Am Ende des 19. Jahrhunderts tauchten sie in den USA auf. Nach der verheerenden Wirtschaftskrise standen Tausende von Arbeitern auf der Straße, und so zogen sie in Scharen von einem Bundesstaat zum anderen, auf der Suche nach einer Gelegenheitsarbeit. In seinem Standardwerk "The hobo; the sociology of the homeless man" hielt Nels Anderson schon 1923 fest, dass dieses nichtbürgerliche Leben in gewisser Weise die Kultur der Freizügigkeit begründet hatte: Ein Hobo war eben nicht nur ein Arbeitsloser oder ein Wanderarbeiter, sondern auch ein Lebenskünstler, ein letzter Vertreter romantischer Ideale.
Der Hobo wurde zum Mythos. Er stand für die extreme Form des Reisens jenseits des "Durchschnittstourismus". Kein Wunder, dass sich Abenteurer, aber auch manche Ethnologen, politische Aktivisten oder Touristen, die sich von der Masse abheben wollen, immer wieder auf diesen Idealtypus des "wahren" Reisenden berufen. Auf ein Vorbild, an das wir nicht herankommen, weil uns der Mut fehlt, all die materiellen und affektiven Bindungen zu lšsen, die uns unfrei machen.
Per Anhalter in den USA von Küste zu Küste reisend, habe ich ein paar Tage lang das Leben, die kargen Mahlzeiten und den billigen Fusel mit einem der "modernen" Hobos geteilt. Charles zum Beispiel ist seit fast zehn Jahren auf Achse. Wo ist er aufgewachsen? "Irgendwo zwischen New York und Boston. So genau weiß ich das nicht mehr. Heute gibt es für mich nur noch die Straße, Regen, Sonne und Wind." Wenn ein Wagen am Straßenrand anhielt, dann stellte er nicht die typischen "Anhalterfragen", sondern sagte einfach: "Guten Tag, wo fahren Sie hin?" Und als nächstes fragte er: "Glauben Sie, dass es da Arbeit gibt? Können Sie mir helfen, irgendwas zu finden? Einen Job, er muss nicht gut bezahlt sein ..." Einige Autofahrer reagierten auf diese Anfragen ziemlich verstört.
DIE Formen nichtsesshaften Lebens sind durchaus vielfältig. Es gibt Vagabunden und Bettler, verzweifelte und gescheiterte Existenzen, Aussteiger und Ausgestoßene. Am schlimmsten ist es, wenn man alles zugleich ist. Die "anständigen Leute" machten stets einen Unterschied zwischen "echten" und "falschen" Vagabunden: Wer vom Schicksal geschlagen dennoch bereit war, sich nützlich zu machen, fand immer noch einen Platz in der Gemeinschaft; allen anderen unterstellte man, sie wären arbeitsscheue Sonderlinge.
Das Verhalten gegenüber "echten" Obdachlosen - den heutigenVagabunden - schwankt zwischen religiös geprägtem Mitleid und gut gemeinter Mildtätigkeit. Dagegen gilt der "falsche" Obdachlose als ein Trittbrettfahrer des offiziell akzeptierten Elends, dem bestenfalls Misstrauen, schlimmstenfalls Hass entgegenschlägt. Der "echte" Obdachlose wird bedauert und unterstützt, der "falsche" verteufelt und verstoßen. Der eine hofft, wieder sesshaft zu werden, der andere hält es nirgends lange aus. Und so gilt der vagabundierende Obdachlose stets als übler Landstreicher, der sich nicht niederlassen und anpassen will.
UNSERE Gesellschaft hält an einem Begriff des Reisens fest, der an das Prinzip des bezahlten Urlaubs gebunden ist. Alle anderen Formen, zumal Reisen abseits der ausgetretenen Pfade, gelten als verdächtig und unschicklich. Vagabundierende Reisende werden deshalb immer wieder mit Zigeunern verglichen. In einer vollständig marktorientierten Weltwirtschaft ist das fahrende Volk unerwünscht, während die Käufer von Reisetickets heiß umworben werden. Wer aber ist ein "echter" Reisender? Zygmunt Bauman hat treffend festgestellt, dass "die Utopie der Touristengesellschaft eine Welt ohne Vagabunden ist"(1). Die Stelle des Clochards hat der Obdachlose eingenommen, die Stelle der Armut die Marginalisierung. Aber die Probleme bleiben - neue Begriffe können die alten Missstände nicht beseitigen.
Junge Leute fliehen aus abgelegenen ländlichen Gebieten und unbewohnbaren Städten und versuchen, neue soziale Bindungen zu knüpfen. Die Geschichte dieser "Nomaden der Leere", wie Francois Chobeaux sie genannt hat (2), ist eine Geschichte der Flucht aus dem unerträglichen Alltag - hin zu anderen Menschen, die ebenfalls Not leiden. Diese neuen "Asozialen" erinnern an die Hippies von einst, aber sie haben weder einen hohen moralischen Anspruch noch einen langen Atem. Ohne Benzin, ohne Elan und ohne Geld, verkörpern sie das Gegenteil von Beatnik-Abenteurern. Ihnen widerfahren keine "On the Road"-Erlebnisse, die zu Literatur werden. Was viele heute als ziellose Nomaden erleben, hat nichts "Exotisches" oder "Folkloristisches" an sich. Es ist schlicht ein trauriges, verpfuschtes Leben, ein ständiger †berlebenskampf, wenn nicht ein Weg in den Tod.
Sicher wäre man lieber Tourist als Arbeitsloser, dabei könnten beide Rollen durchaus zusammenfallen oder sogar zu austauschbaren Begriffen werden. Denn die Arbeitssuche kann zu einer äußerst beschwerlichen Sache werden, für viele gleicht sie schon heute einer strapazišsen und ergebnislosen Reise. Der Arbeitsplatz scheint eine ferne leere Insel am Ende der Welt, die nur erreichen kann, wer unerschrocken, geduldig und kühn ist, wer sich mit exakten Plänen und guter Ausrüstung auf den Weg macht. Eine solche Expedition verspricht womöglich exotischere Abenteuer als der immergleiche Urlaubsstress oder der Kampf um einen freien Platz am Strand.
Im Touristikangebot gibt es heute auch so genannte Reality Tours, die den Erfolg eines politisch korrekten Tourismus begründen. Der Reiseveranstalter Global Exchange in San Francisco ist auf Reisen spezialisiert, die an Orte der Ausbeutung und in die Konfliktregionen der Welt führen. Im Katalog wird etwa ein Trip durch kalifornische Jugendstrafanstalten angeboten oder eine Fahrt in die Hochebene Zentralkaliforniens, um Erdbeerpflücker zu treffen, "die Hauptleidtragenden des Einsatzes giftiger Pflanzenschutzmittel." Eine weitere Erkundungsreise führt in den Norden Kaliforniens, "wo die Entwaldung das ökologische Gleichgewicht bedroht".
Die Lust an der Exotik wird einem allerdings häufig schon allein dadurch vergällt, dass man nicht der einzige Tourist ist. Der zweite Tourist ist der Feind des ersten: Wo er auftaucht, banalisiert er die Welt und ist schuld daran, dass das Reisen immer weniger Spaß macht.
Es sind freilich nicht die zaghaften Tendenzen einer Demokratisierung des Reisens, die den Unterschied zwischen Touristen und Reisenden hinfällig gemacht haben - schuld ist umgekehrt der Wunsch der Touristen, in die Fußstapfen der Reisenden zu treten! Der Traum der Touristen von einer Welt ohne Touristen erklärt auch die unübersehbare Begeisterung, wenn ein "neues" Reiseziel auf den Markt kommt: Gestern Kuba und Vietnam, heute Laos, Birma und Bhutan, und morgen der Kongo, Nordkorea oder Afghanistan - warum nicht gleich Osttimor oder das Kosovo?
Wir sollten wieder lernen, nach Lust und Laune zu flanieren, uns unbeschwert auf das Andere einzulassen, gelassen unsere Pfade ins Anderswo zu suchen. Es gibt so viele Orte, die sich entdecken lassen, statt ein ums andere Mal in die Welt auszuschwärmen, eine Serie von Blitzurlauben hinzulegen, die oft so kurz bemessen sind, dass man schon die Passkontrolle als Verzögerung empfindet.
In einer Zeit, da der Alltag immer weniger Sicherheiten bietet, wird Zerstreuung immer mehr mit Vergessen erkauft. Der moderne Reisende taucht einfach ab, mehr noch, er stellt sich gegen die mythische Bedeutung des Reisens: Wohin ist er gegangen? Ein Jahr lang ans Ende der Welt? Oder nur ein paar Straßen weiter, um einen Freund zu besuchen?
Nie zuvor war die Reise ein derart künstliches, erfundenes, ausgedachtes Produkt. Früher wusste das ganze Viertel über die Reiseroute eines Nachbarn bis ins Detail Bescheid, heute bemerkt man nur noch an den heruntergelassenen Rolläden, dass jemand gerade unterwegs ist. Der Tourist schleicht sich auf Zehenspitzen davon, zögert, einen Abreisetermin zu nennen, bleibt bewusst vage, was Termine und Ziele betrifft.
Die Reise lockt uns, verstohlen durch eine Geheimtür zu treten. Zu viel Stress, zu viel Druck von allen Seiten, zu viel Technik und zu viel Konsum, zu viel Arbeit und zu viel Arbeitslosigkeit, zu viel Kommunikation und zu viel Einsamkeit: es gibt einfach zu vieles, das den Sinn des Reisens in Frage stellt.
Immer und überall bedeutet eine Begegnung auch eine Konfrontation. Gegenüber den militärischen Invasionen der Geschichte zeichnet sich die viel geschmähte Invasion der Touristen dadurch aus, dass sie weitgehend friedlich verläuft. Den Konquistadoren, Missionaren und Kolonialherren früherer Zeiten war diese Tugend nicht zu Eigen. Der Handel hat den Raub abgelöst. Die Mehrheit der Touristen treibt nur das Verlangen, die Welt mit dem Auge des Nomaden zu betrachten, und sie kommen in bester Absicht. Auch wenn sie oft nicht wissen, was sie tun, wenn sie die weit reichenden Folgen ihres Handelns ignorieren und unterschätzen, was für tiefe Spuren ihr kurzer Aufenthalt in irgendeinem Dorf am Ende der Welt hinterlässt.
Die Welt besuchen, indem man reist, sollte auch heißen, dass man versucht, die durchquerten Welten zu verstehen, die soziale Wirklichkeit vor Ort zu begreifen, wenn nicht gar zu erleben. Es heißt auch, nie zu vergessen, welche Rolle die Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft von Gesellschaften spielt. Eine solche - unvermeidlich politische - Art des Reisens festigt nicht nur Überzeugungen. Sie erschließt auch eine neue Wirklichkeit, jedenfalls den Reisenden, die mit dem Herzen zu hören verstehen.
Zum Autor
FRANCK MICHEL ist Anthropologe, Herausgeber der Zeitschrift "Histoire et Anthropologie" (18, rue des Orphelins, 67 000 Strasbourg); von ihm erschien zuletzt "D'sirs d'ailleurs. Essai d'anthropologie des voyages", Paris (Armand Colin) 2000 und "L'Indon'sie 'clatŽe mais libre. De la dictature ˆ la d'mocratie", Paris (L'Harmattan) 2000.
Übersetzung
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten
(1) Vgl. Zygmunt Bauman, "Globalization: the human consequences", Cambridge (Polity) 1998.
(2) Vgl. Franois Chobeaux, "Les nomades du vide: des jeunes en errance, de squats en festivals, de gares en lieux d'accueil", Arles (Actes sud) 1996.
Le Monde diplomatique Nr. 6216 vom 11.8.2000 Seite 2 Le Monde diplomatique 262 Zeilen Dokumentation FRANCK MICHEL
Über den Reiz der ziellosen Zielstrebigkeit
Nomaden, Vagabunden, Hobos, Tramper - sie sind Figuren die heute von bestimmten Diskursen mit Freiheit, Abenteuer und Ausbruch aus den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft verbunden werden. Das Vagabundische ist ein kultureller Topos. Ja, man mag sogar von einem symbolischen Komplex des Vagabundischen sprechen.
Begeben wir uns auf die Suche nach der Genesis dieses Topos, so stoßen wir in den 1880er und 1890er Jahren auf einen erstaunlichen publizistischen Boom. Die so genannte "Vagabundenfrage" wurde zu dem Thema der armen- und sozialpolitischen Diskussion, zahlreiche juristische und kriminologische Texte erschienen, das Vagabundenproblem war gar zum respektablen Dissertationsthema avanciert. Neben diesem Interesse am Vagabunden als sozialem Problem, als Ordnungsproblem oder als wissenschaftlichem Objekt, tauchte er aber auch als Gegenstand anderer Reden und anderer Blicke auf: Sozialreportage, politische Utopie und Belletristik hatten bis in die dreißiger Jahre im Vagabunden ein lieb gewonnenes Sujet gefunden. Das Aufkommen solcher sehnsüchtiger und exotistischer Reden erscheint umso erstaunlicher, wenn man die Realität der Vagabundage betrachtet, die gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wenig Poetisches an sich hatte. Die Armut auf den Landstraßen war verheerend, der Pauperismus in den Städten erschreckend. Über den Häuptern der Unglücklichen schwebte zudem die Drohung des Strafrechts, sodass als Vagabunden etikettierte Menschen zu Tausenden in den Arbeits- und Korrektionsanstalten dahinvegetierten.
Der Vagabund als Delinquent
Auch die aus der bürgerlichen Privatwohltätigkeit entstandenen Hilfeeinrichtungen waren grausam in ihrer Art, standen sie doch im Kontext der großen Bewegung der Formierung einer Disziplinargesellschaft und eines karzeralen Archipelagos. So trat die "Wandererfürsorge" unter dem Slogan "Arbeit statt Almosen" für die Bindung jeglicher Unterstützung der "Wanderer" an eine Arbeitsleistung ein. Zur Effektivierung der Fürsorge und insbesondere der Abhilfe gegen Faulheit und - wie man heute sagen würde - Sozialschmarotzertum, sei darüber hinaus auf strenge Zucht und Ordnung in den Wanderarbeitsstätten zu achten. Um die Ausnützung der Hilfeeinrichtungen ohne die Unterwerfung unter deren Zucht zu verunmöglichen, wurden so genannte Wanderordnungen erarbeitet, die mittels eines einheitlichen Kontrollpapiers, des Wanderscheins, gesichert, reguliert und kontrolliert wurden. Wer sich dieser Ordnung nicht unterwarf (und auch kein gefälschtes Wanderbuch vorweisen konnte), sollte als nunmehr bewiesenermaßen unverbesserlicher Vagabund dem Strafrecht übergeben werden. Dabei leistete man jedoch keine Integration der ‚Klienten' in die normale Welt der freien Arbeit und beginnenden staatlichen Sozialpolitik; sondern band sie gerade an eine Sonderwelt, die sich mehr und mehr zum geschlossenen Anstaltswesen entwickelte. Nun stürzte sich die Wissenschaft auf die Wanderer, fand sie in ihnen doch eine Gruppe von Menschen vor, die bereits abgesondert, etikettiert und - dank Initiative der Einrichtungen selbst - statistisch erfasst war. Das Forschungsobjekt war somit gegeben, gleichsam unter Laborbedingungen, man brauchte nur noch zu bestimmen, wie seine Eigenschaften von der Normalität abwichen. Prompt fand die Wissenschaft solche Defizite, und indem sie diese zur wesenhaften Einheit der Kategorie Wanderer erklärte, produzierte sie gleichzeitig einen neuen Typus Mensch. Als pathologisch "nichtsesshaft" geriet er - spätestens im Dritten Reich - in eine fatale Position zwischen Justiz und Wissenschaft. Von ersterer kriminalisiert und von zweiterer naturalisiert, wurde er zu jemandem, der nicht mehr - wie der Vagabund - durch die Übertretung eines Gesetzes bestimmt war, sondern das Mal seiner Abweichung untilgbar in den Körper eingeschrieben trug.
Bürgerlicher Exotismus
Woher also die Stilisierung des Vagabunden zum glücklichen Freigeist und Abenteurer? Die Bejahung des Vagabundischen durch Utopisten, Literaten und jugendliche Aussteiger ist insofern mit der Verneinung, Einsperrung, Verwahrung der "Wanderer" kongruent, als in einer prinzipiellen Gegenbewegung zur bürgerlichen, industriell-technischen Welt all das als Hoffnung in den Blick gerät, das von dieser Welt als unbrauchbar und gefährlich ausgeschieden wird. Die Verneinung des Vagabunden durch die moderne Arbeitsgesellschaft wird also ihrerseits verneint. - Und diese doppelte Verneinung ergibt eine verstärkte Bejahung. So hatten bereits Texte der Gründungsväter der "Wandererfürsorge" einen gewissen Bedeutungsüberschuss, der über eine nüchterne Beobachtung hinausging, wenn sie das Treiben der Vagabunden in den "wilden Herbergen" und "Landpennen" als dunkle und bedrohliche Szenen beschrieben. Später konnten Journalisten und Romanciers im Vagabunden das faszinierende Relikt einer anderen, nicht industrialisierten Welt sehen. Andere machten ihn zur Ikone wahrer Naturverbundenheit und des verlorenen Dufts der Freiheit. Weit über solch bürgerlichen Exotismus hinaus wurde der Vagabund in der Zwischenkriegszeit Objekt von religiösen, politischen und ästhetischen Sehnsüchten. Mehr als andere Außenseiter wurde er zur Metapher des Anderen schlechthin: Motive aus der Geschichte der Mystik und Gnosis, wie sie auch die Romantik in säkularisierter Form aufgegriffen hatte, wurden auf ihn übertragen - Imaginisierungen, die in ihm so etwas wie ein Versprechen sahen: Was er aber versprach, war völlig unbestimmt - und damit zugleich grenzenlos beredt. Allerlei Diskurse liehen dem Versprechen des Vagabunden ihre Sprache, ganz anders als die Reden der Sozialpolitik, Juristerei, Psychiatrie und Kriminologie: in deren Sprechen wurde er auf ein erkanntes Objekt reduziert, das als solches nichts mehr zu versprechen hatte.
Politische Utopien
Einige Fäden laufen am 21. Mai 1929 in Stuttgart zusammen. Gregor Gog (1891-1945), Bohemien und politischer Utopist, Herausgeber der Zeitschrift "Der Kunde" und Gründer der "Internationalen Bruderschaft der Vagabunden" hatte für diesen Tag ein Vagabundentreffen angekündigt. Etwa 300 Menschen folgten seinem Aufruf und tagten unter reger Beteiligung der Medien drei Tage lang im Stuttgarter Freidenker-Jugendgarten. Bezeichnend war allerdings, dass von den zehntausenden wandernden Arbeitslosen kaum einer gekommen war, sondern die Veranstaltung fest in Händen von Intellektuellen, Künstlern und Jugendbewegten lag. Es ging hier nur scheinbar um die realen Vagabunden, die "Kunden" der Landstraße, die man verächtlich "Speckjäger" nannte. All die Künstler, Anarchisten, Wandervögel, Lebenshungrigen und bürgerlichen Verweigerer hatte nicht ein gemeinsames Engagement für die Vagabunden nach Frankfurt geführt. Was sie einte, war vielmehr der sehnsuchtsvolle Blick auf ein Jenseits der bestehenden Ordnung, ein Jenseits, für das der Vagabund die geteilte Metapher war. Was man konkret in dieser Metapher sah, war höchst unterschiedlich. Für Gregor Gog war es eine bewusste Verweigerung des Systems und damit jener archimedische Punkt, den er zum Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft und kapitalistischen Wirtschaft benötigte. Ebenso hatte Erich Mühsam (1878-1934) schon vor dem Krieg den Vagabunden als ‚natürlichen Anarchisten' und inneren Verwandten der Boheme entdeckt. Beide einige das "anarchistische Prinzip" und die "Sehnsucht nach Befreiung", die dem Vagabunden allerdings selten bewusst sei; sie bleibe "dunkler Trieb und Drang". Die Identifikation des Vagabunden mit dem Authentischen und Natürlichen als Antithese zur Zivilisation war ein verbreiteter Topos. Die 1929 von Hans Tombrock, Gerhart Bettermann und Hans Bönninghaus gegründete "Künstlergruppe der Vagabunden" etwa sah in van Gogh und Rimbaud Vorbilder vagabundischer Kunst. Soziale Randständikeit wurde ihnen zum Garanten von authentischem künstlerischen Schaffen. Zur zweiten Vagabunden-Kunstausstellung (1931) schrieb Tombrock: "Ich traf viele unterwegs, die den Bleistift ansetzten und Figuren und Begebnisse auf ein Stück Papier stammelten, die, selbst noch in den technischen Unbeholfenheiten, so wahrhaftig und lebensnah die Dinge und Menschen zeigten, dass sie erschütterten."
Der Griff nach dem Absoluten
Die Literatur griff dasselbe Thema auf: Bei Knut Hamsun (1859-1952) tritt der Vagabund zur Rettung seines wahren Selbst die Flucht vor der künstlichen bürgerlichen Welt und deren Besessenheit von Herrschaft und Besitz an. In einer einfachsten Schicht wird der Vagabund hier zum Sehnsuchtsbild bürgerlichen zivilisatorischen Unbehagens. Zahlreiche Jugendbewegte und Wandervögel der Zwischenkriegszeit verließen mit dieser Sehnsucht "nach Welt und nach Weite" ihre Familien und gingen auf die Landstraße. So wendet sich der Vagabund unversehens vom Kriminellen zu einem radikalen Verwandten des Touristen. Hamsun ließ seinen Helden als gealterten Eremiten in einsichtsvoller Resignation enden. Heutige populäre Diskurse zeigen sich weniger asketisch, wenn sie rucksackbewehrte Individualtouristen oder ökologische Abenteuertouristen das Vagabundische als Kurzzeitutopie realisieren lassen. Als Griff nach dem Absoluten war das "Projekt Vagabund" zum Scheitern verurteilt. Einzelne wie der Dichter-Vagabund Peter Hille (1854-1904) mochten in der völligen Poetisierung des Lebens die ständige Gefährdung des Vagabundischen als Metapher eines "anderen Zustands" vielleicht zeitweilig aufhalten. Die Realisierung dieser Metapher als politische Bewegung gelang jedoch weder Gog noch Mühsam. Ersterer wurde überzeugter Kommunist, letzterer distanzierte sich nach seiner Verhaftung entschieden von seiner Münchener Zeit als Agitator unter Vagabunden: "Ich hatte also vor mir ein Auditorium von Psychopathen, dummen Jungen, geldgierigen Deklassierten und daneben ein paar wirklich famose Kerle, die ihr Vagabundenleben in bewusstem Gegensatz zu der herrschenden Gesellschaft führten . . ." In der Trilogie Notizen eines Vagabunden von Waldemar Bonsels (1880-1952) liegt einer der raffiniertesten Versuch vor, das "Projekt Vagabund" zu retten. Über die einfache Antithese von Natur und Zivilisation, Innen und Außen, Vagabund und Bürger hinausgehend schickt Bonsels seinen Helden auf die Suche nach einer Vermittlung. In einer romantischen Dialektik gelangt dieser über das Leiden an der Welt und das Scheitern einer direkten Vereinigung mit Gott zur Bejahung der Vergänglichkeit. Das Leiden wird ihm notwendige Durchgangsstufe in der Entwicklung des Selbst, das - zwischen Gott und Tier stehend - erst durch den Widerstand der Welt von der Naivität zum Bewusstsein aufsteigen könne. Er macht sich nicht auf, das Absolute zu finden, zu haben, seine Präsenz zu genießen; sein Weg ist es, zum Weg zu werden, im Modus des Erwählten zu leben, auch wenn das Absolute nie präsent oder dauernd ist, es nur Abschiede und Passagen gibt. Vagabund-sein wird bei Bonsels zur Metapher des Lebens als eines Weges ohne Ziel, einer Entfaltung des Selbst, die niemals bei sich ankommt. Barfüßige Propheten Diesen Weg, den Bonsels und andere im Vagabundischen sahen, gingen nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe seltsamer Wanderprediger. Ludwig Christian Haeusser, Theodor Plievers, Leonhard Stark und andere brachen die Beziehungen zu Freunden und Familie ab, ließen ihre Habe zurück und gingen als freiwillige Vagabunden auf die Straße. Ihre Predigten waren in vieler Hinsicht Permutationen der langen Geschichte jüdisch-christlicher Eschatologie. Nach dem verlorenen Krieg und den gescheiterten Nachkriegsrevolutionen fielen solche Botschaften auf fruchtbaren Boden. Der gescheiterte Prophetismus hinterließ eine Sinnkrise, ein Loch, das von apokalyptischen Projekten besetzt werden konnte. "Aktion Weltwende" hieß etwa die Parole von Plievers. Als Ort der Wende kam nur das Ich in Frage; dort müsse die Transformation beginnen, indem die Spuren der Weltmaschinerie im Menschen für die Wahrheit, Güte und Schönheit des eigentlichen, göttlichen Ich beseitigt würden. Leonhard Stark brachte diese gnostische Botschaft auf den Punkt: "Und wo anders soll der Gott sein als in uns selbst?" Die Welt, die Maschine, wurden als der Kerker des Demiurgen abgelehnt und mit ihnen die herrschende Moral. "Und alle Laster walten frei!" war die Parole des dionysischen Euphorikers Haeusser, für den im Blick auf das Gesetz des Ich der Bruch der diesseitigen Gesetze notwendig war. Angesichts der Kälte des ehernen Gehäuses Zivilisation war die Anziehungskraft solcher Predigten groß. Ein begeisterter Zuhörer schrieb an Leonhard Stark: "Ich weiß, daß das Nichts unseres sozialen Selbst die Geburtsstelle des Christus ist. Und da sollte man zaudern, in den Abgrund hinabzuschauen?"
Ausgewählte Literatur:
- Bonsels, Waldemar: Aus den Notizen eines Vagabunden. Roman in drei Bänden [1917-1923], Wien, München 1979.
- Hamsun, Knut: Der Wanderer [1908-1912], Wien 1951. (Dt. von J Sandmeier und S. Angermann)
- Künstlerhaus Bethanien (Hg.): Wohnsitz Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße, Berlin 1982.
- Linse, Ulrich: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983.
sinn-haft [nr 8] - auto-mobile
© bei der autorin/dem autor screening: schrottenberg
Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen
Entwicklung und Umsetzung des Leitbildes sozialer Nachhaltigkeit am
Beispiel der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Diplomarbeit im Fach Soziologie
Gutachter
Prof.Dr.Dr. Bernd Hamm
Lehrstuhl für Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie,
Universität Trier
Fachbereich IV: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
- Soziologie -
vorgelegt am 28. Mai 1999
von
Jan Hendrik Trapp
Kreutzigerstraße 5
10247 Berlin
Tel.: 030 - 29493510
e-mail:
Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen
Entwicklung und Umsetzung des Leitbildes sozialer Nachhaltigkeit am Beispiel der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit. (Kurzfassung der Arbeit)
Vorab: Obdach- und Wohnungslosigkeit zählen zu den extremsten Formen der Armut, "denn nichts, aber auch gar nichts wiegt so schwer, als keinen Ort mehr zu haben, der minimalste Privatheit garantiert und minimalsten Schutz bietet“.#
Mit dem hier vorgestellten alternativen Ansatz sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit soll den EntscheidungsträgerInnen und den Verwaltungen in den Kommunen, aber auch lokal tätigen Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie interessierten und engagierten BürgerInnen ein praktikabler Weg gewiesen werden, die Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit vor Ort sozial nachhaltig zu gestalten.
Nachhaltige Entwicklung - soziale Nachhaltigkeit
Das globale Leitbild Nachhaltige Entwicklung ist als Versuch entstanden, aus dem dominanten, nach permanentem Wachstum strebenden Entwicklungsparadigma auszubrechen und einen alternativen Weg für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aufzuzeigen.
Übereinstimmung unter den in dieser Arbeit herangezogenen AutorInnen besteht darin, daß soziale und ökologische Nachhaltigkeit auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben sind und nicht separat voneinander analysiert und verstanden werden können.
Im Kontext der sozialen Dimension von nachhaltiger Entwicklung rücken insbesondere drei Begriffe in den Mittelpunkt: Gerechtigkeit, Sozialverträglichkeit und soziale Integration.
Die einzelnen Merkmale des Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit sind in drei Ebenen gegliedert, die sich durch unterschiedliche Abstraktionsgrade auszeichnen:
Auslegung der allgemeinen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung für die soziale Dimension: Ressourcenschonung als Schonung ökologischer, ökonomischer und sozialer/humaner Ressourcen, globale Gerechtigkeit als Beitrag auch zu intraregionaler sozialer Stabilität, Langfristigkeit sozialer Prozesse, Themenintegration, Integration gesellschaftlicher Gruppen.
Abstrakte soziale Kriterien: Sozialverträglichkeit, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, kulturelle Identität und Vielfalt.
Konkrete Ziele mit z.T. räumlichem Bezug: Armutsbekämpfung, Abbau von Diskriminierungen, Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten, Vermeidung bzw. Abbau sozialräumlicher Segregation.
Diese Kriterien werden unten für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit weiter differenziert.
Gesellschaftliche Integration und sozialer Ausgleich sind zwei zentrale Merkmale der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung. Unter diesen Prämissen nimmt die Arbeit insbesondere in den Kapiteln zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorwiegend die Perspektive der sozial zu integrierenden Menschen, also der Wohnungs- und Obdachlosen, ein.
Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Um den Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu spezifizieren, werden kurz eine Definition und die wichtigsten Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit genannt.
Als obdachlos wird bezeichnet, "wer ohne Wohnung ist, wessen Wohnung ohne menschenwürdige Ausstattung ist, wer nicht in der Lage ist, sich und seinen Familienangehörigen eine Wohnung zu beschaffen (oder zu erhalten), wer in einer der öffentlichen Hand gehörenden Unterkunft untergebracht oder aufgrund entsprechender gesetzlicher Vorschriften in eine Normalwohnung eingewiesen ist“.#
Die Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit sind zahlreich und vielfältig miteinander verknüpft. Daher ist von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge auszugehen, das über wechselseitig aufeinander bezogene Einflußgrößen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen kann.#
Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, daß Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Obdachlosigkeit ist# - vor allem in kapitalistischen, auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Industriegesellschaften.
Die Kausalbeziehung zwischen einer Unterversorgung mit (bezahlbarem) Wohnraum, von der primär in Armut lebende sowie Personen der unteren sozialen Schichten betroffen sind, und Obdachlosigkeit ist evident. "Der Mangel an billigem Wohnraum ist eine der entscheidenden Ursachen für die Aufrechterhaltung und Neuentstehung von Obdachlosigkeit“.#
Die zuvor zusammengestellten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aller drei Ebenen, die allgemeinen Nachhaltigkeitskriterien, die abstrakt sozialen und die konkreten Ziele, können für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit übernommen werden. Sie müssen jedoch an die Anforderungen des Bereichs Wohnungs- und Obdachlosigkeit und der betroffenen Personen angepaßt und spezifiziert werden.
Dabei lassen sich folgende Merkmale benennen: Armutsbekämpfung, Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten, Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten, ‘Empowerment’ der Zielgruppe, ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ statt dauerhafter Alimentation, Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen sowie Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten.
Partizipation und Kooperation an der Ausarbeitung und Konzeptionierung von Maßnahmen, die je nach Zielgruppe einfach nur angeboten oder auch gefördert und sogar eingefordert werden sollte, sind zentrale Kriterien sozial nachhaltiger Wohnungs- und Obdachlosenpolitik in Kommunen.
‘Empowerment’ soll den Obdachlosen Mut zu machen, aktiv zu werden, sich auf eigene Fähigkeiten und Stärken zu besinnen und das Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Trotz der in vielerlei Hinsicht berechtigten Kritik birgt der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe auch Chancen, Wohnungs- und Obdachlose langfristig aus ihrer prekären Situation herauszuführen. Daher wird die Hilfe zur Selbsthilfe als ein Merkmal für eine sozial nachhaltige Obdachlosenpolitik in Kommunen dem Kriterienkatalog hinzugefügt.
Die Gruppe der Wohnungs- und Obdachlosen ist starken Diskriminierungen ausgesetzt. Ein Abbau der Diskriminierungen und Benachteiligungen dieser Menschen und deren Integration in die Gesellschaft ist eine fundamentale Aufgabe und Ziel sozial nachhaltiger kommunaler Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Kommunale (Sozial-)Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit besteht die Aufgabe kommunaler Wohnungs- und Sozialpolitik darin, einkommensschwache und sozial benachteiligte Haushalte, die aus eigenen Mittel nicht dazu in der Lage sind, mit Wohnraum zu versorgen.#
Durch die mangelnde Koordination der das Problem Obdachlosigkeit betreffenden Politikbereiche und Verwaltungseinheiten ist ein ganzheitliches, problemadäquates und die Ursachendimensionen integrierendes Vorgehen kaum möglich.
Die kommunale Politik im Kontext von Obdachlosigkeit hat aufgrund der zahlreichen rechtlichen Fixierungen im Sozialgesetzbuch und im Bundessozialhilfegesetz in hohem Maße Vorgaben von Bund und Ländern umzusetzen. Die Organisationsstruktur der Verwaltungen und des Hilfesystems funktioniert nach klassisch administrativen und hierarchischen Mechanismen,# die durch ‘top-down’ Verfahrensweisen gekennzeichnet sind. Die Einrichtungen der "Nichtseßhaftenhilfe“ in Kommunen sind primär auf Unterbringung und Versorgung der Betroffenen entsprechend der "klassischen Fürsorgeprinzipien verhaftet“.#
Letztlich hat sich die Obdachlosenpolitik in Bund, Ländern und Kommunen in einem "sehr beständig erwiesen: in der Unzulänglichkeit, die Kontinuität sozialer Benachteiligung zu durchbrechen“.#
Als Kritik an der kommunalen (Sozial-)Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit kann festgehalten werden, daß durch die Vorgabe von Empfehlungen, Anweisungen oder Entscheidungen durch höher geordnete Instanzen oder Institutionen die Betroffenen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Damit werden die Kriterien der Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten und der Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten verletzt.
Strategien und Ansätze eines ‘Empowerment’ der Zielgruppe und der ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ statt dauerhafter Alimentation, die einen Beitrag dazu leisten könnten, die Betroffenen dauerhaft aus ihren sozialen Notlagen herauszuführen, werden nur gelegentlich in experimentellen Maßnahmen und Projekten angewendet.
Alternativer Ansatz einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Ausgehend von dieser Kritik soll der tradierten kommunalen Obdachlosenpolitik nun ein alternativer Ansatz gegenübergestellt werden, der entlang der entwickelten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aufgebaut ist.
Dem entwickelten Alternativentwurf für eine kommunale Obdachlosenpolitik, die sich an Grundsätzen sozialer Nachhaltigkeit orientiert, liegt die normative Annahme zugrunde, daß sich die gegenwärtige Sozialpolitik von ihrer Rolle und Funktion als ‘sozialer Reparaturbetrieb’ hin zu einer präventiven, Menschen zu selbständigem Handeln und Selbstorganisation motivierenden Politik wandeln muß. Dabei darf der Staat jedoch keinesfalls aus seinen originären Pflichten der sozialen Sicherung und Versorgung mit sozialen Einrichtungen entlassen werden.
Der Alternativentwurf besteht aus zwei Bausteinen: zum ersten einer zentralen Koordination der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure sowie zum zweiten einer dauerhaften Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Pro#jekte.
Eine zentrale Koordination muß primär eine schnelle und reibungslose Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure in Kommunen leisten. Sie kann den Sachverstand der speziellen Ämter bündeln und diesen integriert auf das komplexe Problem Obdachlosigkeit anwenden. Die zentrale Koordination der Zusammenarbeit von kommunaler und freier Wohlfahrtspflege soll eine Gesamtplanung aller zum Einsatz kommenden Hilfen gewährleisten.
Als fundamentaler Gesichtspunkt dieses Bausteines ist die Kooperation der betroffenen Obdachlosen selbst oder zumindest ausgewiesener und mit der Aufgabe betrauter ‘Agenten’ derselben an Planung und Durchführung von Strategien und Maßnahmen hervorzuheben, die gesamtstädtisch von einer kommunalen zentralen Koordinierungsstelle organisiert werden sollte. Neben der besseren Abstimmung der konkreten Maßnahmen und Strategien auf die spezifischen Bedürfnisse der entsprechenden Zielgruppe ermöglicht die Beteiligung der Zielgruppe in Form von Partizipation und Kooperation auch gesellschaftlich integrative Wirkungen.
Partizipation und Kooperation sind insbesondere auch vor dem Hintergrund eines frühzeitigen Informationsaustausches und damit vor dem Vorsorgeprinzip zu sehen. Ein zentrales Instrument und zugleich wichtige Voraussetzung, um Prävention leisten zu können, ist eine qualitativ hinreichend genaue und rechtzeitig verfügbare Daten- und Informationsbasis, die auch über den zur Partizipation und Kooperation notwendigen kommunikativen Austausch der beteiligten Akteure gewonnen wird.
Mit dem zweiten Baustein des alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik im Bereich Obdachlosigkeit in Kommunen - einer dauerhaften Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Pro#jekte - soll auf "die notwendige Akzentverschiebung von der Sozialarbeit als nachsorgender Einzelfallhilfe hin zu einer bedürfnis- und lebenslagenorientierten Gemeinwesenarbeit“# eingegangen werden. Eine "bedürfnis- und lebenslagenorientierte Gemeinwesenarbeit“ zur Prävention und zum Abbau von Obdachlosigkeit wird sich vorrangig auf Nachbarschaften und kleinteilige Quartiere beziehen, da in diesen kleinen räumlichen Einheiten die Bedingungen sowohl für eine den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen adäquate Herangehensweise als auch für eine gezielte, effiziente Betroffenen#aktivierung am geeignetsten erscheinen.#
Das in diesem Rahmen geleistete Engagement muß honoriert und als Arbeit anerkannt werden. Mit dieser Forderung geht einher, daß "eine Abkehr von der Erwerbsarbeitszentrierung des Sozialstaats durch die (weitgehende) Entkopplung sozialpolitischer Leistungsansprüche von der Erwerbsarbeit (...) gleichsam die verschatteten Arbeitsformen anerkennen“ soll.# Damit bekämen Selbsthilfe und Selbstorganisation einen neuen Stellenwert in der Kommune und ihre sozialintegrativen Leistungen und Beiträge würden entsprechend anerkannt.
Die Kommunen sollten die Rahmenbedingungen für quartiersbezogene, problemlagenorientierte (Selbsthilfe-)Projekte verbessern und den Initiativen eine sichere, planbare und dauerhafte Grundlage bieten. Diese dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische Unterstützung der Selbsthilfemaßnahmen und -struk#turen können von den Kommunen sichergestellt werden. Diese Forderung bildet die Quintessenz des zweiten Grundbausteins sozial nachhaltiger Politik in Kommunen für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Fazit
Die Kommunen mit ihren Verwaltungen fungieren in diesem Ansatz einer sozial nachhaltigen Politik im Bereich Obdachlosigkeit eher als Organisatorinnen, Koordinatorinnen und Mediatorinnen sowie als Finanziers. Eine diese neue Rolle der Kommunalverwaltungen unterstützende Kraft könnte von den in Kapitel 28 der Agenda 21 geforderten Konsultationsprozessen der lokalen Entscheidungs#trägerInnen mit der Bevölkerung ausgehen.
Neu an einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist die starke Ausrichtung auf einen partizipativen und damit auch auf einen gleichberechtigteren Umgang der in diesem Bereich Tätigen mit den wohnungs- oder obdachlosen Personen. Es muß versucht werden, die Betroffenen stärker als dies bisher der Fall ist, in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse und Maßnahmen einzubeziehen. Darüber hinaus muß dem Verlust eigenen Wohnraums - allein aus ökonomischen Überlegungen heraus - stärker als bisher präventiv begegnet werden. Und schließlich muß die "Kommstruktur“# der sozialen Unterstützungsangebote in einer sozial nachhaltigen (Sozial-)Politik - nicht nur im Bereich der Obdach- und Wohnungslosenhilfe - durch eine "Bringstruktur“ der unterstützenden Institutionen ersetzt werden.
Quellennachweis
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#SEITE #1#
# Blum, Elisabeth (Hrsg.) (1996): Wem gehört die Stadt? Armut und Obdachlosigkeit in den Metropolen. Basel, S.36.
# Haus, Wolfgang, u.a. (1986): Wie funktioniert das? Städte, Kreise und Gemeinden. Mannheim, S.232.
# BMFam (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.), Geiger Manfred; Steinert, Erika (Verf.) (1997): Alleinstehende Frauen ohne Wohnung: soziale Hintergründe, Lebensmilieus, Bewältigungsstrategien, Hilfeangebote. Köln, S.54.
# Greiff, Rainer; Schuler-Wallner, Gisela (Hrsg.) (1990): Mehr als ein Dach über dem Kopf. Weinheim, S.200.
# ebd.: S.12.
# o.V. (1994): Der Schutz vor Obdachlosigkeit ist Aufgabe sozialstaatlicher Wohnungspolitik. In: Eildienst: Informationen für Rat und Verwaltung. (Hrsg.: Städtetag Nordrhein-Westfalen), Nr.17, Köln, S.578-582 (S.579).
# Leibfried, Stephan (1984): Sozialhilfe. In: Eyferth, Hanns, u.a. (Hrsg.) (1984): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Darmstadt, S.948-957 (S.948f).
# Weber, Roland (1984): Nichtseßhaftigkeit. In: Eyferth, Hanns, u.a. (Hrsg.) (1984): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Darmstadt, S.669-676 (S.673).
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# Wegner, Bettina (1989): Subsidiarität und „Neue Subsidiarität“ in der Sozialpolitik und Wohnungspolitik. Regensburg, S.86.
# Opielka, Michael (1997): Leitlinien einer sozialpolitischen Reform. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 48-49, Bonn, S.21-30 (S.25).
# BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung) (1998): Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen. Bonn, S.128.
Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort
2 Nachhaltigkeit
2.1 Allgemeine definitorische EinfŸhrung in das Konzept der Nachhaltigkeit
2.1.1 Überwiegend konsensuale Merkmale des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung
2.1.1.1 Ressourcenschonung
2.1.1.2 Globale Gerechtigkei
2.1.1.3 Langfristigkeit bzw. intergenerative Gerechtigkeit
2.1.1.4 Integration von Themen und Dimensionen GEHEZU _Toc506556661 SEITENREF _Toc506556661 5
2.1.1.5 Integration gesellschaftlicher Gruppen GEHEZU _Toc506556662 SEITENREF _Toc506556662 6
2.1.2 Kritische Zusammenfassung GEHEZU _Toc506556663 SEITENREF _Toc506556663 6
2.2.1 Dokumente internationaler Konferenzen und Kommissionen GEHEZU _Toc506556665 SEITENREF _Toc506556665 7
2.2.1.1 Brundtland-Bericht, 1987 GEHEZU _Toc506556666 SEITENREF _Toc506556666 7
2.2.1.2 Agenda 21, Abschlu§dokument der Konferenz der Vereinten Nationen fŸr Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro, 1992 GEHEZU _Toc506556667 SEITENREF _Toc506556667 7
2.2.1.3 Charta von Aalborg - Charta der EuropŠischen StŠdte und Gemeinden auf dem Weg zur Dauerhaftigkeit, Aalborg, 1994 GEHEZU _Toc506556668 SEITENREF _Toc506556668 9
2.2.1.4 Habitat Agenda, Abschlu§dokument der zweiten Konferenz der Vereinten Nationen Ÿber menschliche Siedlungen, Istanbul, 1996 (HABITAT II) GEHEZU _Toc506556669 SEITENREF _Toc506556669 9
2.2.2 BeitrŠge und Forschungsergebnisse in der wissenschaftlichen Literatur zum Komplex soziale Nachhaltigkeit GEHEZU _Toc506556670 SEITENREF _Toc506556670 10
2.2.3 Kritische Auseinandersetzung mit den vorgelegten Texten und Dokumenten sowie den KonzeptionalisierungsansŠtzen sozialer Nachhaltigkeit GEHEZU _Toc506556671 SEITENREF _Toc506556671 14
2.2.3.1 Soziale Gerechtigkeit - Sozialpolitik - Demokratietheoretische †berlegungen GEHEZU _Toc506556672 SEITENREF _Toc506556672 14
2.2.3.2 Primat des Sozialen oder die soziale Dimension als akzeptanzfšrderndes Mittel fŸr Umweltschutzma§nahmen in der Bevšlkerung GEHEZU _Toc506556673 SEITENREF _Toc506556673 14
2.2.3.3 Die ungleiche Gewichtung inter- und intra-generativer sowie -regionaler Gerechtigkeiten GEHEZU _Toc506556674 SEITENREF _Toc506556674 15
2.2.3.4 Soziale Anschlu§fŠhigkeit und gebotene RadikalitŠt GEHEZU _Toc506556675 SEITENREF _Toc506556675 15
2.2.3.5 Selbsthilfe und Selbstorganisation oder originŠre, unabdingbare Aufgaben und Pflichten des Staates GEHEZU _Toc506556676 SEITENREF _Toc506556676 16
2.3 Entwurf eines Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit GEHEZU _Toc506556677 SEITENREF _Toc506556677 17
2.3.1 Auslegung der allgemeinen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung fŸr die soziale Dimension GEHEZU _Toc506556678 SEITENREF _Toc506556678 17
2.3.1.1 Ressourcenschonung als Schonung škologischer, škonomischer und sozialer/humaner Ressourcen GEHEZU _Toc506556679 SEITENREF _Toc506556679 17
2.3.1.2 Globale Gerechtigkeit als Beitrag auch zu intraregionaler sozialer StabilitŠt GEHEZU _Toc506556680 SEITENREF _Toc506556680 18
2.3.1.3 Langfristigkeit sozialer Prozesse GEHEZU _Toc506556681 SEITENREF _Toc506556681 18
2.3.1.4 Themenintegration GEHEZU _Toc506556682 SEITENREF _Toc506556682 18
2.3.1.5 Integration gesellschaftlicher Gruppen GEHEZU _Toc506556683 SEITENREF _Toc506556683 19
2.3.2 Abstrakte soziale Kriterien GEHEZU _Toc506556684 SEITENREF _Toc506556684 19
2.3.2.1 SozialvertrŠglichkeit GEHEZU _Toc506556685 SEITENREF _Toc506556685 19
2.3.2.2 Soziale Gerechtigkeit GEHEZU _Toc506556686 SEITENREF _Toc506556686 20
2.3.2.3 Soziale Sicherheit GEHEZU _Toc506556687 SEITENREF _Toc506556687 20
2.3.2.4 Kulturelle IdentitŠt und Vielfalt GEHEZU _Toc506556688 SEITENREF _Toc506556688 20
2.3.3 Konkrete Ziele mit z.T. rŠumlichem Bezug GEHEZU _Toc506556689 SEITENREF _Toc506556689 20
2.3.3.1 ArmutsbekŠmpfung GEHEZU _Toc506556690 SEITENREF _Toc506556690 20
2.3.3.2 Abbau von Diskriminierungen GEHEZU _Toc506556691 SEITENREF _Toc506556691 21
2.3.3.3 Schaffung von (dauerhaften) ArbeitsplŠtzen oder Vermittlung von (sinnvollen) TŠtigkeiten GEHEZU _Toc506556692 SEITENREF _Toc506556692 21
2.3.3.4 Vermeidung bzw. Abbau der rŠumlichen Segregation GEHEZU _Toc506556693 SEITENREF _Toc506556693 21
3 EinfŸhrung in den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit GEHEZU _Toc506556694 SEITENREF _Toc506556694 22
3.1 Eine AnnŠherung an den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit GEHEZU _Toc506556695 SEITENREF _Toc506556695 22
3.1.1 Definitionen und nŠhere Bestimmung des Personenkreises im Fokus dieser Arbeit GEHEZU _Toc506556696 SEITENREF _Toc506556696 22
3.1.2 Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Zahlen und Statistiken GEHEZU _Toc506556697 SEITENREF _Toc506556697 24
3.1.3 Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit und deren Folgen GEHEZU _Toc506556698 SEITENREF _Toc506556698 24
3.2 We itere Ausdifferenzierung des Kriterienkataloges fŸr den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit GEHEZU _Toc506556699 SEITENREF _Toc506556699 26
3.2.1 ArmutsbekŠmpfung GEHEZU _Toc506556700 SEITENREF _Toc506556700 26
3.2.2 Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten GEHEZU _Toc506556701 SEITENREF _Toc506556701 27
3.2.3 Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten GEHEZU _Toc506556702 SEITENREF _Toc506556702 27
3.2.4 'Empowerment' der Zielgruppe GEHEZU _Toc506556703 SEITENREF _Toc506556703 27
3.2.5 'Hilfe zur Selbsthilfe' statt dauerhafter Alimentation GEHEZU _Toc506556704 SEITENREF _Toc506556704 27
3.2.6 Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen GEHEZU _Toc506556705 SEITENREF _Toc506556705 28
3.2.7 Schaffung von (dauerhaften) ArbeitsplŠtzen oder Vermittlung von (sinnvollen) TŠtigkeiten GEHEZU _Toc506556706 SEITENREF _Toc506556706 28
4 Kommunale Sozialpolitik
4.1 Positionierung der kommunalen Sozialpolitik im Geflecht Ÿbergeordneter Politikbereiche und ihre verfassungsrechtliche Verankerung
4.1.1 Die Stellung kommunaler Sozialpolitik zur Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung des Bundes und der LŠnder
4.1.2 Kommunale Sozialpolitik als Teilbereich der Kommunalpolitik insgesamt
4.2 Aufgabenbereiche kommunaler Sozialpolitik
4.3 Organisationsstruktur kommunaler Sozialpolitik
4.3.1 Formaler Aufbau der Organisationsstruktur kommunaler Sozialpolitik
4.3.2 Innere Organisationsstruktur und qualitative Ausformung des Aufbaus kommunaler Sozialpolitik
4.4 Ausgabenstruktur und Finanzen der kommunalen Sozialpolitik
4.5 Fazit und Ausblick
5 Kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
5.1 EinfŸhrung in die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
5.1.1 Aufgaben und Kompetenzen der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit im Spannungsfeld von Vor- und Nachsorge sowie von Hilfe und Kontrolle
5.1.2 Kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit als Querschnittsaufgabe der Verwaltung - die Organisationsstruktur
5.1.3 Ausgaben und Finanzen
5.1.4 WiderstŠnde und Probleme der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
5.1.5 Subtile Aspekte kommunaler Politik im Bezug auf Obdachlose
5.1.6 Fazit
5.2 †berprŸfung und Kritik der kommunalen Politik im Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit anhand des erarbeiteten Kriterienkataloges
6 Entwurf eines alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
6.1 Baustein I: eine zentrale Koordinationsstelle zur schnelleren und besseren Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befa§ten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure
6.2 Baustein II: eine dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische UnterstŸtzung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Projekte durch die Kommunen
6.3 Weitere Transfermšglichkeiten der Kriterien sozialer Nachhaltigkeit auf eine alternative Obdachlosenpolitik in Kommunen
7 ResŸmee
8 Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
ARL Akademie für Raumforschung und Landesplanung
BBR Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
BMBau Bundesministerium für Raumordung, Bauwesen und Städtebau
BMFam Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMU Bundesminiterium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
BSHG Bundessozialhilfegesetz
Difu Deutsches Institut für Urbanistik
DST Deutscher Städtetag
ExWoSt Experimenteller Wohnungs- und Städtebau
GG Grundgesetz KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz
NRO Nichtregierungsorganisation
OBG Ordnungsbehördengesetz PolG Polizeigesetz
SGB Sozialgesetzbuch
SRU Rat von Sachverständigen für Umweltfragen
UBA Umweltbundesamt
Vorwort
Die Wahl, das Thema "Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen. Entwicklung und Umsetzung des Leibildes sozialer Nachhaltigkeit am Beispiel der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit" zu bearbeiten, läßt sich mit zwei Beobachtungen begründen: erstens Defizite im gegenwärtigen Diskurs über 'Nachhaltige Entwicklung' und zweitens die Existenz von Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland.
Zum ersten bezieht sich die gegenwärtige Diskussion über das Leitbild Nachhaltige Entwicklung überwiegend auf umwelttechnologische Verbesserungen und die Lenkungsfunktion ökonomischer Steuerungsinstrumente (Kopatz 1998: 30). Der Diskurs über eine nachhaltige Entwicklung ist in diesem Kontext in der Tendenz eher quantitativ i.S. einer Bestimmung optimaler, ökologisch akzeptabler Ressourcenströme denn qualitativ auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen hin orientiert. M.E. gilt es im Nachhaltigkeitsdiskurs aber auch zu klären, wie und unter welchen sozialen Bedingungen der überwiegende Teil der Menschen heutiger und zukünftiger Generationen leben will und leben kann. Bisher lassen sich gerade in der sozialen Dimension Defizite in der Diskussion über Nachhaltige Entwicklung konstatieren. Gleichwohl scheinen sich soziale Institutionen und auch die Sozialwissenschaften zunehmend für den Themenkomplex Nachhaltigkeit und seine Diskurse zu interessieren (Brand 1997: 11).
Der zweite Grund, der die inhaltliche Fokussierung auf den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit erklärt, fußt auf der ethischen Überzeugung, daß es nicht sein kann und nicht sein darf, daß in einem der reichsten Länder der Erde, der Bundesrepublik Deutschland, Menschen auf der Straße leben müssen. So umstritten die Bereiche und Aufgaben der Sozialpolitik im einzelnen sein mögen, so besteht doch weitgehend Konsens darin, daß Obdachlosigkeit in der BRD mit allen Mitteln bekämpft werden muß. Obdach- und Wohnungslosigkeit zählen zu den extremsten Formen der Armut, "denn nichts, aber auch gar nichts wiegt so schwer, als keinen Ort mehr zu haben, der minimalste Privatheit garantiert und minimalsten Schutz bietet" (Blum 1996: 36). In den letzten Jahren und Jahrzehnten nahm die Zahl obdachloser Personen konstant zu. Längst sind nicht mehr nur die 'klassischen' Armutsschichten von Obdachlosigkeit betroffen, sondern zunehmend auch Familien und BezieherInnen mittlerer Einkommen. Für immer mehr Menschen verschwindet somit die Basis der Grundsicherung ihrer Existenz: eine angemessene Behausung.
Nachhaltige Entwicklung ist ein globales Leitbild, das den unterschiedlichen räumlichen Einheiten und Handlungsfelden angemessen präzisiert werden muß. Die vorliegende Arbeit versucht ausgehend von der Forschungsfrage, wie kommunale Sozialpolitik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit gestaltet sein sollte, um als sozial nachhaltig zu gelten, diese Präzisierung vorzunehmen und ein mögliches Konzept 'sozialer Nachhaltigkeit' mit Substanz zu versehen.
Ziel dieser Arbeit ist damit der Entwurf eines alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit, der den EntscheidungsträgerInnen und den Verwaltungen in Kommunen, aber auch lokal tätigen Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie interessierten und engagierten BürgerInnen einen praktikablen Weg weisen könnte, vor Ort die Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit sozial nachhaltig zu gestalten. Dazu soll zum ersten ein Kriterienkatalog zur inhaltlichen Bestimmung sozialer Nachhaltigkeit entwickelt werden, von dem ausgehend dann die abstrakten Merkmale sozialer Nachhaltigkeit auf der kommunalen Ebene in ein konkretes soziales Problemfeld (Wohnungs- und Obdachlosigkeit) übertragen werden.
Die theoretische Basis dieser Arbeit besteht aus drei zunächst unabhängigen Themengebieten, die im Verlauf dieser Arbeit sukzessive miteinander verknüpft werden: 1. Nachhaltigkeit, 2. Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie 3. kommunale Sozialpolitik.
Nach einer kurzen Darstellung der allgemeinen, überwiegend konsensualen Grundlagen des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung wird detailliert auf dessen soziale Dimension eingegangen. Dazu wird ausgehend von den zentralen internationalen programmatischen Dokumenten sowie der wissenschaftlichen Literatur ein Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit entwickelt, der die normative Grundlage für die weitere Arbeit bildet (Teil 1). In einem weiteren Oberkapitel folgt eine Annäherung an den zweiten Grundbaustein dieser Arbeit, den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Die einzelnen Kriterien des Kataloges sozialer Nachhaltigkeit werden in einer ersten inhaltlichen Verknüpfung auf den Bereich Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit übertragen und den spezifischen Charakteristika entsprechend ausdifferenziert (Teil 2). Daran anschließend folgt als dritte theoretische Grundlage dieser Arbeit eine kompakte Einführung in die Stellung der kommunalen Sozialpolitik zu übergeordneten Politikbereichen, in deren Aufgabenbereiche und Organisationsstruktur sowie in die Probleme und Tendenzen, mit denen die kommunale Sozialpolitik konfrontiert ist (Teil 3). Von der allgemeinen kommunalen Sozialpolitik ausgehend folgt in einem deduktiven Schritt eine Darstellung der kommunalen (Sozial-) Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Die anschließende Überprüfung und Kritik der herrschenden Politik orientiert sich weitgehend an dem ausdifferenzierten Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit (Teil 4). Aus dieser Kritik heraus wird im letzten Schritt ein alternativer Ansatz einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit abgeleitet (Teil 5).
Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept und dementsprechend ist auch diese Arbeit normativ. Wie noch zu zeigen sein wird, sind gesellschaftliche Integration und sozialer Ausgleich zwei zentrale Merkmale der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung. Unter diesen Prämissen nimmt die Arbeit vorwiegend die Perspektive der sozial zu integrierenden Menschen, also der Wohnungs- und Obdachlosen, ein und weniger die der Kommunalverwaltungen oder der Wohlfahrtsverbände.
Nachhaltigkeit
Der Handlungsbedarf für ein fundamentales, radikales Umsteuern auf dem Entwicklungspfad der menschlichen (Welt-)Gesellschaft wird zunehmend augenfälliger. Die globalen Krisensyndrome des ökologischen Zustands der Erde und der sozialen Bedingungen menschlicher Gesellschaften lassen sich kaum mehr leugnen. Insbesondere aus ökologischer Perspektive stößt die moderne Industriegesellschaft (heute auch als "postfordistische Gesellschaft" bezeichnet) an ihre "Grenzen des Wachstums" (Meadows 1972). Die Belege und Beschreibungen der ökologischen, aber auch der sozialen Krisen und deren Konsequenzen für die Weltgesellschaft wurden in zahlreichen Publikationen umfassend beschrieben.
Das Konzept der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung ist als Versuch entstanden, aus dem dominanten, nach permanentem Wachstum strebenden Entwicklungsparadigma auszubrechen und einen alternativen Weg für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aufzuzeigen. Die konkrete Ausgestaltung dieses Weges ist jedoch äußerst umstritten. Der Terminus 'Nachhaltigkeit' zeichnet sich heute eher durch seine "inflationäre" Verwendung (Dangschat 1997: 170) aus als durch begriffliche Schärfe. Die inkonsistente, z.T. auch beliebige Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs ist sowohl Chance als auch Gefahr. Durch seine wenig exakte Gefahr der Unbestimmtheit von Nachhaltigkeit liegt in der Kooptation des Begriffes durch verschiedenste Institutionen und Eliten, die das Konzept der Nachhaltigkeit zunehmend für sich zu vereinnahmen suchen und damit von potentiell enthaltenen 'radikaleren' Vorstellungen und Inhalten wegführen.
Bevor der Versuch unternommen werden kann, 'soziale Nachhaltigkeit' wenigstens in groben Konturen zu bestimmen, um dann entsprechende Ableitungen für die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu treffen, muß zunächst dem Begriff 'Nachhaltigkeit' für die weitere Verwendung im Rahmen dieser Arbeit Substanz verliehen und eine problemadäquate Definition gegeben werden.
Allgemeine definitorische Einführung in das Konzept der Nachhaltigkeit
Eine exakte und allgemein anerkannte und geteilte Definition von 'Nachhaltigkeit' existiert bisher nicht. Vielmehr ist die Verwendung des Terminus 'Nachhaltigkeit' äußerst diffus. Ebenso wenig wie eine Definition, existiert eine exakte, exklusive Übersetzung für den englischen Begriff 'sustainability' bzw. 'sustainable development'. In der Literatur treten als Übersetzungen wahlweise die Begriffe "dauerhafte", "tragfähige", "zukunftsfähige" oder, auf den Bereich der Ökologie fokussiert, "dauerhaft-umweltgerechte" Entwicklung auf. Im Laufe der Diskussion über 'sustainable development' hat sich in der deutschen Übersetzung zunehmend "Nachhaltigkeit" für "sustainability" bzw. "nachhaltige Entwicklung" entsprechend für "sustainable development" durchgesetzt (Brand 1997: 10); diese Arbeit schließt sich den Übersetzungen in 'Nachhaltigkeit' und 'nachhaltige Entwicklung' an.
International bekannt wurde das Konzept Nachhaltige Entwicklung mit der Veröffentlichung des Berichts der Brundtland-Kommission im Jahr 1987. In der deutschen Übersetzung des Brundtland-Berichts wird 'sustainable development' wie folgt definiert: "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Hauff 1987: 46).
Ein zentraler Aspekt der Nachhaltigkeits-Definition des Brundtland-Berichtes ist, in den gegenwärtigen Handlungen und Entscheidungen die Kosequenzen für die Entwicklungsmöglichkeiten nachfolgender Generationen mit einzubeziehen. Hier wird zum ersten Mal der Ansatz einer intergenerativen Gerechtigkeit eingeführt.
Diese im intergenerativen Ansatz enthaltene langfristige Perspektive ist eines der zentralen Merkmale dauerhafter, nachhaltiger Entwicklung.
Einen rasanten Aufschwung nahm die Verwendung des Terminus 'sustainable development' spätestens seit der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992. Auf dieser Konferenz wurde intensiv in weltumspannendem Rahmen über die globalen sozialen und ökologischen Probleme diskutiert, und es bestand Einigkeit darin, daß die in Zukunft zu bewältigenden Aufgaben nur gemeinsam - eben global - gelöst werden können. Als Abschlußdokument dieser Weltkonferenz wurde die "Agenda 21" von mehr als 170 Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Sie umfaßt dabei die relevanten, zentralen Handlungsfelder, Politikbereiche und politischen Akteure.
Im Mai 1994 fand die "Europäische Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden" in Aalborg, Dänemark, statt. Auf dieser Konferenz wurde die "Charta von Aalborg" ausgearbeitet, die zum Abschluß der Konferenz von zahlreichen europäischen Kommunen unterzeichnet wurde und die von vielen Städten, Kreisen und Gemeinden als Vorlage und Einstieg in einen Lokale Agenda 21-Prozeß genutzt wird. Die Vorgaben der Agenda 21, die in globalen Kategorien verfaßt ist, werden durch die Charta von Aalborg auf die lokale, kommunale Ebene transponiert. Insbesondere betont die Charta von Aalborg die Themenintegration und die Bedeutung konsultativer, lokal gesteuerter Prozesse (Kühn/Moss 1998: 18).
Als letzte Konferenz soll noch die "Zweite Konferenz der Vereinten Nationen über menschliche Siedlungen" (Habitat II) kurz eingeführt werden, die im Juni 1996 in Istanbul statt fand. Aufgabe und Ziel dieser Konferenz bestanden darin, "zwei Fragen von globaler Bedeutung anzusprechen: "Angemessener Wohnraum für alle" und "nachhaltige Siedlungsentwicklung in einer zunehmend durch Verstädterung geprägten Welt" (BMBau 1997: 1).
Überwiegend konsensuale Merkmale des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung
Die im folgenden aufgeführten allgemeinen Merkmale bilden - bei differierender Gewichtung und Akzentuierung, die ihnen verschiedene AutorInnen verleihen - weitestgehend den Konsens im Verständnis von einer nachhaltigen Entwicklung.
Folgende Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung können daher an dieser Stelle als überwiegend konsensuale Merkmale des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung eingeführt werden: Ressourcenschonung, Globale Gerechtigkeit, Langfristigkeit bzw. intergenerative Gerechtigkeit, Integration von Themen und Dimensionen sowie Integration gesellschaftlicher Gruppen.
Ressourcenschonung
Die natürliche Umwelt mit ihren Ressourcen bildet die Grundlage allen Lebens auf der Erde. Aufgrund menschlicher Einflüsse und Eingriffe sind ökologische Systeme in vielen Bereichen in ihrer Qualität, Stabilität und damit in ihrer Funktionsfähigkeit gefährdet. Ein schonenderer Umgang mit ökologischen Ressourcen ist daher dringend geboten. Diese Einsicht ist die primäre Grundlage des Konzeptes einer nachhaltigen Entwicklung. Für HUBER "bedeutet Nachhaltigkeit, natürliche Ressourcen und Senken, die der Mensch nutzt, so zu bewirtschaften, daß ihr Potential nicht beeinträchtigt wird, auf Dauer erhalten bleibt und sich nach Möglichkeit sogar verbessert" (Huber 1995: 10). Ökologische Ziele einer nachhaltigen Entwicklung sind die "Erhaltung der Pufferkapazität der Natur", eine "nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen" und eine "minimale Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen" (Huber 1995: 43).
Globale Gerechtigkeit
Ein weiteres Merkmal, auf das neben der Agenda 21 auch die anderen aufgeführten Dokumente abzielen, ist die globale Perspektive, die eine zukunftsfähige, nachhaltige Entwicklung berücksichtigen muß. Die globalen Krisensyndrome, die sowohl lokal als auch global verursacht sein können, wirken sich räumlich beschränkt und auch global aus. Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisenerscheinungen machen nicht vor nationalstaatlichen Grenzen halt, sondern weisen zunehmend auf die beschränkten nationalen Handlungsspielräume hin. Den globalen Krisensyndromen wirksam zu begegnen, "vermag keine Nation allein zu erreichen, während es uns gemeinsam gelingen kann: in einer globalen Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist" (BMU o.J.: 9; Präambel, 1.1). Ein Grund für die globalen Krisen sind, wie der Brundtland-Bericht ausführt, "Ungleichheiten wirtschaftlicher und politischer Macht" (Hauff 1987: 50), sowohl nationaler als auch internationaler Art. Diese internationalen Machtdisparitäten global gerechter zu gestalten, ist eine Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. "Die Forderung, diese Entwicklung 'dauerhaft' zu gestalten, gilt für alle Länder und alle Menschen" (Hauff 1987: XV).
Langfristigkeit bzw. intergenerative Gerechtigkeit
Die Orientierung an langfristigen Entwicklungszielen und die Berücksichtigung langfristig wirksamer Folgen menschlichen Handelns sind zwei elementare Faktoren in der oben aufgeführten, grundlegenden Definition "dauerhafter Entwicklung" der Brundtland-Kommission. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen dürfen sich demnach nicht mehr an kurzfristigen (Gewinn-)Interessen orientieren, sondern an langfristigen Überlegungen, die "die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen dauerhaft erhalten und dabei gleichzeitig die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse" beachten (Kühn/Moss 1998: 14).
Integration von Themen und Dimensionen
Das Leitbild Nachhaltige Entwicklung beschränkt sich jedoch nicht auf Fragen und Belange der Ökologie hinsichtlich der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Ein weiteres zentrales, konsensuales Charakteristikum einer nachhaltigen Entwicklung ist die "Integration wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Belange im Rahmen des Diskurses über eine nachhaltige Entwicklung" (Kühn/Moss 1998: 14; Hervorhebung im Original). Nachhaltige Entwicklung basiert auf der Einsicht der Existenz von Interdependenzen und Abhängigkeiten zwischen diesen drei Dimensionen. Keiner dieser Handlungsbereiche kann ohne Konsequenzen und Rückbezüge auf die jeweils anderen entwickelt werden, wie es das traditionelle Entwicklungsparadigma noch vorsieht. Für BRAND beruht daher die "Korrektur des herkömmlichen Entwicklungsverständnisses" neben anderen Kriterien auf der "Selbstbegrenzung der Eigendynamik systemspezifischer Entwicklungsrationalitäten unter dem Gesichtspunkt der 'Vernetzung' ökologischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungsaspekte" (Brand 1997: 14; Hervorhebung im Original). Gesellschaftliche Teilbereiche dürfen sich nach Logik des Nachhaltigkeitskonzeptes nicht von anderen Teilbereichen entkoppeln, da diese dann tendenziell Gefahr laufen, die Entwicklung ihres eigenen Subsystems zu Lasten des Gesamtsystems zu bestreiten.
"Sustainability bedeutet vor allem, gleichzeitig die Ziele des Naturschutzes (...), der ökonomischen Beständigkeit (...) und der sozialen Gerechtigkeit (...) anzustreben" (Dangschat 1997: 170).
Auch die Agenda 21 sieht im Hinblick auf die globale Perspektive die Notwendigkeit, "in Umwelt- und Entwicklungsfragen einen ausgewogenen und integrierten Ansatz zu verfolgen" (BMU o.J.: 9; Präambel, 1.2).
Integration gesellschaftlicher Gruppen
Wichtig für die Umsetzung und den Erfolg neuer Strategien ist deren Akzeptanz und die Einsicht über die Notwendigkeit dieser Strategien und ihrer Maßnahmen in der Bevölkerung. Auf Dauer lassen sich Maßnahmen und Strategien nicht gegen, sondern nur mit der Bevölkerung umsetzen. Die Einbindung und Partizipation der Bevölkerung in die Entscheidungsfindungsprozesse sind daher essentiell und werden in allen hier vorgestellten Dokumenten betont.
Nach den Ergebnissen der Brundtland-Kommission erfordert dauerhafte, nachhaltige Entwicklung "ein politisches System, das wirksame Beteiligung von Bürgern an Entscheidungsprozessen sicherstellt" (Hauff 1987: 69). Staatliche, insbesondere die politischen Institutionen sind damit aufgefordert, die BürgerInnen aktiv in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse einzubinden: "Außerdem muß für eine möglichst umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit und eine tatkräftige Mithilfe der nichtstaatlichen Organisationen (NRO) und anderer Gruppen Sorge getragen werden" (BMU o.J.: 9; Präambel, 1.3). In Kapitel 28 der Agenda 21 werden die Kommunen weltweit angehalten, mit ihren BürgerInnen in einen "Konsultationsprozeß" zu treten (BMU o.J.: 231; Kap.28).
Kritische Zusammenfassung
Für HUBER "stellt Nachhaltigkeit im wesentlichen ein Wirtschaftskonzept dar" (Huber 1995: 12), das die "Umwelt- und Sozialverträglichkeit der Wirtschaftsentwicklung" (Huber 1995: 39) anstrebt. Anders formuliert muß wirtschaftliches Wachstum so umgestaltet werden, daß weder die Umwelt noch die soziale Gerechtigkeit leidet (Dangschat 1997: 171). Diese Gewichtung ist m.E. in dieser Eindeutigkeit nicht zu halten. Zielt eine nachhaltige Entwicklung nicht auf einen radikalen Umbau der Gesellschaftsordnung insgesamt ab? Oder wird es im Hinblick auf einen nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen ausreichen, die Wirtschaft ökologisch zu modernisieren? Hinter diesen Fragen steht die Debatte über die Fortsetzung der Moderne auf der einen oder deren Ende und damit die Diskussion über einen Systemwechsel in eine 'Postmoderne' auf der anderen Seite.
Für BRAND beinhaltet eine nachhaltige Entwicklung nicht zwangsweise einen Bruch mit den Versprechungen der Moderne (Brand 1997: 14). Auch für CONRAD enthält das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung das formale Versprechen einer in erster Linie ökologisch tragfähigen "Fortführung des Projekts der Moderne" (Conrad 1997: 56). In dieser Perspektive kommt einer nachhaltigen Entwicklung die Aufgabe zu, "die der Moderne immanenten Tendenzen der Selbstgefährdung und -zerstörung abzubremsen" (Conrad 1997: 56). Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, ob eine nachhaltige Entwicklung eine geeignete, den 'modernen' Problemen angemessene Methode darstellt und, wenn dies zutrifft, ob ein lediglich "ökologisch modernisiertes Modell der Moderne" (Conrad 1997: 51) den Anforderungen an eine dauerhaft ökologisch tragfähige Gesellschaftsformation gerecht werden kann.
Auf einer anderen entwicklungstheoretischen Ebene eröffnet das Leitbild Nachhaltige Entwicklung die Wahl zwischen - einerseits - der Fortsetzung der konventionellen, global weitestgehend einheitlichen Wachstums- und Entwicklungsdynamiken, die im Rahmen der Möglichkeiten und Handlungsspielräume traditioneller Politik ökologisiert werden und damit weiterhin die bekannten und vielfach formulierten Folgen für Mensch und Natur produzieren und - andererseits - einem Aufbruch in eine Entwicklung "unterschiedlicher Transformationspfade und demokratischer Regulierungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse", die, lokalen Problemen und Erfordernissen angepaßt, basisdemokratisch legitimierte Entwicklungsmodelle zuläßt (Wehling 1997: 50).
Nachhaltige Entwicklung enthält in seiner offenen, bisweilen diffusen und vielfältig interpretierbaren Konzeption durchaus Potentiale, die für einen radikalen Wandel der traditionellen Entwicklungsparadigmen sprechen. Ungewiß ist hingegen, ob sich diese Potentiale auch gegen institutionelle und politische Strukturen, gegen Macht sowie kulturelle Widerstände werden durchsetzen können. Nachhaltige Entwicklung kann als ein politisches Konzept mit normativ-theoretischen Implikationen aufgefaßt werden, deren exakte Interpretationen noch ungeklärt sind (Wehling 1997: 36). Gleichwohl läßt sich konstatieren, daß über die in Punkt 1.1.2 genannten allgemeinen Merkmale bzw. Implikationen einer nachhaltigen Entwicklung ein Konsens besteht.
Diese Arbeit will Vorschläge für die noch ungeklärten Interpretationen dieser Implikationen - insbesondere für die soziale Dimension einer nachhaltigen Entwicklung - erarbeiten und zur Diskussion stellen.
In der Einleitung wurde bereits eine verschieden intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Dimensionen im gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurs bemerkt. Die soziale, die ökonomische und die globale Dimension einer nachhaltigen Entwicklung wurden im Gegensatz zur ökologischen bisher kaum einer vertieften Analyse und Auseinandersetzung unterzogen. Daher ist es folgerichtig, den Blick auf die bisher weniger diskutierten Dimensionen von Nachhaltigkeit zu richten. Dies soll in dieser Arbeit für die soziale Dimension geschehen. Da sich dies jedoch besser an einem konkreten Problem orientiert als rein theoretisch und abstrakt leisten läßt, wird hier ein begrenzter Problembereich - die Wohnungs- und Obdachlosigkeit - zur Anwendung herangezogen.
Nachhaltigkeit bzw. das Leitbild 'Nachhaltige Entwicklung' wird für die weitere Verwendung in dieser Abhandlung als normatives, politisches Konzept definiert, das Aspekte einer Schonung von Ressourcen, einer globalen Gerechtigkeit, einer langfristigen Orientierung resp. intergenerativen Gerechtigkeit, einer Integration sozialer, ökologischer und ökonomischer Dimensionen sowie einer Integration gesellschaftlicher Akteure impliziert. Demnach ist 'soziale Nachhaltigkeit' ein Teilaspekt von Nachhaltigkeit.
Annäherung an den Begriff 'soziale Nachhaltigkeit'
In diesem Kapitel soll nun eine schrittweise Annäherung an potentielle Inhalte sozialer Nachhaltigkeit erfolgen: zum einen mittels einer Recherche in den politischen Dokumenten der internationalen Konferenzen sowie zum anderen durch eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Themenkomplex. Die folgenden Ausführungen führen zu einer inhaltlichen Präzisierung 'sozialer Nachhaltigkeit', auf den die weiteren Kapitel theoretisch aufbauen.
Dokumente internationaler Konferenzen und Kommissionen
In diesem ersten Schritt sollen zunächst die Inhalte, Aussagen und Beiträge der Abschlußdokumente der verschiedenen, im vorangegangenen Kapitel vorgestellten internationalen Konferenzen zum Bereich 'Soziales' analysiert und bewertet werden.
Brundtland-Bericht, 1987
Im Bericht der Brundtland-Kommission fallen im Zusammenhang mit sozialen Dimensionen immer wieder die Schlüsselbegriffe der "Bedürfnisse" bzw. der "Grundbedürfnisse" und deren "Befriedigung". Auch in der grundlegenden und häufig zitierten Definition dauerhafter Entwicklung als "Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Hauff 1987: 46), tauchen diese Schlüsselwörter auf. Zwar hat Bedürfnisbefriedigung im konsumptiven Sinne eine ökonomische Komponente, im Zusammenhang mit der Befriedigung der (Grund-)Bedürfnisse treten jedoch soziale Aspekte resp. Aspekte der sozialen Sicherung in den Vordergrund. Für die Brundtland-Kommission erfordert "dauerhafte Entwicklung", "die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und für alle die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu befriedigen" (Hauff 1987: 47). Zu den Grundbedürfnissen werden u.a. die Bedürfnisse nach Arbeit, Nahrung und Energie (Hauff 1987: 53) sowie darüber hinaus an anderer Stelle die Bedürfnisse nach Wohnung, Wasserversorgung, Hygiene und Gesundheitsfürsorge (Hauff 1987: 59) gezählt.
"Das fundamentalste Bedürfnis ist das nach Lebensunterhalt, d.h. nach Beschäftigung" (Hauff 1987: 58). Auch in der obigen Aufzählung der Grundbedürfnisse, die für die Kommission von besonderer Relevanz sind, ist bereits das nach Arbeit enthalten. Arbeit, im umfassenden Sinne als alle möglichen Formen (re-)produktiver Tätigkeiten verstanden und nicht auf die klassische Erwerbsarbeit reduziert, erfüllt zum einen wichtige Funktionen für die Stellung und Selbstverortung eines Individuums in der Gesellschaft. D.h. Arbeit generiert Persönlichkeit und Identifikation, baut Selbstbewußtsein auf und schafft Respekt und Anerkennung (Baum 1990: 105). Zum anderen dient Arbeit dem Lebensunter- und -erhalt, der Reproduktion. Durch Arbeit und einen monetären, materiellen oder auch ideellen Ausgleich für geleistete Tätigkeiten lassen sich über Tauschprozesse wiederum andere Bedürfnisse befriedigen.
Wichtig für die soziale Dimension nachhaltiger bzw. dauerhafter Entwicklung erscheint darüber hinaus die Aussage des Brundtland-Berichts zu Macht- und ökonomischen Disparitäten: "Umweltbelastungen resultieren aus Ungleichheiten wirtschaftlicher und politischer Macht" (Hauff 1987: 50). Die Interdependenzen der Bereiche Wirtschaft und Politik mit der ökologischen Dimension werden von der Kommission explizit genannt: "Sobald ein System sich ökologischen Grenzen nähert, verschärfen sich die Ungleichheiten" (Hauff 1987: 52). Die hier nicht näher spezifizierten Ungleichheiten können über Wirtschaft und Politik hinaus auch auf das Soziale bezogen werden. Überproportional stark sind gerade die unteren sozialen Schichten von Umweltbelastungen betroffen, und negative Umwelteinflüsse verschlechtern die Situation der unteren Schichten syndromartig. Ihnen fehlen schlicht die ökonomischen Mittel, sich den negativen Einflüssen zu entziehen. Insofern hat Umweltzerstörung immer auch eine die sozialen Disparitäten verschärfende Komponente. Wenn aber Umweltzerstörung, wie oben bereits aus dem Brundtland-Bericht zitiert, auf ungleiche ökonomische und politische Machtressourcen zurückzuführen ist, liegt die Forderung nach einem Abbau wirtschaftlicher und politischer Privilegien und einem Ausgleich der Machtpotentiale nahe. Die Brundtland-Kommission schlägt zur Umsetzung einer dauerhaften Entwicklung ein politisches System vor, das die "wirksame Beteiligung von Bürgern an Entscheidungsprozessen sicherstellt" (Hauff 1987: 69). Hier wird eine demokratietheoretische Ebene sozialer Nachhaltigkeit angesprochen.
Nach Ansicht der Brundtland-Kommission liegt die Unfähigkeit, "dauerhafte Entwicklung" voranzutreiben, darin begründet, "daß wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit innerhalb und zwischen den Nationen vernachlässigt werden" (Hauff 1987: 52). Dementsprechend liegt dauerhafter Entwicklung die Verantwortung für "soziale Gerechtigkeit zwischen den Generationen" (intergenerative Gerechtigkeit), aber auch "innerhalb jeder Generation" (intragenerative Gerechtigkeit) zugrunde (Hauff 1987: 46).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß im Brundtland-Bericht grundlegende Begriffe wie "Bedürfnisse" und deren Befriedigung sowie inter- und intragenerative "soziale Gerechtigkeit" immer wieder auftauchen und auf deren Relevanz für eine nachhaltige, "dauerhafte Entwicklung" verwiesen wird, sie aber zu abstrakt und unspezifisch bleiben, um direkte und konkrete politische Umsetzungsstrategien zu begründen. Hier ist der Interpretationsspielraum durchaus als Defizit festzuhalten.
Setzt man die Aussagen und Kapitel, die der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung im Brundtland-Bericht gewidmet werden, mit den anderen in Relation, stellt man fest, daß diese nur einen geringen Teil des Berichts ausmachen. Zwar befaßt sich ein eigenes Kapitel mit der "Befriedigung menschlicher Bedürfnisse" (Hauff 1987: 58ff), insgesamt spielt die soziale Dimension gegenüber den Dimensionen Wirtschaft und Ökologie jedoch eine eher untergeordnete Rolle.
Agenda 21, Abschlußdokument der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro, 1992
Bereits im Inhaltsverzeichnis der Agenda 21 werden einige soziale Aspekte sichtbar. Teil I der Agenda 21 befaßt sich mit "sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen" und nennt in seinen einzelnen Kapiteln erste Prioritäten: "Armutsbekämpfung", "Veränderung der Konsumgewohnheiten", "Bevölkerungsdynamik und nachhaltige Entwicklung", "Schutz und Förderung der menschlichen Gesundheit", "Förderung einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung" (BMU o.J.: 5). Auf einer partizipatorischen, demokratietheoretischen Ebene behandelt Teil III der Agenda 21 die "Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen" wie z.B. Frauen, Kinder und Jugendliche, indigene Bevölkerungsgruppen, Landwirte und nichtstaatliche Organisationen. So abstrakt dies auf den ersten Blick erscheinen mag, so werden die Aussagen in den Texten der angeführten Kapitel präziser.
Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung sollen im Rahmen dieser Arbeit insbesondere Kapitel 3 "Armutsbekämpfung" aber auch das Kapitel 7 "Förderung einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung" einer vertieften Analyse unterzogen werden, da letzteres für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit noch von Interesse sein wird.
Die Relevanz der sozialen Dimension für das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung wird gerade in Kapitel 3 der Agenda 21 hervorgehoben: "Eine konkrete Strategie zur Armutsbekämpfung ist daher eine der Grundvoraussetzungen für eine gesicherte nachhaltige Entwicklung" (BMU o.J.: 18; Agenda 21, Kap.3.2). Des weiteren heißt es im ersten Absatz des dritten Kapitels : "Die Ausrottung von Armut und Hunger, eine größere Ausgewogenheit der Einkommensverteilung und die Erschließung und Weiterentwicklung menschlicher Ressourcen bleiben weiterhin die größten Herausforderungen überall auf der Welt" (BMU o.J.: 18; Agenda 21, Kap.3.1).
Die hierin genannten Ziele sind bereits um einiges eindeutiger formuliert als die Aussagen des Brundtland-Berichts zur Bedürfnisbefriedigung. Immerhin wird in diesem Satz "eine größere Ausgewogenheit der Einkommensverteilung" sowohl global als auch innerhalb einzelner Gesellschaften angestrebt.
In einem weiteren Absatz schlägt die Agenda 21 eine Verbindung zwischen der oben genannten primär sozialen Hilfe und Absicherung einerseits sowie den demokratischen Aspekten des Sozialen andererseits vor: "Eine wirksame Strategie (...) soll sich zuerst schwerpunktmäßig mit den Ressourcen, der Produktion und den Menschen befassen und Bevölkerungsfragen, eine bessere Gesundheitsversorgung, Bildung und Erziehung, die Rechte der Frau, die Rolle der Jugend und die der indigenen Bevölkerung sowie der örtlichen Gemeinschaften und einen demokratischen Beteiligungsprozeß in Verbindung mit guter Regierungsführung mit einbeziehen" (BMU o.J.: 18; Agenda 21, Kap.3.2.).
Zur Armutsbekämpfung ist die "Stärkung der Rolle von Gemeinschaften" ein wichtiges Instrument. Der von den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren, Organisationen und Gruppen getragene und gesteuerte Nachhaltigkeitsansatz soll neben anderen Aspekten so gestaltet sein, "Mechanismen für die Beteiligung der Bevölkerung - insbesondere von Armen, vor allem Frauen - an örtlichen Gemeindegruppen zu schaffen, um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern" (BMU o.J.: 19; Agenda 21, Kap.3.8 i).
Langfristig wird das Ziel angestrebt, "alle Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Existenz nachhaltig zu sichern" (BMU o.J.: 18; Agenda 21, Kap.3.4). Dies impliziert zum einen den Ansatz der "Hilfe zur Selbsthilfe" und zum anderen die Überzeugung, daß Hilfe nicht dauerhaft geleistet werden kann und darf. Hilfe muß sich selbst überflüssig machen, eine Forderung, der, wie auf der Ebene der praktischen kommunalen Sozialpolitik gezeigt wird, einige institutionelle Widerstände entgegenstehen.
Im Kapitel 7 ("Förderung einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung") ist als erster Programmbereich eine "angemessene Unterkunft für alle" aufgeführt. Das Recht auf einen angemessenen Wohnraum ist bereits in Artikel 25 der Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 festgehalten.
In einem gesonderten Abschnitt werden neben dem Ziel auch die Zielgruppe und die Methode genannt, die zur Zielerreichung anzuwenden ist: "Als Ziel wird die Schaffung angemessener Unterkunft für die rapide wachsende Bevölkerung und für die gegenwärtig unterprivilegierten städtischen und ländlichen Armutsgruppen angestrebt, diese soll im Rahmen eines auf dem "enabling approach" aufbauenden Förderkonzepts zur Errichtung und zum Ausbau umweltverträglichen Wohnraums erfolgen" (BMU o.J.: 45; Agenda 21, Kap. 7.8).
Trotz ihres konsensstiftenden Charakters entwickelt die Agenda 21 durchaus weitreichende Ziele im Bereich des Sozialen und benennt entsprechende Maßnahmen. Explizit genannt und gefordert werden "Strategien zur Armutsbekämpfung" - z.B. durch eine "größere Ausgewogenheit der Einkommensverteilung" und Ansätze der "Hilfe zur Selbsthilfe" bzw. des "enabling approach" statt einer dauerhaften Alimentation der benachteiligten Zielgruppe - ebenso wie eine ausreichende und angemessene Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum. Implizit enthalten diese oder andere, hier nicht näher aufgeführte Textstellen weitere Ziele und Handlungsanleitungen, die sich aus der Agenda 21 ableiten lassen. Dies sind u.a.:
die Verknüpfung der in der Agenda 21 vorgeschlagenen Aktivitäten mit der Forderung nach einer Integration der einzelnen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung wie z.B. in Kapitel 8 ("Integration von Umwelt- und Entwicklungszielen in die Entscheidungsfindung");
die Förderung partnerschaftlicher Ansätze sowohl in der Konzeptionierung als auch in der Umsetzung von Projekten wie z.B. in der Präambel des dritten Teils ("Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen"), im Kapitel 23, und insbesondere in den Abschnitten 23.1 und 23.2;
der Abbau von Diskriminierungen bzw. die Integration benachteiligter Menschen und Gruppen in den Kapiteln 24 (Frauen), 25 (Kinder und Jugendliche) und 26 (indigene Bevölkerungsgruppen);
Als Fazit läßt sich festhalten, daß die Passagen zur sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung in der Agenda 21, verglichen mit denen des Brundtland-Berichts, präziser formuliert sind. Als globales Handlungs- und Strategiepapier kann die Agenda 21 jedoch keine detaillierten Vorschläge für alle Länder und Regionen der Erde unterbreiten. Die notwendigen Spezifizierungen und Ausgestaltungen der groben Pfade, die die Agenda 21 skizziert, sind in den einzelnen Staaten, Regionen und Kommunen zu erbringen.
Auch mag vieles an der Agenda 21 kritikwürdig sein: ihr Konflikte und Antagonismen negierender Konsenscharakter, ihre bisweilen sehr allgemeinen Formulierungen, Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Handlungsfeldern, eine unkritische Haltung gegenüber politisch und ethisch umstrittenen Industriezweigen (Atomkraft, Gen- und Biotechnologie) u.ä.m. Dennoch gibt sie einen Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung vor, den es auszugestalten gilt und auf den sich engagierte Menschen berufen können, um entsprechende Maßnahmen von der Politik einzufordern und eigenständig einzuleiten.
Charta von Aalborg - Charta der Europäischen Städte und Gemeinden auf dem Weg zur Dauerhaftigkeit, Aalborg, 1994
Die Charta von Aalborg ist das kürzeste Dokument, das hier betrachtet wird. Sie hat in weiten Teilen eher den Charakter eines Aufrufes denn eines ausgearbeiteten Handlungsprogrammes, wie z.B. die Agenda 21 eines darstellt. Dies resultiert daraus, daß die Charta von Aalborg die "Kampagne europäischer Städte und Gemeinden für eine dauerhafte Entwicklung" begründet.
Viele Passagen bewegen sich nicht über die Ebene unspezifischer Absichtserklärungen hinaus: "Wir beabsichtigen, die sozialen Grundbedürfnisse der Menschen sowie Gesundheitsfürsorge, Beschäftigung und Wohnungsbauprogramme mit dem Umweltschutz zu integrieren" (Charta von Aalborg 1994). Ein wichtiger Aspekt, der auch in der Charta von Aalborg angesprochen wird, ist das - nicht nur in Europa - Problem der hohen Arbeitslosigkeit. In Bezug auf diesen Problembereich werden die Kommunen versuchen, "alles Erdenkliche zu tun, um Arbeiten, die einen Beitrag zur dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung der Gemeinschaft leisten, in bezahlte Arbeit umzuwandeln, damit die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt werden kann" (Charta von Aalborg 1994).
