cit., p. 153.
[68] Busch, Erfahrungen, op. cit., p. 269.
[69] Vgl. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt 1973, p. 71.
[70] Art. XIII des Ediktes von 1656; zit. bei Foucault, op. cit., p. 72.
[71] Art. XII, zit. ebenda, p. 73. Siehe auch Gutton, op. cit., p. 333.
[72] Vgl. Boissonnade, Paul, Colbert. Paris 1932, p. 122.
[73] An Account of Several Workhouses for Employing and Maintaining the Poor, London 1732, p. XI.
[74] Wagnitz, H. B., Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland, 2 Bde., Halle 1791, Bd. 2, p. 119.
[75] Siehe Foucault, op. cit., p. 77-78.
[76] Vgl. Wagnitz, op. cit., p. 119.
[77] »Diese Zuchthäuser waren [...] für alle bestimmt, die irgendwie dem geordneten staatlichen Leben lästig [...] zu werden drohten.« Wagner, Fr., Aus der Geschichte des fürstenbergischen Zucht- und Arbeitshauses in Hüsingen. Schriften des Vereins für Geschichte und Naturgeschichte der Baar und der angrenzenden Landesteile in Donaueschingen, Heft XVII, 1928, p. 102.
[78] Grendi, Eduardo, »Pauperismo e Albergo dei Poveri nella Genova del seicento«, in: Rivista storica italiana, 1975, p. 648.
[79] Pignot, Albert, L'hôpital du Midi et ses origines. Recherches sur l'histoire de la syphilis a Paris, Paris 1885, p. 85.
[80] Ebenda, p. 86.
[81] Siehe Wagner, Fr., art. cit., p. 118-120.
[82] Stemmer, Walter, Zur Geschichte des Waisen-, Toll- und Krankenhauses sowie Zucht- und Arbeitshauses in Pforzheim (Diss.), Berlin 1913, p. 8.
[83] Ebenda, p. 13.
[84] Ebenda, p. 23.
[85] Siehe Lallemand, L., op. cit., Bd. 4.1, p. 235.
[86] Ebenda, p. 236.
[87] 1714; zit. in: Asséo, H., Marginalité et exclusion, op. cit., p. 63.
[88] Zit. in: Brandt, Martin, Die Bestrebungen der Hamburgischen Armenanstalt von 1788 zur Erziehung der Armenbevölkerung, Hamburg 1937, p. 22.
[89] Verhandlungen und Schriften der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe, Hamburg 1792, p. 178; zit. bei M. Brandt, op. cit., p. 23.
[90] Siehe Lallemand, L., op. cit., p. 238-239; Foucault, M., op. cit., p. 77-78.
[91] 43 Eliz. c. 2; zit. bei Marshall, D., The English Poor in the Eighteenth Century, London 1969, p. 125.
[92] Marshall, D., op. cit., p. 1.
[93] Ebenda, p. 128.
[94] Scott, J., Observations on the Present State of the Parochial and Vagrant Poor, 1773; zit. bei Marshall, D., op. cit., p. 137.
[95] Zit. ebenda, p. 144.
[96] An Account of Several Workhouses, op. cit., p. 115; zit. auch bei Marshall, D., op. cit., p. 151-152 (Hervorhebung von mir, V. St.).
[97]An Account..., op. cit., p. 128.
[98] Ebenda, p. 143.
[99] Lallemand, L., op. cit., p. 155
[100] Ebenda, p. 230-231.
[101] Siehe Foucault, M., op. cit., p. 81.
[102] »Luzifers Hochmut war Anfang und Ursache alles Verderbens. So sah Augustin es, und so blieb es auch in der Vorstellung der Späteren: der Hochmut ist die Quelle aller Sünden, aus ihm wachsen sie heraus, wie aus ihrer Wurzel und ihrem Stamm.« Huizinga, J., Herbst des Mittelalters, München 1924, p. 29.
[103] Foucault, M., op. cit., p. 90.
[104] Vgl. Le Goff, Jacques, Pour un autre moyen âge, Paris 1977, p. 12.
[105] Dante, Die Göttliche Komödie, Paradiso Xl, 64-66, Zürich 1963. Die Frau ist die Armut, ihr erster Gatte Christus. Dann, nach 1100 Jahren, kam Franziskus, sie zu freien.
[106] Fazio degli Uberti, Liriche edite ed inedite, Florenz l883, p.177; zit. nach Raul Manselli, De Dante â Colluccio Salutari, Discussions sur la pauvreté à Florence au XIVe siècle.
[107] Vgl. Paultre, Christian, De la répression de la mendicité..., op. cit., p. 189.
[108] Musquinet de la Pagne, Bicêtre reformé. Etablissement d'une maison de discipline, Paris 1784, p. 22.
[109] Postel-Vinay, Gilles; La rente foncière dans le capitalisme agricole, Paris 1974, p. 63.
[110] Siehe z.B. Gutton, op. cit., p. 308, 310, 319; ebenso Hamburgisches Armen-Collegio, Vollständige Einrichtung der neuen Hamburgischen Armenanstalt, Erster Band, Hamburg 1788, Teil 1, p. 7.
[111] Wm. Bailey, Treatise on the Better Employment and more Comfortable Support of the Poor in Workhouses, London 1758, p. 45.
[112] So z.B. Le Trosne, Mémoire..., op. cit., p. 39 ff.
[113] Barberino, Francesco da, I documenti d'amore. 4 Bde., Rom l905ff., Bd.II, p.175: »Non vide che meglio era in pace poco, cogni abbondança e nela mente foco.«
[114] Siehe Rapp, Francis, »L'église et les pauvres...«, art. cit., p. 45.
[115] Kula, W., Théorie economique du système féodal, Paris 1970, p. 81.
[116] Vgl. Foucault, M., op. cit., p. 81.
[117] Boissonnade, P., Colbert, Paris 1932, p. 128.
[118] Siehe: An Account of Several Work-Houses..., op. cit., p. 78.
[119] Vgl. Howard, John, Etat des prisons, des hôpitaux et des maisons de force. Paris 1788, 2 Bde. Bd. I, p. l55, p. 302-303; siehe auch Wagnitz, op. cit.; L. Lallemand, op. cit., p. 235; E. Grendi, »Pauperismo e Albergo dei Poveri...«, art.cit., p. 654.
[120] Zit. bei Gutton, op. cit., p. 358-359.
[121] Ordonanz vom 10. 10. 1669, zit. bei Lallemand, L., op. cit., Bd. 4.1, p. 300.
[122] Zit. bei Lallemand, L., op. cit., p. 301 (Hervorhebung von mir, V. St.).
[123] An Account of..., op. cit., p. 127. Siehe auch ebenda, p. 83.
[124] Marwitz, Friedrich August Ludwig von der, »Von den Ursachen der überhandnehmenden Verbrechen« (1836), in: Jantke, Carl/ Hilger, Dieter (Hrsg.), Die Eigentumslosen, Freiburg, München 1965, p. 134-148, hier p. 138-139. Ähnlich auch bei Herrmann Graf zu Dohna, »Über das Los der freien Arbeiter« (1847), ebenda, p. 244-255.
[125] von der Marwitz, op. cit., p. 139.
[126] Ebenda, p. 140.
[127] Vgl. hierzu Delumeau, Jean, Vie économique et sociale de Rome dans la seconde moitié du XVIe siècle, op. cit., Bd. 1., p. 424ff.
[128] Siehe Larivaille, Paul, La vie quotidienne des courtisanes en Italie au temps de la Renaissance, Paris 1975, Kap. 11.
[129] Mit der Errichtung der Armen-Anstalt 1788 war nicht nur der Plan verbunden, Elend zu mildern oder zu beseitigen, sondern ihm sogar vorzubeugen. Für einige Jahre war in Hamburg die Arbeit für alle garantiert. Siehe Hamburgisches Armen-Collegio (Hrsg.), Vollständige Einrichtungen der neuen Hamburgischen Armen-Anstalt; nähere Erläuterungen für die Herren Armenpfleger, 1. Bd., Hamburg 1788; Caspar von Voght, »Über die Einrichtung der Hamburgischen Armenanstalt im Jahre 1788; (1796), in: Jantke/ Hilger, Die Eigentumslosen, op. cit., p. 197 -207; Ernst Köhler, Arme und Irre. Die liberale Fürsorgepolitik des Bürgertums, Berlin 1977.
[130] E. Köhler, op. cit., p. 100.
[131] Nach dem Protokoll des Armenkollegiums 1819-1824, zit. bei Köhler, p. 103.
[132] Köhler, E., op. cit., p. 114.
[133] Defoe, D., Giving alms no charity, 1704, zit. bei D. Marshall, The English Poor..., op. cit., p. 47.
[134] Stedman Jones, G., Outcast London, Oxford 1971, p. 14. Siehe auch Thompson, E. P., The Making of the English Working Class, Harmondsworth 1976, p. 355-356.
[135] Zur C.O.S. siehe auch Owen, David, English Philanthropy 1660-1960. Cambridge Mass., 1964.
[136] Charity Organisation Review, Vol. 1, 1885, p. 119, zit. bei Jones, op. cit., p. 297.
[137] Owen, D., English Philanthropy, op. cit., p. 228.
[138] Vgl. Stedman Jones, G., op. cit., p. 291 f.
[139] The Times, 9.2.1886, zit. bei Stedman, op. cit., p. 292.
[140] Memorials of Alfred Marshall, ed. by A.C. Pigou, London 1925, p. 373.
aus: Volker Stamm: Ursprünge derWirtschaftsgesellschaft. Geld, Arbeit und Zeit als Mittel der Herrschaft. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsbuchhandlung 1982, S. 77 - 103.
Joachim Schlör
Obdachlosigkeit
Die Angst der Behausten
Obdachlosigkeit wird definiert
Nachtasyle
Nachtasyle als Teil der Stadt
Aufgaben der Asyle
Reportagen aus den Nachtasylen
Weibliches Elend
Heimat Großstadtnacht?
Reform und Politisierung der Obdachlosenfürsorge
Fußnoten
»Schutzlos in London! Hülflos in London! Obdachlos in London! Welche Geschichten von Weh und Leid umfassen solche Worte! (...) Wohin sich diese Tausende und aber Tausende von Obdachlosen verlieren, wenn die Nocht kommt, wer kann es sogen?«
Anonym (Gartenlaube 1866)[1]
»Wer sind die Obdachlosen? Die negative Antwort lautet: Es sind keine Verbrecher. «
Gustav Schubert (1855)[2]
Die Angst der Behausten
Wenn die Nacht kommt, sollen sich die Bewohner der Städte in ihre Häuser zurückziehen, so verlangt es die Obrigkeit. Was aber geschieht mit denen, die kein Haus haben? Das »nächtliche herumlauffen« auf den Straßen ist, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht erlaubt, wer das Verbot übertritt, muß mit Sanktionen rechnen und setzt sich dem Vorwurf aus, er oder sie gefährde Sicherheit und Sittlichkeit. Was geschieht jedoch mit denen, die weder zum Vergnügen noch aus »dunklen« Absichten, sondern in auswegloser Not auf der Straße stehen?
Obdachlosigkeit ist der sichtbarste Ausdruck der Misere, und sie wird sichtbar in der Nacht: Am Tage herrscht in den Straßen Verkehr, am Abend erst sucht jeder den Platz, an den er gehört, und übrig bleiben die, deren Armut so groß ist, daß sie keinen Platz finden. Das sichtbare Elend zeigt aber - öffentlich-, daß etwas nicht in Ordnung ist; es stellt eine Provokation dar. Im Zangengriff von sozialpolitischer Fürsorge und polizeilicher Überwachung sollte die Bedrohung, die von der Armenbevölkerung ausging, vermindert und kontrolliert werden.[3] Die Sichtweise der staatlichen und kirchlichen Agenten, die das Leben der Armen erforschten, prägt die Beschaffenheit der Informationen, mit denen wir es zu tun haben: Entsetzen, Angst, Mitleid und Verachtung deformieren die Berichte, die sich dennoch von den Reportagen aus der Verbrecherwelt, trotz mancher Übereinstimmung, in einem wichtigen Punkt unterscheiden. Auch hier finden sich stereotype Negativcharakterisierungen, auch hier wird etwas kategorisch Fremdes beschrieben, auch hier ist reale sinnliche Wahrnehmung selten. Aber die Bilder von der Verbrecherwelt handeln in der Regel von einer Schimäre, einem Phantasieprodukt, einer imaginierten Gegenwelt - »Wer sich des Nachts allein in diese schmutzigen Gänge wagte, der war nicht immer sicher, mit heiler Haut sie wieder verlassen zu können«[4] -, während die Gefahr der Verarmung die Gesellschaft, und die Stadt!, real bedroht: als mögliches Schicksal, als Ausdruck der Unsicherheit darüber, ob die Gesellschaft ihre nächtlichen Anteile unter Kontrolle halten kann oder nicht. Texte und Berichte über die Obdachlosigkeit geben wohl auch nur beschränkt und vermittelt Auskunft über das wirkliche Elend, aber sie informieren direkt über die Angst der Behausten vor der Nacht.
Obdachlosigkeit wird definiert
In den Texten des I9. Jahrhunderts wird generell zwischen »guten«, und das heißt: seßhaften, arbeitswilligen, und »schlechten« Armen unterschie den, die bettelten oder durch das Land vagierten. Im Rahmen der Strategie einer »Armenerziehung durch Arbeit« nahmen Zwangsarbeitshäuser eine wichtige Rolle ein; sie ersetzten die Arbeits- und Werkhäuser des 18. Jahrhunderts, erfüllten aber zugleich die Funktion von verschärften Strafanstalten. Die Arbeitshäuser sollten den »Bodensatz« an unversorgten Armen auffangen, das »Bassin« bilden für diejenigen, die von keiner anderen armenpflegerischen Maßnahme erreicht wurden.[5] Wer nicht nur arm und ohne Arbeit, sondern dazuhin noch ohne Heim ist, wer also auf der Straße »herumstreicht«, ist mehr als lästig. Die Einrichtung von Arbeitshäusern, in denen die Vaganten diszipliniert und, zwangsweise, an ein Leben in festen Räumen und Grenzen angepaßt werden sollten, ist eine Begleiterscheinung der Industrialisierung, ihre Funktion wird vor allem in den Zentren dieser Entwicklung bedeutsam, in den großen Städten. Im »Ochsenkopf« am Berliner Alexanderplatz war, wie Gustav Rasch berichtete, »die ganze Summe der Berliner Armen und Elenden und des Berliner Gesindels der verkommensten und verworfensten Klassen zusammengepfercht oder auch, wenn es räumlich nicht anders ging, wild durcheinandergeworfen«[6] . Dieses »wilde Durcheinander« entsprach aber bereits in den Jahren um die Jahrhundertmitte nicht mehr den Vorstellungen und Konzeptionen einer Armenpolizei, die feststellte, daß es, gerade in den Städten, viele verschiedene Gründe gab, warum Menschen die Nacht auf der Straße verbringen mußten - und daß folglich auch verschiedene Maßnahmen entwickelt werden mußten, diese Menschen von der Straße zu holen.
Die definitorische wie praktische Herauslösung des »Phänomens« Obdachlosigkeit aus dem »Durcheinander« von Armut, Elend, Krankheit, Sittenlosigkeit und Verbrechen vollzieht sich langsam und in einzelnen Schritten. Dabei zeigen sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch - vor allem im Bereich der Metaphorik, der Folklore, wenn man so will: der Mentalitäten - interessante Unterschiede zwischen den einzelnen Städten. In vielen Darstellungen, aus London, Paris, oder aus Berlin, stehen die Jahre um 1870 im Mittelpunkt, zu Recht, denn in diesen Jahren wurden die meisten zentralen Asyle für Obdachlose eingerichtet - aber der Prozeß begann doch früher, in den späten 1830er und frühen 1840erJahren, als die Städte »aus sich heraus« gingen und die Zeitgenossen mit Schrecken feststellten, wer dabei zurückblieb.