Von besonderem Gewicht in der Charta von Aalborg ist jedoch die demokratietheoretische Ebene, die die "Schlüsselakteure und die Einbeziehung der örtlichen Gemeinschaft" in den Prozeß für eine nachhaltige, dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung vorsieht. Entsprechend wird "die Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure Grundlage unseres [der Kommunen; d.Verf.] Wirkens sein" (Charta von Aalborg 1994). Und die Kommunen "werden dafür Sorge tragen, daß alle Bürger und interessierten Gruppen Zugang zu Informationen erhalten und es ihnen möglich ist, an den lokalen Entscheidungsprozessen mitzuwirken" (Charta von Aalborg 1994).
Die Charta von Aalborg verbindet die globalen Analysen und Handlungsmaßnahmen der Agenda 21 mit den Bedingungen und Krisensyndromen in den europäischen Städten und Gemeinden. Zudem bezeichnet sie eine Reihe von Krisenfaktoren, für die die (europäischen) Städte und Gemeinden Verantwortung tragen, wodurch die Charta Züge einer Selbstanklage trägt.
Durch ihren exklusiven Bezug auf (europäische) Kommunen unterstreicht sie die in Kapitel 28 der Agenda 21 enthaltene weltweite Aufforderung an die Kommunen, mit der Bevölkerung in Konsultationsprozesse über Wege zu einer nachhaltigen Entwicklung zu treten. In diesem Zusammenhang übernimmt die Charta von Aalborg eine wichtige Funktion im Rahmen vieler Lokaler Agenda 21-Prozesse in europäischen Kommunen und sie gewinnt weniger durch ihre inhaltliche Schärfe als durch ihre stetig steigende Verbreitung in den europäischen Kommunen an Relevanz.
Der Stadt- und Regionalsoziologe DANGSCHAT, der die Charta selbst als "Lokale Agenda 21" (Dangschat 1997: 173ff) bezeichnet, hält ihre sozialen Zielsetzungen für "wenig konkret" (Dangschat 1997: 177). Dennoch sollte gerade im Bereich der Partizipation der örtlichen Bevölkerung an Prozessen für eine nachhaltige Entwicklung in Kommunen die Bedeutung der Charta von Aalborg nicht zu gering eingeschätzt werden.
Habitat Agenda, Abschlußdokument der zweiten Konferenz der Vereinten Nationen über menschliche Siedlungen, Istanbul, 1996 (HABITAT II)
Die Gliederung der Habitat Agenda ist in Ziele und Grundsätze, Verpflichtungen sowie einen "Globalen Aktionsplan: Strategien zur Umsetzung" unterteilt. Ziel der Konferenz war es, insbesondere "zwei Fragen von globaler Bedeutung anzusprechen: "Angemessener Wohnraum für alle" und "nachhaltige Siedlungsentwicklung in einer zunehmend durch Verstädterung geprägten Welt" (BMBau 1997: 1; Habitat Agenda, Kap.I, Abs.2).
Im Gegensatz zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, die sich schon ihrem Titel nach weniger mit städtischen Belangen auseinandersetzte, standen in Istanbul explizit die Siedlungen der Welt auf der Tagesordnung.
In einer in der Präambel enthaltenen Aufzählung nennt die Habitat Agenda neben primär ökologischen auch eine Reihe sozialer Probleme, die "ernstesten Probleme, denen sich Städte und ihre Bewohner stellen müssen" (BMBau 1997: 2; Habitat Agenda, Kap.I, Abs.8): unzureichende finanzielle Ausstattung, Arbeitsplatzmangel, wachsende Obdachlosigkeit und Armut, sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, wachsende Unsicherheit, steigende Verbrechensraten, unzureichender und verfallender Wohnraum sowie ebensolche Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen, Mangel an Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, zunehmende Verkehrsstaus, Umweltverschmutzung, Mangel an Grünflächen, unzureichende Trinkwasserversorgung, Abfallbeseitigung und Kanalisation, unkoordinierte Stadtentwicklung, u.a.m. (BMBau 1997: 2; Habitat Agenda, Kap.I, Abs.8).
In dieser Auflistung sind einige Themenfelder aufgeführt, die für eine nachhaltige, soziale Entwicklung in Kommunen relevant sind: Armut, Obdachlosigkeit, Wohnraum, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Sicherheit/Kriminalität. Wie aus den zwei oben genannten zentralen Fragen der Konferenz bereits ersichtlich wird, spielt Obdachlosigkeit eine wichtige Rolle in der Habitat Agenda. Und so enthält gerade im Kontext mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit, die im Fokus dieser Arbeit stehen, die Habitat Agenda eine Fülle von Textstellen: "Unser Ziel besteht darin, angemessenen Wohnraum für alle Menschen, insbesondere für die benachteiligte städtische und ländliche in Armut lebende Bevölkerung zu schaffen" (BMBau 1997: 1; Habitat Agenda, Kap.I, Abs.3).
Ähnlich der Agenda 21 betrachtet die Habitat Agenda die Beseitigung der Armut als Voraussetzung für nachhaltige Siedlungen bzw. für eine nachhaltige Entwicklung in Siedlungen.
In der Habitat Agenda wird zwischen "gerechten Siedlungen" und "nachhaltigen Siedlungen" unterschieden:
"Gerechte Siedlungen sind solche, in der alle Menschen [ungeachtet einer Vielzahl spezifischer Charakteristika und Merkmale; d.Verf.] gleichen Zugang zu Wohnraum (...) gleiche Möglichkeiten für einen produktiven und frei gewählten Lebensunterhalt, gleichen Zugang zu den ökonomischen Ressourcen (...) (und) gleiche Möglichkeiten zur Teilnahme an öffentlichen Entscheidungen" haben (BMBau 1997: 7; Habitat Agenda, Kap.II, Abs.27).
"Nachhaltige Siedlungen sind solche, die unter anderem Bürgersinn und Bürgeridentität schaffen, ferner Kooperation und Dialog im Sinne des Allgemeinwohls sowie den Geist des Freiwilligkeitsprinzips und staatsbürgerliches Engagement fördern, und in denen alle Menschen (...) gleiche Möglichkeiten bekommen, sich an der Entwicklung und Entscheidungsfindung zu beteiligen" (BMBau 1997: 8; Habitat Agenda, Kap.II, Abs.32; Hervorhebung im Original).
Während in der Definition gerechter Siedlungen Zugangs- und Entfaltungsfragen im Vordergrund stehen, zeichnen sich nachhaltige Siedlungen, dem Verständnis der Habitat Agenda nach, durch Partizipationsmöglichkeiten aus. Da gerechte und nachhaltige Siedlungen sich gegenseitig bedingen, können beide Dimensionen als Bestandteil einer sozialen, nachhaltigen Entwicklung in Siedlungen begriffen werden. Soziale Nachhaltigkeit beinhaltet somit eine praktische, politische Dimension - die Ebene der Wohnungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik beispielsweise - sowie eine demokratietheoretische Dimension politischer Teilhabe sowie bürgerschaftlicher Rechte und Pflichten.
Die UnterzeichnerInnen der Habitat Agenda "verpflichten" sich, gerechte und nachhaltige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen, "so daß alle Menschen über angemessenen, gesunden, sicheren, zugänglichen und erschwinglichen Wohnraum verfügen können" (BMBau 1997: 10; Habitat Agenda, Kap.III, Abs.39). Zudem legen sie sich auf das Ziel fest, "sozial integrierte und zugängliche Siedlungen zu fördern" (BMBau 1997: 10; Habitat Agenda, Kap.III, Abs.39). In diesem Punkt sind Maßnahmen angesprochen, die einer sich in vielen Städten manifestierenden sozialräumlichen Segregation und Abschottung entgegenwirken, oder Segregationsprozessen zumindest nicht zuträglich sind.
Bei der Lektüre der Habitat Agenda fällt wiederholt der Begriff der "Hilfe zur Selbsthilfe", die die primäre Methode zur Zielerreichung darstellt.
Verglichen mit den anderen vorgestellten Dokumenten enthält die Habitat Agenda die präzisesten und konkretesten Aussagen zu den sozialen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung in Siedlungen. Aufgrund ihrer thematischen Fokussierung auf Siedlungen und ihrer drängenden Probleme werden soziale Fragen nicht außen vor gelassen.
Nach diesen ersten Schritten auf politischem Terrain hin zu einer Konkretisierung dessen, was in dieser Arbeit im weiteren als 'soziale Nachhaltigkeit' bezeichnet wird, sollen im nächsten Kapitel wissenschaftliche Texte auf die soziale Dimension von Nachhaltigkeit hin untersucht werden.
Beiträge und Forschungsergebnisse in der wissenschaftlichen Literatur zum Komplex soziale Nachhaltigkeit
Der Diskurs über nachhaltige Entwicklung wird "erst langsam" über das umweltpolitische Feld hinaus um zusätzliche Politikbereiche erweitert (Brand 1997: 11). Diese Gewichtung der ökologischen Dimension mag darin begründet liegen, daß die natürliche Umwelt die Basis allen Lebens auf der Erde ist. Folglich werden die ökologischen Krisenerscheinungen als die primär lebensbedrohenden unter den globalen Krisensyndromen verstanden. Wenn auch die ökologische Krise nicht unmittelbar das Überleben der gesamten Menschheit in Frage stellt, so bedroht sie doch massiv die Chancen auf ein menschenwürdiges Leben - und nicht nur ein Überleben - der großen Mehrheit der Menschen auch in den 'entwickelten' Ländern.
Im Gegensatz zur umfangreichen Diskussion über ökologische Nachhaltigkeit sind Kriterien, Implikationen oder Merkmale sozialer Nachhaltigkeit bisher weitaus weniger erörtert und kaum ausgearbeitet worden. Der Diskurs über soziale Nachhaltigkeit steckt nach HEINS noch in den "Kinderschuhen" (Heins 1998: 26).
Übereinstimmung unter den hier aufgeführten Autoren besteht darin, daß soziale und ökologische Nachhaltigkeit auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben sind und nicht separat voneinander analysiert und verstanden werden können. Soziale Nachhaltigkeit bildet gar die Voraussetzung für ökologische Nachhaltigkeit (Serageldin/Steer nach: Kopatz 1998: 32). "Um der Naturkrise zu begegnen, kommt man nicht darum herum, sich auch der Gerechtigkeitskrise zu stellen" (Sachs 1997: 106). Und ALTVATER verweist auf einen weiteren Zusammenhang: Für ihn bedingen die "entwicklungspolitischen Versprechungen von Modernisierung, Industrialisierung, 'Verwestlichung' des Globus" nicht nur eine "Überlastung des Naturraumes", sie sind darüber hinaus auch nicht ohne Regreß auf die Verteilungsfragen zu lösen, denen wiederum Gerechtigkeitskriterien zugrunde liegen (Altvater 1996: 82). Das Verständnis von Gerechtigkeit beruht auf ethisch-normativen Grundhaltungen und Überzeugungen.
In den vorangestellten Kapiteln, in denen die internationalen Dokumente zum Thema Nachhaltige Entwicklung vorgestellt worden waren, bezog sich Gerechtigkeit oftmals entweder - wie im Brundtland-Bericht - eher auf intergenerative Gerechtigkeit oder - wie in der Agenda 21 - eher auf die globale Dimension von Gerechtigkeit denn auf Gerechtigkeitsfragen innerhalb einer Generation eines Landes resp. einer Region. Auch SACHS (1997) stellt seine Aussage primär in einen globalen Kontext. Wo aber liegen die Verbindungen und Anknüpfungspunkte zur sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung bezogen auf die Ebene eines Staates oder einer Region sowie auf den Zeithorizont einer Generation?
Im Kontext der sozialen Dimension von nachhaltiger Entwicklung rücken für HEINS insbesondere zwei Begriffe in den Mittelpunkt: Gerechtigkeit und Sozialverträglichkeit (Heins 1998: 28).
Auch bei DANGSCHAT stehen soziale Gerechtigkeit und Sozialverträglichkeit im Zentrum der Argumentation. Er fügt diesen ersten beiden Aspekten noch den der sozialen Integration bzw. des sozialen Ausgleichs hinzu (Dangschat 1997: 178). Diese drei sozialen Zielsetzungen - sozialer Ausgleich/soziale Integration, soziale Gerechtigkeit, Sozialverträglichkeit - werden von DANGSCHAT aus den allgemeinen Zielsetzungen der traditionellen Stadt- und Gemeindeentwicklung abgeleitet (Dangschat 1997: 178).
Sozialer Ausgleich und soziale Integration als die ersten Zielsetzungen sind die fundamentalen Grundlagen eines Sozialstaates. Im Grundgesetz (GG) sind neben dem "Sozialstaatspostulat" in Art.29 Abs.1 GG noch weitere Passagen zu finden, die auf einen sozialen Ausgleich und damit auf einen Abbau bestehender Disparitäten abzielen. Mit Art.72 Abs.2 GG erhält der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" ein Eingreifen des Bundes notwendig macht. Hier wird versucht, durch den Abbau räumlicher Disparitäten zu einem sozialen Ausgleich zu gelangen. Der Aspekt der sozialen Integration soll vor allem durch eine Beteiligung der BürgerInnen an Entscheidungsprozessen hergestellt werden (Dangschat 1997: 179). Die Beteiligung der Bevölkerung wird bekanntermaßen auch in der Agenda 21 insbesondere in Kapitel 28 gefordert, indem die Kommunen mit ihren BürgerInnen in einen "Konsultationsprozeß" treten sollen.
Die zweite soziale Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung liegt für DANGSCHAT in 'sozialer Gerechtigkeit' (Dangschat 1997: 179). Die Frage, die im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit meist sehr schnell aufgeworfen wird, ist die Frage nach der Bestimmung dessen, was gerecht ist bzw. was als gerecht empfunden wird. DANGSCHAT führt in diesem Zusammenhang den Kommunitarier Walzer an, welcher dem Gerechtigkeitsgedanken dann eine Chance einräumt, wenn Gerechtigkeit als "komplexe Gleichheit" verstanden wird, die für jedes Individuum über viele Ungleichheitsdimensionen hinweg in der Summe ein ausgeglichenes Ergebnis ergibt (Dangschat 1997: 179). Diese Interpretationsweise von Gerechtigkeit sieht DANGSCHAT in der Mehrdimensionalität des Postulates nach "gleichwertigen Lebensbedingungen" enthalten (Dangschat 1997: 179).
Andererseits weist HUBER in diesem Kontext darauf hin, daß Gerechtigkeit je nach philosophischer Überzeugung eines Individuums verschieden beurteilt wird. HUBER differenziert drei Gerechtigkeitsvorstellungen: die Bedürfnis-, die Leistungs- und die Besitzstandsgerechtigkeit (Huber 1995: 87). Diese drei Gerechtigkeitsvorstellungen gehen - vereinfacht gegenübergestellt - mit den drei Grundtypen politischer Philosophie (Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus) einher (Huber 1995: 87). "Eine extrem liberale Position [in Form einer überzogenen Leistungsgerechtigkeit; d.Verf.] (...) ist geeignet, den sozialen Rechtsstaat zu beschädigen, eine extrem sozialistische Position (...) den freiheitlichen Rechtsstaat zu ruinieren" (Huber 1995: 95; Hervorhebung im Original).
In diesem Punkt werden die Probleme in der Auseinandersetzung und der Erarbeitung von Kriterien sozialer Nachhaltigkeit bereits auf eindringlichste Weise evident. Der Diskurs über soziale Nachhaltigkeit ist in ungleich höherem Maße normativ von ethisch-philosophischen resp. politischen Überzeugungen geprägt als die Auseinandersetzung über ökologische Nachhaltigkeit. Dies macht die Verständigung über Zielsetzungen und Inhalte sozialer Nachhaltigkeit so diffizil. Ein möglicher Ausweg aus diesem umstrittenen Diskursfeld besteht darin, von Fragen nach materieller Ungleichheit sowie damit zusammenhängend auch Gerechtigkeit Abstand zu nehmen und sich auf die Ebene der Gleichheit der Partizipationsmöglichkeiten bzw. -chancen zu verlegen.
Auf dieser Schiene argumentierend schließt DANGSCHAT sich der Charta von Aalborg an, der es beim Aspekt des sozialen Ausgleichs um einen Abbau der ungleichen Lebens- und Partizipationschancen zwischen Armen und Wohlhabenden geht (Dangschat 1997: 180). Insofern muß sich die Zunahme an Gerechtigkeit an den Interessen der Einkommens- und Artikulationsschwachen orientieren (Dangschat 1997: 180). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer stärkeren Einbindung sozial Benachteiligter in die (lokalen) Partizipationsprozesse; mit anderen Worten ist eine gezielte Öffnung des Diskurses über nachhaltige Entwicklung und der Lokale Agenda 21-Prozesse für sozial Marginalisierte unabdingbar.
Als dritte soziale Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung nennt DANGSCHAT die Sozialverträglichkeit von Maßnahmen der kommunalen Politik, z.B. in der Stadt- und Gemeindeentwicklung (Dangschat 1997: 181f).
Analog zu der oben aufgezeigten Diskussion und den Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs der 'sozialen Gerechtigkeit' besteht ein Definitionsproblem auch darin zu klären, was sozialverträglich resp. sozialunverträglich ist. Die Entscheidung und Beurteilung von Sozialverträglichkeit bzw. Sozialunverträglichkeit basiert auf "normativen Standards", die über Werte und Normen abgeleitet werden (Dangschat 1997: 181). Welche Faktoren, Kategorien oder Dimensionen zur Bestimmung und Operationalisierung von Sozialverträglichkeit hinzugezogen werden, obliegt der Zweckmäßigkeit der Definition und hängt, wie gesagt, ebenfalls von "normativen Standards" ab. DANGSCHAT nimmt eine eindeutige Gewichtung zur Bestimmung von Sozialunverträglichkeit vor: "Die zentrale Kategorie der Sozialunverträglichkeit ist ein hohes Maß residentieller Segregation" (Dangschat 1997: 181; Hervorhebung im Original).
Residentielle Segregation als räumliche Entmischung sozialer Gruppen hat drei Voraussetzungen: 1. soziale Ungleichheit, 2. räumliche Ungleichheit und 3. Zuteilungsmechanismen, die die benachteiligte Wohnbevölkerung in Quartiere mit zumeist schlechtem Image einweist (Dangschat 1997: 181). Segregation impliziert eine "räumliche Konzentration armer und armutsnaher Bevölkerungsgruppen in Wohn- und Wohnumfeldbedingungen" (Dangschat 1997: 181), die durch eine Reihe depravierender Merkmale gekennzeichnet sind. Dabei kann residentielle Segregation sowohl "Indikator" als auch "Faktor" sozialer Ungleichheit in Quartieren, Städten oder Regionen sein (Dangschat 1997: 182). DANGSCHAT zieht aus seinen Überlegungen den Schluß, daß "Stadtentwicklung (...) in dem Maße, in dem sie soziale Ungleichheit verschärft, Ungleichheit zwischen Orten produziert und einseitige Zuweisungsmechanismen entwickelt und stärkt, sozial unverträglich" ist (Dangschat 1997: 182).
Sozialräumliche Segregation muß jedoch nicht in jedem Fall negativ zu beurteilen sein. Gerade die sozialräumliche Nähe zwischen Menschen, die vergleichbare soziale Positionen und Lebenswelten teilen, erleichtert den Aufbau eigener, örtlich bezogener Gruppenidentitäten im Quartier. "Sozialer Ausgleich bedeutet also keineswegs unbedingt die Herstellung einer 'ausgewogenen sozialen Mischung'" (Alisch/Dangschat 1998: 175). Nicht das bloße Auftreten von sozial-räumlicher Segregation, sondern die ursächlichen Strukturen und Prozesse, die zur "Reproduktion und Verschärfung sozialer Ungleichheit führen", sind das zentrale Problem (Alisch/Dangschat 1998: 175).
CONRAD hält dem Argument DANGSCHATS, daß Sozialunverträglichkeit sich primär in residentieller Segregation ausdrücke, entgegen, daß sich "insbesondere das Kriterium der Sozialverträglichkeit nicht genauer substantiieren [läßt], weil es weder brauchbare Kriterien sozialer Stabilität noch ein definiertes Ideal sozialer Nullbelastung gibt" (Conrad 1998: 54). Insofern ist diese von DANGSCHAT vorgeschlagene Verknüpfung von Sozialunverträglichkeit und Segregation für CONRAD nicht signifikant und nachvollziehbar.
Zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien in Kommunen werden grundsätzlich zwei Wege eingeschlagen: Zum einen ein auf traditioneller Stadtplanung basierender technokratisch-rationaler Ansatz, der mit öko-technokratischen Mitteln die ökologische Modernisierung der Stadt zu erreichen versucht und zum zweiten ein kommunikativ-partizipatorischer Ansatz, wie er in der Agenda 21 vorgeschlagen wird.
Auf die erste Variante, die technokratisch-rationale, lassen sich zwei Nachhaltigkeitsstrategien nach HUBER anwenden: die Effizienz und die Konsistenz (Huber 1995: 123ff).
Die Strategie der Effizienz beinhaltet eine Verbesserung des unternehmerischen Prinzips der Wirtschaftlichkeit (Huber 1995: 131), anders formuliert, eine Steigerung der Stoff- und Energieeffizienz sowie der Ressourcenproduktivität (Huber 1995: 132). Die Nachhaltigkeitsstrategie der Effizienz symbolisiert die klassische Position der industriegesellschaftlichen Modernisierung (Huber 1995: 132). Effizienzstrategien gehen mit dem traditionellen Entwicklungsparadigma konform, indem bestehende, grundlegende Strukturen nicht verändert werden, sondern Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch modernisiert werden. Die Effizienz-Strategie wird daher von einigen AutorInnen äußerst kritisch beurteilt: "Sie [die Effizienzrevolution; d.Verf.] ist hauptverantwortlich für die ökologische Misere, in der sich der globale Umweltraum befindet. Von Effizienzrevolutionen ist keine Rettung aus der Umweltkrise zu erwarten" (Altvater 1996: 87).
Neben Effizienz schreibt HUBER auch der Konsistenz eine große Bedeutung als Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zu. "Konsistenz bezieht sich auf die Beschaffenheit von Stoffen. Im übertragenen Sinn heißt Konsistenz Vereinbarkeit, Verträglichkeit, Stimmigkeit, Übereinstimmung" (Huber 1995: 138). Basis der Konsistenz ist die Vorstellung, daß sich "anthropogene und geogene Stoffströme (...) nicht stören" sollen oder diese sich gar "symbiotisch-synergetisch" stärken und stützen (Huber 1995: 138). Ziel der Konsistenzstrategie ist, durch Fortschritt in Wissenschaft und Technik, den Umweltraum des Menschen auszuweiten (Huber 1995: 143).
Dabei gewichtet HUBER die Strategien der Konsistenz vor Effizienz- und diese wiederum vor Suffizienzstrategien (Huber 1995: 157).
Die zweite Variante, um Kommunen in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung voranzubringen, besteht in der diskursiven Umsetzung bzw. in einem kommunikativ-partizipatorischen Ansatz der Nachhaltigkeit (Dangschat 1997: 188).
Dieser Ansatz kann sich u.a. auf das Kapitel 28 der Agenda 21 aber auch auf die Charta von Aalborg und die Habitat Agenda berufen. Diese Dokumente streben eine Beteiligung der Bevölkerung an der Entscheidungsfindung in Kommunen, eine umfassende Partizipation in "Konsultationsprozessen" zwischen den kommunalen Institutionen und der Bevölkerung, an. Die Bürgerbeteiligung dient der Sensibilisierung für das 'Soziale' im Nachhaltigkeitsprozeß (Dangschat 1997: 188).
Die Begründung dafür, daß in den oben aufgeführten Dokumenten insbesondere die Kommunen angesprochen sind, basiert primär auf der großen Bürgernähe der Kommunen und damit ihren Potentialen und Chancen, eine Partizipation der Bevölkerung an Entscheidungen und Maßnahmen zu realisieren.
Die Partizipation an politischen Entscheidungen integriert die BürgerInnen nicht nur in das politische System, sondern generiert auch soziale Kontakte und Anerkennung. Die Beteiligung der BürgerInnen an Konsultationsprozessen - ganz gleich in welcher räumlichen Einheit in der Kommune - bietet die Möglichkeit zu "einer sachbezogenen, konsensualen, kreativen Arbeit zwischen sozialen Gruppen" (Dangschat 1997: 188).
Wie insbesondere in Kapitel 1.1.1.5 beschrieben, ist die Bürgerbeteiligung ein zentrales Charakteristikum des Konzeptes 'Nachhaltige Entwicklung'. Neben dem Aspekt der demokratischen Systemintegration fungiert die Beteiligung der BürgerInnen qua Konsultationsprozeß als sozial integrativer Ansatz (Dangschat 1997: 188). Die Einbeziehung aller relevanten Akteure in den partizipativen Prozeß ist unabdingbarer Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung in Kommunen. Sie trägt mit zu einer systematischen Stärkung der Verantwortungs- und Handlungskompetenzen der BürgerInnen bei (Kühn/Moss 1998: 25). Der Konsultationsprozeß, als "bottom-up"-Ansatz interpretiert, setzt auf eine Erhöhung der Planungsdemokratie und der Selbstverantwortlichkeit (Kühn/Moss 1998: 25).
Diese große Bedeutung, die der Partizipation im Nachhaltigkeitskonzept zugeschrieben wird, erfordert auf lokaler bzw. kommunaler Ebene eine neue Planungskultur i.S. neuer Dialogformen, Argumentationsstile und Optimierungsverfahren im Umgang der kommunalen Institutionen mit den BürgerInnen einer Stadt (Dangschat 1997: 189). Dazu ist u.U. auch ein neues Selbstverständnis der staatlichen und der kommunalen Verwaltung notwendig.
Auf den Zusammenhang zwischen der Partizipation und den drei sozialen Zielsetzungen sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich hingewiesen: "Aus Gründen der Sozialverträglichkeit, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Integration ist jedoch - jenseits aller Inhalte - die Zielsetzung einer umfangreichen Bürgerbeteiligung aus partizipativen Gründen sinnvoll und notwendig" (Dangschat 1997: 188).
KÜHN/MOSS nehmen in ihrem Beitrag stärker Bezug zu Strategien der Stadt- und Regionalentwicklung bzw. zu Konzepten der Stadt- und Regionalplanung.
Die sozio-kulturellen Ziele einer übergeordneten Ebene nachhaltiger Entwicklung extrahieren KÜHN/MOSS aus diversen Veröffentlichungen, u.a. der Enquete-Kommission des Bundestages "Schutz des Menschen und der Umwelt". Diese Ziele sind: die Sicherung der Gesundheit, die Sicherung der sozialen Stabilität, die Sicherung der Entwicklungs- und Funktionsfähigkeit der Gesellschaft, die Erweiterung der Handlungskompetenz und der Beurteilungsmöglichkeiten der Bürger sowie die Förderung nachhaltiger Lebensstile (Kühn/Moss 1998: 15). Verglichen mit den drei von DANGSCHAT postulierten übergeordneten Bausteinen der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung, fügen KÜHN/MOSS neue Aspekte hinzu. Diese befinden sich jedoch auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Während 'Sicherung der Gesundheit' als vergleichsweise konkreter Ansatz erscheint, bleibt weitgehend diffus und auch umstritten, was unter 'sozialer Stabilität' insbesondere aber unter 'Sicherung der Entwicklungs- und Funktionsfähigkeit der Gesellschaft' zu verstehen ist.
HEINS, der sich ebenfalls auf die Enquete-Kommission bezieht, spezifiziert diese Begriffe etwas. Er subsumiert die oben genannten Ziele unter der Oberkategorie der Schutz- und Gestaltungsziele (Heins 1998: 26). Die "Sicherung der Gesundheit" beinhaltet neben der physischen auch die psychische Gesundheit und die Grundbedürfnisbefriedigung. Unter die "Sicherung der sozialen Stabilität" fallen Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit, der Chancengleichheit, der Partizipationsmöglichkeiten, der Versorgungssicherheit sowie der Friedenssicherung, und zur "Sicherung der Entwicklungs- und Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft" schließlich sind Bildung, Vielfalt sozialer Strukturen, sozialer Zusammenhalt und kulturelle Vielfalt hinzuzuzählen (Enquete-Kommission zitiert nach: Heins 1998: 26).
Auf der Ebene einer nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung identifizieren KÜHN/MOSS folgende sozio-kulturelle Ziele: inter- und intraregionale Gerechtigkeit, Förderung sozial-räumlicher Mischung, Förderung regionaler Eigenständigkeit, Erhöhung der lokalen und regionalen Handlungs- und Problemlösungskompetenzen sowie Förderung dezentraler, selbstverwalteter Planungs- und Entscheidungsstrukturen (Kühn/Moss 1998: 22).
In diesem Punkt findet sich DANGSCHATS Ansatz wieder, daß residentielle Segregation (ab einem singulär zu bestimmenden Maß) nicht mit einer sozial nachhaltigen Stadtentwicklung vereinbar ist. Eine sozialverträgliche Stadtentwicklung sollte Tendenzen und Mechanismen einer sozialräumlichen Entmischung entgegenwirken.
Für SPEHL beschränkt sich die soziale (bei SPEHL die "soziale/politische") Dimension nachhaltiger Raumentwicklung auf Kriterien politischer Partizipation (Spehl 1994: 80f). Er verfolgt damit einen sehr eng gefaßten Ansatz der sozialen Dimension und läßt z.B. Gerechtigkeitsfragen außen vor.
Im Gegensatz zu SPEHL umfaßt für KOPATZ die soziale Dimension der Nachhaltigkeit sowohl demokratietheoretische Ansätze als auch Aspekte sozialer Gerechtigkeit (Kopatz 1998: 25). Als Beispiele dienen in diesem Zusammenhang die Forderungen nach umfassender und tiefgehender Partizipation einerseits sowie die Plädoyers zur Vermeidung einer weiteren Verschärfung der Trennung zwischen Arm und Reich andererseits. Diese 'Zweigleisigkeit' der sozialen Dimension findet sich auch bereits in den oben erwähnten Überlegungen DANGSCHATS wieder.
In einer Übersicht, die KOPATZ van DIEREN entnommen hat, werden folgende soziale Ziele für eine nachhaltige Entwicklung benannt: Suffizienz, mehr Beteiligung, soziale Mobilität, kulturelle Identität, neue Lebensstile, Verteilungsgerechtigkeit (Dieren, van nach: Kopatz 1998: 24). Die Kriterien der Beteiligung, der sozialen Mobilität und der Verteilungsgerechtigkeit finden sich auch mehr oder weniger explizit bei den zuvor behandelten Autoren. Neu hinzugekommen sind an dieser Stelle die Merkmale 'Suffizienz', 'kulturelle Identität' und 'neue Lebensstile', mit denen ausführlich in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" (BUND/Misereor 1996) operiert wird.
Der Suffizienz-Ansatz ist bei HUBER näher erläutert: "Suffizienz meint Genügsamkeit und Bescheidenheit" (Huber 1995: 123), und dies insbesondere auf das materielle Konsumniveau bezogen. "Ob freiwillig oder gezwungen, Suffizienz herstellen heißt materiell Verzicht üben" (Huber 1995: 123). Für HUBER ist eine auf suffizientes Verhalten und Konsumieren ausgerichtete Politik gesellschaftlich nicht konsens- und anschlußfähig (Huber 1995: 130). Jedoch haben suffiziente Lebensstil-Experimente durchaus ihre Verdienste in der fundamentalen Kritik und Korrektur der vorherrschenden Lebensweise, wenngleich sie empirisch betrachtet eine gesellschaftliche Randerscheinung bilden (Huber 1995: 130).
Bevor im nächsten Kapitel die programmatischen Dokumente der internationalen Konferenzen und die wissenschaftliche Literatur einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, bleibt an dieser Stelle nur die Feststellung, daß in der Wissenschaft auf einer abstrakten Ebene durchaus ein Konsens über einige Kriterien einer sozial nachhaltigen Entwicklung besteht. Als wichtige, semantisch jedoch nicht näher spezifizierte Begriffe sollen noch einmal folgende in Erinnerung gerufen werden: soziale Gerechtigkeit, Sozialverträglichkeit, soziale Integration, Partizipation und Förderung sozial-räumlicher Mischung resp. Vermeidung residentieller Segregation.
Problematisch und umstritten wird es, sollen diese potentiellen Kriterien sozialer Nachhaltigkeit näher spezifiziert und mit Substanz versehen werden. Eine umfassende Konzeptionierung der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung steht noch aus. Zudem wird bisher noch kein breiter Diskurs - weder in der Wissenschaft noch in der interessierten Öffentlichkeit - über die Frage der Charakteristika und Merkmale sozialer Nachhaltigkeit geführt.
Kritische Auseinandersetzung mit den vorgelegten Texten und Dokumenten sowie den Konzeptionalisierungsansätzen sozialer Nachhaltigkeit
Nachdem im vorangegangenen Kapitel 1.2.2 die Überlegungen einer Reihe von Autoren zum Themenkomplex 'soziale Nachhaltigkeit' in groben Zügen skizziert wurden, wird im folgenden der Versuch unternommen, nochmals einzelne Gemeinsamkeiten, die bereits in den vorangestellten Ausführungen als Anknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Autoren dienten, insbesondere aber die Unterschiede und Gegensätze herauszuarbeiten und in ihren Grundzügen nachzuzeichnen.
Die konzeptionellen Überlegungen der vorgestellten Autoren lassen sich am besten anhand einer Reihe verschiedener polarer Diskursräume veranschaulichen, die im folgenden einzeln diskutiert werden.
Soziale Gerechtigkeit - Sozialpolitik - Demokratietheoretische Überlegungen
Das Gros der Autoren verfolgt einen zweigleisigen Ansatz. In dieser Sichtweise enthält die soziale Dimension einer nachhaltigen Entwicklung neben 'klassischen' sozialen Aspekten zudem demokratietheoretische Überlegungen.
Während die sozialen Aspekte wie z.B. soziale Gerechtigkeit, soziale Integration und Sicherung der Gesundheit zukünftige Ziele markieren, die eine soziale, nachhaltige Gesellschaft charakterisieren, fungieren die Aspekte demokratischer Teilhabe und Partizipation primär als Strategien zur Zielerreichung.
Die wissenschaftliche Operationalisierung der weitestgehend abstrakt gehaltenen sozialen Merkmale einer nachhaltigen Gesellschaft in konkrete politische Vorschläge oder ausgearbeitete Maßnahmen erweist sich als äußerst schwierig. Wie in Kapitel 1.1.1.5 erläutert, besteht Konsens in der Ansicht, daß Ziele einer nachhaltigen Entwicklung nicht 'von oben' aufoktroyiert werden können, sondern im Rahmen eines Konsultationsprozesses mit Beteiligung der Bevölkerung in öffentlichen Diskussionen ausgehandelt werden sollten. Insofern müssen die im wissenschaftlichen Diskurs behandelten Themen bis zu einem gewissen Grad unspezifisch bleiben, um Spielräume für die tiefergehende Ausgestaltung in der Öffentlichkeit zu lassen. D.h. jedoch nicht, daß in der Wissenschaft nicht ein breiter Diskurs über soziale Nachhaltigkeit geführt werden müßte, um grobe Entwicklungspfade und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und auch, um auf notwendige Essentials hinzuweisen. Wie zuvor bereits konstatiert, steht eine umfassende Konzeptionierung sozialer Nachhaltigkeit noch aus.
Im Gegensatz zu diesem zweidimensionalen Verständnis beziehen einzelne Autoren das 'Soziale' des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung vorrangig auf die demokratietheoretische Ebene. Für sie bilden Partizipation und Bürgerbeteiligung die entscheidenden Merkmale der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung. Nicht ausschließlich, aber doch weitgehend den Schwerpunkt ihrer Betrachtungen legen z.B. KÜHN/MOSS (1998) in ihrem Beitrag auf die Umsetzungsstrategien zu einer nachhaltigen Entwicklung in Kommunen und Regionen. Damit stehen bei ihnen Überlegungen zum Partizipations- und Planungsprozeß auf der lokalen Ebene im Vordergrund.
In der in dieser Arbeit hinzugezogenen wissenschaftlichen Literatur ist die Auffassung, die soziale Dimension beschränke sich auf Fragen politischer Partizipation, insgesamt jedoch wenig vertreten.
Gerade in diesem Punkt wird ein Unterschied zwischen der wissenschaftlich-theoretischen Diskussion und der Praxis in den Kommunen, genauer: in den Prozessen zur Ausarbeitung lokaler Agenden 21, sichtbar. Originär soziale Fragen einer nachhaltigen Entwicklung in Kommunen werden bisher selten in Lokalen Agenda 21-Prozessen thematisiert (Rösler 1997: 22). Viele kommunale Verwaltungen und KommunalpolitikerInnen sehen in der im Rahmen Lokaler Agenda 21-Prozesse geforderten und auch geförderten Bürgerbeteiligung eine hinreichende Erfassung und Integration der sozialen Dimension. Maßnahmen und Projekte beispielsweise auf dem Gebiet der kommunalen Sozial- und Beschäftigungspolitik werden in diesen Konsultationsprozessen oftmals nur peripher behandelt.
Weitere Unterschiede zwischen den oben skizzierten Ansätzen werden auch in der Frage sichtbar, ob sich der Diskurs über soziale Nachhaltigkeit eher auf einer abstrakten, theoretischen Ebene abspielen soll oder auf einer konkreten, politischen Ebene, ergo der Sozialpolitik und ihr inhaltlich nahestehender anderer Politiken wie der Gesundheits- und Bildungspolitik. Darüber hinaus liegt ein Problem in den unklaren Umsetzungsschritten von den 'Idealen', den theoretischen Leitbildern, hin zu realen, gesellschaftlich und politisch anschlußfähigen und durchsetzbaren Entscheidungen.
Hier zeigen sich sehr schnell - jenseits aller Beteuerungen, sich für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen - die Grenzen des gemeinsam geteilten Verständnisses, das hinter dem Leitbild steht.
Primat des Sozialen oder die soziale Dimension als akzeptanzförderndes Mittel für Umweltschutzmaßnahmen in der Bevölkerung
Stark vereinfacht und schematisiert werden im folgenden zwei Paradigmen unterschieden, die die Positionierung der sozialen Dimension im Nachhaltigkeitsdiskurs bestimmen: einerseits das Primat des Sozialen und andererseits das Primat der Ökologie.
Im ersten Fall liegt das Hauptaugenmerk auf der Gesellschaftsformation. Sehr verkürzt und vereinfacht ausgedrückt behauptet dieser Ansatz, Umweltzerstörung beruhe auf ungleichen (Macht-)Positionen und sei somit Konsequenz wie Ausdruck des 'Sozialen' und damit des politischen Herrschaftssystems. Eine gerechte, emanzipatorische Gesellschaft, die Machtungleichheiten abgebaut hat und sich wirtschaftlichen Interessen resp. dem Kapital nicht (mehr) ausliefern muß, werde quasi 'automatisch' ökologischer, da sie keine Umweltzerstörung für den Luxuskonsum der Eliten und für den Massenkonsum zur 'Befriedung' der Bevölkerung mehr betreiben müsse.
Diese These wird z.B. in SPEHRS "Die Ökofalle" (Spehr 1996) vertreten. In diesem Buch geht es "um die Abwicklung des Nordens als Herrschaftssystem und Gesellschaftsordnung" (Spehr 1996: 213; Hervorhebung im Original), um "Spielräume für eine andere Entwicklungslogik" zu schaffen (Spehr 1996: 214).
Auch die zweite - von vielen AutorInnen zum Thema 'Nachhaltige Entwicklung' auf die eine oder andere Art und mit individueller Akzentuierung vertretene - Position erkennt die Bedeutung der sozialen Dimension für eine "dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung" an. Jedoch werden hier die sozialen Aspekte eher als Mittel gesehen, eine systemkonforme 'ökologische Modernisierung' sozialverträglich umzusetzen. Der Bereich des Sozialen ist in diesem Zusammenhang für die Lösung der Verteilungsfragen einer ökologisch notwendigen (?) Suffizienz-Revolution von zentraler Bedeutung. In diese Richtung argumentiert KOPATZ: Während er die Strategie der Effizienz zur Erlangung eines ökologisch nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen den Dimensionen der Ökologie und der Ökonomie zuordnet, führt er die Suffizienz-Strategie als ein soziales Ziel ein (Kopatz 1998: 24). Nach KOPATZ sollte sich der Diskussionsschwerpunkt von umwelttechnologischen und ökonomischen Effizienzen hin auf die "Verbindung der Suffizienzdebatte mit der sozialen Dimension" verlagern (Kopatz 1998: 30). Dem Handlungsfeld 'Soziales' der Nachhaltigkeitskonzeption kommt somit in erster Linie die Aufgabe zu, soziale Akzeptanz für eine vorrangig ökologisch nachhaltige Entwicklung zu generieren, ohne zu riskieren, daß die fundamentalen Strukturen des Systems zur Disposition gestellt werden.
Aus dem Blickwinkel der oben skizzierten marxistischen Sichtweise kann dieser Position der Vorwurf gemacht werden, einen Beitrag zu leisten, die Menschen der modernen, postfordistischen Gesellschaft - nun ökologisch effizienter und suffizienter als früher - 'ruhig halten' zu wollen und (im Rahmen der marxistischen Kritik formuliert) somit das für die Krisensyndrome verantwortliche System mit seinen Dependenz- und Machtstrukturen zu stabilisieren.
Als dritte Variante soll hier noch eine Zwischenposition genannt werden. Die VertreterInnen dieses Ansatzes befürworten ebenso wie die zweite dargelegte Position Suffizienz- und Effizienzstrategien. Sie gehen jedoch davon aus, daß das gegenwärtige Wirtschaftssystem im Zuge einer nachhaltigen Entwicklung letztlich so grundlegend umgestaltet werden muß, daß in einem Transformationsprozeß fundamental neue Wirtschafts- und Gesellschaftsformen entwickelt werden. Diese (sozial-demokratische) Position läuft darauf hinaus, in reformerischen Schritten zu einer anderen, neuen und nachhaltigen Gesellschaft zu gelangen.
Die ungleiche Gewichtung inter- und intra-generativer sowie -regionaler Gerechtigkeiten
Dieser Aspekt tritt gerade in den programmatischen Dokumenten der internationalen Konferenzen zutage. Auf der ersten UN-Konferenz für Umwelt 1972 in Stockholm, spätestens aber mit der Veröffentlichung des Brundtland-Berichts wurde der Gedanke publik, bei Handlungen und Entscheidungen auch die Konsequenzen für zukünftige Generationen mit einzubeziehen. In der bekannten, vielzitierten Definition "dauerhafter Entwicklung" im Brundtland-Bericht wird insbesondere auf die Bedeutung intergenerativer Gerechtigkeit hingewiesen (Hauff 1986: 46). Daher ist auch in vielen anderen, dieser Definition angelehnten Varianten zur Explikation von Nachhaltigkeit der Aspekt intergenerativer Gerechtigkeit zentral.
Es soll an dieser Stelle keineswegs die Relevanz dieser Sichtweise in Zweifel gezogen werden. Andererseits darf - bei aller Fokussierung auf die Zukunft und deren Bevölkerung - die intragenerative Gerechtigkeit nicht vergessen werden, da das Konzept intergenerativer Gerechtigkeit m.E. zwei Gefahren birgt: Zum einen könnte dieser Ansatz für die Mehrzahl der Menschen zu wenig nachvollziehbar sein, so daß ihm das "Leitbild-Potential" (Brand 1997: 11) fehlt, um die Menschen für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen zu gewinnen. Hier wird den Menschen auf den ersten Blick der Verzicht auf Konsum, Lebensstandard und - damit in einer materialistischen Kultur auch - auf Lebensqualität zugunsten zukünftiger Generationen abverlangt. Um dies tatsächlich umzusetzen und zu leben, ist ein großes Maß an Abstraktionsfähigkeit erforderlich.
Zudem lenkt die Forderung, intergenerative Gerechtigkeit herzustellen und zu wahren, von den gegenwärtigen, intragenerativen sozialen Ungleichheiten ab. Zwar ist Gleichheit, wie DANGSCHAT (1997) und insbesondere HUBER (1995) diskutiert haben, nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit, dennoch kann das Konzept intergenerativer Gerechtigkeit dazu beitragen, der heutigen (Welt-)Gesellschaft immanente soziale Disparitäten in ihrer Bedeutung herabzusetzen und aus der gesellschaftspolitischen Diskussion herauszulösen.
Eine der obigen vergleichbare Argumentation läßt sich für das Begriffspaar der inter- und intraregionalen Gerechtigkeit aufbauen. Die Agenda 21 der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio behandelt umfassend die globale Dimension einer nachhaltigen Entwicklung. So wichtig und gravierend die hier und an anderen Stellen thematisierten globalen Ungleichheiten auch sind, so darf nicht außer Acht gelassen werden, daß auch innerhalb einzelner nationaler Gesellschaften massive soziale Disparitäten bestehen.
Es soll an dieser Stelle nicht der Eindruck erweckt werden, der Verfasser erkenne nicht die Bedeutung der Konzepte intergenerativer und interregionaler Gerechtigkeiten oder lehne diese gar ab. Auch soll hier kein Plädoyer für ein Denken in alten, nationalstaatlich beschränkten und kurzfristigen Kategorien gehalten werden. Ein Hinweis auf die beschriebenen Gefahren erscheint dennoch angebracht.
Soziale Anschlußfähigkeit und gebotene Radikalität
Ein Hemmnis, das nur gelegentlich in der Literatur angesprochen wird, ist die Kluft zwischen wissenschaftlichem Forschungsstand hinsichtlich der globalen ökologischen Probleme einerseits sowie der gesellschaftlichen und politischen Anschlußfähigkeit des Diskursfeldes 'Nachhaltige Entwicklung' und damit einhergehender konkreter (Umweltschutz-)Maßnahmen andererseits.