Nachtasyle
Mit der Inthronisierung von Queen Victoria begann in England eine Ära der sozialen Gesetzgebung; 1838 gaben die Poor Law Commissioners einen Erlaß heraus, in dem sie die Unterbringung von »wandering poor« in Arbeitshäusern empfahlen, aber bereits 1840 betreute das »Committee for affording shelter to the Houseless« drei Asyle in London, die während der Wintermonate geöffnet waren und etwa 1000 Menschen Platz boten. Die Kunden dieser Asyle gerieten bald in die Aufmerksamkeit der Polizei; William Jones, Constable 157D, beauftragt, »nach den Nachtasylen zu sehen, wenn die »vagrants« sie verließen«, stellte fest, »daß die Personen, welche die »night refuges« normalerweise besuchten, zu den schlimmsten Vaganten und den verkommensten Bettlern gehörten«[7]. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen von Wohlfahrtsorganisationen und Ordnungskräften führten immer wieder zu Auseinandersetzungen; in den Augen mancher Ordnungshüter stellten die Nachtasyle eine regelrechte Ermunterung zur »Herumtreiberei« dar: »Es kann keinen Zweifel daran geben, daß mit der zunehmenden Sicherheit, Unterkunft für die Nacht und kostenloses Essen zu erhalten, und bei dem gleichzeitigen Mangel an Kontrolle ihrer Gewohnheiten und Lebensläufe, mehr und mehr Bettler und Vaganten Zuflucht in den Asylen suchen werden.«[8]
Gerade eine »inquiry into their habits or course of life« war aber durchaus geeignet, die Negativbilder zu erschüttern. Seit 1835 arbeitete die »London City Mission«, einige hundert Missionare (1860: 389) waren in der Stadt unterwegs, »auf diese Weise wird die ganze Stadt von dieser effektiven Maschinerie ausgemessen«, und ihre regelmäßigen Berichte im »London City Mission Magazine« informierten ausführlich über die Lebenssituation der Armen. Es waren wohl die christlichen Missionen, die zuerst die große Bedeutung der Nacht entdeckten und vermittelten; die »London by Moonlight Mission« und das »Midnight Meeting Movement« zeigten nächtliche Präsenz in den Straßen der Stadt und machten auf die große Zahl der »houseless poor« aufmerksam. Von den Besuchen bei den Armen über die Abhaltung nächtlicher »meetings« führte der Weg zwangsläufig zur Errichtung von »night shelters«. Das Bild von den »utterly destitute and friendless of good character«, das die Missionen dem polizeilichen Bild von »idleness and vice«, Faulheit und Laster, entgegensetzten, entstand in der praktischen allnächtlichen Arbeit der Wohlfahrtsverbände; es dauerte bis 1864, bis sich dieses andere Bild wenigstens teilweise auch bei staatlichen Stellen durchsetzte und der »Houseless Poor Act« erlassen wurde. Natürlich sind die Texte der Missionare nicht frei von Vorurteilen und Vorwürfen gegen die Armen, gegen ihren »Abfall von Gott«, gegen ihre unmoralische Lebensweise, aber effektiv formulieren sie eine heftige Anklage gegen die Mitleidslosigkeit der Gesellschaft und ihrer Instanzen: »Gibt es keine frommen Menschen mehr in Oxford Street, in Holborn, und in den anderen Gemeinden, die so nahe bei [dem Elendsviertel] St. Giles' liegen? Sollen die Armen vergebens weinen und beten?«[9]
Auch für Frankreich wird die entscheidende Vorreiterrolle der privaten und kirchlichen Wohltätigkeit bei der Entwicklung einer funktionierenden »Hospitalite de Nuit« hervorgehoben: »In der Mitte unseres [des 19.] Jahrhunderts fanden sich die mittellosen Armen erneut auf den Straßen Frankreichs«; 1846 errichtete der Arzt Ballot in Gien an der Loire ein Asylzimmer im örtlichen Krankenhaus, aber »wir müssen bis zum Jahr 1872 warten, um die Errichtung des ersten Nachtasyls im modernen Sinne in Frankreich [jetzt aber: in Paris] zu konstatieren«.[10]
In Berlin entwickelt sich ein städtisches System zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit ebenfalls nur langsam. Schon die Titel der Aktenbestände illustrieren die Unsicherheit der zuständigen Stellen: Der Magistrat legt 1816 eine Akte »betr. im Allgemeinen die wohnungslos gewordenen Personen« an[11], er konstatiert, ohne Wertung, ein neues, drängende Probleme bereitendes Phänomen in seiner Stadt. 1825 beginnen die ersten Eintragungen in den »Acta der Armen-Direction betr. Maaßregeln zur Verminderung der obdachlosen Herumtreiberei«[12]. Die Armen Direction weist denn auch, in einem Brief vom 5. Juni 1838, die Administration des Arbeitshauses an, »in allen Fällen, wo Personen wegen Obdachlosigkeit ins Arbeitshaus kommen«, diese Personen genauestens zu überprüfen: Betrugsverdacht, der Vorwurf an einzelne, die Kassen unrechtmäßig zu belasten, ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber den Wohnungslosen ist in diesen Akten stets festzustellen.
In den jährlichen Statistiken des Arbeitshauses werden obdachlose Familien eigens aufgeführt. 70 Familien, »bestehend aus 237 Köpfen«, waren 1837, über das Jahr verteilt, dort untergebracht, 66 von ihnen konnten im gleichen Jahr wieder entlassen werden. 1838 war die Zahl mit 44 Familien geringer, aber in den folgenden Jahren stieg sie stetig an. Die »Haude- und Spenersche Zeitung« berichtete am 8.0ktober 1853 - also eine Woche nach dem Beginn eines neuen Quartals und dem damit verbundenen Wohnungswechsel -, »außerdem sind noch nie so viele Familien obdachlos geworden, als diesmal«, und sie zieht das Fazit: »Die Noth ist drückender geworden.«
Nachtasyle als Teil der Stadt
Solche Meldungen häufen sich in den 1850er Jahren, das Thema wird öffentlich interessant; die »Stationen« und Asyle der Obdachlosen ziehen eine lange Reihe Neugieriger, Reporter, Journalisten, Künstler, Sozialforscher an, die aus den Stätten der Nacht berichten: »Auf freiem Felde schlafen, verbietet das Gesetz, auf der Straße den Pflasterstein zum Kopfkissen wählen, verbietet das Gesetz (.. .). Wäre nicht die Polizei in London barmherziger als das Gesetz, das Elend zur Nacht wäre noch viel elender, als es ist.«[13]
In den Reportagen wird die Funktion der Asyle für eine größere Sicherheit der Straßen besonders betont - »das Vagabundiren bei sinken der Nacht und später wird so Manchem verleidet«, weil er zu später Stunde keinen Einlaß und erst recht kein Lager mehr finden würde. Die Schilderung in der »Gartenlaube«, die London zum Inhalt hat, aber Berlin gleichermaßen gilt, 1866 erschienen, ist in vielen Punkten prototypisch für die Darstellungen der Asyle: Zunächst gleitet der Blick über die ganze Stadt, der Autor stellt der glänzenden Fassade die Existenz der großen Zahl Armer und Wohnungsloser gegenüber; dann wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die wenigen Stätten der Wohltätigkeit gelenkt - »es ist ein langes düsteres Haus in einer düstern Straße im düstern London« -, und bevor das Asyl betreten wird, richtet sich der Blick auf die Straße vor dem Haus:
»Schon lange vor der sechsten Abendstunde sammeln sich Gruppen von Wartenden, zumeist dem weiblichen Geschlecht angehörend, vor dem Eingange, Alte und Junge, Kinder und Säuglinge in der Mutter Arm. Diejenigen, welche »daran gewöhnt«, drängen sich dicht an die Thür, aber Andere, die vielleicht diesen Schritt zum ersten Male thun, halten sich in größerer Entfernung, wartend, als gehörten sie nicht dazu.«
Die Beschreibung des Hausinneren, die darauf folgt, wäre ohne eine Einrahmung durch abendliche Einlaß- und morgendliche Entlassungsszenen nicht vollständig; es geht den Autoren nicht alleine darum, das Elend, etwa am Beispiel einzelner Lebensgeschichten, die sie in den »verhärmten Gesichtern« erkennen, an sich darzustellen, es soll vielmehr als Teil der ganzen Stadt beschrieben werden und wirken. Damit wird auch die Verantwortung der ganzen Stadt, und der Gesellschaft, für die Vorgänge betont: Das Elend ist sichtbar, es ist nicht nur versteckt in den Asylen, sondern abends und frühmorgens auf den Straßen präsent. Die Darstellung des Hausinneren ist für unseren Zusammenhang weniger bedeutend; aber ein eindrückliches Bild der »wandering poor« sei zitiert:
»Das Schuhwerk wird bis zum nächsten Morgen aufbewahrt. In Reihen, wie auf Bücherbrettern, stehen die Schuhe an den Wänden geordnet, schwere und leichte große und ganz kleine, welche trostlosen Wanderungen haben sie durchmessen! Dort jene Matrosenschuhe kommen vom sturmerschütterten Deck vielleicht eines Ostindienfahrers; diese Frauenschuhe in der Nebenkammer wanderten wohl die Insel Britannien durch von einem Ende zum andern; jene Bettelschuhe eines Kindes standen tausendmal auf dem Pflaster von London-Bridge und die kleinen Füße darin zitterten vor Frost und der Leib darüber schwankte im Verschmachten. Auch der elegante Lackstiefel fehlt nicht, wenn auch nur als Ruine...«
Die »Gartenlaube« behauptete später, es sei gerade dieser Artikel gewesen, der »den eigentlichen Anstoß« zur Gründung des Berliner Obdachlosenasyls gegeben habe[14]; tatsächlich gab es Überlegungen für eine solche Einrichtung bereits innerhalb der Armen-Direction, bei kirchlichen Stellen und beim Magistrat.[15] Der Kaufmann Neumann brachte im Friedrich-Werder'schen Bezirksverein die Angelegenheit zur Sprache, der Polizeipräsident, von Wurmb, nannte die Idee »eine so außerordentlich humane und zeitgemäße, daß er ihre Realisirung dringend wünschte«, ein »Comité« aus Kaufleuten, Fabrikanten, Beamten und Gelehrten formierte sich, »ein humaner Verein mit dem Zwecke, Asyle für Obdachlose zu bilden«, wie es etwas distanziert im Verwaltungsbericht des Polizei präsidiums heißt, »trat ins Leben«[16]. Eine große Schwierigkeit bot vor allem »die Beschaffung eines geeigneten Locals«; nach langem Suchen wurde eine frühere Artillerie-Werkstätte an der Ecke der Dorotheen- und Wilhelmstraße angemietet, und am 3. Januar 1869 wurde das Asyl eröffnet. Im Verlauf dieses ersten Jahres nahm das Asyl mehr als 13 000 Frauen, Mädchen und Kinder auf, dennoch beklagte sich die Verwaltung des Arbeitshauses, daß auch dort die Zahl der Obdachlosen weiter zunahm, und so wurde noch 1870 auf dem gleichen Grundstück ein Männerasyl errichtet. Das Frauenasyl wurde 1871 in die Füsilierstraße Nr. 3, später Nr. 5 verlegt. 1873 dann wurde endlich auch ein stadtisches Asyl eingerichtet, vor allem zur Entlastung des völlig überforderten Polizeigewahrsams; es befand sich ab 1877 in der Pallisadenstraße, ab 1878 in der Friedenstraße 55/56. Hier waren, wie in den privaten Einrichtungen, nur kurzfristige Übernachtungen möglich,
»wer die Anstalt wiederholt zur Nacht aufsucht, wird vor den am Morgen dort anwesenden Polizeibeamten geführt und zu Protokoll verwarnt. Hat er sich nach 5 Tagen kein Obdach besorgt, so wird er dem Polizei-Gewahrsam mittels Formular überwiesen.«[17]
Aufgaben der Asyle
Die Auseinandersetzungen zwischen Fürsorge und Kontrolle gehen weiter. Das Polizeipräsidium beschäftigt sich vor allem mit den »Pennen«, den »Nachtherbergen, welche den elendsten und verkommensten Personen gegen ein Entgelt von einigen Pfennigen einen Schlupfwinkel für eine oder die andere Nacht gewähren«, es kritisiert aber auch die »geringe Controle« in den Asylen. Diese Auseinandersetzung wird Ende der 1870er Jahre auch in Paris geführt, und die Verwaltung der Asyle sieht genug Anlaß, ihre Arbeit gegenüber der Polizei zu rechtfertigen:
»Paris wurde häufig als modernes Babylon bezeichnet; die es anklagen, sehen nichts weiter als seinen Luxus und seine Vergnügungen (...). In Paris (...) hat die öffentliche und private Wohltätigkeit bis zu diesem Tage denjenigen unbeachtet gelassen, dessen Elend als Verbrechen oder doch als ein Vergehen angesehen wird. Möchten Sie wissen, was aus diesen vom Glück Enterbten wird? Die einen wandern, um nicht in die Hände der Polizeiagenten zu fallen, die ganze Nacht vor sich hin, oft von Müdigkeit und Hunger geplagt, bis sich ihnen eine Kirchentüre öffnet (...). Andere, die noch einige Sous besitzen, suchen Unterkunft in Nacht herbergen, wo sie inmitten anstößiger und blasphemischer Reden schlafen müssen. Wieder andere können den Versuchungen des Elends nicht wiederstehen, und werden zur Unzucht, zum Verbrechen oder zum Selbstmord getrieben.«[18]
Die Unterbringung der Obdachlosen ist ein wesentlicher Schritt für die Organisation der ganzen Stadt. Jetzt gibt es - noch nicht ausreichend, aber mehr als zuvor - eine Gelegenheit, unterzukommen, folglich kann die Polizei strenger gegen illegale Nachtherbergen vorgehen. 1880 tritt in Berlin eine Polizeiverordnung »betr. die Nachtherbergen« in Kraft, sie hat zum Ziel, die »bisherige Bevölkerung der Pennen« in die Asyle zu drängen, sie bringt strenge hygienische und sanitäre Maßnahmen mit sich, verbietet die Aufnahme von Personen verschiedenen Geschlechts in einem Haus. Die Zahl der »Pennen« wird von 21 im Januar auf 8 im Dezember 1880 gedrückt, zweifellos ist damit ein weiterer Schritt zur vollständigeren Kontrolle der Nacht getan.
Die Funktion der Asyle wird immer wichtiger, und die Zahl der Reportagen aus diesen Stätten nimmt zu. Lucius Mummius erläuterte das Motiv der Besuche so: »Die Idee, sich mit dem Geschick der Unglücklichen in der modernen Gesellschaft etwas näher vertraut zu machen, ist eine so durchaus zeitgemäße«, daß ein Interesse der Öffentlichkeit vorausgesetzt werden kann, einmal Einblick in die Stätten zu nehmen, die den Armen anbieten, »was Tausende ihrer begüterten Mitbürger für klingende Münze sich leicht erkaufen können: ein Asyl, ein gastlich Dach, ein Heim für die Nacht«[19]. Mitleid mit dem Geschick der Unglücklichen wird auch weithin akzeptiert; aber die Tradition der Erziehung durch Arbeit hat sich noch lange nicht verloren; im August 1878 veröffentlicht der »Hausbesitzer« Zeitler eine Anzeige in der »Vossischen Zeitung«, die sich gegen die Politik des Berliner Asyl-Vereins wendet:
»Die Asyle des Mittelalters in Kirchen und Elendsgilden wurden aufgehoben, als die Gesellschaft erkannte, daß sie durch Mißbrauch gemeingefährlich wurden. Demselben Schicksal scheint das Asyl des Vereins für männliche Obdachlose entgegen zu gehen, wenn der Vorstand des Vereins keinen Unterschied glaubt machen zu dürfen bei der Aufnahme zwischen unverschuldet Obdachlosen und arbeitsscheuem Gesindel. (...) Die Connivenz des Polizei Präsidiums, daß alle im Asyle Nächtigenden - auch jetzt noch nach eingeführtem Paßzwange - von der Meldepflicht befreit sind, hat den Beifall aller derjenigen gefunden, welche ihre polizeiliche Meldung fürchten.«
Die Idee des Vorstands - »wenn die Verbrecher im Asyle nächtigen, können sie sich nicht an der Gesellschaft versündigen« - wird von denen nicht geteilt, die in den Asylen nur neue Schlupfwinkel des Verbrechertums sehen können; ihrer Ansicht nach können die Asyle dazu dienen, »asoziale Elemente« von der Straße zu holen, aber nur als Vorinstanz des Polizeigewahrsams; wo das Mitleid regiert, wo alle aufgenommen wer den, wo alle »gleich« gelten für die Stunden der Nacht, da hat das Asyl seinen Zweck verfehlt. In dieser Sicht sollten die Asyle Teil einer polizeilichen Strategie zur Erhaltung der Herrschaft über die Nacht sein; dagegen vertritt die Mehrheit der Mitglieder des Asyl-Vereins die Ansicht, daß die Nacht als Freiraum, als Zeit des »Waffenstillstands« zwischen den Ordnungskräften und den Obdachlosen erhalten werden sollte. Der Verein, so das sozialdemokratische Vorstandsmitglied Paul Singer, mache sich nicht zum »Richter über Schuld und Unschuld«, er »entlasse die Hilfsbedürftigen des Morgens so ungenannt und ungekannt, wie er denselben am Abend zuvor sein Haus geöffnet habe«[20]
Reportagen aus den Nachtasylen
Zwischen diesen beiden Sichtweisen scheinen die Reportagen aus den Asylen merkwürdig zerrissen. Einerseits sammelten viele Künstler und Schriftsteller ihr Material, »indem sie sich von Polizisten oder Herbergsan gestellten über das soziale Elend informieren ließen«[21]. Peter Schmandt hat in seiner Analyse von Zeichnungen aus englischen Armenhäusern und Asylen nachgewiesen, wie stark die Tatsache, daß die Reporter sich in den Spuren der Polizei bewegten, ihre Darstellungen beeinflußte; damit förderten sie, gewollt oder ungewollt, Klischeevorstellungen über die im Obdachlosenmilieu verbreitete Kriminalität; auch die Darstellungen der Warteschlangen vor den Asylen illustrierten häufig nur die Idee von den »arbeitsscheuen«, »herumlungernden« Obdachlosen. Andererseits konnten auch viele Reporter, ob sie nun mit dem Schreib- oder mit dem Zeichenstift unterwegs waren, ihre Augen vor der Realität des Elends nicht verschließen. Sie erzählten, oft eingewebt in tendenziell negative oder moralisierende Texte und Bilder, wirkliche Leidensgeschichten.