Die Datenmenge und -qualität und damit auch das Wissen über die Zusammenhänge zwischen anthropogenen Stoffeinträgen in das Ökosystem und den zu beobachtenden Anomalien in der Umwelt (z.B. "Ozonloch" und Klimaveränderungen) sind in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Für viele WissenschaftlerInnen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, ist ein radikales Umsteuern in unserem Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen aus ökologischer Sicht dringend geboten. Aus diesen Erkenntnissen heraus werden Operationalisierungsversuche unternommen, unser Handeln und Verhalten in seinen Auswirkungen auf die Umwelt nachvollziehbar zu machen und zur ökologischen Tragfähigkeit einer Region, eines Landes oder auch der Erde in Relation zu setzen.
Auf einen sehr wichtigen Punkt, dem in diesem Kapitel weiter nachgegangen werden soll, verweist WEHLING: "Auffallend ist bei vielen der bisherigen Konkretisierungsversuche ein spürbarer Mangel an differenzierten Untersuchungen der Handlungspotentiale oder -zwänge der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteursgruppen" (Wehling 1997: 48). Diese Kritik wird insbesondere immer wieder an der Studie "Zukunftfähiges Deutschland" des Wuppertal-Instituts und ihren Entwürfen neuer Lebensstil- und Konsummuster geübt (u.a. Altvater 1996).
Neben einer naturwissenschaftlichen Durchdringung der ökologischen Probleme und der Zusammenhänge sind Fragen der sozialen und politischen Realisierbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen ebenso wichtig. In diesem Zusammenhang stellt sich oftmals die Frage nach Macht und Einfluß aber auch nach Zwängen, die 'nachhaltiges' Handeln und Entscheiden erschweren.
Wie anhand der Benzinpreisdebatte und der 'fünf-Mark-pro-Liter-Benzin-Forderung' der Partei Bündnis 90/Die Grünen gut nachvollziehbar, sind ökologisch u.U. sinnvolle Vorschläge nicht per se sozial akzeptiert und politisch opportun. Es kommt folglich darauf an, 'die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen', sie nicht mit sozial unausgewogenen sowie dem gesellschaftlichen Statusdenken und geteilten Wertsystemen widersprechenden Maßnahmen zu überfordern. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Präferenzen sind gegeben und müssen in eine Strategie für eine nachhaltige Entwicklung einbezogen werden. Strategien und Maßnahmen zur Erlangung einer nachhaltigen Entwicklung müssen "ein hinreichendes Leitbild-Potential, d.h. hinreichende Resonanz und symbolische Mobilisierungskraft" besitzen, um erfolgversprechend realisiert werden zu können (Brand 1997: 11; Hervorhebung im Original).
Eine nachhaltige Entwicklung und mit ihr eine ökologische Tragfähigkeit ist auf Dauer (auch in theoretisch denkbaren totalitären Systemen i.S. einer 'Öko-Diktatur') nicht gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzbar. Der sozialen Dimension nachhaltiger Entwicklung kommt in diesem Zusammenhang tatsächlich u.a. die Aufgabe zu, qua Partizipation und Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen für soziale Akzeptanz zu sorgen.
"Die Transformation in Richtung 'nachhaltige Entwicklung' ist nicht mehr als ein revolutionärer Akt zu denken, sondern als eine 'Myriade von Verhaltensänderungen' (Bruckmeier) auf den verschiedensten Handlungsebenen und in den verschiedensten Handlungsfeldern" (Brand 1997: 27; Hervorhebung im Original) und in den Köpfen der Menschen.
Um es bildlich auszudrücken: Bei der Entscheidung darüber, wie schnell und in welche Richtung sich sozusagen der Tanker 'menschliche Gesellschaft' wenden soll, um nicht auf Grund zu laufen oder zu kentern, müssen alle gesellschaftlichen Akteure beteiligt sein und jeweils ihren spezifischen Beitrag leisten.
Selbsthilfe und Selbstorganisation oder originäre, unabdingbare Aufgaben und Pflichten des Staates
'Hilfe zur Selbsthilfe', der 'enabling approach' oder die Forderung nach Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß zielen auf eine Stärkung der Stellung von Gruppen und Individuen und eine Erweiterung der individuellen Handlungskompetenzen ab. Dem Gedanken, Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse möglichst 'unten' anzusiedeln, liegt das Subsidiaritätsprinzip zugrunde. Dieses Prinzip besagt, daß übergeordnete gesellschaftliche Einheiten, z.B. der Staat, nur solche Aufgaben übernehmen sollen, zu deren Wahrnehmung untergeordnete Einheiten nicht in Lage sind.
Die Forderung nach stärkerer Eigenbeteiligung und Engagement wird mit unterschiedlichen Motivationen und Konnotationen sowohl von (neo)liberalen als auch von emanzipatorischen, basisdemokratisch-zivilgesellschaftlich orientierten Gruppen vertreten (Kühn/Moss 1998: 240). Es spricht vieles für eine stärkere Einbindung und Inanspruchnahme der Menschen für ihre Belange und Probleme vor Ort in ihrem Umfeld, ihrem Quartier oder ihrer Kommune. Beispielsweise erhöhen die auf kleinen räumlichen Einheiten günstigen Bedingungen für eine politische Partizipation der Bevölkerung (unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Betroffenheit sowie die Möglichkeit zur direkten Beeinflussung) die Erfolgschancen für Prozesse einer nachhaltigen Entwicklung.
Andererseits dürfen die Selbsthilfepotentiale einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen nicht überbewertet werden. Es steht zu befürchten - und die sozio-strukturelle Zusammensetzung der Selbsthilfeinitiativen zeigt dies - daß sich vorrangig tendenziell privilegierte Menschen selbst helfen (können) (Wegner 1989: 88). Sozial marginalisierten Gruppen wie beispielsweise Arbeitslosen, SozialhilfeempfängerInnen, Obdachlosen und MigrantInnen fehlt oftmals das notwendige kulturelle, soziale und ökonomische Kapital nach BOURDIEU (1982). Sie sind daher weniger in der Lage, sich selbst zu helfen und müssen unterstützend mit den notwendigen Kapitalien ausgestattet werden.
Gerade die soziale Sicherung der Bevölkerung ist jedoch originäre Aufgabe und Pflicht des Staates.
Selbsthilfe und Eigeninitiative entlasten den Staat, was aufgrund der Situation der öffentlichen Haushalte durchaus sinnvoll ist. Andererseits werden staatliche Institutionen aber auch aus ihrer Verantwortung entlassen. Die Frage, wo hier die Grenzen der Selbsthilfe und des Subsidiaritätsprinzips liegen, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Es sollte jedoch auf die Gefahren einer 'Entstaatlichung' und damit auch einer zunehmenden Individualisierung sozialer Risiken und einer Partialisierung der Gesellschaft hingewiesen werden.
Im sich anschließenden Kapitel wird nun auf diesen Überlegungen und den Auswertungen der wissenschaftlichen Literatur sowie auf den programmatischen Dokumenten aufbauend ein Kriterienkatalog entworfen, der einen ersten Vorschlag zur Konzeptionierung sozialer Nachhaltigkeit darstellt und der zugleich das theoretische Fundament für die weiteren Überlegungen in dieser Arbeit bildet.
Entwurf eines Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit
Die einzelnen Kriterien des in diesem Punkt entworfenen Kriterienkataloges sind in drei Ebenen gegliedert, die sich durch unterschiedliche Abstraktionsgrade auszeichnen:
Auslegung der allgemeinen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung für die soziale Dimension: Ressourcenschonung als Schonung ökologischer, ökonomischer und sozialer/humaner Ressourcen, globale Gerechtigkeit als Beitrag auch zu intraregionaler sozialer Stabilität, Langfristigkeit sozialer Prozesse, Themenintegration, Integration gesellschaftlicher Gruppen.
Abstrakte soziale Kriterien: Sozialverträglichkeit, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, kulturelle Identität und Vielfalt.
Konkrete Ziele mit z.T. räumlichem Bezug: Armutsbekämpfung, Abbau von Diskriminierungen, Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten, Vermeidung bzw. Abbau sozialräumlicher Segregation.
Diese Kriterien werden dann in Gliederungspunkt 2.2 explizit für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit weiter differenziert.
Auslegung der allgemeinen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung für die soziale Dimension
Ausgangsbasis dieser allgemeinen Kriterien sind die konsensualen Merkmale einer nachhaltigen Entwicklung aus Kapitel 1.1.1, die darüber hinausgehend in diesem Kapitel auf die soziale Dimension hin ausgelegt werden, indem ihre Bedeutungsinhalte aber auch die Konsequenzen für das Soziale herausgearbeitet werden. Dies kann im Einzelfall dazu führen, daß die als "konsensuale Merkmale" eingeführten Punkte daraufhin nicht mehr eine derart umfassende Zustimmung erfahren.
Ressourcenschonung als Schonung ökologischer, ökonomischer und sozialer/humaner Ressourcen
Unter Punkt 1.1.1.1 wurde bereits dargestellt, daß die Schonung ökologischer Ressourcen eines der zentralen Merkmale einer nachhaltigen Entwicklung ist. Die Forderung nach der Schonung von Ressourcen muß jedoch nicht ausschließlich auf ökologische Ressourcen bezogen werden. Die Diskussion über die (Un-)Zulässigkeit der Hinzunahme künstlichen, menschengemachten oder technologischen Kapitals zur Bestimmung von Kapitalstöcken zeigt, daß die Beschränkung auf ökologische Ressourcen nicht notwendigerweise vorgegeben ist.
Im folgenden soll - aus einer anderen Perspektive als dies in der Diskussion um die Substituierbarkeit natürlichen Kapitals durch künstliches geschieht - argumentiert werden, daß auch die Schonung ökonomischer und sozialer resp. humaner Ressourcen Bestandteil des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung ist.
Grundsätzlich lassen sich ökonomische Ressourcen neu, aber auch nicht unbegrenzt, erwirtschaften. Gerade der Staat muß vor dem Hintergrund der hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte sparsam mit seinen finanziellen Mitteln umgehen. Gemeinhin wird die Verbindung zwischen Sozialem und Ökonomie in der öffentlichen Diskussion darüber hergestellt, daß Sozialpolitik primär als Kostenfaktor betrachtet wird, der Kapital bindet. Weitestgehend unbestritten ist, daß im Hinblick auf die Hypotheken zukünftiger Generationen die immense öffentliche Verschuldung abgebaut werden muß und in diesem Zusammenhang auch Fragen der Effizienz des Mitteleinsatzes u.a. im sozialen Bereich diskutiert werden müssen.
Weitere wichtige Ressourcen, die sozialen oder humanen, werden in der Diskussion oft unterschlagen. Humane Ressourcen tauchen als 'human capital' i.S. eines in Erziehung und Ausbildung eines Menschen investierten Kapitals immer wieder im Zusammenhang betrieblicher und volkswirtschaftlicher Gewinn- und Potentialüberlegungen auf. Daß sich hinter dem Begriff des Humankapitals neben menschlichen Qualifikationen indirekt auch deren Arbeitskraft und Arbeitsleistung verbirgt, die ebenso einer Schonung bedürfen, wird oft unterschlagen (Scherhorn 1998: 26ff).
Neben den gesundheitsbelastenden Arbeitsbedingungen durch toxische Stoffe und andere belastende Faktoren (Lärm, Hitze, Streß) sei an dieser Stelle insbesondere die zeitliche Arbeitsbelastung hervorgehoben. Trotz der seit Jahren anhaltenden Diskussion und auch der Realisierung von Arbeitszeitverkürzungen, liegt in einigen Branchen und unternehmerischen Bereichen die tatsächlich geleistete Arbeitszeit weit über den tariflich vereinbarten Arbeitszeiten. Extreme Arbeitsbelastungen laufen den menschlichen Grundbedürfnissen nach selbstbestimmter Aktivität und der "Einbettung in einen Sinnzusammenhang mit der sozialen (...) Mitwelt" - über die Erwerbsarbeitswelt hinaus - zuwider (Scherhorn 1998: 28). Soziale Desintegrationsprozesse und anomische Erscheinungen sind die Folge.
Die Ausbeutung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ressourcen ist auf Dauer nicht durchzuhalten und somit nicht zukunftsfähig. Soziale Nachhaltigkeit impliziert daher auch einen schonenden Umgang mit der Ressource 'Mensch' in allen seinen Facetten und Möglichkeiten.
Globale Gerechtigkeit als Beitrag auch zu intraregionaler sozialer Stabilität
"Gemessen am Volkseinkommen pro Kopf liegt der Lebensstandard im Norden mehr als fünfundzwanzigmal so hoch wie im Süden" (Hauchler 1997: 41). Zwar reduziert sich diese Kluft, wenn man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Maßstab nimmt, dennoch sind gerade auch die Ungleichheitsrelationen z.B. auf den Gebieten der Gesundheitsversorgung, des Zugangs zu Bildungseinrichtungen oder der Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen eklatant (Hauchler 1997).
Neben der ethisch, humanistisch begründeten Forderung nach einem Abbau und einer Überwindung von Armut, haben diese extremen sozialen und ökonomischen globalen Ungleichheiten auch für die Gesellschaften auf den 'Wohlstandsinseln' im Norden Konsequenzen.
Armut ist neben Repression, Krieg, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung ein wichtiger Push-Faktor, der zu internationalen Wanderungsbewegungen führt (Hauchler 1997: 102f). Diese Push-Faktoren sind in der Realität multikausal verknüpft, und eindeutig gerichtete, eindimensionale Kausalzusammenhänge sind selten nachweisbar. So kann man hier von einem Konglomerat von Gründen sprechen, das Menschen dazu bringt, ihr Dorf, ihre Stadt oder ihr Land zu verlassen.
Hohe Zuwanderungsraten, die die Aufnahme- und Integrationsbereitschaft (oder -fähigkeit) der Gesellschaften der Zielländer übersteigen, können in diesen zu sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen führen.
Zudem ist in den Herkunftsländern mit der Emigration häufig ein "Brain-Drain" (Tichy 1990: 119) verbunden, da zum Verlassen der Heimat neben ökonomischen Ressourcen auch Wissen über die Zielländer und die Wege dorthin sowie Mut und Tatendrang notwendig sind. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten zu emigrieren, sind demnach sehr ungleich verteilt. Folglich kann Migration ab einer bestimmten Intensität und Quantität u.U. sowohl für die Herkunfts- als auch für die Zielländer sozial desintegrative, destabilisierende Wirkungen zeigen.
Globale Gerechtigkeit ist daher eine Voraussetzung für sozial nachhaltige Gesellschaften in globalen wie in regionalen Zusammenhängen.
Langfristigkeit sozialer Prozesse
Auch das Merkmal der Langfristigkeit läßt sich von der Bestimmung in Kapitel 1.1.1.3 um soziale Aspekte und Fragestellungen erweitern; beispielsweise in der Diskrepanz zwischen kurzfristigen ökonomischen Gewinninteressen und langfristigen sozialen Folgeerscheinungen.
Die Ausrichtung der Unternehmenspolitik an den Gewinninteressen der Aktionäre und damit an möglichst hohen, kurzfristigen Unternehmensgewinnen führt im Management zu einem starken Druck, einerseits in immer schnelleren Zyklen neue Produkte zu entwickeln und andererseits die Produktivität zu steigern und Kosten, zumeist Arbeitskosten, zu senken, was wiederum zu Entlassungen führt. Diese Folgen des sog. 'shareholder-value-capitalism' nehmen vielen ArbeiterInnen und Angestellten soziale Sicherheit, die in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften (wie z.B. die Bundesrepublik Deutschland) weitgehend über die Erwerbsarbeit hergestellt wird (Statistisches Bundesamt 1998: 78f). Zunehmend werden anstelle langfristiger kurzfristig aufkündbare Arbeitsverträge geschlossen. Oder ArbeiterInnen und Angestellte sind gezwungen, in sogenannter Scheinselbständigkeit oder anderen Formen unter sozial kaum abgesicherten Bedingungen zu arbeiten (Wilke 1998: 140ff; vgl. auch: Sennett 1998). Diese neuen Ausprägungen der Arbeitsverhältnisse zeichnen sich gemeinsam durch hohe Flexibilität und damit auch durch Instabilität aus. Dies führt zu einer Zunahme von Brüchen in den Biographien vieler Menschen (Sennett 1998). Auf Phasen der Erwerbsarbeit und des sozialen Aufstiegs können ebenso schnell Perioden der Arbeitslosigkeit und des sozialen Abstiegs folgen. Soziale Bindungen werden zudem durch die oftmals notwendige Bereitschaft zu räumlicher Mobilität harten Belastungen ausgesetzt (Sennett 1998: 22).
Die beschriebenen Prozesse enthalten neben Chancen eine Reihe von Unsicherheiten und Risiken. Die in vielen Publikationen (u.a. Beck 1986; Sennett 1998) konstatierte Individualisierung der Gesellschaft, die Vereinzelung und Vereinsamung von Individuen münden in soziale Desintegrationsprozesse, die langfristig wirksam werden, wohingegen ihre auslösenden Faktoren und Strukturen gerade durch ihre Kurzfristigkeit charakterisiert sind.
Die Orientierung an potentiellen langfristigen sozialen Folgen in der Entscheidungsfindung in Politik und Wirtschaft ist daher eine weitere Voraussetzung und ein Kriterium sozialer Nachhaltigkeit.
Themenintegration
Die Integration von Themen ist für die soziale Dimension nachhaltiger Entwicklung ein wichtiges Kriterium. Die wechselseitige Antizipation der Folgen von Entscheidungen für die jeweils anderen Dimensionen muß auch im Bereich des Sozialen angestrebt und umgesetzt werden. So müssen die Folgen primär ökologischer oder ökonomischer Vorschläge und Maßnahmen verstärkt hinsichtlich ihrer sozialen Auswirkungen, z.B. besonderer Härten für sozial marginalisierte Gruppen, in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Auf der anderen Seite sind bei der Diskussion sozialer Fragen und der Konzeptionierung von Maßnahmen und Projekten im sozialen Bereich die ökologischen und ökonomischen Folgen zu bedenken und zu integrieren.
Dabei werden sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen nicht immer konfliktfrei gestalten und Win-Win-Situationen oder -Lösungen nicht immer zu erzielen sein. Die bestehenden Konflikte und Antagonismen zwischen den verschiedenen Dimensionen und gesellschaftlichen Interessensgruppen und Akteuren dürfen nicht negiert werden, sondern müssen konstruktiv angegangen und integriert werden.
Einen wichtigen Beitrag zu einer umfassenden Themenintegration kann eine breitangelegte Integration gesellschaftlicher Akteure in den politischen Entscheidungsprozeß leisten, da durch eine große Palette verschiedener Interessen und Meinungen im "Konsultationsprozeß" auch eine Themenvielfalt gewährleistet ist.
Integration gesellschaftlicher Gruppen
Bereits in den Darstellungen der Dokumente internationaler Konferenzen, wie auch in der Diskussion der wissenschaftlichen Beiträge, wurde die Integration gesellschaftlicher Gruppen und Akteure wiederholt als eines der zentralen Merkmale des Konzeptes Nachhaltige Entwicklung behandelt und von einigen AutorInnen als der genuine Beitrag der sozialen Dimension angesehen.
Partizipation und Konsultation der Bevölkerung im politischen Prozeß stellen als Mittel zur gesellschaftlichen Integration ein zentrales Moment sozialer Nachhaltigkeit dar. Die sozial integrative Wirkung ist für sich genommen bereits ein Ziel von Partizipation. Weitere Ziele sind die Stärkung des lokalen Demokratieprozesses und damit eine bessere Abstimmung zwischen den Bedürfnissen der Menschen vor Ort und den EntscheidungsträgerInnen.
Insbesondere sozial marginalisierte und artikulationsschwache Gruppen sollen - wie in der Agenda 21 in einigen Kapiteln des Teil III "Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen" explizit gefordert - gezielt in den Partizipations- und Konsultationsprozeß und damit in die Gesellschaft eingebunden werden.
Abstrakte soziale Kriterien
Die folgenden, eher abstrakten sozialen Kriterien wurden in der Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur in Gliederungspunkt 1.2.2 erschlossen.
Ihnen ist gemeinsam, daß sie auf normativen Standards beruhen und somit nicht objektiv bestimmbar sind. Sie sind daher in ihrer Interpretation und ihren Bedeutungsinhalten z.T. sehr umstritten. Da diese Problematik bereits ausführlicher in Kapitel 1.2.2 diskutiert wurde, soll dies an dieser Stelle nicht repetitiv erörtert werden.
Um das Problem einer objektiven Bestimmung dieser abstrakten sozialen Kriterien zu umgehen, wird daher im folgenden eine Vorgehensweise gewählt, die die subjektiv Betroffenen in den Quartieren und den Stadtteilen in den Mittelpunkt der Beurteilung kommunalpolitischer Maßnahmen stellt. Anstatt einen objektiven Maßstab als Grundlage zur Bewertung sozialer Maßnahmen zu suchen, wird hier der Ansatz vorgeschlagen, die folgenden sozialen Kriterien an subjektiven Zufriedenheiten und an dem Einverständnis der Betroffenen mit geplanten Vorhaben als Maßstab festzumachen. Dies erfordert in der Praxis eine "neue Planungskultur" (Kühn/Moss 1998; Alisch/Dangschat 1998), die stärker auf die Belange der Menschen vor Ort eingeht.
Sozialverträglichkeit
"Nach der Intention der Lokalen Agenda 21 [gemeint ist hier die Charta von Aalborg; d.Verf.] geht es unter dem Aspekt der Sozialverträglichkeit vor allem um einen Abbau der ungleichen Lebens- und Partizipationschancen zwischen Armen und Wohlhabenden" (Alisch/Dangschat 1998: 168).
Bezogen auf eine Kommune ist eine Maßnahme oder Entscheidung demnach dann sozial verträglich, wenn sie zu einem Abbau existierender sozialer Disparitäten beiträgt oder diese zumindest nicht weiter verschärft. DANGSCHAT bezieht die Sozialverträglichkeit kommunalplanerischer Entscheidungen und Vorhaben primär auf ihre potentiellen Auswirkungen auf wirksame Mechanismen und Prozesse residentieller Segregation (Dangschat 1997: 182). Wie ALISCH/DANGSCHAT selbst einräumen, muß Segregation jedoch nicht in allen Ausprägungen und Dimensionen negativ zu beurteilen sein (Alisch/Dangschat 1998: 175). Somit ist Segregation kein geeignetes exklusives Maß zur Bestimmung von Sozialunverträglichkeit.
Über die theoretischen Aussagen hinaus, daß (zu große) soziale Ungleichheit auf Dauer nicht sozialverträglich ist und daß residentielle Segregation einer sozialverträglichen Siedlungsentwicklung abträglich sind, besteht in der exakten Bewertung von Sozialverträglichkeit und der Suche nach geeigneten Maßnahmen zu deren Umsetzung kein Konsens. Sozialverträglichkeit wird je nach inhaltlichem Kontext und normativer Wertsetzung mit diversen sozialen Aspekten der Gerechtigkeit, der Stabilität oder der Integration gleichgesetzt.
Es bleibt somit das Problem zu lösen, wie in einer Kommune ein Bewertungsmaßstab zur Bestimmung der Sozialverträglichkeit einer Entscheidung oder Maßnahme hergestellt werden kann. Da, wie oben konstatiert, Sozialverträglichkeit nicht objektivierbar und wohl auch nicht von außen konstruierbar ist, soll Sozialverträglichkeit hier auf der Ebene individueller Akzeptanz und subjektiver Bedürfnisse angesiedelt werden. Die Merkmale 'Abbau sozialer Ungleichheiten' und 'Vermeidung residentieller Segregation' stellen fundamentale jedoch im Einzelfall nicht konsensual definierbare Aspekte von Sozialverträglichkeit dar.
Als zentrales Beurteilungskriterium, ob eine konkrete Maßnahme sozialverträglich ist (oder nicht), sollte die Intensität der Partizipation der betroffenen Menschen und, über deren Einfluß auf die Gestaltung der Maßnahme, auch deren Akzeptanz und Zustimmung dienen. Dies heißt letztlich: "Im Extrem kann Sozialverträglichkeit nicht standardisiert, sondern nur von Fall zu Fall von denjenigen definiert werden, die jeweils von einem Planungsvorhaben betroffen sind" (Alisch/Dangschat 1998: 191).
Sozialverträglichkeit auf diese Weise zu bestimmen, überläßt es den Menschen vor Ort zu entscheiden, wie sie mit Problemen und deren Lösungen umgehen wollen. "Sozialverträgliche Planung verbessert somit die Qualität der Planung, erhöht die Dialogfähigkeit und die Identifikation mit dem eigenen Lebensraum, bringt bedürfnisorientierte Lösungsvorschläge und verringert unbeabsichtigte Nebenfolgen" (Alisch/Dangschat 1998: 193).
Soziale Gerechtigkeit
Bisher konnte dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit keine konsensuale Definition gegeben werden. Ebensowenig soll der im Kapitel 1.2.2 nachvollzogene Diskurs über die verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen hier nochmals ausgebreitet werden.
Im Gegensatz zu dem unter dem Kriterium der Sozialverträglichkeit vorgeschlagenen Ansatz läßt sich soziale Gerechtigkeit nicht direkt auf die Ebene der Betroffenen herunter transponieren, so daß sich der oben vollzogene Lösungsweg in diesem Fall nicht anbietet. Soziale Gerechtigkeit kann nicht in dem Maße subjektiviert werden, da Gerechtigkeit immer im Bezug auf mindestens zwei Menschen zu bestimmen ist. Sozialverträglichkeit als 'Einverstanden sein mit einer Maßnahme im Quartier' kann subjektiv erhoben werden. Ob eine Entscheidung oder Maßnahme auch sozial gerecht ist, wird dagegen eher von außen zu klären sein.
Der von DANGSCHAT zitierte Ansatz Walzers, Gerechtigkeit als "komplexe Gleichheit" zu verstehen, die über eine Vielzahl verschiedener Ungleichheitsdimensionen hinweg für alle Individuen ein vergleichbares Ergebnis erbringt (Dangschat 1997: 179), scheint trotz der in Kapitel 1.2.2 angeführten Einwände plausibel und soll im weiteren in diesem Verständnis verwendet werden.
Soziale Sicherheit
Das Kriterium der sozialen Sicherheit steht in direktem Zusammenhang mit staatlicher Sozialpolitik und ihren Sicherungssystemen.
Soziale Sicherheit zu garantieren, ist originäre Pflicht und Aufgabe des Staates. Aus der Verbindung der Sozialstaatsklausel in Art.20 GG und dem Art.1 GG ergibt sich ein sozialer Fürsorgeanspruch: Der/die Einzelne kann gegenüber dem Staat den Anspruch geltend machen, für ihn/sie im Falle seiner/ihrer - verschuldeten oder unverschuldeten - "Bedürftigkeit so zu sorgen, daß das Existenzminimum gesichert ist" (Hesselberger 1988: 163). Andererseits kann die hohe Zahl Wohnungs- und Obdachloser als eindeutiges Indiz dafür herangezogen werden, daß soziale Sicherheit nicht jederzeit und für jede/n gegeben ist.
Ein Argument, das vorrangig von konservativer und leistungsorientierter Seite in der Diskussion um soziale Sicherheit und ihre Sicherungssysteme angeführt wird, ist die Befürchtung, Sicherheit mache faul und antriebsschwach.
Der Gegenentwurf, der sich zu diesem Szenario aufbauen läßt, beruht auf der Vermutung, daß das Wissen, sozial abgesichert zu sein, neue Handlungschancen und Potentiale eröffnet. Soziale Sicherheit könnte dazu einladen, Neues auszuprobieren und sich auf z.B. unternehmerische Risiken einzulassen (Bäcker 1997: 19). Gerade im sozialen und kulturellen Bereich der 'civil-society' könnten sich durch eine umfassend garantierte soziale Sicherheit neue Perspektiven eröffnen und neue Potentiale der Selbsthilfe und Selbstorganisation erschließen.
Umfassend garantierte soziale Sicherheit, die nicht mehr ausschließlich über individuelle Erwerbsarbeit hergestellt werden muß, ist daher ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Entwicklung. Sie kann Entscheidungsfreiheiten und Handlungspotentiale eröffnen, neue, ggf. nachhaltigere Lebensstile und sozialen Umgang zu probieren.
Kulturelle Identität und Vielfalt
Zwar wird "kulturelle Identität" (Kopatz 1998: 26) und deren Vielfalt in der Literatur zur nachhaltigen Entwicklung nur am Rande thematisch behandelt, dennoch erscheint dieses Kriterium m.E. bedeutsam genug, um hier gesondert aufgenommen zu werden.
Toleranz gegenüber anderen ist gerade in Städten aufgrund der hohen räumlichen Dichte, in der verschiedene Kulturen zusammenleben, elementar und unabdingbar. Das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung und die Möglichkeit, die eigene Kultur zu pflegen sowie die gegenseitige Achtung der jeweils anderen Kultur und ihrer spezifischen Eigenheiten und Lebensarten bilden eine Grundlage für Toleranz gegenüber Fremden. Die einem Individuum selbst zuteil gewordene Freiheit, das Leben nach eigenen Vorstellungen auszurichten und zu führen, bedingt Zugeständnisse an andere, auch ihr Leben an eigenen, anderen Werten und Zielen zu orientieren und ermöglicht somit kulturelle Vielfalt. Kulturelle Vielfalt wiederum ist ein wichtiger Quell des Zuwachses an Wissen und Erfahrung sowie der Weiterentwicklung einer Gesellschaft.
Auch kulturelle Identität und kulturelle Vielfalt sollten daher als Aspekte sozial nachhaltiger Gesellschaften begriffen werden.
Konkrete Ziele mit z.T. räumlichem Bezug
Die nachfolgend beschriebenen Kriterien markieren konkrete Ziele, die eine auf (soziale) Nachhaltigkeit abzielende Politik - nicht nur, aber auch in Kommunen - verfolgen sollte.
Armutsbekämpfung
Die Bekämpfung der Armut ist eine der wichtigsten sozialen Forderungen der vorgestellten programmatischen Dokumente.
Mehr oder weniger explizit findet sich diese Forderung sowohl in der Habitat Agenda als auch in der Charta von Aalborg und dem Brundtland-Bericht wieder. Vor allem jedoch in der Agenda 21 ist der Bekämpfung der Armut ein eigenes Kapitel, das Kapitel 3, gewidmet. Daß Armut als eines der gravierendsten gesellschaftlichen Probleme - international, national und lokal - als bloßes Faktum sowie mit seinen Folgeerscheinungen einer nachhaltigen Entwicklung entgegensteht, wurde in den vorangestellten Dokumenten und Texten bereits zureichend begründet und muß daher hier nicht weiter verfolgt werden.
Abbau von Diskriminierungen
Als ein weiteres Merkmal dieses Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit soll im folgenden der Aspekt des Abbaus von manifesten und latenten Diskriminierungen eingeführt werden.
Viele gesellschaftliche Gruppen sind aufgrund bestimmter zugeschriebener, konstruierter oder natürlicher Merkmale wie Rasse, Geschlecht, Alter, soziale Herkunft, ökonomische Ressourcen, Behinderungen, sexuelle Neigungen u.v.m. von Diskriminierungen verschiedener Qualität und Intensität betroffen. Häufig kumulieren einzelne diskriminierende Merkmale und verstärken sich gegenseitig. Die Agenda 21 enthält in diesem Kontext einen gesonderten Teil, in dem die "Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen" und deren gezielte Beteiligung an Entscheidungsprozessen hervorgehoben wird (BMU o.J.: 217ff; Agenda 21 Kap.23-32). Insbesondere werden in diesem Abschnitt Frauen (Kap. 24), Kinder und Jugendliche (Kap. 25) und eingeborenen Bevölkerungsgruppen (Kap. 26) genannt.
Zu den in der deutschen Öffentlichkeit am stärksten thematisierten Diskriminierungen gehört neben der Benachteiligung von AusländerInnen und Armen die der Frauen. In den wenigsten Lebensbereichen kann das Verhältnis zwischen den Geschlechtern als ausgeglichen und gleichberechtigt bezeichnet werden. Die Benachteiligungen, denen Frauen ausgesetzt sind, sind noch immer zahlreich, können hier jedoch ebensowenig erörtert werden wie die diversen Erscheinungsformen der Benachteiligungen von AusländerInnen bzw. Personen ohne deutschen Paß.
Auf die Diskriminierungen, die Arme insbesondere Wohnungs- und Obdachlose erfahren, wird in Kapitel 2 und Kapitel 4 noch einzugehen sein.
Der Abbau von Diskriminierungen wird u.a. in der Agenda 21 eingefordert, und bereits in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird ein Recht auf Schutz vor Diskriminierungen proklamiert.
Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten
Arbeitslosigkeit ist eines der herausragenden Probleme moderner Gesellschaften. Daher steht deren Bekämpfung zurecht an vorderster Stelle der Aufgaben von Politik und Gesellschaft.
Nicht nur in soziologischen, sondern auch in wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen wird das Funktionieren einer auf Erwerbsarbeit und Vollzeitarbeitsplätzen gegründeten und finanzierten Gesellschaft zusehends stärker in Zweifel gezogen. Die Verwirklichung des Ideals der Vollbeschäftigung im Rahmen des derzeitigen Arbeits(zeit)modells erscheint immer unrealistischer (Wilke 1998). Aus diesem Grund soll nicht nur von der Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen, sondern von Tätigkeiten im allgemeinen gesprochen werden. "In Geldgrößen gemessen entsprach noch in den 80er Jahren der Wert der vor allem in den Familien und Nachbarschaften, aber auch den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden in der Bundesrepublik unentgeltlich erbrachten Güter und Dienstleistungen etwa der Hälfte des Bruttosozialproduktes" (Bäcker 1995: 81). Auch diese nicht monetär vergüteten Tätigkeiten sind produktiv, schaffen Mehrwert und tragen darüber hinaus zur gesellschaftlichen Integration der Tätigen bei. Arbeit bzw. (öffentliches) Tätigsein im allgemeinen befriedigt tiefliegende menschliche Bedürfnisse. Es wirkt der Isolierung des Individuums in der Massengesellschaft entgegen, trägt zu Sinnerfüllung und Selbstverwirklichung bei und enthält identitätsstiftende Momente (Baum 1990: 101ff).
Wegen der hohen gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung und ihrer Funktionen, die Arbeiten und Tätigsein zugemessen werden können, und aufgrund der enormen aktuellen Brisanz dieses Themas stellt dieses Kriterium ein wichtiges Element sozialer Nachhaltigkeit dar.
Vermeidung bzw. Abbau der räumlichen Segregation
Räumliche Segregation wurde in der bisherigen Diskussion insbesondere von DANGSCHAT als wichtiger Indikator und Faktor für soziale Ungleichheit benannt (Dangschat 1997: 182).
Maßnahmen und Projekte in einer Kommune, die geeignet sind, räumliche Disparitäten abzubauen und die Bildung von nach ökonomischen, ethnischen, sozialen und kulturellen Merkmalen segregierten räumlichen Einheiten zu verhindern, befördern eine sozial nachhaltige Entwicklung. Wie bereits zuvor an einigen Stellen angemerkt, verhalten sich Segregationsprozesse einer gesellschaftlichen Integration gegenüber kontraproduktiv.
Ein Abbau residentieller Segregation trägt somit direkt zum Abbau zumindest einer räumlichen Dimension sozialer Ungleichheit bei und wirkt sich positiv auf die soziale Nachhaltigkeit einer Kommune aus.
Mit diesem Kriterium ist der Entwurf eines Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit abgeschlossen. Einzelne Begriffe, die in der dargestellten wissenschaftlichen Diskussion eine Rolle spielten, hier jedoch nicht explizit aufgeführt wurden, werden z.T. im ausdifferenzierten Katalog in Kapitel 2.2 behandelt. Dies gilt beispielsweise für die Partizipation, die hier in Punkt 1.3.1.5 unter der Integration gesellschaftlicher Gruppen subsumiert wurde und unter Gliederungspunkt 2.2.2 Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten ein gesondertes Kapitel erhalten wird.
Um diesen Kriterienkatalog auf den Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit anpassen und anwenden zu können, ist eine vorangestellte inhaltliche Einführung in dieses Thema unabdingbar.
Einführung in den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Um den im vorherigen Kapitel entwickelten Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu spezifizieren, ist eine einführende Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet notwendig.
Dabei können die hier aufgeführten Zahlen und Definitionen das gesellschaftspolitische Problem der Obdachlosigkeit nur skizzieren. Eine empathische Darstellung der sozialen, psychischen und physischen Folgen für die betroffenen Menschen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Ebenso ist dem Autor bewußt, daß eine Auflistung 'nackter' Zahlen und Statistiken oder Definitionen die tieferen Implikationen und die individuellen Konsequenzen von Obdachlosigkeit für die betroffenen Menschen nicht annähernd vermitteln kann. Dennoch muß das Problem beschrieben und in das Thema eingeführt werden, um entsprechende Ableitungen für die Gestaltung kommunaler Sozialpolitik im Bereich Obdachlosigkeit bilden zu können.
Eine Annäherung an den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Definitionen und nähere Bestimmung des Personenkreises im Fokus dieser Arbeit
In der Auseinandersetzung mit dem sozialen Problemfeld Obdachlosigkeit fällt zunächst die große Vielfalt verschiedener Begrifflichkeiten auf.
In der Sozialgesetzgebung und in der Fachliteratur werden i.d.R. zunächst drei grundlegende zentrale Begriffe dieses Problemkreises unterschieden: Obdachlosigkeit, Nichtseßhaftigkeit und Wohnungslosigkeit. Darüber hinaus fallen aber auch immer wieder Ausdrücke wie 'Wohnungsnotfälle', 'alleinstehende Wohnungslose', 'Personen ohne festen Wohnsitz', 'Personen ohne ausreichende Unterkunft' und andere mehr. Diese umfangreiche Palette von Bezeichnungen ist nicht nur Ausdruck der Komplexität und Vielschichtigkeit des hier behandelten Phänomens an sich, sondern auch Zeichen der Heterogenität des betroffenen Personenkreises.
Präzise Differenzierungen zwischen den einzelnen Begriffen sind in einer Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit nicht immer durchzuhalten, da nicht alle in der Realität auftretenden Erscheinungsformen und Zwischenstufen von den Termini "Nichtseßhaftigkeit", "Wohnungs- und Obdachlosigkeit" erfaßt und trennscharf zugeordnet werden können. Hinzukommt, daß die Begriffe in der Literatur nicht immer eindeutig gegeneinander abgegrenzt werden (können).
Mittels einer Darstellung von in der Literatur gängigen und in der Gesetzgebung festgelegten Definitionen der zentralen Begrifflichkeiten soll deren Semantik für die weitere Verwendung in dieser Arbeit bestimmt werden. Ein wichtiger und für viele andere Publikationen grundlegender Definitionsvorschlag stammt vom Deutschen Städtetag (DST) (1987). Der DST spricht hier anstelle von "Obdachlosigkeit" von "Wohnungsnotfällen" als übergeordnetem Begriff für bezeichnetes soziales Problem.
Wohnungsnotfälle nach der Definition des DST sind gegeben, "wenn Personen unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind oder aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind oder aus sonstigen Gründen in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben" (DST 1987: 14).
Laut DST sind diejenigen Menschen unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht, "denen der Verlust ihrer derzeitigen Wohnung unmittelbar bevorsteht und die dabei ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, ihren Wohnraum auf Dauer zu erhalten oder sich ausreichenden Ersatzwohnraum zu beschaffen, oder denen die Entlassung aus einem Heim, einer Anstalt usw. unmittelbar bevorsteht und die ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, sich ausreichenden Wohnraum zu beschaffen" (DST 1987: 14).
Zur zweiten Gruppe, den Personen, die aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind, zählen die Menschen, "die ohne Wohnung sind und nicht in einem Heim, einer Anstalt usw. untergebracht sind oder die aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit gemäß §14 ff OBG [Ordnungsbehördengesetz; d.Verf.] in eine Unterkunft oder in eine Normalwohnung eingewiesen sind" (DST 1987: 14).
Menschen, "die unzumutbaren oder außergewöhnlich beengten Wohnraum bewohnen oder die untragbar hohe Mieten zu zahlen haben oder die eskalierte Konflikte im Zusammenleben mit anderen haben", werden der Kategorie mit aus sonstigen Gründen unzumutbaren Wohnverhältnissen zugeordnet (DST 1987: 15).
Zwar taucht in der vorgestellten Definition der "Wohnungsnotfälle" des DST der Begriff der "Obdachlosigkeit" auf, er wird jedoch nicht näher erläutert.
Als obdachlos wird bezeichnet, "wer ohne Wohnung ist, wessen Wohnung ohne menschenwürdige Ausstattung ist, wer nicht in der Lage ist, sich und seinen Familienangehörigen eine Wohnung zu beschaffen (oder zu erhalten), wer in einer der öffentlichen Hand gehörenden Unterkunft untergebracht oder aufgrund entsprechender gesetzlicher Vorschriften in eine Normalwohnung eingewiesen ist" (Haus 1986: 232).
Die folgende Definition betont stärker als die vorangestellte den Fall eines unmittelbar bevorstehenden Verlustes einer selbständigen oder vorübergehenden Unterkunft: In diesem Fall gilt als obdachlos, "a) wer ohne Unterkunft ist; b) wem der Verlust seiner selbständigen oder vorübergehenden Unterkunft unmittelbar bevorsteht" (Bauer 1984: 698).
Diese beiden Definitionen - wie auch die Bestimmung der Wohnungsnotfälle des DST - implizieren die Unterscheidung zwischen potentieller, latenter und manifester Obdachlosigkeit.
Potentielle Obdachlosigkeit bezieht sich auf Menschen, "denen der Wohnungsverlust zwar nicht unmittelbar droht, bei denen diese Situation jedoch aufgrund ihrer unzureichenden Wohn- und Einkommenssituation mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit eintreten wird" (DST 1987: 15).
Menschen, die unter Wohnungsnot leiden, sei es in unzumutbaren Wohnsituationen, sei es, weil sie unmittelbar z.B. durch Räumungsklagen von Obdachlosigkeit bedroht sind, fallen in die Gruppe der latent Obdachlosen. Latente Obdachlosigkeit bezieht sich zum einen auf einen Wohnstatus jenseits regulärer, normaler Wohnverhältnisse mit (miet-) rechtlicher Absicherung und zum anderen auf eine Wohnsituation, die im Rahmen friedlichen Zusammenlebens selbstbestimmtes Leben erschwert oder gar unmöglich macht. Hierzu zählen z.B. die Wohnbedingungen von Frauen, die Gewalt in Ehe bzw. Partnerschaft erleiden, von Jugendlichen, die schwerwiegende, unlösbare Probleme mit ihren Eltern austragen, Überbelegungen von Wohnungen und überhöhte Mietbelastungen (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.1.1).
Manifeste Obdachlosigkeit entspricht der Gruppe der "aktuell von Obdachlosigkeit betroffenen" Personen des DST. Hierzu zählen Personen, die sich in Heimen und Anstalten, (teil-) stationären Einrichtungen, Asylen oder Übernachtungsstellen aufhalten, die vorübergehend bei Freunden, Bekannten oder Verwandten untergekommen sind, die als Aussiedler in Aussiedlerunterkünften wohnen, ordnungsrechtlich versorgte Wohnungslose und Personen, die ohne jegliche Unterkunft im Freien schlafen und "Platte machen" (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.1).
Der zweite oben aufgeführte Begriff ist der der Nichtseßhaftigkeit.
Als nichtseßhaft gelten nach §4 der Verordnung zur Durchführung des §72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Personen, "die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen oder die sich zur Vorbereitung auf die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft oder zur dauernden persönlichen Betreuung in einer Einrichtung für Nichtseßhafte aufhalten" (Haus 1986: 232). Nichtseßhafte bilden demnach eine Untergruppe der aktuell von Obdachlosigkeit betroffenen Personen. Im Alltag werden Nichtseßhafte umgangssprachlich auch als 'Penner', 'Land- oder Stadtstreicher' oder 'Tippelbrüder' bezeichnet.
Der Terminus 'Nichtseßhaftigkeit' ist in der wissenschaftlichen Literatur Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in die Kritik geraten, da er auch in seiner oben genannten Definition aus dem Jahre 1976 eine individualisierende Sichtweise und Deutung des Problems der Nichtseßhaftigkeit enthält (Weber 1984: 668). Gegen die Verwendung des Begriffs 'Nichtseßhaftigkeit' sprechen eine Reihe von Argumenten: Zum einen legt er die Assoziation eines frei umherziehenden Vagabunden nahe, der z.T. romantische Vorstellungen zugrunde liegen. Zum anderen macht der Begriff 'nichtseßhaft' "den z.Zt. Wohnungslosen zu einem Stadt- und Landstreicher, dem alle möglichen Attribute gleich mit auf den Weg gegeben werden, wie: Trinker, arbeitsscheu, nicht-resozialisierbar, dissozial, triebhaft" (Specht u.a. 1988: 18). Zudem haben 'Nichtseßhafte' zwar keinen Wohnsitz, sie können sich andererseits aufgrund mangelnder ökonomischer Mittel nur bedingt räumlich bewegen und weisen deshalb selten das im Begriff suggerierte Mobilitätsverhalten auf (BMFam 1997: 27). In der Praxis bewegen sich 'Nichtseßhafte' fast ausschließlich zwischen wenigen Aufenthaltsorten innerhalb einer Stadt. Darüber hinaus tendiert der Terminus 'Nichtseßhaftigkeit' dazu, eher auf ein individuelles Verhalten als auf sozio-strukturelle Bedingungen und Ursachen von Obdach- und Wohnungslosigkeit zu verweisen. Neben sozio-strukturellen Bedingungen unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, das extreme soziale Ungleichheiten hervorbringt, kommt hinzu, daß eine Nicht-Seßhaftigkeit in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes z.T. von sozialstaatlichen Einrichtungen erzwungen wird. SPECHT-KITTLER spricht in diesem Zusammenhang von "mobiler Armut", die entsteht wenn sog. Nichtseßhafte "von Ort zu Ort, von Asyl zu Asyl geschickt werden" (Specht-Kittler 1992: 38). Dies läßt den Schluß zu, daß die Nicht-Seßhaftigkeit, der im Fokus dieser Arbeit stehenden Menschen, "weitgehend das Produkt der Abschiebe- und Verschiebepraxis der Elemente des Hilfesystems (...) und nicht primär Resultat einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur von Klienten" ist (Albrecht 1986: 48).