Die Reportagen entstanden aus nächtlichen Entdeckungsreisen in das fremde Milieu der Obdachlosen; manche Reporter verbrachten eine Nacht im Asyl. Heutige Interpreten sind mit der Verurteilung solcher Exkursionen als eine Form des »slumming«, als Unternehmungen »mit voyeuristischem Charakter« schnell bei der Hand, und tatsächlich sind manche Schilderungen der Konfrontation von Elend und wohltätigem Reichtum an Zynismus (und an unfreiwilliger Komik) kaum zu übertreffen - aber es sind, im Kern, doch Schilderungen dieser Konfrontation. Aus der Lebensgeschichte des Doktor Thomas John Barnardo, des »Bodelschwingh für die Londoner Unterwelt«, des »Mannes mit der Laterne«, erzählt sein Biograph E.E. Ronner eine Episode, die diese Zwiespältigkeit illustriert. Nach einem seiner leidenschaftlichen öffentlichen Vorträge über das Elend der Straßenkinder Londons war Barnardo zu einem Dinner bei Lord Shaftesbury geladen, und nach dem Essen entspann sich folgender Dialog:
»Wäre es Ihnen möglich, uns zu einem Schlupfwinkel zu führen, wo solche Elendskinder nächtigen ?- Dazu bin ich jederzeit bereit.
- Nun (...), da ich wohl annehmen darf, daß sich alle anwesenden Herren dafür interessieren würden, Ihre Niemandskinder kennenzulernen, schlage ich vor, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und sogleich aufzubrechen.
- Leider geht das nicht. (...) Aus dem einfachen Grunde, weil es dazu noch zu früh ist. Doch wenn sich die Herren bis nach Mitternacht gedulden wollen, so sollen sich sie davon überzeugen können, daß ich nicht übertrieben habe.
- Ausgezeichnet. (...) Meine Herren, Sie beteiligen sich doch alle an dieser mitternächtlichen Fahrt? Von allen Seiten her kamen bejahende Zurufe.
Kurz nach Mitternacht kam die Meldung, daß die bestellten Droschken vorgefahren seien, so daß Shaftesbury das von allen erwartete Zeichen zum Aufbruch geben konnte. Von den späten Passanten, die stehenblieben und neugierig zuschauten, wie die vornehmen Zylinderherren die Droschken bestiegen, vermutete wohl keiner, daß ihr Ziel die Elendsgassen Ostlondons waren.«[22]
Die »Zylinderherren« wollten nicht glauben, daß »in einer solchen Nacht« irgend jemand auf der Straße schlafen sollte, »geschweige denn eines dieser Kinder«. Aber Barnardo findet einen Unterschlupf in einem Hinterhof, aus dem schließlich 73 Kinder kriechen. Im Kaffeeschank von Dick Fisher, der »die ganze Nacht offen« ist, werden sie mit Kaffee und Brot versorgt, jedes erhält einen Penny. Einige Kinder kann Barnardo unterbringen, die anderen müssen wieder zurück. Eine sentimentale Geschichte durchaus, ein Rührstück, Wohltätigkeit als »eine Art von Unterhaltung«, Nervenkitzel, Abenteuer, »Genuß der eigenen Vortrefflichkeit« - das mag alles zutreffen[23], aber diese Beurteilung erscheint selbst als Zynismus, wenn nicht gleichzeitig Barnardos Rolle als Aufklärer, als Berichterstatter und als Nothelfer gewürdigt wird. Denen, die helfen wollen, bleibt, wenn sie die Öffentlichkeit informieren, oft kein anderes Mittel als der Appell an das Gefühl, an das Mitleid, sie brauchen die »Zylinderherren«, sie können auf ein gewisses Maß an sentimentalem Pathos nicht verzichten. In einem Gedicht, das zur Hundertjahrfeier der Pariser »Societé Philanthropique« vorgetragen wurde, heißt es: »Das Elend ist groß, und Paris ist so riesig; und trotz der vielen Spenden verfügt dieses Werk nur über eine einzige Herberge, weit draußen, in der Vorstadt gelegen. Das Unglück kommt von weither dorthin. Helft, seinen Weg zu verkürzen; gründet ein weiteres Asyl. Ihr Glücklichen der Welt, für die es so einfach ist, Gutes zu tun: Gebt.«[24]
Obdachlosigkeit ist bereits, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen, Teil der Stadt: »Paris, diese fantastische Stadt, von der man Herrlichkeiten erzählt, die wie ein Wunder unsere Einbildung beschäftigt! Hier wohnt das Glück und das Vergnügen! Paris! Hier kann der kleine Händler ein gutes Geschäft machen... Und dann kommt der Tag, an dem er sein Hotel nicht mehr bezahlen kann: Hier steht er, mitten auf der Straße, zu dieser Zeit, da die Stadt sich so grell beleuchtet, daß es seine Blöße schier beleidigt. Jetzt kommen die korrumpierenden Gedanken und die schuldhaften Versuchungen.«[25] Wer die »pensées corruptrices« und die »tentations coupables« vermeiden will, wer der Überzeugung ist, daß Obdachlose keine Verbrecher sind, der muß städtische Lösungen für das Problem finden. Damit tun sich die Verantwortlichen schwer:
»Weshalb bauen wir Asyle? Erstens, um den durch Unglück heruntergekomme nen Familien ein Obdach zu gewähren und zweitens, um arbeitsscheue, vagabundirende Menschen während der Nacht dadurch unschädlich zu machen, daß wir ihnen ein Obdach gewähren. (...) Wenn wir die Sache richtig ausführen wollen, so müssen wir entweder ein großes Asyl im Mittelpunkt der Stadt errichten -(lebhafter Widerspruch)
- Ja, meine Herren, das ist der einzige Weg, oder wenn Sie das nicht wollen, dann müssen wir mehrere kleine Asyle nach jeder Himmelsrichtung bauen.«[26]
Weibliches Elend
Eine Illustration aus der »Berliner Illustrirten Zeitung« vom März 1885 zeigt, inzwischen ein vertrautes Bild, die Wartenden vor dem Asyl, Männer auf der Straße, betrunken, Weinflaschen schwenkend, aggressiv, streitend, dem - damit gerechtfertigten - Zugriff der Polizisten ausgesetzt. Wenn dagegen die traurige Seite des Elends gezeigt werden soll, werden Frauengesichter, Frauenschicksale veröffentlicht. Das Elend, »ein unermeßliches und immerwachsendes«, ist auch zunehmend ein weibliches. Ruth Köppen hat sich damit ausführlich befaßt, sie kommt zu dem Fazit, daß Frauen damals den größten Teil an den dauernd Obdachlosen stellten, vorübergehende Obdachlosigkeit war dagegen hauptsächlich ein Männerproblem.[27] Tatsächlich waren sowohl in Paris wie in London die ersten von privaten Vereinen eingerichteten nächtlichen Unterkünfte nur für Frauen (und Kinder) gedacht. Viele Frauen, die real obdachlos waren, wurden nicht aus diesem Grund, sondern unter dem Verdacht der Prostitution aufgegriffen. In den Reportagen werden Frauen regelmäßig erwähnt: Das Bild der exmittierten, »hülflosen« jungen Frau mit Kindern oder das der abgearbeiteten, verhärmten Alten erzeugt sicheres Mitleid. Aber nur wenige Reporter wollen sich den Hinweis auf die angeblich große Zahl »liederlicher Dirnen« in den Asylen entgehen lassen. Auch in den Augen der Sittenpolizei sind die Asyle »Schlupfwinkel der Prostitution«, während - noch - für die Betreiber der Asyle die Devise gilt, nächtliche Not müsse, egal woher sie komme, versorgt werden.