Aufgrund der genannten Bedenken, die sich gegen die Verwendung des Terminus 'Nichtseßhaftigkeit' anführen lassen, scheint sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit der Begriff der/des "alleinstehenden Wohnungslosen" durchzusetzen (u.a. BMFam 1997: 27). Entsprechend soll auch in dieser Arbeit verfahren werden. Während die oben vorgestellte erweiterte Definition von Obdachlosigkeit die Gruppe der im Rahmen dieser Arbeit betroffenen Menschen ausreichend exakt bestimmt, soll 'Nichtseßhaftigkeit' durch 'Wohnungslosigkeit', im Falle der betroffenen Menschen durch 'alleinstehende Wohnungslose' substituiert werden.
Obdachlosigkeit schließt, wie oben bereits zum Ausdruck gebracht, auch eine unzureichende Wohnraumversorgung und die Unterbringung von Menschen in Anstalten, Heimen, Asylen etc. mit ein. Die vorangestellten Definitionen von Obdachlosigkeit und Nichtseßhaftigkeit beinhalten somit eine fundamental wichtige Differenzierung: die Unterscheidung zwischen alleinstehenden Wohnungslosen - dem 'Penner' auf der Straße - und Obdachlosen, die in Schlichtwohnungen, Unterkünften, Asylen, Heimen oder sonstigen Notquartieren untergebracht sind. Damit ist "Obdachlosigkeit" verglichen mit "Nichtseßhaftigkeit" der umfassendere Begriff und beinhaltet ebenso Formen der Unterversorgung mit dem Gut 'Wohnung', wie auch den Ausschluß vom Wohnungsmarkt.
Um einen Teil der Personengruppe, die im folgenden im Fokus dieser Arbeit stehen wird, weniger abstrakt als in der o.g. Definition zu skizzieren, soll die nachfolgende Beschreibung einen - zumindest oberflächlichen - Eindruck von den Bedingungen vermitteln, unter denen alleinstehende Wohnungslose leben müssen: "Alleinstehende Wohnungslose - Stadtstreicher - sind Obdachlose, die arbeitslos und in der Regel ohne festes Einkommen auf der Straße leben, in Abbruchhäusern, Neubauten, Tiefgaragen, Autowracks, Parkanlagen etc. 'schlafen' oder, wie sie selbst sagen, 'Platte machen'. Auf diese Art leben zu müssen, bedeutet für die Betroffenen, keine Rückzugsmöglichkeiten, keine Privatsphäre zu haben und nicht zuletzt, gesundheitliche Folgen in Kauf nehmen zu müssen" (Kämper in: Greiff/Schuler-Wallner 1990: 78).
Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Zahlen und Statistiken
Eine amtliche, bundesweite Wohnungsnotfall- oder Obdachlosenstatistik, die Daten zu den verschiedenen Ausprägungen und Typen von Obdach- und Wohnungslosigkeit bereithält, wird zwar von verschiedenen freien Wohlfahrtsträgern, ExpertInnen und Verbänden immer wieder gefordert, bisher wird eine derartige Statistik für die Bundesrepublik jedoch nicht erstellt. Somit existieren keine exakten Zahlen und Statistiken zum Umfang des Problems der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland.
Folglich bewegen sich die geschätzten und auf Hochrechnungen und Projektionen beruhenden Zahlen mit einer hohen Fehlerwahrscheinlichkeit in einer relativ großen Spanne.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. schätzte die Gesamtzahl der Obdachlosen in der BRD für das Jahr 1994 auf 830.000 bis 920.000 Menschen und für das Jahr 1995 bei einem weiteren Anstieg um rund 40.000 auf entsprechend 870.000 bis 960.000 Menschen (BMBau 1996: 78). Der "Landessozialbericht Wohnungsnot und Obdachlosigkeit NRW" schätzt den Umfang der Obdachlosigkeit noch größer ein. Dieser gibt für 1994 eine hochgerechnete Zahl von mindestens 1,5 Mio. obdachlosen Menschen an (o.V. 1994: 582).
Auch im Armutsbericht der Freien und Hansestadt Hamburg wird die unvollständige Datenlage beklagt, da insbesondere die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, kaum vollständig zu erfassen ist (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.1). Für den 31. März 1996 gibt der Armutsbericht eine Zahl von 5.086 Personen an, die in Unterkünften der staatlichen und freien Träger untergebracht sind (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.2). Hinzukommen "mindestens 1.204 Personen, die in der Woche vom 28. Februar bis 6. März 1996 in Hamburg 'auf der Straße' gelebt und übernachtet haben (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.3; Hervorhebung im Original). In der Summe ergeben sich damit mindestens ca. 6.290 Menschen die im März 1996 in Hamburg von Obdachlosigkeit betroffen waren.
Der Armutsbericht in Hamburg beziffert den Frauenanteil bei den auf der Straße lebenden Obdachlosen auf 17% (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.3). Mit mindestens 15% schätzt eine Studie des BMFam den Frauenanteil bei von latenter und manifester Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen ähnlich hoch ein (BMFam 1997: 44). Damit unterscheiden sich die Zahlen nur geringfügig, zumal das BMFam von "sicherlich nicht unter 15%" spricht (BMFam 1997: 44).
Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit und deren Folgen
Die Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit sind zahlreich und vielfältig miteinander verknüpft. Daher sollte von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge gesprochen werden, das über wechselseitig aufeinander bezogene Einflußgrößen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen kann (BMFam 1997: 54).
In modernen, kapitalistischen Gesellschaften stellt Wohnen bzw. die Wohnung ebenso ein Gut dar wie auch alle anderen durch den Tausch gegen Zahlungsmittel zu erlangenden Waren und Dienstleistungen. Damit ist die individuelle Zahlungsfähigkeit die Voraussetzung zum Anmieten oder zum Kauf von Wohnraum. Einkommen wird in kapitalistischen, auf Erwerbsarbeit hin ausgerichteten Gesellschaften primär durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft in Form von Geldlohn erzielt. In Phasen einer ökonomischen Krise oder Rezession, die mit steigenden Arbeitslosenzahlen einhergeht, können jedoch nicht mehr alle Menschen ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt unterbringen. Sie sind arbeitslos und erzielen folglich kein Einkommen, mit dem sie das Gut Wohnung mieten oder kaufen können. Ihnen droht Obdachlosigkeit.
Grundsätzlich wird in einem System, das auf individuelle Sorge um die eigene Reproduktion setzt, Armut - und als eine der extremsten Formen von Armut die Wohnungs- und Obdachlosigkeit - als individuelles Versagen interpretiert und bewertet. Entsprechend dieser Logik sind Obdachlose aufgrund individuellen 'Verschuldens' und möglicherweise individueller 'Defizite' nicht in der Lage, die für die eigene Reproduktion notwendigen (Arbeits-)Leistungen zu erbringen und pekuniäre Erträge zu erzielen.
"Entscheidend ist, ob die Arbeitskraft sich verkaufen kann und ob das dadurch erworbene Einkommen ausreicht, um die notwendigen Kosten für den Lebensunterhalt abzudecken. Dies ist das Risiko der individuellen Reproduktion, wie es sich in der kapitalistischen Produktionsweise als Lebensform für die einzelnen Individuen gesellschaftlich durchgesetzt hat" (Drygala 1987: 27).
In sozialstaatlich abgefederten Systemen tritt der Staat als Regulierungs- und Ausgleichsinstanz auf. Er ersetzt das Erwerbseinkommen durch soziale Transferzahlungen und versucht, Menschen ein 'soziales Netz' zu bieten, sie vor dem 'sozialen Absturz' zu bewahren und damit sozialen Frieden und Stabilität zu sichern.
Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit einerseits und Wohnungs- und Obdachlosigkeit andererseits wird immer wieder hervorgehoben (u.a. Weber 1984: 671). Ebenso wie von Arbeitslosigkeit überproportional Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ArbeiterInnen betroffen sind (Statistisches Bundesamt 1998: 96ff), so betrifft das Risiko, nichtseßhaft zu werden, hauptsächlich die unteren sozialen Schichten (Weber 1984: 670).
Wie oben bereits erwähnt korreliert Obdachlosigkeit positiv mit Arbeitslosigkeit. Dabei bedingt Arbeitslosigkeit jedoch nicht zwangsweise den Weg in die Obdachlosigkeit, wie in der Realität leicht zu ersehen ist. Es müssen demnach weitere Faktoren wirksam werden, um arbeitslose Personen obdachlos werden zu lassen. WEBER spricht im Zusammenhang von Dauer und Verbleib in der Arbeitslosigkeit und damit zunehmenden Risiken, obdachlos zu werden bzw. zu bleiben, von weiteren "negativen Selektionskriterien des Arbeitsmarktes" wie z.B. körperlichen und geistigen Behinderungen, Alter oder geringer Qualifikation (Weber 1984: 671), die häufig mit geringen sozialen Ressourcen einhergehen.
Grundsätzlich kann an dieser Stelle vorläufig festgehalten werden, daß Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Obdachlosigkeit ist (Greiff/Schuler-Wallner 1990: 200) - zumal, wie oben beschrieben, in kapitalistischen, auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Industriegesellschaften.
Wie die Diskussion über das Phänomen der sog. neuen Armut zeigt, sind zunehmend auch BezieherInnen mittlerer Einkommen und Familien von Wohnungsproblemen und Obdachlosigkeit betroffen (Portz/Lübking 1995: 88). Diese Ausweitung der von Obdachlosigkeit gefährdeten gesellschaftlichen Gruppen ist neben dem gestiegenen Risiko, arbeitslos zu werden, u.a. durch den starken Anstieg der Mieten seit Mitte der achtziger Jahre (BMBau 1996: 32f) zu erklären. Entsprechend der Mieten ist auch die Mietbelastungsquote angestiegen. 1995 betrug die Mietbelastungsquote für Westdeutschland durchschnittlich 24% und für Ostdeutschland 18% (Statistisches Bundesamt 1998: 532). Gerade bei den BezieherInnen unterer und mittlerer Einkommen, Alleinerziehenden und Haushalten mit mindestens einem Arbeitslosen ist der Mietanteil proportional am monatlichen Budget überdurchschnittlich hoch, wohingegen die Mietbelastungsquoten mit steigendem Einkommen deutlich sinken (Statistisches Bundesamt 1998: 533). Die Kausalbeziehung zwischen einer Unterversorgung mit (bezahlbarem) Wohnraum, von der primär in Armut lebende sowie Personen der unteren sozialen Schichten betroffen sind, und Obdachlosigkeit ist evident. SCHULER-WALLNER konstatiert lapidar: "Der Mangel an billigem Wohnraum ist eine der entscheidenden Ursachen für die Aufrechterhaltung und Neuentstehung von Obdachlosigkeit" (Schuler-Wallner in: Greiff/Schuler-Wallner 1990: 12).
Neben den genannten sozio-strukturellen Ursachen werden auch individuelle Merkmale als Entstehungsgründe von Wohnungs- und Obdachlosigkeit herangezogen. "In der Soziologie wurde Obdachlosigkeit lange Zeit unter dem Aspekt des 'abweichenden Verhaltens' oder der 'kulturellen Benachteiligung' gesehen" (Drygala 1987: 21). Gerade in der Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit unter dem Blickwinkel von Theorien 'abweichenden Verhaltens' werden Wohnungs- und Obdachlosen individuelle und z.T. pathologische Defizite zugeschrieben. Diesem Blick ist die Gefahr immanent, eine Folge struktureller Bedingungen, die Obdachlosigkeit, zu individualisieren. Von der Norm abweichendes Verhalten wird als Grund für Obdachlosigkeit herangezogen, statt das abweichende Verhalten als Folge der Obdachlosigkeit zu begreifen. Darüber hinaus werden in diesen Ansätzen Ursache und Wirkung in m.E. unzulässiger Weise getrennt und nicht als Konglomerat von Bedingungen und Ursachen begriffen.
In der vorangegangenen Argumentation treten zwei grundlegende Ansätze zur Erklärung der Ursachen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit zutage: sozio-strukturelle Ansätze und der Selbstverschuldungsansatz.
Während eine Individualisierung der Schuld an Obdachlosigkeit tendenziell eher in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit vertreten wird, dominieren in der Wissenschaft hingegen heute eher sozio-strukturelle Ansätze. Wie obiges Zitat von DRYGALA und ein Blick in die Historie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit zeigt, standen jedoch auch in der Wissenschaft individualisierende Theorien lange Zeit im Vordergrund (Weber 1984: 669).
Die Individualisierung der Ursachen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Öffentlichkeit als von den Betroffenen selbst verschuldet zu betrachten, dient den 'NormalbürgerInnen' als Selbstschutz: "Vielen ist nämlich unbewußt klar, daß jeder Obdachlose der klare Beweis dafür ist, wie viel die scheinbare [soziale; d.Verf.] Sicherheit im Ernstfall wert ist, eine Sicherheit, an die sich viele Menschen verkrampft klammern und nicht mal gedanklich durchspielen wollen, wie schnell sie selbst in eine derartige Situation geraten könnten" (strassenzeitung Februar 1999: 7). Ein weiterer Effekt, der mit der individuellen Zuschreibung des Verschuldens der Obdachlosigkeit einher geht, besteht darin, daß "ein soziales Problem umgedeutet (wird) in schicksalhaft entstandenes Leid, für das niemand zuständig ist" (Specht 1990: 72).
Als explizit sozio-strukturelle Faktoren, die zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen können, gelten die beiden oben bereits eingeführten Phänomene: Arbeitslosigkeit und der Mangel an (bezahlbarem) Wohnraum.
Als weitere Ursachen für Obdachlosigkeit, die sowohl sozio-strukturelle als auch individuelle Züge aufweisen, werden die Überschuldung der Privathaushalte, Schicksalsschläge wie Tod, Scheidung, Vertreibung, eine Erkrankung des Einkommensbeziehenden einer Familie oder Mietrückstände und Zwangsräumungen genannt. Kommen zu diesen Problemen und Belastungen noch "destruktive Bewältigungsstrategien" wie Depressionen, Alkoholismus oder auch Kriminalität, kann der soziale Abstieg über den Verlust der eigenen Wohnung in Obdachlosigkeit münden (BMFam 1997: 44).
Diese 'klassischen' Ursachen sind in der Regel auf wohnungslose Männer bezogen und lassen die frauenspezifischen Ursachen für die Obdachlosigkeit unter Frauen außer acht. Die Studie des BMFam nennt speziell für die Wohnungslosigkeit von Frauen "vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen allgemein" (BMFam 1997: 52) folgende potentielle Ursachen: "überdurchschnittlich belastete Kindheit und Jugend, geringer Bildungs- und Qualifikationsstand, diskontinuierliche Erwerbsbiographie, die Abhängigkeit der Hausfrau vom Ehemann, Partnerschaftskonflikte, Institutionenentlassung, finanzielle Probleme" (BMFam 1997: 52).
Es sei an dieser Stelle nochmals daran erinnert, daß nicht eine einzelne dieser hier genannten Ursachen allein zu Obdachlosigkeit führt, sondern diese Einzelfaktoren vielmehr als Ursachenbündel - sich teils verstärkend teils hemmend - wirksam werden und u.U. zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen. Daher erscheinen Erklärungsmodelle, die einseitig auf individuelle oder sozio-strukturelle Ursachen verweisen, dem komplexen und komplizierten Gefüge, das Menschen obdachlos werden läßt, nicht angemessen.
Eine Abgrenzung der Ursachen von den (individuellen) Folgen der Wohnungs- und Obdachlosigkeit kann nicht immer eindeutig vorgenommen werden. Mit dem Verlust der eigenen Wohnung "gehen nicht nur materielle Sicherheiten, sondern auch 'soziale Funktionen' wie Einbindung in familiäre und nachbarschaftliche Beziehungen, Anknüpfungspunkte für Arbeitgeber und Kollegen usw. verloren" (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.3). BAUER führt in Anlehnung an Vaskovics/Weins als Folgen für manifest Obdachlose weitere Punkte an: Zunahme von Anomie, Senkung des Anspruchsniveaus im Bereich beruflicher Ausbildung, Abnahme der (siedlungsübergreifenden) Sozialbeziehungen bei Zunahme der siedlungsinternen (z.T. auch Abbruch der Sozialbeziehungen), Rückzug aus öffentlichen Institutionen (z.B. Vereinen), negative Einstellung gegenüber Behörden, Depression, Apathie, Resignation und Hoffnungslosigkeit, Delinquenz und andere mehr (Vaskovics/Weins nach: Bauer 1984: 699f). Insbesondere die genannten psychischen Folgeerscheinungen sind bei alleinstehenden Wohnungslosen, als auf der Straße lebenden Personen, auszumachen. "Ob schwere Psychosen, Angstzustände, schizophrene Sinnestäuschungen oder Wahnvorstellungen - die Untersuchungen ergaben, daß mehr als 90 Prozent aller Männer und Frauen, die 'Platte machen', chronisch unter solcherlei Störungen litten. Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkten die Erkrankung oder gingen damit einher" (Nimtz-Köster 1999: 266).
Nicht nur bei den Ursachen und Wegen in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit, sondern auch bei den Folgen muß zwischen Männern und Frauen unterschieden werden. Weibliche alleinstehende Obdachlose sind aufgrund ihres Geschlechts stärker noch als Männer Gewalt auf der Straße und hier vor allem sexueller Gewalt sowie der Mißachtung durch PassantInnen ausgesetzt (BMFam 1996: 69ff).
Wie gezeigt, kann eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen und Faktoren und noch vielfältigere Kombinationen und Interdependenzen derselben zu Obdachlosigkeit führen. Bedingt durch diese umfangreiche Palette von Faktorenbündeln stellen Obdachlose keine sozial homogene Schicht oder Gruppe dar (Bauer 1984: 702). Dennoch ist die soziale Lage obdachloser Menschen - bei aller Heterogenität dieser Gruppe - im allgemeinen gekennzeichnet durch Wohnformen, die einen hohen Grad an Zwangsgemeinschaft haben, eine sozial-räumliche Isolation, eine große räumliche Distanz zu (sozialen) Infrastruktureinrichtungen, eines eingeschränkten oder fehlenden Mietrechtsschutzes sowie einer Beschränkung bürgerlicher, in der Verfassung garantierter Freiheitsrechte wie z.B. dem Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung oder dem besonderen Schutz der Familie (Specht-Kittler 1992: 37).
Jede/r Obdachlose hat andere, individuelle Umgangsweisen mit dem Verlust der eigenen Wohnung entwickelt und die meisten Betroffenen weisen individuelle psycho-soziale und gesundheitliche Folgeerscheinungen und Erkrankungen auf. Obdachlosen muß daher individuelle, personenbezogene, ergo eine auf die persönlichen Bedürfnisse und Probleme des/der Einzelnen zugeschnittene Unterstützung zukommen. Dies können vorzugsweise kleinteilige, stadtteil- oder quartierbezogene Gruppen und Einrichtungen leisten.
Die kommunale (Sozial-)Politik, die sich dem Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit annimmt, sollte auf diese individuellen Problemlagen gesondert eingehen und mit differenzierten Methoden und Maßnahmen den Problemen dieser Personen begegnen.
Weitere Ausdifferenzierung des Kriterienkataloges für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Nachdem in der vorangestellten, einführenden Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit versucht wurde, die Spezifika dieses Problembereichs sowie die Konsequenzen für die Betroffenen herauszuarbeiten, sollen im folgenden die gewonnen Informationen in den in Kapitel 1.3 entwickelten allgemeinen Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit integriert werden.
Die zuvor zusammengestellten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aller drei Ebenen, die allgemeinen Nachhaltigkeitskriterien, die abstrakt sozialen und die konkreten Ziele, können hier für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit übernommen werden: Ressourcenschonung, globale Gerechtigkeit, Langfristigkeit, Themenintegration, Integration gesellschaftlicher Gruppen sind ebenso relevant wie die abstrakten sozialen Merkmale Sozialverträglichkeit, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit sowie kulturelle Identität und Vielfalt. Insbesondere die konkreten Merkmale sozialer Nachhaltigkeit (Armutsbekämpfung, Abbau von Diskriminierungen, Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten und Vermeidung bzw. Abbau sozialräumlicher Segregation) können unmittelbar mit dem Phänomen Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Verbindung gebracht werden.
In diesem Punkt soll ausschließlich detaillierter auf die Merkmale eingegangen werden, welche für die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit aufgrund der spezifischen Anforderungen, die sich einerseits aus den überwiegend verallgemeinerbaren Charakteristika der Lebenssituationen und andererseits aus den individuellen Problemlagen des/der einzelnen Obdachlosen oder alleinstehenden Wohnungslosen ergeben, von zentraler Relevanz sind.
Armutsbekämpfung
Die Bekämpfung der Armut und deren Abbau sollte oberstes Ziel der Obdachlosenpolitik sein. Armut hat sozio-strukturelle Ursachen, die im Gesellschaftssystem und damit auch in der Organisation des Wirtschaftens angelegt sind. Kommunen als 'unterste' Ebene im Staatsaufbau haben daher nur sehr begrenzte Möglichkeiten, diese gesamtgesellschaftlichen, strukturellen Ursachen der Armut anzugehen und zu bekämpfen. Dennoch sollte dieses Ziel auch in der kommunalen Sozialpolitik im allgemeinen und in der kommunalen Wohnungs- und Obdachlosenpolitik im besonderen prioritär verfolgt werden.
Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten
Die Partizipation verschiedener gesellschaftlicher, kommunaler und staatlicher Akteure wird in der Agenda 21 an verschiedenen Stellen, insbesondere jedoch in Kapitel 28 "Initiativen der Kommunen zur Unterstützung der Agenda 21" unter den Stichwörtern "Konsultationsprozeß" und "Dialog", immer wieder als wichtiges Instrument zur Konkretisierung des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung genannt (BMU o.J.: 231; Agenda 21, Kap.28). Für den hier relevanten Bereich liegt der Schwerpunkt dieses Kriteriums auf der Phase der Ausarbeitung und Konzeptionierung einer Strategie oder eines konkreten Projektes als Teil eines Konzeptes zur Bekämpfung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in einer Kommune.
Aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit stammt die Beobachtung, daß Projekte, die nicht exakt auf die je spezifischen Lebensumstände, Erfahrungen, Bedürfnisse und Erfordernisse der Zielgruppe abgestimmt sind, selten zum Erfolg führen (Gardner/Lewis 1996: 67). Um die Kongruenz zwischen der Strategie- und der Projektkonzeption einerseits und den tatsächlichen Bedürfnissen andererseits zu gewährleisten, ist die frühzeitige Einbindung der Zielgruppe, hier die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Menschen, von entscheidender Bedeutung. Auch in der Kommunalpolitik und der Planung sozialer Dienste scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß eine Planung ohne die Bevölkerung deren Bedürfnisse verfehlt, Fehlentscheidungen provoziert sowie Apathie und Protest hervorruft (Marzahn 1984: 735).
Die Partizipation an der Ausarbeitung und Konzeptionierung von Maßnahmen, die je nach Zielgruppe einfach nur angeboten oder auch gefördert und sogar eingefordert werden sollte, ist eines der zentralen Kriterien sozial nachhaltiger Wohnungs- und Obdachlosenpolitik in Kommunen.
Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten
Dieses Kooperations-Kriterium zielt auf die Realisierungs- bzw. Umsetzungsphase einer Maßnahme ab. Der Unterschied zum vorherigen Kriterium läßt sich am anschaulichsten mittels einer semantischen Unterscheidung von Partizipation und Kooperation verdeutlichen: Partizipation meint eher ein Teilhaben bzw. Teilnehmen und ein Sich-Einbringen, wohingegen Kooperation auf eine direkte, tatkräftige Zusammenarbeit in der Umsetzung von zuvor partizipativ entwickelten Maßnahmen abzielt. Gerade auch im Zusammenhang mit dem Kriterium der Schaffung und Vermittlung von Arbeitsplätzen und Tätigkeiten gewinnt dieser Punkt an Bedeutung. Wohnungs- und Obdachlose sollen ihren individuellen Fähigkeiten und Potentialen entsprechend aktiv an den sie betreffenden Maßnahmen und Projekten kooperieren resp. mitarbeiten. Damit können vorhandene Fähig- und Fertigkeiten aufgefrischt und neue ggf. eingeübt werden.
'Empowerment' der Zielgruppe
"Mit Hilfe des 'Empowerment'- Ansatzes soll Kontrollbewußtsein und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände angestrebt werden" (Schönbach 1995: 13). Empowerment-Ansätze setzen auf eine gezielte Förderung der Stärken der Zielgruppe und sind durch folgende Elemente gekennzeichnet: Aufbau eines positiven und aktiven Gefühls sowie die Entwicklung von "Fähigkeiten, Strategien und Ressourcen (...), die darauf zielen, individuelle und gemeinschaftliche Ziele zu erreichen" (Schönbach 1995: 14). Darüber hinaus versucht 'Empowerment', die Personen der Zielgruppe zu befähigen, die eigene soziale Lage und ihre gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge kritisch zu reflektieren.
'Empowerment' soll den Obdachlosen Mut zu machen, aktiv zu werden, sich auf eigene Fähigkeiten und Stärken zu besinnen und das Leben wieder in die Hand zu nehmen.
'Hilfe zur Selbsthilfe' statt dauerhafter Alimentation
Selbsthilfe ist ein wichtiger Ansatz in der Sozialpolitik. 'Hilfe zur Selbsthilfe' oder englisch der 'enabling approach' zielen darauf ab, die Menschen einer Zielgruppe zu befähigen bzw. sie in die Lage zu versetzen, ihr Leben autonom zu führen und zu gestalten. In der Agenda 21 heißt es dazu: "Das langfristig angestrebte Ziel (ist), alle Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Existenz nachhaltig zu sichern" (BMU o.J.: 18; Agenda 21, Kap.3.4). Damit hat der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe zum Ziel, sich selbst überflüssig zu machen. Problematisch ist an diesem Ansatz, daß ein elementares Paradoxon unterschlagen wird: Auch wenn es erklärtermaßen Ziel einer Institution ist, sich überflüssig zu machen, bedeutete dies doch in der Praxis, daß sich die in ihr Beschäftigten arbeitslos machten. Institutionen, die Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, machen sich selten selbst überflüssig. Und auch die Hilfe zur Selbsthilfe beruht auf Abhängigkeitsstrukturen (Spehr 1996: 213).
Auf eine andere Kritik - aktueller denn je - weist ASAM (1985) hin: "Die Aufmerksamkeit, deren sich die Themen Subsidiarität und Selbsthilfe gegenwärtig erfreuen können, rührt von der Hoffnung her, sie würden dazu beitragen, die 'Krise des Sozialstaates' zu meistern. Die strukturelle Hoffnung besteht darin, daß der Bürger nicht weiterhin den Sozialstaat überlastet, sondern vielmehr ihn grundsätzlich entlastet, indem der Bürger 'seine' sozialen (!) Probleme selber löst" (Asam 1985: 31; Hervorhebung im Original). Dieses Argument enthält die Gefahr, daß Hilfe zur Selbsthilfe zu einem 'Sich-selbst-überlassen' der Problemgruppen führen kann. Um dieser Gefahr zu begegnen, müssen die staatliche Beistandspflicht, aber auch die Beistandsgrenzen exakt definiert werden.
Trotz der in vielerlei Hinsicht berechtigten Kritik birgt der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe jedoch Chancen, Wohnungs- und Obdachlose langfristig aus ihrer prekären Situation herauszuführen. Daher wird die Hilfe zur Selbsthilfe als ein Merkmal für eine sozial nachhaltige Obdachlosenpolitik in Kommunen dem Kriterienkatalog hinzugefügt.
Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen
Dieses Kriterium, das auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag, beinhaltet eine Reihe normativer Implikationen, die je nach politischer Überzeugung äußerst umstritten sein können.
Gerade die Frage, wie weit die Integration benachteiligter Gruppen (z.B. die von Menschen ohne deutschen Paß) gehen soll und vor allem wie massiv sich der Staat dieser Integration annehmen soll, wird heftig diskutiert.
Bei allen Bekenntnissen zur intergenerationalen Solidarität darf die Frage der intragenerationalen Solidarität und Gerechtigkeit nicht vernachlässigt werden. Alle Menschen, gleich welche Merkmale sie tragen oder ihnen zugeschrieben werden, haben ein Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art.2 Abs.1 GG) und damit auf die Verwirklichung ihrer Lebensziele. Dabei sind bestehende Ungleichheiten der Lebenschancen und gesellschaftliche Barrieren, die deren Verwirklichung im Wege stehen, abzubauen. "Ein wesentlicher Faktor für die wirksame Umsetzung der Ziele, Maßnahmen und Mechanismen, die von den Regierungen in allen Programmbereichen der Agenda 21 gemeinsam beschlossen worden sind, ist das Engagement und die echte Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen" (BMU o.J.: 217; Agenda 21, Kap.23.1). Dementsprechend sind sozial benachteiligte Gruppen so in die Gesellschaft zu integrieren, daß sie am kulturellen und sozialen gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Diese Forderungen sind sinngemäß in der Agenda 21 festgeschrieben und deren Beachtung sowie deren Umsetzung stellen ein zentrales Kriterium zur Bewertung von Maßnahmen im Bereich 'Soziales' einer lokalen Agenda 21 dar.
Insbesondere die Gruppe der Wohnungs- und Obdachlosen ist starken Diskriminierungen ausgesetzt. Ein Abbau der Diskriminierungen und Benachteiligungen dieser Menschen und deren Integration in die Gesellschaft ist eine fundamentale Aufgabe und Ziel sozial nachhaltiger kommunaler Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten
Bereits in Kapitel 1.3.3.3 wurde auf die Bedeutung von gesellschaftlich anerkanntem Arbeiten und Tätigsein für das Individuum hingewiesen. Gleiches gilt in vermutlich noch stärkerem Maße für Wohnungs- und Obdachlose, die sich oftmals dem Vorwurf des 'Schmarotzens' und 'Faulseins' ausgesetzt sehen.
Zentraler Gedanke dieses Kriteriums ist, Personen Gelegenheit zu geben, sich nützlich machen zu können und selbst das Gefühl zu haben, zu etwas nütze zu sein. Durch die Schaffung oder Vermittlung von Arbeitsplätzen und Tätigkeiten wird Wohnungs- und Obdachlosen die Möglichkeit gegeben nach z.T. jahrelangem Leben auf der Straße verloren gegangene Fähigkeiten wieder zu erlernen und neue Qualifikationen zu erwerben. Da viele wohnungs- und obdachlose Menschen Suchterkrankungen, psychische und auch physische Folgeerscheinungen des Lebens in unzumutbaren Wohnverhältnissen, in Übergangswohnunterkünften und Asylen oder auf der Straße aufweisen, sollte gewährleistet sein, daß sich die in entsprechende Projekte und Maßnahmen eingebundenen Personen nach den eigenen (Leistungs-)Fähigkeiten und Potentialen betätigen und einbringen können.
Aufgrund der oben genannten Kriterien der Partizipation und Kooperation verbietet sich eine Verpflichtung und damit ein Zwang zur Arbeit von selbst, da dies im Widerspruch zu einem partizipativen, kooperativen, gleichberechtigten Umgang mit der betroffenen Zielgruppe steht.
Im Rahmen einer sozial nachhaltigen Obdachlosenpolitik in Kommunen steuert das Kriterium der Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen und der Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten auf das Ziel hin, den Betroffenen so weit und so gut wie möglich Perspektiven für ein Leben außerhalb der Obdachlosigkeit zu vermitteln.
Kommunale Sozialpolitik
In diesem Kapitel wird nun in einem kurzen Überblick auf die kommunale Sozialpolitik eingegangen, um den in Kapitel 2.2 entwickelten Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit an den herrschenden Gegebenheiten in den Kommunen messen zu können und um Strukturen, Handlungsspielräume und -zwänge der Kommunen aufzeigen zu können.
Dazu soll eine kurze Definition kommunaler Sozialpolitik vorab ein erstes Bild des Gegenstandsbereichs dieses Kapitels vermitteln: "Sozialpolitik ist auf kommunaler Ebene ein politischer Aushandlungsprozeß über Mengen- und Qualitätsstandards der sozialen Versorgung durch Dienste und Einrichtungen sowie über die Gestaltung des lokalen sozialen Versorgungssystems" (Backhaus-Maul 1994: 527).
Positionierung der kommunalen Sozialpolitik im Geflecht übergeordneter Politikbereiche und ihre verfassungsrechtliche Verankerung
Die Stellung kommunaler Sozialpolitik zur Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung des Bundes und der Länder
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art.20 Abs.1 GG). In diesem Absatz des Grundgesetzes bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland zum Sozialstaat, indem mit diesem Artikel das sog. Sozialstaatspostulat verankert wird. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich wird somit zu einem leitenden Prinzip staatlichen Handelns (Hesselberger 1988: 163). Für den Staat ergeben sich aus dem Sozialstaatspostulat eine Reihe von Pflichten gegenüber seinen BürgerInnen:
Der "Fürsorgeanspruch", den einzelne BürgerInnen gegenüber dem Staat geltend machen können, wenn sie in eine Notlage geraten sind und der Staat für ein Existenzminimum sorgen muß (vgl. hierzu auch Kapitel 1.3.2.3).
Die staatliche Verpflichtung, Leistungen der "Daseinsvorsorge" zu erbringen. Hierunter fällt z.B. die Bereitstellung von Infrastruktur zur Befriedigung der Grunddaseinsfunktionen (leben, wohnen, sich erholen, sich bilden, sich fortbewegen), die durch das Grundgesetz abgesichert ist und vom Bund, den Ländern und den Kommunen erbracht wird.
Das Gebot einer sozialen Steuerpolitik (Hesselberger 1988: 163).
Das Subsidiaritätsprinzip und das Recht auf Kommunale Selbstverwaltung sind die grundlegenden Konzeptionen und Theorien, die die Stellung der Kommunen im System staatlicher Institutionen definieren:
Das Subsidiaritätsprinzip besagt, daß Entscheidungen und die Durchführung von Maßnahmen primär auf der untersten geeigneten Einheit angesiedelt werden und die höhere politische oder administrative Ebene nur dann interveniert, wenn die niedrigere Ebene nicht in der Lage ist, eine Maßnahme optimal zu realisieren (Maier/Tödtling 1996: 211). Übertragen auf das Leitbild "lokaler Nachhaltigkeit bedeutet das Subsidiaritätsprinzip, daß die Verantwortung für die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien jeweils der kleinsten geeigneten Einheit zur Stärkung der Selbstverantwortung übertragen wird" (Kopatz 1998: 73). Somit generiert das Subsidiaritätsprinzip kommunales Selbstbewußtsein und kommunale Handlungskompetenz, die sich juristisch im Recht auf kommunale Selbstverwaltung manifestieren.
Dieses Recht auf kommunale Selbstverwaltung ist in Art.28 GG festgeschrieben. Während in Art.28 Abs.1 GG das Sozialstaatspostulat auf die Verfassungen der Länder übertragen wird, garantiert Abs.2 des Art.28 GG den Städten und Gemeinden das Recht auf kommunale Selbstverwaltung: "Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln" (Art.28 Abs.2 Satz1 GG). Dieses kommunale Selbstverwaltungsrecht geht historisch betrachtet auf die Städteordnung des Freiherrn vom Stein von 1808 zurück (Wehling 1994: 5). Das kommunale Selbstverwaltungsrecht umfaßt neben der Personal-, der Rechtsetzungs-, der Organisations- und der Planungs- auch die Finanzhoheit und somit das Recht, eigene Steuern zu erheben (Wehling 1994: 11).
Die Bedingungen, unter denen die Kommunen Politik im allgemeinen und Sozialpolitik im besonderen gestalten können, sind ihnen zum Großteil exogen vorgegeben. Der Bund und die Länder setzen die juristischen und weitgehend auch die finanziellen Rahmenbedingungen, unter denen die Städte und Gemeinden ihre örtlichen Angelegenheiten und Belange regeln. Die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf der einen und den Kommunen auf der anderen Seite sind somit ungleich verteilt: Während Bund und Länder Gesetze und Regelungen vorgeben, ist die kommunale Ebene häufig für die Umsetzung und die konkrete Anwendung und in einigen Bereichen auch für die Finanzierung der Gesetze und Verordnungen zuständig. "Im Gegensatz zur rechtlichen Programmierung ist die Finanzierung der Sozialhilfe jedoch ganz überwiegend eine kommunale Aufgabe" (Leibfried 1984: 949). Die Entwicklung dieser ungleichen Kompetenzverteilung hat sich in den letzten Jahren tendenziell noch verschärft, da es einerseits zu einer weiteren "Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen" kam, der andererseits eine "Erhöhung der dezentral zu erbringenden Aufgaben" entgegensteht (Backhaus-Maul 1994: 529). Diese Entwicklung trifft auch für den Bereich der Sozialpolitik zu, in dem mit einer stetigen Zunahme sozialer Aufgaben und einem parallel gestiegenen Bedarf an sozialen Leistungen sich die Kommunen steigenden Anforderungen ausgesetzt sehen.
Die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips ist gerade in der Sozialpolitik elementar. Und wie bereits dargelegt, kommt den Kommunen und ihren sozialpolitischen Einrichtungen eine große Bedeutung zu, da sie für die konkrete Realisierung der Vorgaben von Bund und Ländern sowie der Maßnahmen verantwortlich sind. Auf kommunaler Ebene ist zum einen aufgrund der Kenntnis der spezifischen örtlichen Problemlagen eine effiziente und bedarfsorientierte Verwendung der Mittel wahrscheinlicher als auf Bundesebene und zum anderen wird das Sozialstaatsprinzip erst auf lokaler Ebene für die Bürgerinnen und Bürger konkret erfahrbar (Schuster/Dill 1992: 39).
Kommunale Sozialpolitik als Teilbereich der Kommunalpolitik insgesamt
Nachdem im vorigen Kapitel die kommunale Sozialpolitik in den Rahmen der Gesetzgebung des Bundes gesetzt wurde, wird nun auf die Stellung der kommunalen Sozialpolitik und Sozialplanung in der Struktur der Kommunalpolitik und damit auf ihr Verhältnis zu anderen kommunalpolitischen Politikbereichen eingegangen.
Die These, die in diesem Abschnitt dargelegt werden soll, lautet, daß die kommunale Sozialpolitik dreifach marginalisiert ist.
Aus den Ausführungen im vorausgegangen Kapitel läßt sich für die Stellung der kommunalen Sozialpolitik gegenüber anderen - auch kommunalen - Politikbereichen bereits eine erste Tendenz zur Marginalisierung ableiten:
Kommunalpolitik darf zwar selbstverwaltet im "Rahmen der Gesetze", die vom Bund oder den Ländern erlassen wurden, betrieben werden. Die Kommunen haben jedoch relativ wenig Einfluß auf die staatlichen Gesetzgebungsverfahren - auch wenn sie wie z.B. im Falle vieler Finanzierungsregelungen direkt von den Auswirkungen der Gesetze und Regelungen betroffen sind -, so daß sich aufgrund der Struktur der Gesetzgebung Bund und Länder tendenziell zu Lasten der Kommunen einigen.
Die zweite Benachteiligung ergibt sich aus der politischen Praxis und dem 'main-stream' der Argumente in der politischen Auseinandersetzung:
Sozialpolitik hat ganz allgemein gegenüber anderen Politiken, insbesondere gegenüber der Wirtschafts- und Finanzpolitik, eine benachteiligte Stellung. Sozialpolitik und Sozialleistungen werden vorrangig als Kostenfaktor betrachtet und nicht als eine Investition in soziale Sicherheit oder soziale Integration und damit in soziale Stabilität. Der Abbau von Sozialleistungen im Zuge der Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit des (Wirtschafts-) "Standortes Deutschland" und die Globalisierung der Wirtschaft können hier als Beispiele herangezogen werden.
In diesem Abschnitt wird nun auf eine dritte Ebene der Benachteiligung und Marginalisierung der kommunalen Sozialpolitik eingegangen:
Sozialpolitik ist auch in den Kommunen gegenüber anderen kommunalen Politikfeldern wie z.B. der Wirtschaftsförderung oder wirtschaftsorientierter, kommunaler Infrastrukturpolitik benachteiligt.
Dies resultiert aus der Summe verschiedener Faktoren: Zunächst wird Sozialpolitik (auch) in den Kommunen als konsumptiver Ausgabenbereich begriffen, in den Gelder fließen, ohne einen quantifizierbaren und monetarisierbaren Nutzen resp. eine Rendite abzuwerfen. Im Finanzhaushalt einer Gemeinde veranschlagte Gelder für den Bereich Soziales werden als 'abgeschrieben' betrachtet. Sie sind aus haushaltswirtschaftlicher Perspektive 'verloren'.
Des weiteren ist die Klientel der Sozialpolitik(erInnen) im Gegensatz zum Lobbyismus der Verbände kaum konflikt- und durchsetzungsfähig. Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, Kinder und Jugendliche oder auch RentnerInnen haben wenig Druck- und Machtmittel, die sie in politischen Verteilungskämpfen für eine Stärkung ihrer Position und der Umsetzung sozialer Politik einsetzen können. Aufgrund ihrer heterogenen sozial-ökonomischen, lebensweltlichen und alterspezifischen Zusammensetzung sind die Adressaten der Sozialpolitik nur schwer zu einer durchsetzungsfähigen Partei zu organisieren.
Ein weiterer Faktor für die Benachteiligung der kommunalen Sozialpolitik ist ihr geringbewertetes Image, das sie unter KommunalpolitikerInnen inne hat (Wollmann 1991: 233). Weder im Sozialamt, dem 'Arme-Leute-Amt' der Verwaltung, noch in den Sozialausschüssen der Stadt- und Gemeinderäte läßt sich entsprechend anderer politischer Aufgabenbereiche 'Karriere machen'. Sozialpolitik ist für aufstiegsorientierte PolitikerInnen schlicht unattraktiv. Dies führt dazu, daß die einflußreichen, durchsetzungsfähigen Spitzen der Kommunalpolitik selten im Sozialausschuß, dafür aber um so häufiger im Wirtschafts- und Finanzausschuß einer Kommune sitzen (Wollmann 1991: 233).
Schließlich befindet sich die kommunale Sozialplanung als administrative Ebene der kommunalen Sozialpolitik verglichen mit anderen Planungen und Planungsinstrumenten sowohl rechtlich als auch organisatorisch und personell in einer defizitären Situation (Nickles 1986: 214). NICKLES ordnet der kommunalen Sozialplanung drei institutionalisierte Bereiche zu: 1. "Sozialplanung als integrierter Bestandteil gemeindlicher Entwicklungsplanung" (die Einbeziehung sozialplanerischer Aspekte in die Flächennutzungsplanung), 2. "Sozialplanung als Element und Bestandteil der städtebaulichen Planung" (z.B. bei städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen) und 3. "Sozialplanung als selbständige Fachplanung" (Nickles 1986: 212f). Dabei konkurriert gerade in den ersten beiden Punkten die Sozialplanung mit anderen Interessen und Planungen, in denen sich die oben angesprochene "defizitäre Situation" der Sozialplanung besonders bemerkbar macht. Der dritte Bereich hingegen gilt als originärer Bereich der Sozialplanung und -politik. Hierunter fallen insbesondere die Jugendarbeit und die Sozialhilfe, die beiden Hauptaufgabenfelder kommunaler Sozialpolitik. Im Zusammenhang der beiden Hauptaufgabenfelder spricht WOLLMANN jedoch von einer "'Randständigkeit' (...), in der sich die Sozial- und Jugendhilfe als kommunale Aufgaben im Gesamtfeld kommunaler Handlungsinteressen befindet" (Wollmann 1991: 234).
Kommunale Sozialpolitik ist demnach in vielerlei Hinsicht gegenüber anderen kommunalen Politikbereichen benachteiligt.
Aufgabenbereiche kommunaler Sozialpolitik
Eine konzise inhaltliche Bestimmung der Aufgabenbereiche der (kommunalen) Sozialpolitik läßt sich relativ prägnant an den im Sozialgesetzbuch (SGB) festgehaltenen Rechtsgebieten umreißen. Dazu zählen: Ausbildungs- und Arbeitsförderung, Schwerbehindertenrecht, Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, Altershilfe für Landwirte, Versorgungsleistungen bei Gesundheitsschäden, Kinder- und Wohngeld, Leistungen der Jugendhilfe, Sozialhilfe sowie Leistungen zur Eingliederung Behinderter (Tennstedt 1984: 1068).