Auf die Frage des Sozialreporters Hans R. Fischer, der auf seinen Streifzügen durch das Berliner Elend »wieder einmal«, 1890, das Frauenasyl besuchte, wie eine Frau hierhergekommen sei, »war's eigene oder fremde Schuld?«, antwortet ihm die Hausmutter: »Ich glaube, daß Jede, die das Asyl aufsucht, Entschuldigung und Mitleid verdient (...), nicht Eine verdient verstoßen zu werden.«[28] Und in einer Reportage von 1894, »Im Frauen-Asyl für Obdachlose in Berlin«, wird, den Vorbildern getreu, zunächst die Umgebung des Asyls, der Weg dorthin geschildert, bevor sich der Blick auf die Insassinnen richtet:
»Lothringer Straße, breit, mit Boulevards in der Mitte, aber doch nicht konkurrierend mit den Straßen im Westen. Schönhauser Allee, Linienstraße, Dragoner- und Grenadierstraße - endlich eine kleine, stille Sackgasse. Dahin dringt augenscheinlich gar nichts von dem Lärm der Großstadt. [Füsilierstraße] Nr. 5, ein dreistockiges Haus. Freundlicher Lichtschein aus den Fenstern der Mittelthür, links im Erdgeschoß und aus dem ersten Stock. Wie so mancher armen Verlassenen mag er tröstlich winken, wenn sie auf dieser selben Stelle steht und die Hand nach dem Glockengriff ausstreckt. (...) Der Polizei sind die Raume des Asyls unzugänglich, und wer sich ihm anvertraut, ist für die Nacht, die er dort zubringt, geborgen.«[29]
Das Asyl ist eine Lichtinsel in der nächtlichen Großstadt, der Hafen für die Schiffbrüchigen, die nicht gefragt werden, woher sie kommen und wohin sie gehen. Solche Schilderungen sind fragwürdig. Sie berichten von einer Sehnsucht, die Reporter und Leser wohl teilen: Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Schutz, nach Wärme. In der Stadtnacht ist die Gefahr, »ausgeworfen« zu werden, besonders groß, und das Schicksal der Ausgeworfenen besonders hart - die Asyle symbolisieren in dieser Welt die Hoffnung auf Heimat, »Herberge zur Heimat« heißen denn auch die Unterkunftsstätten der Inneren Mission.
Es gibt eine andere Seite. Manche literarischen Texte beschreiben, im Paris der »Clochards« wohl stärker als in Berlin, die Faszination, die eine »radikale Obdachlosigkeit« auf die zur Seßhaftigkeit Eingerichteten ausübt[30]. Das Vagabundentum steht hier für eine grundsätzliche Verweigerung aller Bindungen, für die Wahl der Freiheit; die Wünsche nach Geborgenheit richten sich dabei »auf das Draußen, die Straße«. Der echte Vagabund, so will es das Klischee, sucht in der Stadt nicht Heimat, er hält sich an Orten auf, die jederzeit Abreise signalisieren, Bahnhöfe vor allem, das Asyl sucht er nur im äußersten Notfall auf, bei großer Kälte. In beiden Fällen wird wohl viel von den Hoffnungen und den Ängsten der Behausten, von der Angst vor dem Verlust des Vertrauten und von der Hoffnung auf neue Freiheit durch den Verlust der Bindung erzählt.
Heimat Großstadtnacht?
Im steinernen Meer der Großstadt sind die Obdachlosen Schiffbrüchige, das Asyl aber kann sie nicht retten, »es hält dem Ertrinkenden die Rettungsleine eine Weile hin und zieht sie dann schnell wieder zurück, den Obdachlosen der Not und der Gefahr des Untergehens wieder überlassend«[31]. Constantin Liebich beschreibt 1901 die nächtliche Odyssee eines Mannes, der nicht ins Asyl gehen kann, weil ihm die Überstellung an die Polizei droht, er versucht, irgendwo Unterschlupf zu finden, wird aber von Nachtwächtern oder Anwohnern jedesmal aufgestöbert:
»Nach diesen Erfahrungen beschloß Wilhelm, die Nacht »durchzutippeln«. Der Regen goß noch in Strömen herab. Ach, die Hausbewohner, die ihm so grausam das Plätzchen raubten, wo er, nach seiner Meinung niemandem zur Last, ausruhen wollte, sie wußten gar nicht, wie schlecht das Wetter war, wie sehr der Wind pfiff. Bis auf die Haut durchnäßt, vor Kälte zitternd, wandte sich Wilhelm nun nach Süden. Er kam ans Oranienburger Thor; die Normaluhr zeigte erst halb zwölf. Er ging die unendlich lange Friedrichstraße hinunter. Die hellen dreifachen Gasflammen wurden von den Laternenmännern herabgeschraubt. Wilhelm sah die hell erleuchteten Cafes und die fröhlichen Menschen darin. Noch immer rollten die Pferdebahnwagen mit ihren zufriedenen und glücklichen Insassen durch die Straßen. Tausenden von Menschen begegnete er, die es fast alle eilig hatten, von denen jeder ein Ziel, jeder ein Heim, jeder ein Obdach hatte.«[32]
Die Gegenüberstellung von armseliger und dunkler Nacht hier, heller und glückseliger Nacht dort wird noch in einer Szene verstärkt, da der einsame Wanderer auf drei Nachtschwärmer »in der tollsten Weinlaune« trifft; sie prahlen mit dem Geld, das sie ausgegeben haben - »nicht der Rede wert für solch tolle Nacht!« -, und als er ihnen bittend entgegentritt, rufen sie nach dem Schutzmann, der ihnen das nächtliche »Gesindel« vom Leib halten soll. Die Stadt wird nicht mehr als Heimat, nicht mehr als Freiheitsraum empfunden, sie ist feindlich.
Eine ähnliche Erfahrung machte Paul Grulich. 1907 veröffentlichte er sein Buch »Dämon Berlin«, für vier Wochen versetzte er sich in die Rolle eines Obdachlosen: »Da ich die Nacht liebe, um der Geheimnisse willen, die ihre Nebelschleier verhüllen, ließ mich die Mitternachtsstunde an meinen Aufbruch denken (...). Mein Weg führte mich, von Steglitz aus, mitten hinein in die Riesenstadt, in deren tiefstem Dunkel ich nun verschwinden wollte.«[33] Grulich weiß, und betont immer wieder, wie künstlich seine Situation ist, er kann jederzeit das Experiment abbrechen aber mit der Zeit dominiert eine umfassende Lähmung alle exotischen, romantischen oder geheimnisvollen Anreize der Nacht. Sein Fazit ist ernüchternd: »Ein zweites Mal ziehe ich nicht aus, um den Kampf mit »Dämon Berlin« aufzunehmen.«
Solche Erfahrungen konnten andere nicht davon abhalten, »es« selbst einmal, in der Regel aber nur für eine Nacht, zu versuchen, um »Berlin wirklich kennen [zu] lernen«, »nicht aus krankhafter Neugierde«, »nicht um ein »interessantes Abenteuer« zu erleben«. Sehr anschaulich schildert etwa Hermann Heijermann den Weg ins Dunkel, vom hellerleuchteten Zentrum der Stadt - »die Laternen stürmten auf uns zu in einem ermüdenden Taumel von hellen Flammen und Schatten, gleich umherschwirren den Fledermäusen« - über einige Zwischenstufen in den Stadtrandbezirken - »die erst so grelle, üppig leidenschaftliche Beleuchtung begann zu erschlaffen« - bis in die dunkle Gasse, in der das Asyl liegt.[34]
Während die Reportagen aus der Verbrecherwelt die potentielle Gefährdung des bürgerlichen Lebens durch die nächtlichen Elemente weniger darstellen als heraufbeschwören, zeigen die Berichte aus dem Leben der Obdachlosen die tendenzielle Brüchigkeit der städtischen Existenz: Obdachlosigkeit erscheint als drohende Möglichkeit im Leben, als Ereignis, das die doch nicht so sicheren Fundamente des Lebens, und der Stadt, erschüttern kann. Dieser Befund: Obdachlosigkeit als Signal eines tiefergreifenden Konflikts - Wie kann die Stadt die aus ihr herausbrechenden, sie bedrohenden Tendenzen niederhalten? macht das Thema Obdachlosigkeit zum politischen Instrument.