Neben den Inhalten skizziert das SGB auch die Ziele sozialstaatlichen Handelns. In §1 Abs.1 SGB sind die zentralen Ziele von Sozialpolitik festgehalten: "Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Leben zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden und auszugleichen" (§1 Abs.1 SGB). Das SGB mit seinen Gesetzen bildet die Grundlage sozialstaatlichen Handelns auf allen institutionellen Ebenen der BRD.
Die zuvor genannten Aufgabenbereiche der (kommunalen) Sozialpolitik lassen sich nach inhaltlichen und formal-juristischen Kriterien sowie nach ihren Zielgruppen differenzieren.
In einer Untergliederung des umfangreichen Aufgabenbereiches der Sozialpolitik nach inhaltlichen Merkmalen überlagert diese sich ganz oder teilweise mit anderen Politikfeldern. "Als Hauptaufgabenbereiche der kommunalen Sozialpolitik sind die Sozial- und die Jugendhilfe hervorzuheben" (Backhaus-Maul 1994: 527). Bei der Sozialhilfe wird unterschieden nach "Hilfe zum Lebensunterhalt" (HLU) und einer "Hilfe in besonderen Lebenslagen" (HBL). Zu diesen Kernbereichen der kommunalen Sozialpolitik kommen Aufgaben in den Bereichen der Gesundheits-, der Wohnungspolitik, der Schul- und Kindergartenplanung oder auch der örtlichen Beschäftigungs- und Integrationspolitik (Backhaus-Maul 1994: 527).
Für den Kontext dieser Arbeit ist wichtig festzuhalten, daß im Rahmen der kommunalen Sozialhilfe auch die Sorge um Wohnungs- und Obdachlose einen Aufgabenbereich darstellt.
Zu den Zielgruppen der kommunalen Sozialpolitik zählen SozialhilfeempfängerInnen, Kinder und Jugendliche, alte Menschen, AsylbewerberInnen, Obdachlose, Alleinerziehende, und Behinderte (Backhaus-Maul 1994: 527).
Die dritte Differenzierung der kommunalen sozialpolitischen Aufgaben kann anhand formal-juristischer Kriterien entlang des Merkmals "kommunale Gestaltungsspielräume" nachvollzogen werden (Backhaus-Maul 1994: 531). Aufbereitet an diesem Kriterium läßt sich zunächst eine Unterscheidung in Selbstverwaltungs- und Auftragsangelegenheiten treffen.
Auftragsangelegenheiten sind Aufgaben, die die Kommune im Auftrag des Bundes oder des jeweiligen Landes erfüllt. In diesem Bereich ist die kommunale Selbstverwaltung eingeschränkt, da in diesem Fall kein kommunaler Gestaltungsspielraum vorhanden ist. Die Kommunen sind hier lediglich ausführendes Organ der bis ins Detail von Bund und Ländern geregelten und übertragenen Aufgaben. Als Paradebeispiel kann hier die kommunale Gesundheitspolitik dienen, in der die Kommune eindeutig definierte Versorgungsgrade bereitzustellen und zu gewährleisten hat (Backhaus-Maul 1994: 532).
Die Selbstverwaltungsangelegenheiten als zweite Form der Unterscheidung lassen sich in pflichtige und freiwillige Selbstverwaltungsangelegenheiten unterteilen. Zu den pflichtigen Angelegenheiten zählen die im BSHG und im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) formulierten Pflichtleistungen (Backhaus-Maul 1994: 531). Diese sind ebenso wie die Auftragsangelegenheiten von der Kommune unbedingt zu erbringen. Allerdings ist im Falle der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben die Art und Weise der bereitzustellenden Leistung nicht en détail vorgeschrieben. Den Städten und Gemeinden bleibt hier also im Gegensatz zu den Auftragsangelegenheiten ein größerer Gestaltungsspielraum.
Die zweite Unterform der Selbstverwaltungsangelegenheiten sind die freiwilligen Aufgaben. Diese Aufgaben unterliegen keinen übergeordneten Vorschriften und werden je nach sozialpolitischer Dringlichkeit vor Ort von den Kommunen "freiwillig" erbracht (Backhaus-Maul 1994: 532). Unter diese Gruppe fällt der Großteil der Leistungen, die flexibel auf die örtlichen Problemlagen einzugehen versuchen und in denen neue Konzepte der Sozialpolitik und Sozialarbeit getestet werden. Beispielsweise zählen Maßnahmen zu einer verbesserten Verknüpfung und Abstimmung sozialer Institutionen, die finanzielle Unterstützung von Selbsthilfegruppen auf Stadtteilebene oder auch Projekte der Obdachlosenpolitik, die über eine karitative Primärversorgung wohnungs- und obdachloser Personen in akuten Notsituationen hinausgehen, zu dieser Kategorie der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben. Aufgrund der in vielen Kommunen angespannten Haushaltslage werden, der rechtlichen Verbindlichkeit entsprechend, zuallererst bei diesen freiwilligen Leistungen ohne Rechtsanspruch Einsparpotentiale zur Haushaltskonsolidierung ausgemacht. "Drastische Einsparungen bei den freiwilligen Aufgaben, die in der Schließung von Kultur- und Sport-, aber auch von Sozialeinrichtungen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben, sind die Folge" (Portz/Lübking 1995: 11) der steigenden Aufwendungen für die von Bund und Ländern übertragenen pflichtigen sozialen Aufgaben der Kommunen.
Diese Einsparungen treffen dabei zumeist die Projekte, die - wie in Kapitel 5 noch dargelegt wird - dem vorgeschlagenen Entwurf eines Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit tendenziell am weitesten gerecht werden.
Organisationsstruktur kommunaler Sozialpolitik
Formaler Aufbau der Organisationsstruktur kommunaler Sozialpolitik
Kommunale Sozialpolitik hat, wie die anderen Politikfelder in einer Kommune auch, neben einer politischen Ebene im Stadtrat auch eine administrative Ebene. Das Sozialamt bzw. -dezernat einer Stadt oder eines Landkreises ist die der kommunalen Sozialpolitik zugeordnete Verwaltungsabteilung. Es ist für die Sozialplanung und die Umsetzung der sozialpolitischen Beschlüsse des Rates zuständig und in Sozialamt und Jugendhilfeamt mit ihren jeweiligen Unterausschüssen (z.B. Jugendhilfeausschuß), in denen weitere Akteure kommunaler Sozialpolitik sitzen, untergliedert.
Die Sozialverwaltung als Gewährleistungsträger gibt dabei einen Großteil seiner Aufgabe an Dritte ab. Die wichtigsten Akteure kommunaler Sozialpolitik sind neben der Sozialverwaltung als Leitungs- und Koordinationsstelle freie, verbandliche Träger der Wohlfahrtspflege bzw. kirchliche Wohlfahrtsverbände. Daneben existieren weitere Akteure wie (Selbsthilfe-)Gruppen, Vereine und engagierte BürgerInnen, die jedoch nur einen geringen Teil der sozialen Einrichtungen und Maßnahmen tragen.
Innere Organisationsstruktur und qualitative Ausformung des Aufbaus kommunaler Sozialpolitik
Die innere Organisationsstruktur der praktischen kommunalen Sozialpolitik und deren Verwaltung ist sicherlich nicht in allen deutschen Kommunen identisch und so kann hier nur versucht werden, pauschalisierend grobe Umrisse der Organisationsstrukturen zu zeichnen.
Das Sozialamt ist zumeist klassischerweise als hierarchische Organisation aufgebaut (Leibfried 1984: 948f). Die Verwaltung reagiert auf Anträge zur Erbringung bestimmter Versorgungsleistungen. Diese werden dann innerhalb der Verwaltung nach Vorschriften und Gesetzesregelungen "entindividualisiert behandelt" und entschieden (Leibfried 1984: 949). Dabei befinden sich die Angestellten der Sozialämter häufig im Widerspruch zwischen helfender und kontrollierender Tätigkeit. Einerseits sollen sie, wie im SGB festgeschrieben, Hilfe zur Selbsthilfe zu gesellschaftlicher Teilhabe leisten, andererseits sind sie aufgrund mangelnder finanzieller, organisatorischer und personeller Ausstattung oftmals lediglich zu 'sozialen Befriedungsaktionen' in der Lage (Wollmann 1991: 237). Der hierarchische Aufbau der Sozialverwaltungen schließt die bereits von Max Weber beschriebenen Vor- und Nachteile einer bürokratischen Verwaltung ein und entspricht der Weber´schen Kategorie legaler Herrschaft (Leibfried 1984: 948).
LEIBFRIED unterscheidet dabei zwischen einer manifesten und einer latenten Funktion (Leibfried 1984: 953). Während die manifeste Funktion durch die im BSHG festgelegten Aufgaben definiert ist, erschließt sich die latente erst über den Umweg der Differenz der Anspruchsberechtigten zu den tatsächlich Sozialhilfe erhaltenden Menschen. Hier kommt nach LEIBFRIED als Erklärung "eine >Filterung< von Ansprüchen der Armutsbevölkerung in Betracht" (Leibfried 1984: 953; Hervorhebung im Original). Neben psychologischen, individuellen Hemmnissen wird die oben angesprochene Kluft mit direkt im Sozialamt angelegten strukturellen und administrativen Schwellen erklärt. Hierzu zählt die passive Haltung des Sozialamtes, die auch als "Kommstruktur" (BBR 1998: 128) des Amtes bezeichnet wird. Die Sozialverwaltung wird nicht von sich aus aktiv und geht auf die von Armut betroffenen Haushalte oder Personen zu, sondern wartet darauf, "daß sich ihr das >gesellschaftliche Problem aufdrängt<, die Bedürftigen sich melden und ihre Ansprüche geltend machen" (Leibfried 1984: 954; Hervorhebung im Original).
Die administrativen Schwellen liegen im Verfahrensablauf der Bearbeitung von Sachverhalten und Vorgängen, in der Erreichbarkeit, der Architektur, der Öffnungszeiten, der Art der Bedienung der KlientInnen, dem Antragsverfahren u.ä.m. (Leibfried 1984: 955).
Einerseits wird soziale Absicherung durch das Sozialamt monopolisiert und andererseits werden o.g. Barrieren aufgebaut, um möglicherweise "das ständige steuerstaatliche Dilemma durch fiskalische Entlastungsstrategien zu neutralisieren" (Leibfried 1984: 955).
Ausgabenstruktur und Finanzen der kommunalen Sozialpolitik
Während sich die Finanzlage der Kommunen bis in die Mitte der neunziger Jahre dramatisch verschlechterte (Portz/Lübking 1995: 9), scheint sich dieser Trend allmählich zu wenden. Nach einem Finanzierungsdefizit von 14 Mrd. DM im Jahr 1995 errechnete sich für das Jahr 1996 lediglich ein Defizit von 6,6 Mrd. DM (Statistisches Bundesamt, Mitteilung für die Presse 18.September 1998: http://www.statistik-bund.de).
Die im folgenden aufgeführten Zahlen zur Sozialhilfe sind insofern von besonderer Relevanz für die kommunale Sozialpolitik, da die Kommunen "Hauptträger der Soziallasten" (Portz/Lübking 1995: 10) sind und, wie bereits in Kapitel 3.1.1 festgehalten, die Finanzierung der Sozialhilfe ganz überwiegend Aufgabe der Kommunen ist.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben die kommunalen Haushalte einen enormen Anstieg der Sozialhilfekosten erfahren. Durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende starke Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit, ist infolgedessen auch die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen in den Kommunen extrem angestiegen, so daß verglichen mit 1980 für Westdeutschland ein Anstieg der Zahl der SozialhilfeempfängerInnen um 174% zu verzeichnen ist (Süddeutsche Zeitung, 20.08.1998: 1).
1996 betrugen die Ausgaben für die Sozialhilfe in Deutschland 49,8 Mrd. DM. Am Jahresende erhielten 2,7 Mill. Menschen laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen (Statistisches Bundesamt, Mitteilung für die Presse 18.September 1998: http://www.statistik-bund.de). Von den 49,8 Mrd. DM Sozialhilfeausgaben von 1996 entfielen 19,4 Mrd. DM (brutto) auf die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), was 39% der gesamten Sozialhilfeausgaben entspricht (DST 1998: 533). Trotz dieser hohen Ausgaben im Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt gingen die sozialen Ausgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände (ohne die Stadtstaaten) 1996 aufgrund der Neuregelung des Kindergelds und der Entlastungswirkungen der Pflegeversicherung insgesamt jedoch um 4,4% auf 56,4 Mrd. DM zurück (Statistisches Bundesamt, Mitteilung für die Presse 18.September 1998: http://www.statistik-bund.de).
1997 nahm die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen gegenüber 1996 noch einmal zu. 1997 erhielten mit 2,92 Mio. EmpfängerInnen 7,1% mehr Personen Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) als 1996 (Süddeutsche Zeitung, 20.08.1998: 1). Trotz dieser Zunahme der LeistungsempfängerInnen, gingen die Ausgaben insgesamt zurück und betrugen für die Sozialhilfe 1997 in Deutschland 44,5 Mrd. DM (Statistisches Bundesamt, Link "Soziale Sicherung" 30.03.1999: http://www.statistik-bund.de). Somit gaben die Städte und Gemeinden 1997 in Deutschland 17,6 Milliarden DM für die Sozialhilfe aus (Süddeutsche Zeitung, 07.01.1999: 21).
Festzuhalten bleibt, daß die hohe Zahl der SozialhilfeempfängerInnen die Sozialämter der Kommunen zunehmend sowohl personell als auch administrativ und finanziell (über-)fordert (Wollmann 1991: 238). Sozialhilfe, die ursprünglich als "Hilfe in besonderen Lebenslagen" und als vorübergehende "Hilfe zum Lebensunterhalt" konzipiert worden war, fungiert heute für Millionen Menschen als Dauer-Ersatzeinkommen.
Fazit und Ausblick
Ein zentrales Problem und zugleich eine der größten Herausforderungen für die Kommunen sind die beschriebenen finanziellen Rahmenbedingungen. Von den beschränkten finanziellen Spielräumen in den Kommunen ist insbesondere auch die kommunale Sozialpolitik betroffen. Entsprechend werden in diesem Zusammenhang Überlegungen angestellt, ob kurzfristig nicht eine Beteiligung des Bundes an den Sozialhilfelasten geboten scheint (Portz/Lübking 1995: 124f), wenn nicht das System sozialer Sicherung insgesamt mittel- oder langfristig einem weitreichenden Umbau (keinem Abbau) unterzogen wird. Eine Neuorientierung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme auf Bundesebene scheint notwendig, um die Handlungsfähigkeit der Kommunen zu erhalten (Schuster/Dill 1992: 31).
Neben finanziellen Problemen stellt auch ein zu beobachtender sozial-demographischer Wandel der Bevölkerung eine Herausforderung an die kommunale Sozialpolitik dar. Mit dem sozial-demographischen Wandel, der sich u.a. in Form einer Überalterung der Bevölkerung, einer Verkleinerung der Lebensformen z.B. in Single-Haushalte ausdrückt, steigt zugleich der Bedarf an sozialen Leistungen und Hilfen (Backhaus-Maul 1994: 536). Ausgehend von diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sollten auch organisatorische Innovationen und eine Ausweitung der herkömmlichen Instrumente sozialpolitischen Handelns bedacht werden. In diesem Zusammenhang läßt sich an einen Ausbau der "Instrumente der sozialen Aktion" (Selbstversorgung, Selbsthilfe, Selbstorganisation) zu einer gleichberechtigten Stütze neben Geld- und Sachleistungen an Anspruchsberechtigte und professionalisierten Diensten denken (Tennstedt 1984: 1072).
BACKHAUS-MAUL schlägt folgende strategische Optionen als Reaktionsmöglichkeiten der Kommunen auf die momentanen Problemstellungen und veränderten Rahmenbedingungen vor: 1. Einsparung von Personal- und Sachmitteln sowie Umschichtung der Mittel auf politisch präferierte Handlungsfelder, 2. Beschränkung öffentlicher Sozialverwaltungen auf die Funktion des Gewährleistungsträgers im sozialen Versorgungssystem und 3. stärkere Koordination sozialer Infrastruktur (Backhaus-Maul 1994: 536).
Als vierte Handlungsoption soll hier noch eine stärkere Orientierung der kommunalen Sozialpolitik auf vorsorgeorientierte Maßnahmen angefügt werden. Eine kommunale Sozialpolitik, die an langfristigen Zielen orientiert präventiv einschreitet, dürfte sich letzten Endes auch als ökonomisch effizienter erweisen als ein nachträgliches Kurieren an den Symptomen sozialer Ungleichheit. Da dies nicht von der kommunalen Sozialpolitik allein geleistet werden kann, scheint ein Paradigmenwechsel in der Kommunalpolitik "von einer kommunalen Sozialpolitik zur sozialen Kommunalpolitik" (Schmid-Urban 1997: 233) oder besser zu einer im umfassenden Sinne nachhaltigen Kommunalpolitik geboten, die z.B. in ihren Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsentscheidungen soziale, ökologische, ökonomische und globale Folgen stärker berücksichtigt.
Als kritisch zu bewerten sind in der kommunalen Sozialpolitik gerade im Zusammenhang mit nachhaltigen Strukturen die Inflexibilität und Distanz der Sozialverwaltung zu den anderen sozialpolitischen Akteuren, insbesondere aber zu den Zielgruppen und den Adressaten ihrer Arbeit, die durch den hierarchischen Verwaltungsaufbau begünstigt werden. Hier könnten möglicherweise die Bestrebungen zur Verwaltungsreform und eine stärkere Ausrichtung der Verwaltung als Dienstleisterin für die BürgerInnen positive Impulse und Verbesserungen erbringen.
Kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Ebenso wie die in Kapitel 3 skizzierte kommunale Sozialpolitik ist die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Kommune zu Kommune verschieden und durch ortsspezifische Eigenheiten geprägt. Neben allen rechtlich fixierten und geregelten Hilfen und Maßnahmen im Bereich der Auftragsangelegenheiten und der pflichtigen Selbstverwaltungsangelegenheiten bleibt entsprechend des Rechts auf kommunale Selbstverwaltung insbesondere in den freiwilligen Selbstverwaltungsangelegenheiten stets ein von den einzelnen Kommunen oder den einzelnen Verantwortlichen in Politik und Verwaltung individuell auszugestaltender Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Die je spezifische Ausgestaltung dieser Spielräume kann hier nicht im Detail aufgeschlüsselt werden, und somit bezieht sich die Deskription des Umgangs der Kommunen mit Obdachlosigkeit auf die Hilfen und Maßnahmen im Bereich der Auftragsangelegenheiten und der pflichtigen Selbstverwaltungsangelegenheiten.
Exkurs: Historischer Hintergrund des Umgangs mit Armut und Obdachlosigkeit
Gesellschaftliche Wertsysteme und Einstellungen spiegeln sich im Umgang und im Verhalten staatlicher Institutionen und der Öffentlichkeit gegenüber Wohnungs- und Obdachlosen wider.
"Im christlich geprägten Mittelalter ist der Arme noch integrierter Teil der Gesellschaft" (Specht u.a. 1988: 21). Damals wurden Arme nicht im heutigen Maße diskriminiert. Einige Mönchsorden lebten gar in freiwilliger, als gottgefällig angesehener Armut. Auch waren die Armen ortsgebunden und aufgrund der Überschaubarkeit damaliger Siedlungen ortsbekannt (Specht u.a. 1988: 21). U.a. durch das Aufkommen der protestantischen Ethik und des Calvinismus wandelten sich die Einstellungen zur Armut und den Betroffenen. Armut wurde seit dem 16. Jahrhundert zunehmend als individuelles Versagen und als Strafe Gottes interpretiert. Damit wandelte sich auch der öffentliche Umgang mit Armut bzw. Armen. "Mit der einsetzenden Bettelplage begannen bereits Verfolgungen und Abschiebungen, indem die sogenannten Vagabunden, aber auch psychisch Auffällige, in ein 'Narrenschiff' gesetzt und den Fluß hinunter geschickt wurden. Später setzten massive Bestrafungen bis zur Verstümmelung und bis zur Todesstrafe für wandernde Bettler ein" (Specht u.a. 1988: 22).
Da mit einer gestiegenen Mobilität Armut nicht mehr örtlich fixiert in Erscheinung trat, wurde seit dem Preußischen Landrecht von 1794 in der Behandlung von Armen zwischen ortsansässigen Armen, denen Unterhalt zuteil wurde, und fremden Armen, die abgeschoben wurden, unterschieden (Specht u.a. 1988: 22). Darüber hinaus sollte eine "individuelle Kontrolle der Armen (...) dem Arbeitszwang dienen und die Kosten der Unterstützung senken" (Specht u.a. 1988: 22).
Der Staat mit seinen Institutionen begegnete der Armut - und damit auch der Wohnungs- und Obdachlosigkeit - von Teilen der Bevölkerung repressiv mit Zwangseinweisungen in Arbeiter- oder Obdachlosenasyle und mit Arbeitszwangsmaßnahmen (Specht u.a. 1988: 22). Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde 'Nichtseßhaftigkeit' als ein pathologisches Phänomen einzelner Individuen betrachtet, und 'Nichtseßhafte' galten als psychisch pathologische Fälle mit einer abnormen Persönlichkeitsstruktur (Weber 1984: 669). Diese Sicht, die die von Obdachlosigkeit Betroffenen pathologisiert und diskriminiert, prägte bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts die vorherrschende Meinung im Umgang mit Obdachlosigkeit. Erst in den siebziger Jahren setzte sich die Einsicht durch, daß 'Nichtseßhaftigkeit' vor allem soziale, gesellschaftliche bzw. ökonomische Ursachen hat und damit multifaktorielle Erklärungen gefunden werden müssen (Weber 1984: 669). Anders formuliert bildeten lange Zeit Selbstverschuldungsansätze das Paradigma zur Erklärung von Obdachlosigkeit. Ab den siebziger Jahren setzten sich dagegen sozio-strukturelle Erklärungsversuche der Ursachen von Obdachlosigkeit durch (vgl. Kap.2.1.3). Dieser Paradigmenwechsel drückt sich auch in der Strafrechtsreform von 1974 aus, mit der "Landstreicherei" als Tatbestand des Strafgesetzbuches abgeschafft wurde (Specht 1990: 72; Weber 1984: 668).
Andererseits gilt Obdachlosigkeit noch heute "rechtlich als Zustand, der die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet" (Haus 1986: 232) und den die örtliche Ordnungsbehörde im Sinne einer "Gefahrenabwehr" zu beseitigen hat.
Auf den Umgang der Kommunen mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit und deren Möglichkeiten und Ansätze, dieses Problem anzugehen, wird nun im folgenden Kapitel eingegangen.
Einführung in die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit besteht die Aufgabe kommunaler Wohnungs- und Sozialpolitik darin, einkommensschwache und sozial benachteiligte Haushalte, die aus eigenen Mittel nicht dazu in der Lage sind, mit Wohnraum zu versorgen (o.V. 1994: 579). Diese Aufgabe entspringt dem in Art.20 und Art.28 GG verankerten Sozialstaatsprinzip (Backhaus-Maul 1994: 527), aus dem sich die Verpflichtung der Kommunen ableiten läßt, "vor allem mit vorbeugenden Maßnahmen" gegen Obdachlosigkeit einzugreifen (Haus 1986: 233).
Aufgaben und Kompetenzen der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit im Spannungsfeld von Vor- und Nachsorge sowie von Hilfe und Kontrolle
Die kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit und die dafür zuständigen Ämter nehmen über die Verpflichtung, "vorbeugend" einzugreifen, hinaus in zweierlei Hinsicht eine Doppelfunktion ein, die sich prägnant mit den Begriffspaaren Vorsorge - Nachsorge und Hilfe - Kontrolle abbilden läßt.
Während die kommunale Wohnungspolitik primär präventiv gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit eingesetzt wird, kommt der Sozialpolitik resp. der Sozialhilfe als Fürsorgepolitik in der Tendenz eher eine nachsorgende Dimension zu. Doch kann (und soll) generell auch das Sozialamt vorbeugend tätig werden.
Als präventive Maßnahmen des Sozialamtes zur Vermeidung von Obdachlosigkeit kommt z.B. im Rahmen des §15a Abs.1 Satz 2 BSHG "insbesondere die Übernahme von Mietschulden in Betracht, wenn dadurch ein Räumungsurteil abgewendet oder eine drohende Zwangsräumung vermieden werden kann" (Schellhorn 1997: 177). Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die rechtzeitige Vermittlung einer angemessenen alternativen Wohnung z.B. im Falle unzumutbarer Wohnverhältnisse, wofür zumeist das Amt für Wohnungswesen zuständig ist. Die Prävention von Wohnungsverlusten stellt eine wichtige Aufgabe der übergreifenden kommunalen Sozialpolitik dar (Gotthold in: Greiff/Schuler-Wallner 1990: 51), und der Erhalt von Wohnungen gilt als "die Forderung der Stunde" (Portz/Lübking 1995: 89).
Der nachsorgenden Dimension können sämtliche karitativen Einrichtungen zugerechnet werden, die nach dem Eintritt der Obdachlosigkeit ggf. in Anspruch genommen werden können: Obdachlosenunterkünfte, Suppenküchen, Kleiderkammern, Notasyle usw. In diesen Einrichtungen werden Obdachlose vorübergehend untergebracht und mit dem Notwendigsten versorgt. Teilweise werden in diesen Institutionen auch sozialpädagogische Hilfen und Beratung angeboten.
Im zweiten zuvor genannten Begriffspaar nimmt die Kommunalpolitik samt ihrer Verwaltung eine äußerst ambivalente Rolle gegenüber Obdachlosigkeit und obdachlosen Personen ein: Zum einen leistet sie Hilfe und Unterstützung in prekären sozialen Lagen, zum anderen kontrolliert sie ihre KlientInnen (Leibfried 1984).
Hilfe und Unterstützung leisten vorrangig das Sozialamt und das Amt für Wohnungswesen. Kontrolliert werden Obdachlose durch das Sozialamt, das Wohnungsamt, städtische Ordnungsämter und die Polizei, aber auch durch städtebauliche Maßnahmen und Vorrichtungen sowie kommunale Verordnungen.
Das Sozialamt ist für die Bemessung und Auszahlung monetärer staatlicher Sozialtransfers zuständig. Es zahlt also u.a. die Sozialhilfe aus und trifft darüber hinausgehend auch andere Entscheidungen zur Gewährung sozialer Hilfen, deren Konsequenzen im Einzelfall u.U. sehr weitreichend sind. Beispielsweise "bestimmt [es] über die Verhinderung (bzw. Nicht-Verhinderung) von Wohnungsverlusten mittels des Entscheidens über Mietschuldenübernahme gem. §15a BSHG" (Specht u.a. 1988: 93).
Die Aufgabe und Funktion des Amtes für Wohnungswesen liegt in der Beschaffung und Vermittlung insbesondere von öffentlich gefördertem Wohnraum.
Demgegenüber beschafft und verwaltet das Liegenschaftsamt kommunale Obdachloseneinrichtungen (Specht u.a. 1988: 93).
Im Gegensatz zu den anderen kommunalen Fachämtern wird das Ordnungsamt erst aktiv, wenn Obdachlosigkeit unmittelbar einzutreten droht (Specht u.a. 1988: 93). Dann sorgt es für die (zwangsweise) Unterbringung wohnungsloser Personen und beschlagnahmt zu diesem Zweck möglicherweise auch Wohnraum (Specht u.a. 1988: 93). Grundlage des Vorgehens der Ordnungsämter sind die Paragraphen zur "Gefahrenabwehr" in den Polizeigesetzen (PolG) oder den Ordnungsbehördengesetzen (OBG) der einzelnen Bundesländer. Aus Gründen der Gefahrenabwehr werden alleinstehende Wohnungslose wegen sog. Störungen der öffentlichen Ordnung von ihren öffentlichen Aufenthaltsorten und Plätzen vertrieben. Als Störung der öffentlichen Ordnung zählen z.B. "das Nächtigen in Parks, der dauernde Alkoholgenuß in öffentlichen Anlagen und vor allem das Betteln" (Specht 1990: 72).
Neben den repressiv gegen bestimmte Personenkreise (Obdachlose, Drogenabhängige oder Prostituierte) einsetzbaren Befugnissen im Rahmen der Gefahrenabwehr wird die Kontrollfunktion des Ordnungsamtes insbesondere in der (Zwangs-)Einweisung alleinstehender Wohnungsloser in (kommunale) Obdachlosenunterkünfte evident (Weber 1984: 672). Diese Unterkünfte weisen z.T. eine menschenunwürdige Ausstattung auf, wodurch die betroffenen Personen zusätzlich "einem depravierenden Sondermilieu" ausgesetzt sind (Weber 1984: 672). Die kommunalen, von den Ordnungsämtern genutzten Übernachtungsunterkünfte sind auf oftmals erniedrigende und menschlichen Bedürfnissen nicht gerecht werdende, reine Übernachtungsstätten reduziert. Neutraler formuliert stellen diese Unterkünfte "'Notlösungen' dar, die mit erheblichen Einschränkungen für die Betroffenen (...) verbunden sind" (BBR 1998: 12). Das Übernachtungsangebot in diesen Unterkünften ist meist auf wenige Nächte beschränkt und wie der Name bereits impliziert, haben die Betroffenen oftmals nur nachts Zutritt zu den Unterkünften, so daß sie gezwungen sind, diese tagsüber zu räumen und sich im öffentlichen Raum aufzuhalten (Weber 1984: 672). Alleinstehende Wohnungslose, die sich den Bedingungen in diesen Übernachtungsunterkünften nicht aussetzen wollen, sind daher gezwungen, entweder "Platte zu machen" oder zu versuchen, in Einrichtungen mit längerfristigen Unterkunftsmöglichkeiten unterzukommen.
Kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit als Querschnittsaufgabe der Verwaltung - die Organisationsstruktur
In der Auflistung der in die kommunale Obdachlosenpolitik involvierten Ämter wird bereits erkennbar, daß Obdachlosenpolitik und -hilfe als Querschnittsaufgabe in und zwischen verschiedenen Ämter betrieben wird. HAUS nennt über die zuvor genannten Ämter (Sozialamt, Amt für Wohnungswesen, Liegenschaftsamt, Ordnungsamt) hinaus noch das Jugendamt, das Gesundheitsamt, das Schulverwaltungsamt und das Stadtplanungsamt (Haus 1996: 233).
Aus dieser Vielzahl beteiligter Ämter und verschiedener Zuständigkeiten ergeben sich bisweilen Koordinationsprobleme sowohl zwischen den einzelnen Fachämtern als auch zwischen den in den einzelnen Ämtern zuständigen Abteilungen. Lange Bearbeitungszeiten und Prüfverfahren von Anträgen auf soziale Unterstützung sind in derartigen Prozessen zudem oftmals mit Kompetenzstreitigkeiten verbunden. "Der Regelfall ist heute eine mangelhafte verwaltungsinterne Koordination der behördlichen Maßnahmen und Hilfen" (Specht u.a. 1988: 92).
Konsequenterweise wird daher die Forderung erhoben, die in vielen Kommunalverwaltungen existente Trennung von Wohnungs- und Sozialpolitik zu überwinden (Portz/Lübking 1995: 90).
Für eine bessere, den individuellen Problemen adäquatere verwaltungsinterne Koordination der Wohnungs- und Obdachlosenpolitik schlägt der DST die Einrichtung einer "zentralen Fachstelle" in den kommunalen Verwaltungen vor (DST 1987: 18f). "Diese Fachstellen sind ausgerüstet mit originär oder abgeleiteten Kompetenzen eines Ordnungsamtes, eines Sozialamtes, eines Liegenschaftsamtes, eines Wohnungsamtes (und) von sozialen Diensten soweit dies im Rahmen der örtlichen Gesamtkonzeption der Obdachlosenhilfe erforderlich ist" (DST 1987: 18). Die "zentrale Fachstelle" für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist vorzugsweise dem Wohnungs- oder Sozialamt zugeordnet. In München und Köln beispielsweise sind die "zentralen Fachstellen" an das Amt für Wohnungswesen angebunden (Specht u.a. 1988: 96). Obwohl sich München, Köln oder auch Duisburg hier als positive Beispiele anführen lassen, scheint der Vorschlag des DST aus dem Jahre 1987 zur Einrichtung einer "zentralen Fachstelle" "aufgrund von politischem Desinteresse und administrativen Widerständen nur sehr schleppend ingang (sic!) gekommen" (BBR 1998: 15) zu sein und sich damit wohl nur in wenigen Städten durchgesetzt zu haben. Andererseits richteten in letzter Zeit im Zuge der Verwaltungsreformen und -modernisierungen in den Kommunen zunehmend "mehr Städte ein spezifisches Fachgebiet zur Vermeidung von Obdachlosigkeit ein" (BBR 1998: 15).
Neben den inneradministrativen Koordinationsproblemen in den Kommunalverwaltungen ist zudem eine Abstimmung mit den freien Wohlfahrtsverbänden notwendig. Viele Aufgaben insbesondere im karitativen Bereich werden von den Kommunen auf die Wohlfahrtsverbände übertragen. So befanden sich im Jahr 1984 9,8% der stationären oder teilstationären Einrichtungen in rein kommunaler oder staatlicher Hand, wohingegen 77,6% der Einrichtungen der "Nichtseßhaftenhilfe" in der Bundesrepublik von konfessionell gebundenen Wohlfahrtsverbänden unterhalten wurden (Albrecht 1986: 39).
Ausgaben und Finanzen
Eine Vorstellung davon, in welchem Rahmen sich die Ausgaben für die Unterbringung von Obdachlosen bewegen, kann die Summe der Mietkosten für private Hotels und Pensionen vermitteln. Neben der Einweisung in kommunale Unterkünfte oder in Heime, die sich oftmals in der Hand freier Wohlfahrtsträger befinden, werden Obdachlose auch in privaten Pensionen und Billighotels untergebracht, für die die Kommunen die Kosten übernehmen. SPECHT-KITTLER nennt in diesem Zusammenhang eine Summe von 700 Mio. bis zu 1 Mrd. DM an Mietkosten, die die Kommunen pro Jahr für private Hotels und Pensionen aufwenden (Specht-Kittler 1992: 36).
Vor diesem Hintergrund mag das Argument, daß Prävention kostengünstiger ist als Nachsorge (DST 1987: 23), Kommunen dazu veranlassen, ihre Obdachlosenpolitik stärker auf Vorbeugung hin auszurichten. Längerfristig kalkuliert werden die Kommunalhaushalte durch die Einweisung von obdachlosen Personen und Haushalten in Obdachlosenunterkünfte oder Heime "erheblich stärker belastet als durch präventive Maßnahmen" (Haus 1986: 233).
Eine Gegenüberstellung der "Kosten der vorbeugenden Obdachlosenhilfe und der Einweisung in städt. Obdachloseneinrichtungen am Beispiel der Stadt Köln 1986" mag diese These verdeutlichen (Specht u.a. 1988: 98f). Als Resultat dieses Vergleichs ergaben sich nach Gegenüberstellung aller Kostenstellen folgende Zahlen: für die "vorbeugende Obdachlosenhilfe" mußten pro Fall 1.075,30 DM ausgegeben werden und für die "Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft" pro Fall 7.758,50 DM (Specht u.a. 1988: 98f).
Widerstände und Probleme der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Die kommunale Obdachlosenhilfe sieht sich beim Versuch, obdachlosen Personen "ein menschenwürdiges Leben" (§1 Abs.1 SGB) und eine Normalisierung ihrer Wohnverhältnisse zu ermöglichen mit verschiedenen Widerständen konfrontiert. Dies sind: erstens gesellschaftliche Werte und Vorurteile, zweitens administrative Schwellen und drittens persönliche Gründe der betroffenen Personen, Hilfsangebote nicht anzunehmen.
"Barrieren zur Integration alleinstehender Wohnungsloser" (Specht 1990: 71) wurden bereits im Exkurs über den historischen Hintergrund des gesellschaftlichen Umgangs mit Armut und der Einstellungen in der Gesellschaft zu Armut im allgemeinen und zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit im besonderen erwähnt.
Während sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit seit den siebziger Jahren ein Paradigmenwechsel von Selbstverschuldungs- hin zu sozio-strukturellen Erklärungsansätzen vollzieht, überwiegt in der Öffentlichkeit eher die Meinung, Obdachlosigkeit sei selbstverschuldet. "Eingehüllt in die Nebelschwaden gängiger Klischees bleibt extreme Armut alleinstehender Wohnungsloser verborgen: Nach dem Grundmuster der Ausblendung sozialer Lebenswirklichkeit und Zusammenhänge werden Lebenslagen individualisiert, kommt es zur offenen Schuldzuweisung" (Specht 1990: 71). Diese Vorurteile und Klischees können die Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Integration Wohnungsloser erheblich erschweren (Specht 1990: 72).
Die administrativen Schwellen, die eine Integration sozial benachteiligter Menschen insbesondere auch Obdachlose behindern, wurden bereits in Kapitel 3.3.2 Innere Organisationsstruktur und qualitative Ausformung des Aufbaus kommunaler Sozialpolitik geschildert. Hierzu zählen u.a. die Verfahrensabläufe in der Bearbeitung von 'Fällen', die Erreichbarkeit, architektonische Schwellen, Öffnungszeiten, die Art der Behandlung bzw. Bedienung der KlientInnen (Leibfried 1984: 955).
Über die persönlichen Gründe obdachloser Personen für die Nicht-Inanspruchnahme vorhandener Unterbringungsmöglichkeiten gibt eine Studie des Landessozialamtes Hamburg Aufschluß:
"Angst vor Gewalt, Diebstahl, gesundheitlicher Gefährdung oder fehlender Anonymität,
durch länger andauernde Obdachlosigkeit verursachte oder verschärfte Probleme wie z.B. psychische Störungen, Alkohol- und andere Suchtprobleme, die eine gemeinsame Unterbringung mit anderen erschweren,
negative Erfahrungen oder Schilderungen anderer, die eine Hemmschwelle vor Wohnunterkünften aufbauen,
fehlende Privatsphäre beim Wohnen oder Schlafen mit mehreren Personen in einem Raum" (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.3.3).
Alle diese Widerstände erschweren eine kommunale Wohnungs- und Obdachlosenpolitik, die sich dem Ziel einer sozialen Integration extrem marginalisierter Menschen, aber auch einer Akzeptanzsteigerung gegenüber anderen, nicht der 'Norm' entsprechenden Lebensformen und -zielen verpflichtet fühlt.
Ein anderes Problem ergibt sich aus der in Kapitel 3.1.2 konstatierten Marginalisierung der kommunalen Sozialpolitik gegenüber anderen Politikbereichen. Die dort begründete Benachteiligung wirkt sich auch auf die Politik und die Arbeit im Bereich Obdachlosigkeit aus. Die kommunale Sozialarbeit ist in diesem Problembereich "so schlecht ausgestattet, so lückenhaft präsent und in so starkem Maße klassischen Fürsorgeprinzipien verhaftet", daß diese über eine unspezifische, lediglich auf Symptome einwirkende Krisenhilfe nicht hinauskommt (Weber 1984: 673).
Die "Nichtseßhaftenhilfe" kann aufgrund dieser Probleme und ihrer mangelnden Ausstattung als "das absolute Stiefkind kommunaler Sozialarbeit" (Weber 1984: 673) bezeichnet werden.
Subtile Aspekte kommunaler Politik im Bezug auf Obdachlose
Kommunale Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird wie im Abschnitt 4.1.2 aufgeführt nicht nur im Sozialamt und dem Amt für Wohnungswesen betrieben, sondern auch in anderen Ämtern und Abteilungen. An dieser Stelle seien die Stadtentwicklungs-, Stadtplanungs- oder städtischen Grünflächenämter hervorgehoben, da vorrangig diese Ämter für Maßnahmen verantwortlich sind, die in der Öffentlichkeit normalerweise kaum wahrgenommen werden. Zu diesen weniger beachteten Aspekten kommunaler Politik mit Auswirkungen auf Obdachlose gehören eine Reihe von (städtebaulichen) Maßnahmen, die sich der Wahrnehmung der 'NormalbürgerInnen' weitestgehend entziehen, die alleinstehenden Wohnungslosen das Leben auf der Straße jedoch erheblich erschweren:
Viele Bänke an Bushaltestellen und U-Bahnhöfen oder anderen öffentlichen Orten wurden in den letzten Jahren z.B. durch Schalensitze oder verkürzte Sitzflächen ersetzt, wodurch ein "Sich-Hinlegen" unmöglich wird. Viele städtische Parkanlagen unterliegen mittlerweile bestimmten Öffnungs- bzw. Schließzeiten, die einerseits einem Sicherheitsbedürfnis entspringen mögen, die andererseits alleinstehenden Wohnungslosen den Zugang zu potentiellen Übernachtungsplätzen versperren. Ein weiterer Aspekt ist die Privatisierung öffentlicher Räume in den Städten z.B. in Form von Einkaufspassagen, die von privaten Wachschutzfirmen kontrolliert werden und die darüber entscheiden, wem der Zutritt erlaubt ist und wer ggf. hinaus 'komplimentiert' wird. Auch der Umstand, daß kaum mehr eine öffentliche Toilette ohne Entgelt zu benutzen ist, trifft primär arme, obdachlose Menschen, die notgedrungen im öffentlichen Raum leben und die durch damit quasi 'erzwungenes' Urinieren in Parkanlagen und auf Straßen das Klischee des 'Asozialen', 'Schmutzigen' nähren. Diese Maßnahmen wirken gezielt gegen Obdachlose und tragen dazu bei, "Normalbürger" gegen Wohnungslose "aufzuhetzen" (Blum 1996: 20).
Fazit
Abschließend soll noch einmal an das Ambigu von Hilfe und Unterstützung einerseits sowie Kontrolle andererseits erinnert werden, das in der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit gegenüber den Betroffenen praktiziert wird. Durch die mangelnde Koordination der das Problem Obdachlosigkeit betreffenden Politikbereiche und Verwaltungseinheiten ist ein ganzheitliches, problemadäquates und die Ursachendimensionen integrierendes Vorgehen kaum möglich. Vielmehr kommt es in diesem Zusammenhang zu sich wechselseitig verstärkenden Wirkkräften negativer Dynamik zwischen Hilfe und Kontrolle, quasi zu negativen Synergieeffekten.
Die kommunale Politik im Kontext von Obdachlosigkeit hat aufgrund der zahlreichen rechtlichen Fixierungen im SGB und BSHG in hohem Maße Vorgaben von Bund und Ländern umzusetzen. Mit diesen Vorgaben sind zumeist finanzielle Leistungen verbunden, die überwiegend von den Kommunen getragen werden müssen (z.B. die Sozialhilfe). Die Organisationsstruktur der Verwaltungen und des Hilfesystems funktioniert nach klassisch administrativen und hierarchischen Mechanismen(Leibfried 1984: 948f), die durch 'top-down' Verfahrensweisen gekennzeichnet sind.
Die Einrichtungen der "Nichtseßhaftenhilfe" in Kommunen sind primär auf Unterbringung und Versorgung der Betroffenen entsprechend der "klassischen Fürsorgeprinzipien verhaftet" (Weber 1984: 673).
Letztlich ist "die soziale Integration der sogenannten 'Nichtseßhaften' und der Stadtstreicher in der Gemeinde (...) noch nicht zum wohnungspolitischen Thema geworden" (Specht 1990: 70). U.a. deshalb hat sich die Obdachlosenpolitik in Bund, Ländern und Kommunen in einem "sehr beständig erwiesen: in der Unzulänglichkeit, die Kontinuität sozialer Benachteiligung zu durchbrechen" (Greiff/Schuler-Wallner 1990: 44).
Überprüfung und Kritik der kommunalen Politik im Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit anhand des erarbeiteten Kriterienkataloges
Die Kritik an der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit soll in diesem Kapitel vorrangig an dem in Kapitel 2.2 ausdifferenzierten Kriterienkatalog angelehnt strukturiert werden. Dies impliziert, daß die bereits in der Einleitung angedeutete Perspektive dieser Arbeit - die der wohnungs- und obdachlosen Personen - insbesondere in der folgenden Kritik zutage tritt. Die allgemeineren Merkmale sozialer Nachhaltigkeit aus Kapitel 1.3 werden weiter unten im sich an diese Kritik anschließenden Vorschlag für einen Entwurf sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit explizit aufgegriffen und eingearbeitet.
In Kapitel 2.2 waren die allgemeinen Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aus Kapitel 1.3 um bestimmte Anforderungen des Bereichs Wohnungs- und Obdachlosigkeit und der betroffenen Personen an diese Kriterien erweitert und spezifiziert worden. Dabei wurden folgende Merkmale benannt: Armutsbekämpfung, Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten, Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten, 'Empowerment' der Zielgruppe, 'Hilfe zur Selbsthilfe' statt dauerhafter Alimentation, Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen sowie Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten.
Im Fazit des Kapitels 4.1 wurde der Aufbau der kommunalen Verwaltungen und des Hilfesystems als eine nach klassisch administrativen und hierarchischen Mechanismen ausgerichtete Organisationsstruktur bezeichnet, die durch 'top-down'-Verfahrensweisen gekennzeichnet ist (Leibfried 1984: 948f). Des weiteren wurde konstatiert, daß die Obdachloseneinrichtungen vorrangig auf die Unterbringung und Versorgung der Betroffenen fixiert sind (Weber 1984: 673).
Diese beiden Charakteristika stehen diametral zu einigen Kriterien einer sozial nachhaltigen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
In 'top-down'-Verfahren werden durch die Vorgabe von Empfehlungen, Anweisungen oder Entscheidungen durch höher geordnete Instanzen oder Institutionen die Betroffenen nicht in den Entscheidungsprozeß eingebunden. Damit werden die Kriterien der Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten und der Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten verletzt.
Im Bereich der kommunalen Kontrollfunktion gegenüber wohnungs- und obdachlosen Personen erübrigt es sich, eine Partizipation der Kontrollierten an ihrer Kontrolle zu diskutieren. Aber auch die Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen, die hier im weiteren einem kritischen Blick unterzogen werden sollen, werden für gewöhnlich durch MitarbeiterInnen kommunaler Verwaltungen als von persönlichen Problemlagen entindividualisierte Antragsverfahren entschieden. Besonders evident wird dies am bereits vorgebrachten Beispiel der Entscheidung des Sozialamtes über die Übernahme von Mietschulden, um damit eine Zwangsräumung zu verhindern.
Positive Ausnahmen finden sich zumeist in singulären Projekten unter freier Trägerschaft. In diesem Zusammenhang sind in dem Bericht des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) zum Abschluß des Forschungsfeldes "Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" (BBR 1998) im Rahmen des Forschungsprogrammes "Experimenteller Wohnungs- und Städtebau" (ExWoSt) eine Reihe progressiver Modellvorhaben untersucht worden, die z.T. eine Partizipation der Betroffenen an der Ausgestaltung der Projekte als auch eine Kooperation in der Durchführung der Maßnahmen vorsahen.
Durch die Ausrichtung der mit Obdachlosigkeit befaßten kommunalen Politik und der Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände auf eine vorübergehende Unterbringung der Betroffenen in Übernachtungsunterkünften und Notasylen sowie auf eine Versorgung in Notlagen können darüber hinausgehende Maßnahmen und Ansätze aufgrund mangelnder (personeller und finanzieller) Ressourcen nur sporadisch betrieben werden. Diese weitergehenden Maßnahmen unterliegen oftmals kommunalen Finanzierungsvorbehalten, da sie zum Großteil in den Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben der Kommunen fallen.
Strategien und Ansätze eines 'Empowerment' der Zielgruppe und der 'Hilfe zur Selbsthilfe' statt dauerhafter Alimentation, die einen Beitrag dazu leisten könnten, die Betroffenen dauerhaft aus ihren sozialen Notlagen herauszuführen, werden nur gelegentlich in experimentellen Maßnahmen und Projekten angewendet.
Auch dem Merkmal Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen wird in der kommunalen Politik im Kontext von Obdachlosigkeit nur unzureichend Relevanz beigemessen.
Im Gegenteil: Bereits in Kapitel 4.1.5 wurden Beispiele für Maßnahmen aufgeführt, die eine Ausgrenzung und Vertreibung der Wohnungs- und Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum fördern. Zu den beschriebenen Maßnahmen, die gegen Wohnungslose wirken und damit auch gegen eine kommunale Politik, die sich dem Abbau von Diskriminierungen und der Integration sozial marginalisierter Personen verpflichtet fühlt, sind auch öffentliche Äußerungen u.a. von PolitikerInnen zu zählen, die auf verdeckte Vorurteile und soziale Chauvinismen abzielen.
In vielen deutschen Innenstädten, vor allem in Einkaufsstraßen, gelten neben den OBG und PolG der Länder mit ihren Gefahrenabwehrparagraphen spezielle kommunale Gefahrenabwehrverordnungen, die die Polizei und die kommunalen Ordnungsbehörden ermächtigen, Platzverweise gegen einzelne Personen und gegen Personengruppen - zumeist aus der Drogenszene und gegen Wohnungslose im Zusammenhang mit Alkoholkonsum und Betteln - auszusprechen.
In einem juristischen Gutachten wird die Rechtmäßigkeit von Platzverweisen in Innenstädten, die sich auf den Konsum von Alkohol und Betteln beziehen, in Frage gestellt. Da von einfachem Betteln und Alkoholkonsum keine Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgingen, seien "entsprechende Verbote und Einzelverfügungen, insbesondere aber auch Gefahrenabwehrverordnungen, die das Betteln und den Konsum von Alkohol im innerstädtischen Raum verbieten", unzulässig (Hecker 1997: 246).
Negativ formuliert - also ein gewisses Maß an Absicht unterstellt - fügen sich die beschriebenen Maßnahmen in der Summe zu einer Vertreibungsstrategie gegen Wohnungs- und Obdachlose sowie andere sozial marginalisierte Gruppen im öffentlichen Raum.
Das letzte abzuhandelnde Merkmal (Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten) kann aufgrund exogen vorgegebener Bedingungen der allgemeinen Arbeitsmarktlage durch die Kommunen allein kaum realisiert werden. Dennoch sind die Kommunen auf diesem Gebiet aktiv.
SozialhilfeempfängerInnen können nach dem BSHG zur Annahme einer Arbeit verpflichtet werden: "Hilfesuchende, die keine Arbeit finden können, sind zur Annahme einer für sie zumutbaren Arbeitsgelegenheit nach §19 oder §20 verpflichtet" (§18 Abs.2 Satz 2 BSHG). Diese Arbeitsgelegenheiten sind zeitlich befristet und verpflichten die Betroffenen häufig zu Tätigkeiten wie z.B. der Altenpflege, der Grünflächenpflege oder der Straßenreinigung (Schaffelder 1998: 17).
Ob die Tätigkeiten, zu denen die betroffenen SozialhilfeempfängerInnen verpflichtet sind, auch als 'sinnvoll' erkannt werden, kann nur subjektiv beantwortet werden. Grundsätzlich widerspricht die Verpflichtung zur Arbeit jedoch dem Merkmal der Partizipation, da Verpflichtungen immer mit Zwang einhergehen und Zwang keine Basis einer (gleichberechtigten) Partizipation darstellt.
Auch in diesem Bereich treten als Ausnahmen vereinzelte Projekte auf. Z.B. können durch die bauliche Selbsthilfe bei Wohnungsbauprojekten für Obdachlose Qualifikationen erworben werden (BBR 1998: 88). Auch selbstorganisierte und -verwaltete Strassenzeitungsprojekte können in diesem Kontext exemplarisch genannt werden.
Über die bisher zur Kritik herangezogenen Merkmale des Kriterienkataloges hinaus können weitere Kritikpunkte an der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit angemerkt werden.
Der primären Ausrichtung der kommunalen Politik und der Wohlfahrtsverbände auf die Unterbringung und Versorgung obdachloser Menschen wird die Forderung nach einem Abbau der Plätze in Obdachlosenunterkünften und sogar nach einer "Auflösung von Obdachloseneinrichtungen" (Specht u.a. 1988: 78f) entgegengesetzt. Hierunter fällt auch der Verzicht der freien Wohlfahrtsträger auf den weiteren Ausbau der Kapazitäten in (teil-)stationären Einrichtungen für Wohnungs- und Obdachlose (Schüle/Donath in: Greiff/Schuler-Wallner 1990: 239).
U.a. aufgrund der erheblichen Summen, die für eine kurzfristig angelegte Unterbringung in Notunterkünften, Asylen und Billigpensionen o.ä. aufgewendet werden müssen, scheint die Forderung nach einer "Auflösung von Obdachloseneinrichtungen" plausibel. Denn die Zielsetzung kommunaler Wohnungs- und Obdachlosenpolitik, Plätze in Obdachloseneinrichtungen abzubauen, könnte den Kommunen finanziellen Spielraum verschaffen, ihre vorbeugende Wohnraumsicherung auszuweiten (Specht u.a. 1988: 100).
Zusätzliche Argumente, die diese Forderung unterstützen, sind den institutionellen Logiken und Zwängen der Einrichtungen inhärent. Oftmals sehr kostenintensive Plätze in Obdachlosenunterkünften und -heimen müssen zur Deckung der Fixkosten belegt werden. Die kommunalen, freien, verbandlichen oder kirchlichen Träger dieser Heime haben somit ein grundsätzliches Interesse, die Unterbringungsplätze und das Personal in ihren Einrichtungen auszulasten und Personen in ihre Heime einzuweisen (Specht 1990: 75). Folglich hat das "System der Ersatzunterkünfte (...) eine starke Tendenz zur Selbsterhaltung" (Specht-Kittler 1992: 38). Wenn jedoch die Normalwohnung das Ziel der sozialen (Re-)Integration obdachloser Menschen ist, dann sollten Heimplätze konsequenterweise sukzessive bis auf ein Mindestmaß abgeschafft werden. SPECHT fordert in diesem Zusammenhang, daß "die unheilige Allianz zwischen Kommunen, die froh sind, ihre alleinstehenden Wohnungslosen in spezifische Einrichtungen einweisen zu können, und Wohlfahrtsverbänden, die froh sind, ihre Heime auslasten zu können, (...) im Interesse der Betroffenen beendet werden" muß (Specht 1990: 74).
Der letzte zu kritisierende Aspekt beruht in der wechselseitigen Abfolge von Unterstützung bzw. Hilfe und Kontrolle. "Das wechselseitige Bedingungsgefüge aus unterstützenden und sanktionierenden Maßnahmen bewirkt auf Dauer eine Chronifizierung substantieller Abhängigkeit" (Weber 1984: 674). Dadurch werden die Betroffenen letztlich "auf eine zur Passivität führende Einstellung >erlernter Hilflosigkeit< konditioniert" (Seligmann nach: Weber 1984: 675; Hervorhebung im Original).
Erschwerend kommt hinzu, daß einerseits eine "Koordination der behördlichen Maßnahmen und Hilfen" im allgemeinen "nur sehr unbefriedigend" erfolgt (Specht u.a. 1988: 92) und andererseits diese zugleich auch eine Voraussetzung darstellt, Hilfe und Sanktionen konsistent und problemlösend einzusetzten.
Ausgehend von dieser Kritik soll der tradierten kommunalen Obdachlosenpolitik nun ein alternativer Ansatz gegenübergestellt werden, der entlang der entwickelten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aufgebaut ist.
Entwurf eines alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Dem im folgenden zu entwickelnden Alternativentwurf für eine kommunale Obdachlosenpolitik, die sich an Grundsätzen sozialer Nachhaltigkeit orientiert, liegt die normative Annahme zugrunde, daß sich die herrschende, tradierte Sozialpolitik von ihrer Rolle und Funktion als 'sozialer Reparaturbetrieb' hin zu einer präventiven, Menschen zu selbständigem Handeln und Selbstorganisation motivierenden Politik wandeln muß. "Die Bürger und Bürgerinnen müssen befähigt und motiviert werden, Verantwortung für sich und das Gemeinwohl zu übernehmen und soziale Aufgaben auf freiwilliger Basis zu erfüllen" (Bäcker 1997: 14).
An dieser Stelle entzündet sich schnell eine Diskussion über die Abwägung der Beistandspflichten des Staates gegenüber seinen BürgerInnen einerseits und der staatlichen Beistandsgrenzen andererseits. Eine dauerhaft zufriedenstellende oder konsensuale Lösung dieser Frage ist nicht in Sicht und vermutlich auch nicht zu erzielen. Vielmehr ist "die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten Aufgaben und öffentlicher und privater Finanzierung (...) stets zu überprüfen und an den veränderten Lebensformen und Lebensrisiken zu bemessen" (Bäcker 1997: 17).
Dabei darf der Staat jedoch keinesfalls aus seinen originären Pflichten der sozialen Sicherung und Versorgung mit sozialen Einrichtungen entlassen werden. Denn: "Ein gesicherter Lebensunterhalt ohne Ansehen der Person und ein ungehinderter Zugang zur gesundheitlichen Versorgung lassen sich nur durch die großen [kollektiven, staatlichen Solidar-; d.Verf.] Systeme organisieren" (Bäcker 1997: 15).
Basierend auf diesen Annahmen werden im folgenden die in den vorangestellten Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse zu einem Entwurf eines alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit zusammengefügt.
Der Alternativentwurf besteht aus zwei Bausteinen: zum ersten einer zentralen Koordination der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure sowie zum zweiten einer dauerhaften Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-) Projekte.
Diese Bausteine setzten sich wiederum aus Fragmenten zusammen, die aus den Merkmalen des Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit aus Kapitel 1.3 abgeleitet sind. Nicht alle einzelnen Kriterien des Kataloges können dabei separat und vollständig behandelt werden. Zum einen, da die Differenzen zwischen den Merkmalen zu gering ausfallen, um sie einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen, und zum anderen sind einzelne Merkmale bereits implizit in anderen enthalten, so daß auf redundante Beschreibungen verzichtet werden kann. Dies betrifft vor allem die abstrakten sozialen Merkmale Sozialverträglichkeit, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit sowie kulturelle Identität und Vielfalt, die teils anderen Merkmalen inhärent sind, teils Ziele anderer Kriterien darstellen.
Baustein I: eine zentrale Koordinationsstelle zur schnelleren und besseren Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure
Eine zentrale Koordinationsstelle muß primär eine schnelle und reibungslose Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure in Kommunen leisten.
Bereits 1987 wurde vom DST eine der hier vorgeschlagenen Koordinationsstelle vergleichbare Einrichtung, die "zentrale Fachstelle", vorgestellt (DST 1987).
Die hier entworfene Koordinierungsstelle basiert auf den zuvor in Kapitel 1.3 entwickelten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit und ist insbesondere durch drei Merkmale charakterisiert: erstens die Integration von Themen verstanden als inhaltliche Koordination, zweitens die Integration gesellschaftlicher Gruppen i.S. einer Integration und Koordination von Akteuren und drittens die Langfristorientierung verbunden mit dem Vorsorgeprinzip.
Die Integration von Themen stellt eines der grundlegenden Merkmale des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung dar. Konkret auf die zentrale Koordinierungsstelle angewendet muß dieses Merkmal jedoch begrifflich modifiziert werden, um die Verknüpfungen leichter verständlich zu machen. Daher soll die Integration von Themen im weiteren als inhaltliche Koordination verstanden werden.
Eine inhaltliche Koordination scheint im Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit dringend geboten. Wohnungs- und Obdachlosigkeit hat seine Ursachen in einem multidimensionalen Bedingungsgefüge (vgl. Kap. 2.1.3). Entsprechend sind die individuellen Ausprägungen der Folgen des Wohnungsverlustes für die Betroffenen von (hochgradig) subjektiv unterschiedlichen Problemverarbeitungsstrategien und -kompetenzen abhängig. Diese Vielschichtigkeit spiegelt sich in der Vielzahl der Ämter und Ressorts wider, die in der tradierten kommunalen Politik im Bereich Obdachlosigkeit mit dem Problembereich und den betroffenen Personen befaßten sind (vgl. Kap.4.1.2). Die bisher weitgehend unkoordinierten Politiken und nicht ressortübergreifend geplanten Maßnahmen in Kommunen, die Auswirkungen auf Obdachlosigkeit und Obdachlose haben, sollten zu einer zwischen öffentlichen und freien Trägern abgestimmten, in sich konsistenten und gezielt vorgehenden Obdachlosenpolitik zusammengeführt werden.
Das Kriterium der Integration von Fachthemen resp. einer inhaltlichen Koordination beruht auf dem Argument, daß einzelne Disziplinen (oder in diesem Fall kommunale Fachämter und Wohlfahrtsverbände im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit) nicht in der Lage sind, komplexe Sachverhalte übergreifend zu lösen, noch dazu, wenn diese räumlich oder institutionell voneinander getrennt sind. Dies ist ein zentraler Grund, warum hier die Koordination der Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit und Unterstützungsangebote für die betroffenen Personen in einer einzigen Stelle vorgeschlagen wird. Diese zentrale Stelle kann den Sachverstand der speziellen Ämter bündeln und diesen integriert auf das komplexe Problem Obdachlosigkeit anwenden. Eine themenintegrierende Betrachtung und Problembearbeitung muß durch eine räumlich übergreifende Herangehensweise erweitert werden. Kommunale Sozialpolitik im Kontext von Obdachlosigkeit kann nicht isoliert in kleinen räumlichen Einheiten betrieben werden, sondern muß die Folgen ihrer Maßnahmen in einen gesamtstädtischen Bezug setzen (Gotthold in: Greiff/Schuler-Wallner 1990: 52). Im Umkehrschluß heißt dies auch, daß gesamtstädtische Entwicklungsplanung verstärkt die Folgen ihrer Entwürfe auf kleine räumliche Einheiten und die spezifischen sozialen Problemlagen und unterschiedlichen Gruppen von alleinstehenden Wohnungslosen und Obdachlosen abschätzen muß. Auch hierzu ist eine ämterübergreifende Koordination notwendig, die am besten von einer zentralen Koordinationsstelle organisiert und gewährleistet werden kann.
Die Integration verschiedener inhaltlicher Maßnahmen ist zudem auf einer weiteren Ebene elementar. Eine "dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" bildet die Grundlage zu deren sozialer (Re-)Integration in die Gesellschaft (BBR 1998: 137). Über die Versorgung mit Wohnraum hinaus ist gerade für ehemals alleinstehende Wohnungslose, die z.T. jahrelang zwischen der Straße und diversen Übernachtungseinrichtungen pendelten, auch eine begleitende sozialpädagogische und psychologische Betreuung notwendig (BBR 1998: 123). In den Modellvorhaben des ExWoSt-Forschungsfeldes "Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" zeigte sich, daß "die Bereitstellung und Koordinierung von wohnbegleitenden Hilfen, d.h. eine sozialorientierte Wohnungsverwaltung und weitergehende soziale Betreuung, einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt der Wohnungen leistet" (BBR 1998: 142). Diese angesprochene "Koordinierung von wohnbegleitenden Hilfen" würde durch eine Koordination der beteiligten Akteure an zentraler Stelle wesentlich erleichtert.
Analog zur Modifikation des Kriteriums Integration von Themen ist es auch notwendig, das Merkmal Integration gesellschaftlicher Gruppen begrifflich abzuwandeln, um es sinnvoll in Bezug zu einer zentralen Koordinationsstelle setzen zu können. Die Integration gesellschaftlicher Gruppen wird somit im weiteren semantisch als Integration und Koordination von Akteuren verwendet, unter der drei Teilmerkmale des ausdifferenzierten Kriterienkatalogs für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit aus Kapitel 2.2 subsumiert werden: Abbau von Diskriminierungen, Partizipation und Kooperation.
Eine Koordination der Akteure wird über Kommunikation im weitesten Sinne sowie Partizipation und Kooperation als spezifische Kommunikationsformen und -konstellationen hergestellt. Partizipation und Kooperation verschiedener Individuen oder Gruppen setzt voraus, daß sich diese räumlich begegnen und austauschen. Auf der anderen Seite ist gerade der Ausschluß von gesellschaftlich geteilten Lebenswelten und -räumen ein Faktor sozialer Diskriminierung, mit dem eingeschränkte Möglichkeiten der Teilnahme am kulturellen, sozialen und politischen Prozeß einhergehen. Diskriminierungen sind sowohl Ausdruck als auch Ursache sozialer Desintegration, welche wiederum die Einbindung sozial marginalisierter Personen und Personengruppen in partizipative Kommunikationsprozesse und kooperatives Tätigsein und Handeln erschwert. Daher muß die Partizipation und Kooperation von Obdachlosen an Entscheidungen stärker gefördert und besser den spezifischen Lebensumständen der Betroffenen angepaßt werden, als dies bei sozial integrierten Gruppen und Personen notwendig ist. Hierin besteht eine weitere eminent wichtige, fundamentale Aufgabe einer zentralen Koordinationsstelle.
Die Akteure, die im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit in Kommunen koordiniert werden müssen, lassen sich zwei Akteursklassen zuordnen: erstens die Obdachlosen selbst und zweitens die mit dem Thema beruflich beschäftigten oder privat engagierten Personen.
Während das Ziel eines Abbaus von Diskriminierungen vorrangig auf Obdachlose selbst fokussiert ist, erstrecken sich die Kriterien der Partizipation und Kooperation neben den unmittelbar von Wohnungs- und Obdachlosigkeit Betroffenen auch auf die relevanten kommunalen und freien sozialpolitischen Akteure.
Die zentrale Koordination der Zusammenarbeit von kommunaler und freier Wohlfahrtspflege soll eine Gesamtplanung aller zum Einsatz kommenden Hilfen gewährleisten. Darüber hinaus sind weitere Akteure wie z.B. Wohnungsbaugesellschaften, Selbsthilfegruppen und Vereine, die sich mit dem Thema beschäftigen, hinzuzuziehen. Insbesondere unter dem Blickwinkel der Schaffung und Sicherung von geeignetem Wohnraum für (ehemals) Wohnungs- und Obdachlose bietet sich eine Kooperation zwischen den Akteuren der öffentlichen Verwaltung, der Wohnungswirtschaft und der Wohlfahrtspflege an. Ein Beispiel für eine potentielle Zusammenarbeit liefert SPECHT, der die Gründung von Wohnungsbaugesellschaften in der Hand der freien Träger der Wohlfahrtspflege als eine Möglichkeit zur Diskussion stellt, Wohnraum für (alleinstehende) Wohnungs- und Obdachlose zu schaffen (Specht 1990: 75). Weitere positive Beispiele für eine Partizipation und Kooperation verschiedener kommunaler und freier Akteure im Handlungsfeld Obdachlosigkeit finden sich im Bericht des BBR und den dort beschriebenen Projekten mit baulicher Selbsthilfe von Obdachlosen (BBR 1998). Aus den Erfahrung in der Praxis ergibt sich, daß in Verbindung mit den Anforderungen der Partizipation und Kooperation die Sozialplanung "nicht mehr als dominant den Handlungsebenen vorgeordnetes operatives Instrument" (Nickles 1986: 221) agieren kann, sondern sich kooperativ auf die anderen nicht-kommunalen, freien aktiven Akteure im Problemfeld Obdachlosigkeit einlassen muß.
Die Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten wurde als ein eigenständiges Merkmal in dem für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ausdifferenzierten Kriterienkatalog aufgeführt (vgl. Kap.2.2.2). Abschließend wurde für dieses Kriterium, das je nach Zielgruppe einfach nur angeboten oder auch gefördert und sogar eingefordert werden sollte, festgehalten, daß die Partizipation der Zielgruppe eines der zentralen Kriterien sozial nachhaltiger Wohnungs- und Obdachlosenpolitik in Kommunen ist.
Ebenso wie der Partizipation war auch der Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten ein separater Gliederungspunkt (vgl. Kap.2.2.3) gewidmet. Dort wurde das Ziel formuliert, Wohnungs- und Obdachlose ihren individuellen Fähigkeiten und Potentialen entsprechend aktiv an den sie betreffenden Maßnahmen und Projekten kooperieren resp. mitarbeiten zu lassen, um vorhandene Fähig- und Fertigkeiten auffrischen und ggf. neue einüben zu können. Als fundamentaler Gesichtspunkt dieses Kriteriums bleibt die Kooperation der betroffenen Obdachlosen selbst oder zumindest ausgewiesener und mit der Aufgabe betrauter 'Agenten' derselben an Planung und Durchführung von Strategien und Maßnahmen hervorzuheben, die gesamtstädtisch von einer kommunalen zentralen Koordinierungsstelle organisiert werden sollte.
Partizipation und Kooperation als Kommunikationsformen und Akteurskonstellationen wirken sich positiv auf die Integration der Betroffenen aus. Neben der besseren Abstimmung der konkreten Maßnahmen und Strategien auf die spezifischen Bedürfnisse der entsprechenden Zielgruppe ermöglicht die Beteiligung der Zielgruppe in Form von Partizipation und Kooperation auch gesellschaftlich integrative Wirkungen. Somit werden Partizipation und Kooperation auch dem Kriterium Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen gerecht, das als letztes Teilmerkmal im folgenden diskutiert werden soll.
Arme, insbesondere Wohnungs- und Obdachlose, sind starken gesellschaftlichen Diskriminierungen und sozialen Exklusionen ausgesetzt. Entsprechend wurden in Kapitel 2.2.6 ein Abbau der Diskriminierungen und Benachteiligungen sozial ausgegrenzter Menschen und deren Integration in die Gesellschaft als fundamentale Aufgaben und Ziele einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Obdachlosigkeit bestimmt. In diesem Zusammenhang müssen insbesondere auch dem Unterstützungs- und Hilfssystem immanente Diskriminierungen abgebaut werden. Dies bezieht sich auf die besondere Situation alleinstehender Wohnungsloser, die auf der Straße leben, sowie in noch stärkerem Maße auf weibliche alleinstehende Wohnungslose, die zusätzlich geschlechtsspezifischen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Der DST bemerkt in diesem Zusammenhang eine "Ungleichbehandlung alleinlebender Männer und Frauen" gegenüber Familien, da die Praxis eine vorbeugende Hilfe für Alleinstehende teilweise für nicht erforderlich hält (DST 1987: 31).
Insbesondere die Partizipation und die Kooperation sind auch vor dem Hintergrund eines frühzeitigen Informationsaustausches und damit vor dem Vorsorgeprinzip zu sehen, das in der Argumentation dieser Arbeit wiederholt in Erscheinung trat. Bezogen auf die Ausgabenstruktur und die Finanzen im Bereich Obdachlosigkeit wurde bereits in Kapitel 4.1.3 auf die finanziellen Vorteile eines präventiven Vorgehens gegenüber einem nachsorgenden hingewiesen. An dieser Stelle soll nun das Vorsorgeprinzip als Prävention der Entstehung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Verbindung mit dem Merkmal eines an langfristigen Prozessen und Konsequenzen orientierten Planens und Entscheidens in Kommunen gesondert eingeführt werden.
Ein zentrales Instrument und zugleich wichtige Voraussetzung, um Prävention leisten zu können, ist eine qualitativ hinreichend genaue und rechtzeitig verfügbare Daten- und Informationsbasis, die auch über den zur Partizipation und Kooperation notwendigen kommunikativen Austausch der beteiligten Akteure gewonnen wird. In den Kommunen latent vorhandene und gezielt erhobene Daten müssen deshalb zu einer systematisch konzipierten Sozialberichterstattung zusammengeführt werden, die als Grundlage einer vorsorgeorientierten Sozialpolitik fungiert. Dazu müssen alle im Zusammenhang von Obdachlosigkeit stehenden Informationen aus den diversen kommunalen Fachämtern und den freien Verbänden und Gruppen gesammelt und verarbeitet werden. Hierunter fällt z.B. auch, daß "Sozialplanung als Informationsmanagement (...) als eine selbständige Arbeitsform durchaus vorausschauend-koordinierende Wirkung zeigen" würde (Nickles 1986: 220). Mit der Interpretation und der weiteren Bearbeitung der gewonnenen Daten ist optimalerweise eine zentrale Stelle, die sich mit dem Thema Obdachlosigkeit ämterübergreifend befaßt, zu betrauen. Diese Koordinationsstelle sollte einen kontinuierlichen Informationsfluß über drohende Wohnungsverluste in der Kommune sicherstellen (DST 1987: 25) und in diesem Zusammenhang mit den von Wohnungsverlust bedrohten Haushalten Kontakt aufnehmen (DST 1987: 25). Dazu gehört ebenso eine frühzeitige Information der von Obdachlosigkeit bedrohten oder betroffenen Personen und Haushalte durch eine gezielte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit über Rechte und Ansprüche auf staatliche Unterstützungs- und Hilfsleistungen (DST 1987: 25).
Als umfassendste Vorsorge wirkt die Sicherung dauerhafter und preiswerter Normalwohnungen insbesondere für die Haushalte, die auf institutionelle Hilfen zur Wohnraumversorgung angewiesen sind (DST 1987: 24). Hierzu ist eine ämterübergreifende Zusammenarbeit notwendig, da diese Sicherung nur in einer gemeinsam abgestimmten, ganzheitlichen Stadtentwicklungsplanung gewährleistet werden kann.
Baustein II: eine dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Projekte durch die Kommunen
Mit diesem zweiten Baustein des alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Kommunen soll auf "die notwendige Akzentverschiebung von der Sozialarbeit als nachsorgender Einzelfallhilfe hin zu einer bedürfnis- und lebenslagenorientierten Gemeinwesenarbeit" (Greiff/Schuler-Wallner 1990: 44f) eingegangen werden. Eine "bedürfnis- und lebenslagenorientierte Gemeinwesenarbeit" zur Prävention und zum Abbau von Obdachlosigkeit wird sich vorrangig auf Nachbarschaften und kleinteilige Quartiere beziehen, da in diesen kleinen räumlichen Einheiten die Bedingungen sowohl für eine den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen adäquate Herangehensweise als auch für eine gezielte, effiziente Betroffenenaktivierung am geeignetsten erscheinen (Wegner 1989: 86). Dementsprechend beruht dieser Baustein auf dem Ansatz, daß innovative Strategieansätze und Projektideen, die den Kriterien sozialer Nachhaltigkeit gerecht werden, vorrangig in kleinen, stadtteil- bzw. quartiersbezogenen Projekten verfolgt werden können.
Die Vorteile kleiner institutioneller Einheiten gegenüber großen, komplexen Institutionen liegen in ihrer größeren Flexibilität und Spontanität aufgrund kürzerer Entscheidungs- und Abstimmungswege innerhalb der Institution, in ihrer potentiell größeren Unabhängigkeit von inneradministrativen und äußeren Zwängen, in der Möglichkeit, basisdemokratische Partizipations- und Entscheidungsstrukturen zu installieren und zu praktizieren sowie in der Fähigkeit, sich adäquat auf das jeweilige spezifische Problem auszurichten (Wegner 1989: 86ff).
Gerade im Zusammenhang mit den beiden nachfolgend eingebrachten Kriterien des 'Empowerment' (vgl. Kap.2.2.4) von Obdachlosen und der 'Hilfe zur Selbsthilfe' (vgl. Kap.2.2.5) weisen kleine Projekte und Initiativen Vorteile auf. Das Ziel der Empowerment-Strategie, den Obdachlosen Mut zu machen und aktiv zu werden, wie auch der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe, der trotz einiger kritischer Aspekte Chancen birgt, Wohnungs- und Obdachlose langfristig aus ihrer prekären Situation herauszuführen, sind nur in einem kontinuierlichen, direkten und bedarfsorientierten Kontakt von Betreuenden und Betreuten zu realisieren (vgl. BBR 1998: 123ff). "Wesentliche Gestaltungsmerkmale [der begleitenden sozialen Betreuung von Wohnungs- und Obdachlosen; d.Verf.] sind die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen und deren Ausrichtung auf die Lebenslage und Bedürfnisse der Hilfesuchenden sowie Betreuungsformen, die geeignet sind, die Handlungskompetenzen der Betroffenen einzubeziehen und schrittweise zu fördern" (BBR 1998: 134).
Sicherlich können auch einzelne MitarbeiterInnen großer Wohlfahrtsverbände, die eigens mit der gezielten Betreuung und Unterstützung eines Quartiers oder eines kleinen Kreises von Personen beauftragt sind, einen kontinuierlichen, direkten Kontakt herstellen und gewährleisten. Fraglich ist jedoch, ob diese, eingebunden in eine komplexe Institution, auch hinreichend flexibel und spontan, ergo bedarfsorientiert, auf die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Obdachlosen eingehen können. Diese Fragen lassen sich kaum pauschal für alle Verbände und Kommunen beantworten. Dennoch scheinen unabhängige, konfessionell und parteipolitisch ungebundene Initiativen größere Potentiale und 'Freiheitsgrade' zu haben. Im Kontext der Hilfe zur Selbsthilfe kommt hinzu, daß kleine Gruppen und Initiativen - zumal wenn sie auf ehrenamtlichem Engagement und tatsächlicher Selbsthilfe der Zielgruppe basieren - weniger stark der Logik zur Erhaltung und Verselbständigung der eigenen Institution unterliegen als große Wohlfahrtsverbände. Sie können sich folglich nach geleisteter Hilfe zur Selbsthilfe, wenn die Hilfe von Fremden nicht mehr notwendig ist, leichter überflüssig machen und zurückziehen.
Ein weiteres Kriterium, das der Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder der Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten, läßt sich hier anfügen. Es steuert im Rahmen einer sozial nachhaltigen Obdachlosenpolitik in Kommunen auf das Ziel hin, den Betroffenen Perspektiven für ein Leben außerhalb der Obdachlosigkeit zu vermitteln.
Beispielsweise wurde in einem Projekt in Marburg "die Organisation von Beschäftigungsinitiativen zur Sicherung der materiellen Existenz der Bewohner und zur Förderung ihrer sozialen Integration" zunehmend zum Schwerpunkt der stadtteilorientierten Sozialarbeit im Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit (Greiff/Schuler-Wallner 1990: 45). Es zeigt sich damit, daß auch in diesem Zusammenhang kleine räumliche Einheiten funktionsfähig sind.
Beschäftigungsinitiativen, die auf der Verpflichtung zur Annahme einer Arbeitsgelegenheit nach §18 Abs.2 Satz2 BSHG basieren, sind allerdings kritisch zu beurteilen (vgl. Kap.4.2). Die Alternative zur tradierten, herrschenden Sozialpolitik muß als ein zentrales Merkmal die "Vielfalt der Arbeit anerkennen" (Opielka 1997: 24; Hervorhebung im Original). Arbeit darf in diesem Kontext nicht mehr ausschließlich als Erwerbsarbeit verstanden werden, sondern als im umfassenden Sinne (produktiv) 'tätig sein'. Entsprechend diesem Verständnis von Arbeit, arbeiten auch die als arbeitslos registrierten Menschen, wenn sie Zuhause reproduktive Aufgaben erfüllen oder in Vereinen und Initiativen engagiert sind. Anstatt die in §18 Abs.2 Satz2 BSHG verankerte Möglichkeit zur Arbeitsverpflichtung anzuwenden, sollen obdachlose Personen mittels einer gezielten Anleitung motiviert werden, tätig zu sein bzw. zu werden und sich - sei es z.B. im Modellbauverein, im Schrebergarten oder in der Kinderbetreuung in ihrer Nachbarschaft - zu engagieren. Dies setzt ein neues Verständnis der Arbeit im allgemeinen und im besonderen in kleinteiligen (Selbsthilfe-)Projekten, die sich dem Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Kommunen angenommen haben, voraus. Das in diesem Rahmen geleistete Engagement muß honoriert und als Arbeit anerkannt werden. Mit dieser Forderung geht einher, daß "eine Abkehr von der Erwerbsarbeitszentrierung des Sozialstaats durch die (weitgehende) Entkopplung sozialpolitischer Leistungsansprüche von der Erwerbsarbeit (...) gleichsam die verschatteten Arbeitsformen anerkennen" soll (Opielka 1997: 25). Damit bekämen Selbsthilfe und Selbstorganisation einen neuen Stellenwert in der Kommune und ihre sozialintegrativen Leistungen und Beiträge würden entsprechend anerkannt.
Neben den beiden zuvor in diesen Alternativentwurf integrierten Kriterien läßt sich auch das Merkmal der Armutsbekämpfung in die hier vollzogene Argumentation einbauen.
Grundsätzlich ist die Bekämpfung der Armut und ihrer strukturellen Entstehungsursachen vorrangig Aufgabe der Politik auf Bundes- und Länderebene. Die Kommunen können in der Armutsbekämpfung aber i.S. des Subsidiaritätsprinzips klein- und kleinstteilige Initiativen, die sich mit diesem Thema befassen, finanziell unterstützen und dadurch die Herausbildung abgesicherter Strukturen fördern, die zu deren Verstetigung und Stabilität beitragen. Die Kommunalpolitik könnte in diesem Zusammenhang gezielt eine "Infrastruktur der Armut" (Hamm) stützen. Zahlreiche Modelle und Experimente, die in diese Richtung arbeiten und funktionieren, existieren bereits. Z.B. wurden in vielen Städten und Gemeinden Tauschringe und Tauschbörsen initiiert, die Dienstleistungen und Güter außerhalb der Erwerbsarbeitslogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems anbieten. Damit werden auch den Personen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu verwerten, Möglichkeiten erschlossen, tätig zu werden und Güter zu erlangen, die ihnen im 'normalen', auf Geldtransfer beruhenden Tausch nicht erschwinglich wären.
Diesen genannten Vorteilen und Potentialen von subsidiär, kleinteilig bzw. quartiersbezogen agierenden (Selbsthilfe-)Projekten stehen jedoch einige Nachteile gegenüber.
Häufig sind kleine Institutionen instabiler als große, sie sind für übergeordnete verantwortliche staatliche oder kommunale Stellen in ihrer Summe schlechter zu kontrollieren (z.B. die Verwendung zugewiesener Finanzmittel) und in ihren Aktivitäten schwerer zu koordinieren als wenige große Wohlfahrtsverbände (Wegner 1989: 84). Insbesondere die beiden zuletzt genannten Nachteile ließen sich durch eine zentrale Koordinationsstelle - wie sie als Baustein I vorgeschlagen wurde - abschwächen, so daß die genannten Vorteile überwiegen. Letztlich bleibt somit das Problem der Instabilität dieser Projekte und Initiativen.
Die Lebensdauer als ein Indikator für die Stabilität kleiner Selbsthilfeprojekte ist hochgradig von dem persönlichen Engagement einzelner Personen abhängig, aber auch von den finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen. In Kapitel 3.2 wurde angemerkt, daß gerade die Selbsthilfeprojekte und die innovativen Projekte z.B. zur Koordination von Stadtteilinitiativen den Bestrebungen zur Konsolidierung der kommunalen Haushalte zum Opfer fallen, da auf diese freiwilligen Selbstverwaltungsangelegenheiten kein Rechtsanspruch besteht. In Kapitel 4.1.3 wurde im Rahmen der Ausgaben im Bereich Obdachlosigkeit auf die erheblichen Summen verwiesen, die die Kommunen aufbringen, um obdach- und wohnungslose Menschen in Übernachtungseinrichtungen und Billighotels unterzubringen. Daraus leiteten SPECHT u.a. (1988: 78f) die Forderung nach einem Abbau der Unterkunftsplätze in den Kommunen ab, um finanzielle Spielräume für die 'freiwilligen', innovativen, sozial nachhaltigen Initiativen und Projekte zu schaffen.
Die Kommunen sollten die Rahmenbedingungen für derartige Projekte verbessern und den Initiativen eine sichere, planbare und dauerhafte 'Geschäftsgrundlage' bieten. Diese dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische Unterstützung der Selbsthilfemaßnahmen und -strukturen können von den Kommunen sichergestellt werden. Diese Forderung bildet die Quintessenz des zweiten Grundbausteins sozial nachhaltiger Politik in Kommunen für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Weitere Transfermöglichkeiten der Kriterien sozialer Nachhaltigkeit auf eine alternative Obdachlosenpolitik in Kommunen
In den beiden skizzierten Bausteinen eines alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit wurden bereits einige Kriterien aus den Kapiteln 1.3 sowie 2.2 integriert: Themenintegration, Integration gesellschaftlicher Gruppen, Langfristigkeit sozialer Prozesse (hier als Vorsorgeprinzip), Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten, Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten, Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen, 'Empowerment' der Zielgruppe, 'Hilfe zur Selbsthilfe' statt dauerhafter Alimentation, Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten und Armutsbekämpfung.
Neben diesen Kriterien lassen sich noch weitere Merkmale außerhalb der vorgeschlagenen Bausteine auf den Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Kommunen übertragen: Ressourcenschonung, globale Gerechtigkeit und Vermeidung bzw. Abbau räumlicher Segregation.
In diesem Gliederungspunkt werden nun abschließend noch einige Ideen vorgestellt, wie diese zuletzt genannten Kriterien sinnvoll auf den Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit übertragen werden könnten.
Das Nachhaltigkeitskriterium der Ressourcenschonung betrifft, wie unter Punkt 1.3.1.1 argumentiert, nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische und soziale resp. humane Ressourcen, die in diesem Zusammenhang primär angesprochen sind. Daher darf in einer eher abstrakteren Sicht auch die Schonung von in potentieller, latenter oder in manifester Obdachlosigkeit lebender Personen nicht vergessen werden. Menschen, denen der Verlust einer eigenen Wohnung erspart werden kann, unterliegen geringeren Risiken, zu erkranken, sozial ausgegrenzt und damit depraviert zu werden. In gewisser Hinsicht werden sie somit 'geschont'.
In Kapitel 4.1.3 wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Prävention um ein Vielfaches kostengünstiger ist als eine nachsorgende, karitative Unterstützung von Obdachlosen. Daher formulierte der DST schon 1987, daß "Neueinweisungen in Obdachlosenunterkünfte (...) in Zukunft vermieden werden" sollten (DST 1987: 22). Ebenso plädiert der DST für "finanzielle Hilfen zur Wohnungssicherung" (DST 1987: 27), was sich, wie die Gegenüberstellung der Kosten für eine vorbeugende Obdachlosenhilfe und die Einweisung in Unterkünfte aus Köln aus dem Jahr 1986 zeigte (Specht u.a. 1988: 98f), als Instrument einer präventiven Politik auch 'schonend' auf die Ausgabenseite des Sozialhaushaltes auswirkt.
Eine globale Perspektive ist für die kommunale Politik im Bereich Obdachlosigkeit zunächst nicht unmittelbar herzustellen. Dennoch können - zumindest in groben Konturen - Möglichkeiten zur Integration der globalen Dimension des Leitbilds Nachhaltige Entwicklung aufgezeigt werden.
In dem hier fokussierten Themengebiet haben deutsche Kommunen mit denen in Ländern der sog. Dritten Welt außer der Feststellung, daß hier wie dort Obdachlosigkeit auftritt, auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit könnte jedoch Anlaß geben, zu einem internationalen, globalen Informationsaustausch über Strategien, Spezifika im Umgang mit und Erfolge im Kampf gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Die Frage, was 'wir' in Deutschland von Kommunen in anderen Ländern und Kulturen im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit lernen können, bietet eine Reihe von Ansätzen, i.S. eines gegenseitigen interkulturellen Lernens spontane Kontakte oder auch auf Dauer angelegte Partnerschaften zwischen Kommunen zu suchen.
Das letzte Kriterium, das hier eingeführt werden soll, ist die Vermeidung bzw. der Abbau räumlicher Segregation.
In Kapitel 1.2.2 wurde argumentiert, daß residentielle Segregation eine sozialverträgliche, nachhaltige Stadtentwicklung nicht befördert und hochgradig segregierte Quartiere sowohl Ausdruck als auch Faktor sozialer Ungleichheit sein können (Dangschat 1997: 182). U.U. kann allein die Angabe eines bestimmten Quartiers als Wohnadresse stigmatisierend wirken. In diesem Kontext wird daher die Auflösung von Obdachlosenunterkünften und Quartieren mit Schlichtwohnungen (Specht u.a. 1988: 78f) und damit ein Abbau bestehender Konzentrationen gefordert (DST 1987: 24). Bei der Unterbringung obdachlos gewordener Personen ist eine Zunahme der sozialräumlichen Segregation a priori zu vermeiden, und bestehende Konzentrationen von Haushalten, die auf institutionelle Hilfe zur Wohnraumversorgung angewiesen sind, sollten, wie bereits gesagt, abgebaut werden (DST 1987: 24). Andererseits werden durch eine 'von oben' geplante Auflösung von Obdachloseneinrichtung und -quartieren und einer dispersen Verteilung der Betroffenen im Stadtgebiet häufig auch positive Sozialbeziehungen zerrissen (Specht u.a. 1988: 79). Dem kann durch eine frühzeitige Partizipation der BewohnerInnen in zur Auflösung bestimmter Einrichtungen an der Entscheidungsfindung sozialverträglich begegnet werden.
Grundsätzlich trägt ein Abbau residentieller Segregation direkt zur Reduktion zumindest einer räumlichen Dimension sozialer Ungleichheit bei und wirkt sich somit positiv auf die soziale Nachhaltigkeit einer Kommune aus.
Resümee
Das Neue des hier gewählten Forschungsansatzes besteht darin, das themenübergreifende und -integrierende sowie überlokale und damit bisweilen recht abstrakte Leitbild Nachhaltige Entwicklung auf ein konkretes Problem in Kommunen zu übertragen.
Wie sich in der Auseinandersetzung insbesondere mit der wissenschaftlichen Literatur zum Themenkomplex zeigte, ist 'soziale Nachhaltigkeit' bisher konzeptionell wenig ausgearbeitet und kaum mit Substanz versehen. Dementsprechend lag ein gewichtiger Schwerpunkt dieser Abhandlungen darin, einen semantischen Rahmen für das Verständnis und den Umgang mit dem Begriff 'soziale Nachhaltigkeit' zu entwerfen und diesen zu füllen. Leitendes Ziel der Konkretisierung des Konzeptes sozialer Nachhaltigkeit war die Aufstellung eines Kataloges von Merkmalen bzw. Kriterien, die das Leitbild selbst, aber auch die Maßnahmen und Projekte, die diesem folgen, charakterisieren.
Um den Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit (Kap.1.3) auf Kommunen anwenden zu können, mußte er in die bestehenden Bedingungen und Strukturen, unter denen kommunale Politik in Deutschland betrieben wird, eingefügt werden. Dazu wurde in den Kapiteln 3 und 4 die notwendige Vorarbeit geleistet. Die in Kapitel 5 vollzogene Verknüpfung des Kataloges mit den Gegebenheiten in den Kommunen verhindert, daß der Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit als reiner "Wunschkatalog" im theoretisch abstrakten Raum verhaftet bleibt und statt dessen praktische Relevanz erhalten kann.