Reform und Politisierung der Obdachlosenfürsorge
Im Jahr 1907 ereignete sich im Berliner städtischen Asyl eine Massenvergiftung durch verdorbenen Fisch (andere behaupteten: durch Alkohol). Die offenbare Vernachlässigung der Obdachlosen durch die Behörden gab Rosa Luxemburg Anlaß zu einer Reportage »Im Asyl«, in der sie nicht nur die Polizeibehörden angriff, sondern auch Tendenzen in der eigenen Partei, die Obdachlosen nicht als Opfer, sondern als Schuldiggewordene anzusehen, ihnen also die Solidarität der Arbeitenden zu verweigern.[35] Die Tatsache, daß die Opfer, wie es in einem antialkoholischen Pamphlet von R. Burckhardt hieß, »auf der Bahn der Hoffnungslosigkeit schon weit fortgeschritten waren«[36], konnte ganz und gar nicht beruhigend, viel eher: bedrohlich wirken.
Vor allem die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg standen in Berlin »im Zeichen der Obdachreform«; Ziel der Reform war es, noch eindeutiger als bisher, die verschiedenen Funktionen des Asyls voneinander zu trennen, den Zusammenhang der Fürsorge mit polizeilichen Maßnahmen also möglichst gering zu halten. Außerdem ging es um eine verbesserte hygienische Einrichtung des Gebäudes in der Fröbelstraße und darum, die individuelle Betreuung und die Arbeitsvermittlung in den Vordergrund zu rücken. Dieses sozialdemokratische Konzept stieß aber auf erhebliche Schwierigkeiten; gerade der Berliner Asyl-Verein, der eine solche Politik lange proklamiert hatte, befand sich seit Kriegsende in großen finanziellen Nöten. In der Inflationszeit konnten kaum Spenden gesammelt werden, der Verein mußte Räume in der Wiesenstraße untervermieten. Am 1. Oktober 1926 schloß der Verein mit der Stadt einen Vertrag ab, in dem bestimmt wurde, »daß die Aufnahmekontrollen nach den Grundsätzen des Städtischen Obdachs in der Fröbelstraße und von städtischem Personal durchgeführt wurden (...), von diesem Zeitpunkt an hat die Polizei Zutritt zum Gebäude«[37]. Die Modernisierung scheint, im positiven Sinn der effektiveren Betreuung wie im negativen der verstärkten Kontrolle, gelungen. Die Wohlfahrtsorganisationen, und vor allem die Reporter der Zeitungen von KPD und SPD - mit der Zeit auch die der NSDAP - äußern weiterhin Kritik: »Ich hatte gedacht, das Asyl sei da, um den Obdachlosen zu helfen. Fühlt man etwas von der abgrund tiefen Verzweiflung, die einen dort befällt? Nicht so sehr das namenlose Elend und Leid ist es, sondern der Geist, vielmehr der Ungeist der Institution.«[38] Das Asyl selbst ist abschreckend - »gerne wäre ich umgekehrt, aber mir graute vor der Nacht«, schreibt ein anonymer Reporter in der Zeitung »Der Deutsche«, und ähnliche Impressionen liefert der Berichterstatter der »Roten Fahne« im Mai 1926:
»Die »Palme« in der Fröbelstraße jagt selbst dem im allerelendesten Loche hausen den Erwerbslosen einen gelinden Schauer über den Rücken. (...)Für den Bourgeois sind die verlumpten Gestalten, die hier Abend für Abend ein Unterkommen für die Nacht suchen, die »Hefe des Volkes«, »das Verbrechen selbst«. (...) Die paar Gaslaternen, ganz in diese Atmosphäre der Verzweiflung passend, zeigten mir den Weg, als ich fröstelnd im kalten Frühjahrsabend die Fröbelstraße hinaufschritt. Da stand ich nun vor dem finsteren Eingang. Einzeln und truppweise, hinkend und humpelnd, auf Krücken und Stöcken, kroch die endlose Schlange des Elends heran, und in das gierig aufgesperrte Maul des Torbogens, das schwarz in die kalte Nacht gähnte. Morgen früh wird es sie wieder ausspeien auf die Straße, die ihre Heimat ist. Berlin ist groß, und das Elend verkriecht sich in seinen Winkeln. (...) Endlich, um 1/2 7 Uhr, läßt man uns hinaus. Und während ich mit vollen Zügen die frische Morgenluft atme, hüllt sich das Elend noch fester in seine Lumpen. Sie werden morgen wieder da sein, und übermorgen, und dann wieder.«[39]
Auf ihren Nachtwanderungen im Berliner Osten entdecken die Reporter »ein ganzes Heer« von Menschen, die die Zivilisation ausgestoßen hat, »Abgebaute des Lebens«, die Arbeit und Wohnung verloren haben, für sechs Wochen vielleicht im Asyl wohnen können, aber dann, hoffnungslos, »nachts die Straßen Berlins durchirren, von dem Bürger scheu umgangen«.[40] Die zunehmende Kritik bringt die Stadtverwaltung auf die Idee, gezielt Pressevertreter zu Besuchen in der Fröbelstraße einzuladen, und tatsächlich erscheinen Ende 1926, Anfang 1927 einige Artikel, in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« oder in der »Täglichen Rundschau«, die die Arbeit in den Asylen positiv bewerten. Das »Kleine Journal« bezeichnet, zynisch genug, die Wartesäle der großen Berliner Bahnhöfe als »Eldorado für Obdachlose«.
Obdachlosigkeit ist ein zentraler Prüfstein für die Lebensfähigkeit der Stadt - und für die Einstellungen der Stadt gegenüber. Im März 1929 veröffentlichen zwei Zeitungen, der sozialdemokratische »Vorwärts« und die nationalistische »Germania«, kurz hintereinander denselben Artikel, beide geben ihm den gleichen Untertitel - »Asylisten, Vagabunden und Arbeitslose in der Stadtvogtei« - aber die Überschrift lautet einmal: »Das lockende Berlin«, und im andern Fall: »Dämon Berlin«[41]. Zwischen den beiden Extremen schwankt die Wahrnehmung des Phänomens Obdachlosigkeit - und die der ganzen Stadt. Gegen Ende der Weimarer Republik werden die pragmatischen Bemühungen zur Lösung des Problems überholt, überschrieen von visionären Stadtansichten, die die Redeweise über den Heimatverlust politisch funktionalisieren. 1932 entwickelte der Berliner Stadtrat und Wohlfahrtsdezernent Hermann Drechsler aus der Schilderung der vielen traurigen Schicksale aus seiner Praxis eine sozialistische Utopie:
»Drüben über dem Wald steigt ein Lichtdunst auf, verwaschen wie das Tierkreislicht, nur heller und intensiver. Es ist der Abglanz der Stadt. Dort unten, wo der Lichtschein herkommt, wird Leben gezeugt, geboren, geschändet, Leben ausgehaucht, darüber hin lärmt tausendfältiges Leben in den Straßen, den Kaufläden, den Warenhäusern mit ihren Lichtreklamen, den Gasthäusern, Animierkneipen und Kaschemmen mit ihrem Bierdunst und schwülen Gerüchen, in denen Laster und Verbrechen gedeihen wie in riesigen Treibhäusern, in denen das Gift der Trunksucht und aller eklen Krankheiten von Leib zu Leib verbreitet wird. (...) Und tief vom Hintergrund her wächst die Riesenfaust des erwachenden Proletariats empor, höher und immer höher ungeheuer mächtig in den tintenschwarzen Himmel hineinquellend wie die Rauchwolke eines Vulkans. (...) Und das Dröhnen in den Lüften und unter uns kündigt die Zeit an, da diese Faust niedersaust.«[42]
Andere Fäuste sollten kurze Zeit später »niedersausen«, die nationalsozialistischen Maßnahmen zur »Säuberung« der Stadt von ihren nächtlichen Elementen bereiteten der Phase sozialpolitischer Experimente und humanitärer Hoffnungen ein brutales Ende.
Fußnoten
[1] Nachtelend in London. In: Die Gartenlaube, Heft 14, 1866, S. 218 - 22a; hier S. 218.
[2] Gustav Schubert: Das Asyl für Obdachlose. In: Berliner lllustrirte Zeitung, 21. 3. 1885.
[3] Vgl. dazu Norbert Preußer: Not macht erfinderisch. Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807. München 1989; Lisgret Militzer Schwenger: Armenerziehung durch Arbeit. Eine Untersuchung am Beispiel des württembergischen Schwarzwaldkreises 1806 - 1914. Tübingen 1979.
[4] Ernst Willkomm: Weiße Sklaven oder die Leiden des Volkes. 5 Bände. Leipzig 1845, Band 3, S. 40.
[5] Vgl. dazu Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München und Zürich 1988, bes. S. 286 - 300.
[6] Gustav Rasch: Das Haus der Armen und Elenden. In: Berlin bei Nacht. Schattenseiten einer Großstadt. Kriminalreportagen von Gustav Rasch. Hg. v. Paul Thiel. Berlin/ DDR 1986, S. 151 - 158; hier S. 152.
[7] Zit. nach C.J. Ribton-Turner: A History of Vagrants and Vagrancy and Beggars and Begging. (Reprint) Montclair, NewJersey 1972, S. 243.
[8] Report of Mr. Grenville Pigott to the Poor Law Board, 1848; zit. bei C.J. Ribton Turner (wie Anm. 8), S. 26l.
[9] The London City Mission Magazine, December l, 1855, S. 280.
[10] Louis Riviere: L'Hospitalité de Nuit en France. Son Développement, son état actuel, son avenir. In: La revue philanthropique. 2ème année, tome III, mai 1898 - octobre 1898, S. 417 - 428; hier S. 420.
[11] Stadtarchiv Berlin-Ost, Rep.03 - 732, Vol. l: 1816 - 1861.
[12] Stadtarchiv Berlin-Ost, Rep.03 - 959, 1825 - 1856
[13] Nachtelend in London (wie Anm. 1), S. 218.
[14] Max Ring: Ein Abend im Asyl fur Obdachlose. In: Die Gartenlaube, Heft 4, 1870, S. 54 - 56.
[15] Berlin und seine Entwicklung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik. Berlin 1871, S. 206.
[16] Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums zu Berlin für die Jahre 1971 - 1889. Berlin 1882, S. 202.
[17] Ebd.
[18] Rapport sur les Travaux de l'Oeuvre de l'Hospitalité de Nuit depuis le 2 juin jusqu'au 31 decembre 1878. Archives de l'Assistance Public, Paris. Asiles de Nuit.
[19] Lucius Mummius: Ein Besuch im berliner Asyl fur Obdachlose. In: lllustrirte Volkszeitung, Stuttgart 1874, S. 138f.
[20] Rede von Paul Singer bei der Eröffnung des Männerasyls in der Wiesenstraße am 13. Dezember 1896. Zit. in: Wohnsitz nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße. Hg. v. Künstlerhaus Bethanien. Berlin 1982, S. 146f.
[21] Peter Schmandt: Armenhaus und Obdachlosenasyl in der englischen Graphik und Malerei (1830 - 1880). Diss. Universität Tübingen 1986, S. 99.
[22] Emil Ernst Ronner: Der Mann mit der Laterne. Das Leben Thomas John Barnardos. Wuppertal 1961, S. 48f.
[23] Karl Marx, Friedrich Engels: Die heilige Familie (1845). In: Werke, Band 2. Berlin/ DDR 1978, S. 206.
[24] Françoise Coppée: L'Asile de Nuit. Poésie dite par M. Coquelin Ainé à l'occasion du Centenaire de la Société Philanthropique, le 9 mai 1880. Paris 1880.
[25] Archives de la Préfecture de Police, Paris. Série DB 1, carton 88, Œuvre de l'Hospitalité de Nuit. Asiles de Nuit. Conférence de M. le Duc de Broglie de l'Académie Française, le 27.4.1895.
[26] Stadtarchiv Berlin-Ost, Rep.00 - 1388: Acta der Stadtverordneten Versammlung betr. den Neubau eines Asyls für Obdachlose und einer öffentlichen Desinfektionsanstalt an der Prenzlauer Allee. Auszug aus der Debatte vom 31.1.1884.
[27] Ruth Köppen: Die Armut ist weiblich. Berlin 1985, S. 21.
[28] Hans R. Fischer: Ein Weihnachtsabend im Frauenasyl. In: Ders.: Was Berlin verschlingt. Berlin 1890, S. 83 - 92.
[29] E. Dely: Im Frauen-Asyl für Obdachlose in Berlin. In: Die Frau, Jg. 1894/95; zit. bei Ruth Köppen (wie Anm. 27), S. 34 - 36.
[30] Gert und Gundel Mattenklott: Berlin Transit. Eine Stadt als Station. Reinbek 1987, S. 139.
[31] Obdachlos. Bilder aus dem sozialen und sittlichen Elend der Arbeitslosen. Von Constantin Liebich. Berlin 1901, S. 107.
[32] Ebd., S. 13lf.
[33] Paul Grulich: Dämon Berlin. Aufzeichnungen eines Obdachlosen. Berlin 1907, S. 9.
[34] Hermann Heijermann: Berliner Skizzenbuch. Berlin 1908, S. 219.
[35] Rosa Luxemburg: Im Asyl. In: Leipziger Volkszeitung, 1907; zit. nach Klaus Bergmann (Hg.): Schwarze Reportagen. Aus dem Leben der untersten Schichten vor 1914: Huren, Vagabunden, Lumpen. Reinbek 1984, S. 273 - 275.
[36] Massenvergiftung. Ein Berliner Großstadtbild. Von Dr. R. Burckhardt. In: Basler Nachrichten, 10. Januar 1912.
[37] Stadtarchiv Berlin Ost, Rep. 00 - 1461. Asyl Verein. Vertrags-Entwurf.
[38] Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, CA 1863 I: Obdachlosigkeit. Undat. Ms. von Margarete Schneller: »»Eindrücke im städtischen Asyl für Obdachlose««.
[39] Eine Nacht in der »Palme«. In: Rote Fahne, 9. Mai 1926.
[40] Die Abgebauten des Lebens. Nachtwanderungen durch den berliner Osten. In: Die Welt am Abend, 8. l0. 1926.
[41] Das lockende Berlin. In: Germania, 3. März 1929;
Dämon Berlin. In: Vorwärts, 16. März 1929. Vgl. dazu außerdem: Von der Straße zur Palme. Das Obdachlosenasyl im neuen Gewande. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 6. I2. 1926;
Das Elendsheim in der Fröbelstraße. Besuch im städtischen Obdachlosenasyl. In: Tägliche Rundschau, Berlin, 26. März 1927;
Die armen »Warter« von Berlin. Unmögliche Zustände in den Wartesälen der Berliner Bahnhöfe. In: Kleines Journal, Berlin, 14. August 1927;
Durchschnitt des Elends. In: Tageblatt, Köln, 12.November 1927;
Im Keller der Entwurzelten. Menschen aus der Tiefe. In: Der Abend, Berlin, 18. Februar 1928;
Nachts im Wartesaal. In: Der Abend, Berlin, 29. Februar 1928;
Eine Nacht in »Fröbels Festsälen«.
Wie die Obdachlosen leben. »Palmkuhle« und Kasernenhofton. In: Rote Fahne, Berlin, 17. Januar 1929;
Max Barthel: Die Palme am Strande der Armut. Besuch bei den Obdachlosen. In: Der Abend, Berlin 22. Januar 1929;
Egon Erwin Kisch: Das Obdach. In: Rote Fahne, 1. Juli 1928; Fürsorgearbeit der Stadt Berlin. In: Vorwärts, Berlin (Stadtbeilage), 26. Mai 1928;
Und die Obdachlosen? Berlins Maßnahmen für die Asylisten. In: Berliner Tageblatt, 12. Februar 1929;
Bei 20 Grad Kälte im Asyl für Obdachlose. Von Hans Wesemann. In: Welt am Montag, Berlin, 18. Februar 1929.
[42] Hermann Drechsler: Aktenstaub. Aus dem Tagebuch eines Wohlfahrtsdezernenten. Berlin 1932, S. 239f.
aus: Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840 bis 1930. München 1994, S. 142 - 161.