Die beiden in Kapitel 5 vorgeschlagenen Bausteine für eine sozial nachhaltige Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit (Baustein I: Eine zentrale Koordinationsstelle zur schnelleren und besseren Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure; Baustein II: Eine dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Projekte durch die Kommunen) sind teilweise aus bereits bestehenden Einzelmaßnahmen zusammengesetzt. Diese Fragmente wurden bisher jedoch vorwiegend voneinander isoliert entwickelt und nicht, wie in dieser Arbeit geschehen, im Rahmen eines übergeordneten, theoretischen Konzeptes sozialer Nachhaltigkeit systematisch hergeleitet, begründet und miteinander verknüpft.
Als ein Ergebnis dieser Arbeit läßt sich festhalten, daß nicht alle bestehenden Projekte und Initiativen von Grund auf neu erdacht werden müssen, um dem hier entwickelten Leitbild sozialer Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Auch auf der Ebene der Kommunalverwaltung entsprechen einzelne Konzepte und Maßnahmen zur Umstrukturierung der Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit teilweise dem Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit. Bestes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des DST aus dem Jahre 1987 zur Einrichtung einer "zentralen Fachstelle" (DST 1987: 18ff). Jedoch haben nur wenige Kommunen diese "zentrale Fachstelle" in den vergangenen Jahren eingerichtet. Hier scheinen u.U. psychologische, vor allem aber institutionelle Widerstände in den Verwaltungsapparaten der Kommunen zu bestehen (BBR 1998: 15).
Dies ist ein Indiz dafür, daß vorrangig das Selbstverständnis der (kommunalen) Sozialpolitik reformbedürftig ist. Die Richtung für den Wandel des Selbstverständnisses und des Selbstbildes wurde in Kapitel 5 skizziert. Die Kommunen mit ihren Verwaltungen fungieren in diesem Ansatz eher als Organisatorinnen, Koordinatorinnen und Mediatorinnen sowie als Finanziers. Eine diese neue Rolle der Kommunalverwaltungen unterstützende Kraft könnte von den in Kapitel 28 der Agenda 21 geforderten Konsultationsprozessen der lokalen EntscheidungsträgerInnen mit der Bevölkerung ausgehen. Diese lokalen Agenda 21-Prozesse verlangen eine "neue Planungskultur" (Kühn/Moss 1998) in den Verwaltungen, um zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung eine partizipative und kooperative Entwicklung von Strategien und Maßnahmen zur Behebung örtlicher Probleme zu ermöglichen. Die thematisch offenen lokalen Agenda 21-Prozesse könnten in dieser Hinsicht behilflich sein, das Selbstverständnis der Kommunalverwaltungen bezogen auf ihr Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt zu verändern und darüber hinaus auch auf soziale Themen aufmerksam zu machen sowie die Unterstützung und die Durchsetzungspotentiale sozial marginalisierter Gruppen zu verbessern.
Neu an einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist die starke Ausrichtung auf einen partizipativen und damit auch auf einen gleichberechtigteren Umgang der in diesem Bereich Tätigen mit den wohnungs- oder obdachlosen Personen. Es muß versucht werden, die Betroffenen stärker als dies bisher der Fall ist, in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse und Maßnahmen einzubeziehen. Darüber hinaus muß dem Verlust eigenen Wohnraums - allein aus ökonomischen Überlegungen heraus - stärker als bisher präventiv begegnet werden. Und schließlich muß die "Kommstruktur" (BBR 1998: 128) der sozialen Unterstützungsangebote in einer sozial nachhaltigen (Sozial-)Politik - nicht nur im Bereich der Obdach- und Wohnungslosenhilfe - durch eine "Bringstruktur" der unterstützenden Institutionen ersetzt werden.
Die in dieser Arbeit zutage getretene soziale und politische Vielschichtigkeit des Problembereichs Wohnungs- und Obdachlosigkeit spiegelt sich in der Überlagerung diverser horizontaler und vertikaler Zuständigkeiten und Kompetenzen im administrativen Aufbau der Gebietskörperschaften sowie deren Institutionen wider. Daher müßten neben den Kommunen auch staatliche Organe sowie deren Entscheidungen und Maßnahmen im Bereich Obdachlosigkeit an Kriterien sozialer Nachhaltigkeit beurteilt werden. Aufgrund der Ausrichtung dieser Arbeit auf die kommunale Ebene bleiben in diesem alternativen Entwurf Einflußmöglichkeiten und Handlungspotentiale des Bundes und der Länder weitgehend außen vor. Ebenso wäre eine Neubestimmung der Rolle der großen freien Wohlfahrtsverbände in der Wohnungslosenhilfe unter Prämissen sozialer Nachhaltigkeit noch zu leisten.
Darüber hinaus besteht zukünftiger Forschungsbedarf darin, alternative Politikentwürfe für weitere konkrete soziale, aber auch ökonomische und ökologische Probleme und Krisenerscheinungen an ausdifferenzierten Leitbildern einer nachhaltigen Entwicklung zu erarbeiten. Es wäre darüber hinaus zu prüfen, wie und ob sich bereits bestehende Reformvorschläge des Sozialsystems - beispielsweise eine soziale Grundsicherung - in das Leitbild einer sozial nachhaltigen Entwicklung integrieren lassen.
Das Leitbild Nachhaltige Entwicklung und davon abgeleitet auch 'soziale Nachhaltigkeit' als normative globale und daher abstrakte Konzeptionen enthalten auf ein konkretes soziales Problemfeld transformiert wertvolle Ansätze und Aspekte, die einen vernünftigen sozialen Rahmen für eine sozial integrierende und gerechte Reform der Sozialsysteme vorgeben.
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Anmerkungen
Zur tieferen Auseinandersetzung seien empfohlen: Meadows (1972): Die Grenzen des Wachstums; Beck (1986): Risikogesellschaft; Hamm (1996): Struktur moderner Gesellschaften; Weizsäcker, von (1997): Erdpolitik; Hauchler/Messner/Nuscheler (Hrsg.) (1998): Globale Trends.
Diese Unschärfe des Begriffes drückt sich sowohl in den inhaltlichen Vorstellungen, die mit Nachhaltigkeit verknüpft werden, als auch in den theoretischen Kontexten, in denen dieser Verwendung findet, aus. Während einerseits von einem "nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung" die Rede ist, wird andererseits versucht, exakte Maßzahlen für einen nachhaltigen, zukunftsfähigen Ressourcenverbrauch zu bestimmen, den, ressourcen-kommunistisch betrachtet, jeder Mensch auf der Erde in Anspruch nehmen dürfte. Im ersteren Fall wird 'nachhaltig' synonym für "dauerhaft", "stetig", "anhaltend", "unumkehrbar" verwendet. Daß ein "nachhaltiges Wirtschaftswachstum" nicht den ökologischen und sozialen Anforderungen des Leitbildes einer Nachhaltigen Entwicklung genügt, wird aus den späteren Ausführungen noch ersichtlich werden. Im zweiten Fall wird Nachhaltigkeit ökozentrisch auf einen umweltverträglichen Umgang des Menschen mit der Natur bezogen, ohne gesellschaftliche Bedingungen und Macht einzubeziehen sowie nach den sozialen Folgen für Individuen und Gesellschaft einer rein auf Ökologie ausgerichteten Politik zu fragen.
Die unterschiedlichen Übersetzungen entstammen verschiedenen Dokumenten bzw. Studien: "dauerhafte Entwicklung" (Hauff 1987); "dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung" (SRU 1994; ARL 1994); "zukunftsfähige Entwicklung" (BUND/Misereor 1996).
Die deutsche Übersetzung wurde vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) herausgegeben: BMU: Umweltpolitik. Konferenz der Vereinten Nation für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992. Dokumente. Agenda 21. Bonn, o.J.
Teil I behandelt "Soziale und wirtschaftliche Dimensionen"; Teil II die "Erhaltung und Bewirtschaftung der Ressourcen für die Entwicklung" - die Umwelt; Teil III befaßt sich mit der "Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen" - den Akteuren, die in den Agenda-Prozeß eingebunden werden sollen und diesen bestenfalls entscheidend mitgestalten sollen (z.B. Nichtstaatliche Organisationen, indigene Bevölkerungsgruppen, Kinder und Jugendliche, Frauen sowie Kommunen); und schließlich Teil IV, in dem die Agenda 21 die "Möglichkeiten der Umsetzung" beschreibt.
In Kapitel 28 der Agenda 21 werden alle Kommunen aufgefordert, eigene Strategien zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung vor Ort zu verfolgen. Diese Strategien sollen in konsultativen Prozessen erarbeitet werden. In diesen Lokale Agenda 21-Prozessen wird das globale Leitbild Nachhaltige Entwicklung differenziert und den lokalen Problemen, Erfordernissen und Potentialen angepaßt.
Vgl. zu diesem Punkt die zur Beschreibung der globalen Krisensyndrome angegebene Literatur.
Einige sprechen von vier Dimensionen, wenn der ökologischen, der ökonomischen und der sozialen noch eine entwicklungspolitische oder globale Dimension hinzugefügt wird (u.a. EXPO/Niedersächsischer Städtetag 1997: 12).
Der Brundtland-Bericht argumentiert ähnlich: "Das gemeinsame Thema dieser Strategie dauerhafter Entwicklung ist die Notwendigkeit, wirtschaftliche und ökologische Erwägungen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen" (Hauff 1987: 66).
Nach CONRAD "kann man die Moderne als ein grundsätzlich ambivalentes, riskantes und ambitiöses Projekt kennzeichnen, dessen Funktionstüchtigkeit ungeheure Ansprüche stellt, das qua Kontingenzerhöhung systematisch Unsicherheit generiert und das seine eigene Basis zu unterminieren droht" (Conrad 1997: 53). Die Dimensionen der Moderne ("Kapitalismus, Industrialismus, Überwachung und militärische Macht") unterscheiden sich von vormodernen Gesellschaften durch "das enorme Ausmaß und die institutionelle Absicherung dieser vier Dimensionen" (Conrad 1997: 53; Hervorhebung im Original).
M.E. ist die synonyme Bezeichnung der "Charta von Aalborg" mit "Lokale Agenda 21" irreführend, da lokale Agenden 21 für jede Kommune individuell den lokalen Problemen und Potentialen angepaßt sein müssen und es somit nicht nur eine, sondern viele lokale Agenden 21 geben kann.
Dieser Aspekt wird in Kapitel 1.2.3.1 erneut aufgegriffen und gesondert diskutiert.
Man beachte in diesem Zusammenhang die steigende Zahl sogenannter Privatstädte oder auch die fortschreitende Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes insbesondere in den Innenstädten.
Das Konzept der 'Hilfe zur Selbsthilfe' wird unter Punkt 2.2.5 explizit aufgegriffen.
SPEHR merkt dem Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe kritisch an: "Auch 'Hilfe zur Selbsthilfe' ist nichts anderes als eine nonchalante Formulierung für die Einübung in die Verhältnisse, um sie zu belassen, wie sie sind" (Spehr 1996: 213). Spehr lehnt Hilfen des Nordens an den Süden generell ab.
Die in diesem Kapitel vorgestellten Autoren werden nicht völlig separat voneinander diskutiert. Vielmehr sollen die Kernaussagen und das zentrale Verständnis sozialer Nachhaltigkeit der einzelnen Autoren herausgearbeitet und Anknüpfungspunkte zwischen ihnen aufgedeckt werden.
Diese Interessen werden in der Praxis zumeist nicht unmittelbar von den benachteiligten Gruppen selbst, sondern mittelbar durch soziale Organisationen wie z.B. Verbände der freien Wohlfahrtspflege vertreten.
Zur Erklärung: "Suffizienz meint Genügsamkeit und Bescheidenheit" (Huber 1995: 123).
Darüber hinaus spricht für die lokale Ebene als zentrale Handlungsebene einer nachhaltigen Entwicklung, daß globale Probleme mit regional unterschiedlicher bestimmter syndromspezifischer Weise auftreten, die Grenzen einer zentralstaatlichen Steuerung komplexer Prozesse evidenter werden, eine Stärkung regionaler Kreisläufe sowohl ökologischer als auch sozialer Art dringend geboten erscheint (vgl. hierzu Hamm/Neumann 1996; Spehl 1994) und die Erfolgschancen für Prozesse einer nachhaltigen Entwicklung mit der Nachvollziehbarkeit und der Möglichkeit zur direkten Beeinflussung steigen, was insbesondere auf regionaler bzw. lokaler Ebene aufgrund der bereits genannten günstigen Bedingungen für eine politische Beteiligung und Mobilisierung der Bevölkerung möglich ist (Brand 1997: 17; vgl. auch: Kopatz 1998).
Welche neuen Anforderungen mit diesen steigenden kommunikativen Anforderungen insbesondere auf die Kommunalverwaltung zukommen, diskutieren KÜHN/MOSS an gegebener Stelle (Kühn/Moss 1998: 233ff). Der Aspekt der Neuausrichtung des Verwaltungshandelns und des Selbstverständnisses von Verwaltungen wird im Versuch, eine sozial nachhaltige kommunale Wohnungs- und Obdachlosenpolitik zumindest in Ansätzen zu entwickeln (vgl. Kap.5), erneut aufgegriffen.
Auch in diesem Zusammenhang ist jedoch umstritten, auf welche Gerechtigkeitsvorstellung Bezug genommen werden soll, wenn man den Streit zwischen den wohlhabenderen und den ärmeren Bundesländern um eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs verfolgt.
Vgl. zu diesem Punkt DANGSCHAT(1997) und insbesondere HAMM/NEUMANN (1996), die in ihren Ausführungen auch auf die nachfolgenden Punkte näher eingehen.
HUBER spricht zudem vom Primat der Ökonomie: "Nachhaltigkeit (stellt) im wesentlichen ein Wirtschaftskonzept dar" (Huber 1995: 12), das die "Umwelt- und Sozialverträglichkeit der Wirtschaftsentwicklung" (Huber 1995: 39) anstrebt. Diese Auffassung wird hier nicht weiter verfolgt, da sie bereits in Kapitel 1.1.2 teilweise angedeutet wurde.
Die Effizienz-Revolution i.S. technologischer Verbesserungen für einen effizienteren Ressourceneinsatz funktioniert ohnehin problemlos in den Mechanismen und Strukturen des gegenwärtigen Systems.
Einen kompakten, schnellen Überblick über die verschiedenen Tragfähigkeitsmaße und -indikatoren gibt HAMM (1996: 119).
Mit diesen Fragen beschäftigt HAMM sich eingehend in seinem Buch "Struktur moderner Gesellschaften" (Hamm 1996).
Für eine detaillierte Auflistung der Argumente, die für die lokale Ebene einer nachhaltigen Entwicklung sprechen vgl. KOPATZ (1998: 42ff) und BRAND (1997: 16ff).
Zur Vertiefung dieser Diskussion seien die Beiträge von BÄCKER (1997) und OPIELKA (1997) empfohlen.
Die Kriterien können hier leider nicht im einzelnen erschöpfend diskutiert werden. Die Implikationen, die mit den einzelnen Kriterien zusammenhängen, sind oftmals so differenziert und komplex, daß in einigen hier angesprochenen Bereichen seit Jahren intensive wissenschaftliche Diskurse geführt werden. Diese im hier gegebenen Raum auch nur in Grundzügen skizzieren zu wollen, ist schier unmöglich. Daher werden die einzelnen Kriterien vorrangig mit Blick auf ihre spätere Funktion im Rahmen dieser Arbeit behandelt.
In Deutschland arbeiteten Vollzeitbeschäftigte einschließlich ihrer Überstunden durchschnittlich 44,3 Stunden die Woche (Statistisches Bundesamt 1998: 484).
SCHERHORN führt in seinem Beitrag beispielhaft eine Reihe negativer sozialer Folgeerscheinungen an: "eine Häufung von Süchten, Depressionen und Selbstmorden; ein zunehmender Mangel an Hilfsbereitschaft, Solidarität, Zivilcourage; zusehends mehr sprachgestörte, koordinationsgestörte und verhaltensauffällige Kinder; steigende Gewaltbereitschaft und Kriminalität unter Jugendlichen" (Scherhorn 1998: 28).
"23,9% lebten [im April 1997; d.Verf.] überwiegend von Renten, Pensionen und Erträgen aus Vermögen, sonstigen Unterstützungen und Sozialhilfe, und 2,9% bestritten ihren Lebensunterhalt aus Arbeitslosengeld oder -hilfe" (Statistisches Bundesamt 1998: 78f). Knapp drei Viertel leben von der eigenen Erwerbsarbeit oder dem Erwerbseinkommen der Angehörigen (Statistisches Bundesamt 1998: 78).
Ca. 7 Millionen Menschen in der Bundesrepublik werden jährlich mindestens einmal mit Arbeitslosigkeit konfrontiert (Blüm, Norbert: Der Mythos der schönen neuen Welt. Artikel in der Reihe "Zukunft der Arbeit" in der Süddeutschen Zeitung vom 29./30.08.1998, S.13).
Gerade dieser Punkt wird in der Spezifizierung dieses Kriterienkataloges für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit unter Punkt 2.2 nochmals detailliert aufgegriffen.
Im Kontext sozialer Sicherheit steht die Diskussion um neue Formen einer sozialen Grundsicherung wie 'Bürgergeld', 'Bürgereinkommen' oder 'negative Einkommenssteuer'. Diese komplexe Diskussion - auch nur kursorisch - nachzuzeichnen, würde an dieser Stelle zu weit führen und wird daher nicht weiter verfolgt.
Alle Gesellschaften waren im Laufe ihrer Geschichte kontinuierlich oder zumindest phasenweise sog. Akkulturationsprozessen ausgesetzt.
Vgl. hierzu Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit.
Auf einen interessanten Aspekt potentieller Auswirkungen des Nachhaltigkeits-Diskurses auf die Benachteiligungen von Frauen verweist SPEHR. Seiner Meinung nach "müßte vor allem der patriarchale Charakter der angestrebten nachhaltigen Neuordnung aufgedeckt werden: Effizienz für die Männer, Suffizienz für die Frauen. Es müßte dargelegt werden, inwieweit (...) Frauen mit dem ökologischen Zeigefinger ein 'zurück ins Körbchen' zugerufen wird: Mehr reproduktive Eigenarbeit soll ja her, mehr soziale Fürsorge, mehr soziale 'Wärme' statt der Kaltschnäutzigkeit autonomer Lebensplanung. Selber Kompott einkochen ist 'in', Zweitautos und Mikrowellenherde sind 'out'" (Spehr 1996: 202).
Hier ist das OBG Nordrhein-Westfalen i.d.F. vom 13.05.1980 zitiert. Die OBG unterscheiden sich je nach Bundesland.
Eine EU-Expertengruppe hatte 1986 in einer Definition von Obdachlosigkeit eine subjektive Komponente zur Abgrenzung der Obdachlosen eingeführt. Diese Definition mißt der Frage, ob eine Person ihre gegenwärtige Unterkunft als die "ihre" ansieht, eine entscheidende Bedeutung zu. Demnach gelten nach der EU-Definition im Gegensatz zur deutschen Festlegung Reisende wie Sinti und Roma, Schausteller oder auch BauwagenbewohnerInnen und HausbesetzerInnen nicht als obdachlos (Landessozialamt Hamburg 1998: Kap.3.1.3).
Zur Unterscheidung dieser Formen von Obdachlosigkeit siehe auch BAUER (1984: 698) - wenngleich hier mit anderer Bedeutungszuweisung.
Die romantischen Bilder vom umherschweifenden Vagabunden stehen im Gegensatz zur Ablehnung und Distanz, die nicht-seßhaft (in der reinen Bedeutung des Wortes) lebenden Menschen entgegen gebracht wird. Nichtseßhaftigkeit bildet das Gegenmodell zum 'Normalen', dem Seßhaften.
Aussagen und Argumente, die indirekt auf angegebene Literaturstellen zurückgehen, behalten den Ausdruck 'Nichtseßhaftigkeit' bei, sofern dieser im Original verwendet wurde.
Lediglich in Nordrhein-Westfalen existiert eine Statistik zur Erfassung der Wohnungsnotfälle (o.V. 1994: 581).
Zu beachten ist außerdem, daß nicht immer identische Definitionen zur Abgrenzung des Personenkreises zugrunde gelegt werden.
Für nähere Informationen zur Durchführung der Untersuchung und der Erhebung siehe die bezeichnete Textstelle.
Nach Schätzungen der Berliner Senatsverwaltung lebten in Berlin Ende 1998 zwischen 2.000 und 4.000 Menschen auf der Straße. Zusätzlich sind bei den Sozialämtern 8.500 Personen als Wohnungslose vermerkt, die in Notunterkünften oder Pensionen untergebracht sind (taz - die Tageszeitung, vom 23.11.1998: Ohne Läuseschein kein Dach über dem Kopf.). Diese Zahlen (unter allen Vorbehalten) aufsummiert, ergibt ca. 10.500 bis 12.500 Menschen, die Ende 1998 in Berlin obdachlos waren.
Die Mietbelastungsquote ist definiert als "Anteil der Bruttokaltmiete am Haushalts-Nettoeinkommen" (Statistisches Bundesamt 1998: 532).
BezieherInnen niedriger Einkommen geben 30 Prozent und mehr ihres verfügbaren Einkommens für Miete und Wohnen aus, während der Anteil bei Gutverdienenden nur 10-15 Prozent beträgt (Specht u.a. 1988: 39ff).
Gedanken eines Verkäufers der strassenzeitung. Die hier zitierte Ausgabe der strassenzeitung widmet sich in weiteren Artikeln dem Thema: "Obdachlos: Selber schuld?" (die strassenzeitung (mob - obdachlose machen mobil e.V.; Hrsg.) Berlin, Februar 1999, S.7.).
Gemeint ist hier eine Untersuchung unter alleinstehenden Wohnungslosen in München durch den Psychiater Manfred Fichter. Die Ergebnisse wurden Ende Februar auf einer Tagung der Münchner Universitätsklinik vorgetragen (Nimtz-Köster 1999: 266).
Dies gerade im Hinblick auf die ökonomische Zukunftsbeständigkeit einer Maßnahme und die Finanzknappheit in den Kommunen.
Eine Anmerkung des Übersetzers der deutschen Fassung der Agenda 21 erläutert den "enabling approach" wie folgt: "Unter enabling approach wird ein Förderkonzept verstanden, das Planung und Durchführung von Vorhaben der örtlichen Gemeinschaft überläßt, während der Staat die Infrastruktur und andere Hilfen zur Selbsthilfe zur Verfügung stellt." (BMU o.J.: 57; Agenda 21, Kap.7).
Vgl. hierzu auch die Sozialstaatsklausel im Grundgesetz und den aus Art.1 und Art.20 GG abgeleiteten Fürsorgeanspruch (siehe Kap. 1.3.2.3).
Im Zusammenhang mit dieser Debatte wurde beispielsweise die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für ArbeitnehmerInnen gestrichen.
Nach KOPATZ besteht "schätzungsweise achtzig Prozent der kommunalen Tätigkeit (...) in der unmittelbar weisungsgebundenen Ausführung von Bundes- und Landesgesetzen" und nur 20 Prozent fallen unter die Selbstverwaltungsaufgaben (Kopatz 1998: 77).
Eine Übersicht über die einzelnen Träger mit ihren Einrichtungen und Plätzen für den Bereich der "Nichtseßhaftenhilfe" gibt ALBRECHT (1986: 39).
Die Leistungsorientierung der Gesellschaft kann den Menschen, die auf dem (Arbeits-)Markt nicht selbst für eine ausreichende Reproduktion sorgen können, u.U. ein Minderwertigkeitsgefühl vermitteln.
Dieser rückläufige Trend der Haushaltsdefizite in den Kommunen scheint sich nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamt, das auf Basis der Haushaltsplanansätze der Kommunen für 1997 von einem Finanzierungsdefizit aller kommunalen Haushalte in Höhe von 3,5 Mrd. DM ausgeht, zu bestätigen (Statistisches Bundesamt, Mitteilung für die Presse 18.September 1998: http://www.statistik-bund.de).
Nach Angaben des DST lebten die 2,69 Mill. SozialhilfeempfängerInnen Ende 1996 in 1,38 Mill. Haushalten. 56,3% der SozialhilfeempfängerInnen waren Frauen und 43,7% Männer. Die Sozialhilfequote lag in den alten Bundesländern bei 3,6% und in den neuen bei 2% (DST 1998: 534).
Besonders stark fiel der Anstieg dabei in den neuen Bundesländern aus. Hier stieg der Anteil der HilfeempfängerInnen von 2% in 1996 auf 2,5% im Jahr 1997. Zum Vergleich, in Westdeutschland liegt die Sozialhilfequote bei 3,8% (Süddeutsche Zeitung, 20.08.1998: 1). Die Geschlechterrelation der SozialhilfeempfängerInnen hat sich gegenüber 1996 nur geringfügig verändert und liegt 1997 bei 56,1% Frauen- und 43,9% Männeranteil (Süddeutsche Zeitung, 20.08.1998: 1). Gut eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren bezogen 1997 Sozialhilfe (Süddeutsche Zeitung, 07.01.1999: 21).
In diesem Kapitel wird bewußt versucht, die Bezeichnung "kommunale Obdachlosenpolitik" zu vermeiden, da diese Formulierung ein über die Grenzen einzelner Fachverwaltungen hinaus gehendes konsistentes, abgestimmtes bzw. geplantes Vorgehen suggeriert, das in der kommunalen Praxis für den Bereich der Wohnungs- und Obdachlosigkeit jedoch selten gegeben ist. Wie noch gezeigt wird, sind eine Vielzahl von Ämtern und Abteilungen mit dem Problem Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den Kommunen befaßt, so daß daher in dieser Arbeit von "kommunaler Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit" gesprochen wird.
"Sie [die Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonderfällen; d.Verf.] soll gewährt werden, wenn sie gerechtfertigt und notwendig ist und ohne sie Wohnungslosigkeit einzutreten droht" (§15a Abs.1 Satz 2 BSHG).
Im Bereich der Nachsorge und der karitativen Einrichtungen sind vor allem nicht-kommunale Wohlfahrtsverbände aktiv, die ihre KlientInnen und Aufgaben von den Kommunen übertragen bekommen (Albrecht 1986: 38ff).
Im Ordnungsbehördengesetz des Landes Nordrhein-Westfalen i.d.F. vom 13.05.1980 heißt es wie folgt: "Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren" (§14 Abs.1 OGB des Landes NRW). Und weiter: "Verursacht eine Person eine Gefahr, so sind Maßnahmen gegen diese Person zu richten" (§17 Abs.1 OBG des Landes NRW) (DST 1987: 79).
Vgl. hierzu Kapitel 2.1.1 mit den Anmerkungen zur 'mobilen Armut' und zur 'erzwungenen' Nicht-Seßhaftigkeit.
Neben München und Köln ist dem Autor auch eine "Fachstelle für Wohnungsnotfälle" in Duisburg bekannt (für nähere Informationen siehe: Stadt Duisburg (Hrsg.) (1998): Bausteine einer Lokalen Agenda für Duisburg. Agenda 21. Zukunftsfähige Projekte der Stadt Duisburg. Duisburg, S.28f).
Diese Vermutung lassen zumindest die Erfahrungen aus dem ExWoSt-Forschungsprogramm des BMBau "Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" aufkommen, in dem in keiner der ausgewählten sieben deutschen Kommunen (sechs davon Großstädte) eine "zentrale Fachstelle" oder vergleichbares existierte (BBR 1998: 16).
Vgl. in diesem Zusammenhang Kapitel 2.1.3 Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit und deren Folgen.
Einige der im folgenden aufgeführten Beispiele und andere mehr sind sehr anschaulich in BLUM (1996) an verschiedenen Stellen aufgeführt (insb. Blum 1996: 20).
Exemplarisch für diese Entwicklung seien hier die sog. Daimler-City "Potsdamer-Platz-Arkaden" in Berlin und das "CentrO" in Oberhausen genannt.
Auch in diesen Punkten liefert der bereits erwähnte Bericht des BBR zum Abschluß des ExWoSt-Forschunsgfeldes "Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" (BBR 1998) einige interessante Beispiele.
Ein sehr treffendes Beispiel stellt folgende Einzeläußerung dar, die keinesfalls auf andere Kommunen und die dort mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit Beschäftigten übertragen werden darf, die aber dennoch an dieser Stelle wiedergegeben werden soll: "Es ist doch eine Schande und eine Belästigung, wenn die Penner saufend und pöbelnd in der Unterführung vom Stachus sitzen, sich prügeln, Passanten beleidigen und an die Schaufenster urinieren" (Uhl zitiert nach: Gillies: "Ich bin Michael und HIV-positiv" in: Die Welt, 12.12.1998). Des weiteren empfiehlt UHL, Kreisverwaltungsreferent der Stadt München, "Arbeits- oder Erziehungsanstalten, in die eingewiesen, wo betreut, behandelt und zur Arbeit gezwungen wird" (Gillies: "Ich bin Michael und HIV-positiv" in: Die Welt, 12.12.1998).
Einen Überblick bietet eine Zusammenstellung verschiedener Strategien in ausgewählten Städt im "straßenmagazin motz" (Ausgabe 12/97, 3.Jg., 26.05.1997, Berlin).
Das Gutachten "Die Regelung des Aufenthaltes von Personen im öffentlichen Raum" wurde von Prof. Dr. Hecker an der Verwaltungshochschule Wiesbaden verfaßt (Hecker 1997: 248).
Schaffelder, Christoph (1998): Gegen ein Bündnis für Zwangarbeit - Erstes Berliner Arbeitslosengelöbnis. in: looser/strassenfeger, Ausgabe Juli/1998, Berlin, S.17.
Hier sei noch einmal an die Summe von 700 Mio. bis zu 1 Mrd. DM an Mietkosten der Kommunen für Hotels und Pensionen pro Jahr erinnert (Specht-Kittler 1992: 36).
Vgl. zur Logik der Erhaltung und Verselbständigung von Institutionen Kap.2.2.5.
Auch der BBR-Bericht zieht aus den im ExWoSt-Forschungsprogramm gewonnenen Erfahrungen diesen Schluß: "Wünschenswert ist in jedem Fall eine finanzielle Absicherung von Einrichtungen, die als "Soziale Wohnraumhilfen" fungieren und somit mit der Wohnungsversorgung besonders hilfebedürftiger Gruppen eine öffentliche Aufgabe übernehmen" (BBR 1998: 116).
Universität Trier
Fachbereich IV: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
- Soziologie -
Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen
Entwicklung und Umsetzung des Leitbildes sozialer Nachhaltigkeit am
Beispiel der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Diplomarbeit im Fach Soziologie
Gutachter
Prof.Dr.Dr. Bernd Hamm
Lehrstuhl für Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie
vorgelegt am 28. Mai 1999
von
Jan Hendrik Trapp
Kreutzigerstraße 5
10247 Berlin
Tel.: 030 - 29493510
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Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen
Entwicklung und Umsetzung des Leitbildes sozialer Nachhaltigkeit am Beispiel der kommunalen Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit. (Kurzfassung der Arbeit)
Vorab: Obdach- und Wohnungslosigkeit zählen zu den extremsten Formen der Armut, "denn nichts, aber auch gar nichts wiegt so schwer, als keinen Ort mehr zu haben, der minimalste Privatheit garantiert und minimalsten Schutz bietet“.#
Mit dem hier vorgestellten alternativen Ansatz sozial nachhaltiger Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit soll den EntscheidungsträgerInnen und den Verwaltungen in den Kommunen, aber auch lokal tätigen Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie interessierten und engagierten BürgerInnen ein praktikabler Weg gewiesen werden, die Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit vor Ort sozial nachhaltig zu gestalten.
Nachhaltige Entwicklung - soziale Nachhaltigkeit
Das globale Leitbild Nachhaltige Entwicklung ist als Versuch entstanden, aus dem dominanten, nach permanentem Wachstum strebenden Entwicklungsparadigma auszubrechen und einen alternativen Weg für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aufzuzeigen.
Übereinstimmung unter den in dieser Arbeit herangezogenen AutorInnen besteht darin, daß soziale und ökologische Nachhaltigkeit auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben sind und nicht separat voneinander analysiert und verstanden werden können.
Im Kontext der sozialen Dimension von nachhaltiger Entwicklung rücken insbesondere drei Begriffe in den Mittelpunkt: Gerechtigkeit, Sozialverträglichkeit und soziale Integration.
Die einzelnen Merkmale des Kriterienkataloges sozialer Nachhaltigkeit sind in drei Ebenen gegliedert, die sich durch unterschiedliche Abstraktionsgrade auszeichnen:
Auslegung der allgemeinen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung für die soziale Dimension: Ressourcenschonung als Schonung ökologischer, ökonomischer und sozialer/humaner Ressourcen, globale Gerechtigkeit als Beitrag auch zu intraregionaler sozialer Stabilität, Langfristigkeit sozialer Prozesse, Themenintegration, Integration gesellschaftlicher Gruppen.
Abstrakte soziale Kriterien: Sozialverträglichkeit, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, kulturelle Identität und Vielfalt.
Konkrete Ziele mit z.T. räumlichem Bezug: Armutsbekämpfung, Abbau von Diskriminierungen, Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten, Vermeidung bzw. Abbau sozialräumlicher Segregation.
Diese Kriterien werden unten für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit weiter differenziert.
Gesellschaftliche Integration und sozialer Ausgleich sind zwei zentrale Merkmale der sozialen Dimension einer nachhaltigen Entwicklung. Unter diesen Prämissen nimmt die Arbeit insbesondere in den Kapiteln zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorwiegend die Perspektive der sozial zu integrierenden Menschen, also der Wohnungs- und Obdachlosen, ein.
Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Um den Kriterienkatalog sozialer Nachhaltigkeit für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu spezifizieren, werden kurz eine Definition und die wichtigsten Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit genannt.
Als obdachlos wird bezeichnet, "wer ohne Wohnung ist, wessen Wohnung ohne menschenwürdige Ausstattung ist, wer nicht in der Lage ist, sich und seinen Familienangehörigen eine Wohnung zu beschaffen (oder zu erhalten), wer in einer der öffentlichen Hand gehörenden Unterkunft untergebracht oder aufgrund entsprechender gesetzlicher Vorschriften in eine Normalwohnung eingewiesen ist“.#
Die Ursachen und Wege in die Obdachlosigkeit sind zahlreich und vielfältig miteinander verknüpft. Daher ist von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge auszugehen, das über wechselseitig aufeinander bezogene Einflußgrößen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen kann.#
Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, daß Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Obdachlosigkeit ist# - vor allem in kapitalistischen, auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Industriegesellschaften.
Die Kausalbeziehung zwischen einer Unterversorgung mit (bezahlbarem) Wohnraum, von der primär in Armut lebende sowie Personen der unteren sozialen Schichten betroffen sind, und Obdachlosigkeit ist evident. "Der Mangel an billigem Wohnraum ist eine der entscheidenden Ursachen für die Aufrechterhaltung und Neuentstehung von Obdachlosigkeit“.#
Die zuvor zusammengestellten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aller drei Ebenen, die allgemeinen Nachhaltigkeitskriterien, die abstrakt sozialen und die konkreten Ziele, können für den Problembereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit übernommen werden. Sie müssen jedoch an die Anforderungen des Bereichs Wohnungs- und Obdachlosigkeit und der betroffenen Personen angepaßt und spezifiziert werden.
Dabei lassen sich folgende Merkmale benennen: Armutsbekämpfung, Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten, Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten, ‘Empowerment’ der Zielgruppe, ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ statt dauerhafter Alimentation, Abbau von Diskriminierungen bzw. Integration benachteiligter Menschen und Gruppen sowie Schaffung von (dauerhaften) Arbeitsplätzen oder Vermittlung von (sinnvollen) Tätigkeiten.
Partizipation und Kooperation an der Ausarbeitung und Konzeptionierung von Maßnahmen, die je nach Zielgruppe einfach nur angeboten oder auch gefördert und sogar eingefordert werden sollte, sind zentrale Kriterien sozial nachhaltiger Wohnungs- und Obdachlosenpolitik in Kommunen.
‘Empowerment’ soll den Obdachlosen Mut zu machen, aktiv zu werden, sich auf eigene Fähigkeiten und Stärken zu besinnen und das Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Trotz der in vielerlei Hinsicht berechtigten Kritik birgt der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe auch Chancen, Wohnungs- und Obdachlose langfristig aus ihrer prekären Situation herauszuführen. Daher wird die Hilfe zur Selbsthilfe als ein Merkmal für eine sozial nachhaltige Obdachlosenpolitik in Kommunen dem Kriterienkatalog hinzugefügt.
Die Gruppe der Wohnungs- und Obdachlosen ist starken Diskriminierungen ausgesetzt. Ein Abbau der Diskriminierungen und Benachteiligungen dieser Menschen und deren Integration in die Gesellschaft ist eine fundamentale Aufgabe und Ziel sozial nachhaltiger kommunaler Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Kommunale (Sozial-)Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit besteht die Aufgabe kommunaler Wohnungs- und Sozialpolitik darin, einkommensschwache und sozial benachteiligte Haushalte, die aus eigenen Mittel nicht dazu in der Lage sind, mit Wohnraum zu versorgen.#
Durch die mangelnde Koordination der das Problem Obdachlosigkeit betreffenden Politikbereiche und Verwaltungseinheiten ist ein ganzheitliches, problemadäquates und die Ursachendimensionen integrierendes Vorgehen kaum möglich.
Die kommunale Politik im Kontext von Obdachlosigkeit hat aufgrund der zahlreichen rechtlichen Fixierungen im Sozialgesetzbuch und im Bundessozialhilfegesetz in hohem Maße Vorgaben von Bund und Ländern umzusetzen. Die Organisationsstruktur der Verwaltungen und des Hilfesystems funktioniert nach klassisch administrativen und hierarchischen Mechanismen,# die durch ‘top-down’ Verfahrensweisen gekennzeichnet sind. Die Einrichtungen der "Nichtseßhaftenhilfe“ in Kommunen sind primär auf Unterbringung und Versorgung der Betroffenen entsprechend der "klassischen Fürsorgeprinzipien verhaftet“.#
Letztlich hat sich die Obdachlosenpolitik in Bund, Ländern und Kommunen in einem "sehr beständig erwiesen: in der Unzulänglichkeit, die Kontinuität sozialer Benachteiligung zu durchbrechen“.#
Als Kritik an der kommunalen (Sozial-)Politik im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit kann festgehalten werden, daß durch die Vorgabe von Empfehlungen, Anweisungen oder Entscheidungen durch höher geordnete Instanzen oder Institutionen die Betroffenen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Damit werden die Kriterien der Partizipation der Zielgruppe an der Konzeptionierung von Strategien und konkreten Projekten und der Kooperation in der Umsetzung von Strategien und konkreten Projekten verletzt.
Strategien und Ansätze eines ‘Empowerment’ der Zielgruppe und der ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ statt dauerhafter Alimentation, die einen Beitrag dazu leisten könnten, die Betroffenen dauerhaft aus ihren sozialen Notlagen herauszuführen, werden nur gelegentlich in experimentellen Maßnahmen und Projekten angewendet.
Alternativer Ansatz einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Ausgehend von dieser Kritik soll der tradierten kommunalen Obdachlosenpolitik nun ein alternativer Ansatz gegenübergestellt werden, der entlang der entwickelten Kriterien sozialer Nachhaltigkeit aufgebaut ist.
Dem entwickelten Alternativentwurf für eine kommunale Obdachlosenpolitik, die sich an Grundsätzen sozialer Nachhaltigkeit orientiert, liegt die normative Annahme zugrunde, daß sich die gegenwärtige Sozialpolitik von ihrer Rolle und Funktion als ‘sozialer Reparaturbetrieb’ hin zu einer präventiven, Menschen zu selbständigem Handeln und Selbstorganisation motivierenden Politik wandeln muß. Dabei darf der Staat jedoch keinesfalls aus seinen originären Pflichten der sozialen Sicherung und Versorgung mit sozialen Einrichtungen entlassen werden.
Der Alternativentwurf besteht aus zwei Bausteinen: zum ersten einer zentralen Koordination der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure sowie zum zweiten einer dauerhaften Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Pro#jekte.
Eine zentrale Koordination muß primär eine schnelle und reibungslose Abstimmung der mit dem Problem Obdachlosigkeit befaßten Verwaltungsressorts und der freien sozialpolitischen Akteure in Kommunen leisten. Sie kann den Sachverstand der speziellen Ämter bündeln und diesen integriert auf das komplexe Problem Obdachlosigkeit anwenden. Die zentrale Koordination der Zusammenarbeit von kommunaler und freier Wohlfahrtspflege soll eine Gesamtplanung aller zum Einsatz kommenden Hilfen gewährleisten.
Als fundamentaler Gesichtspunkt dieses Bausteines ist die Kooperation der betroffenen Obdachlosen selbst oder zumindest ausgewiesener und mit der Aufgabe betrauter ‘Agenten’ derselben an Planung und Durchführung von Strategien und Maßnahmen hervorzuheben, die gesamtstädtisch von einer kommunalen zentralen Koordinierungsstelle organisiert werden sollte. Neben der besseren Abstimmung der konkreten Maßnahmen und Strategien auf die spezifischen Bedürfnisse der entsprechenden Zielgruppe ermöglicht die Beteiligung der Zielgruppe in Form von Partizipation und Kooperation auch gesellschaftlich integrative Wirkungen.
Partizipation und Kooperation sind insbesondere auch vor dem Hintergrund eines frühzeitigen Informationsaustausches und damit vor dem Vorsorgeprinzip zu sehen. Ein zentrales Instrument und zugleich wichtige Voraussetzung, um Prävention leisten zu können, ist eine qualitativ hinreichend genaue und rechtzeitig verfügbare Daten- und Informationsbasis, die auch über den zur Partizipation und Kooperation notwendigen kommunikativen Austausch der beteiligten Akteure gewonnen wird.
Mit dem zweiten Baustein des alternativen Ansatzes sozial nachhaltiger Politik im Bereich Obdachlosigkeit in Kommunen - einer dauerhaften Unterstützung quartiersbezogener, problemlagenorientierter (Selbsthilfe-)Pro#jekte - soll auf "die notwendige Akzentverschiebung von der Sozialarbeit als nachsorgender Einzelfallhilfe hin zu einer bedürfnis- und lebenslagenorientierten Gemeinwesenarbeit“# eingegangen werden. Eine "bedürfnis- und lebenslagenorientierte Gemeinwesenarbeit“ zur Prävention und zum Abbau von Obdachlosigkeit wird sich vorrangig auf Nachbarschaften und kleinteilige Quartiere beziehen, da in diesen kleinen räumlichen Einheiten die Bedingungen sowohl für eine den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen adäquate Herangehensweise als auch für eine gezielte, effiziente Betroffenen#aktivierung am geeignetsten erscheinen.#
Das in diesem Rahmen geleistete Engagement muß honoriert und als Arbeit anerkannt werden. Mit dieser Forderung geht einher, daß "eine Abkehr von der Erwerbsarbeitszentrierung des Sozialstaats durch die (weitgehende) Entkopplung sozialpolitischer Leistungsansprüche von der Erwerbsarbeit (...) gleichsam die verschatteten Arbeitsformen anerkennen“ soll.# Damit bekämen Selbsthilfe und Selbstorganisation einen neuen Stellenwert in der Kommune und ihre sozialintegrativen Leistungen und Beiträge würden entsprechend anerkannt.
Die Kommunen sollten die Rahmenbedingungen für quartiersbezogene, problemlagenorientierte (Selbsthilfe-)Projekte verbessern und den Initiativen eine sichere, planbare und dauerhafte Grundlage bieten. Diese dauerhafte, ausreichende finanzielle, institutionelle und organisatorische Unterstützung der Selbsthilfemaßnahmen und -struk#turen können von den Kommunen sichergestellt werden. Diese Forderung bildet die Quintessenz des zweiten Grundbausteins sozial nachhaltiger Politik in Kommunen für den Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Fazit
Die Kommunen mit ihren Verwaltungen fungieren in diesem Ansatz einer sozial nachhaltigen Politik im Bereich Obdachlosigkeit eher als Organisatorinnen, Koordinatorinnen und Mediatorinnen sowie als Finanziers. Eine diese neue Rolle der Kommunalverwaltungen unterstützende Kraft könnte von den in Kapitel 28 der Agenda 21 geforderten Konsultationsprozessen der lokalen Entscheidungs#trägerInnen mit der Bevölkerung ausgehen.
Neu an einer sozial nachhaltigen Politik in Kommunen im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist die starke Ausrichtung auf einen partizipativen und damit auch auf einen gleichberechtigteren Umgang der in diesem Bereich Tätigen mit den wohnungs- oder obdachlosen Personen. Es muß versucht werden, die Betroffenen stärker als dies bisher der Fall ist, in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse und Maßnahmen einzubeziehen. Darüber hinaus muß dem Verlust eigenen Wohnraums - allein aus ökonomischen Überlegungen heraus - stärker als bisher präventiv begegnet werden. Und schließlich muß die "Kommstruktur“# der sozialen Unterstützungsangebote in einer sozial nachhaltigen (Sozial-)Politik - nicht nur im Bereich der Obdach- und Wohnungslosenhilfe - durch eine "Bringstruktur“ der unterstützenden Institutionen ersetzt werden.
Quellennachweis
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# Blum, Elisabeth (Hrsg.) (1996): Wem gehört die Stadt? Armut und Obdachlosigkeit in den Metropolen. Basel, S.36.
# Haus, Wolfgang, u.a. (1986): Wie funktioniert das? Städte, Kreise und Gemeinden. Mannheim, S.232.
# BMFam (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.), Geiger Manfred; Steinert, Erika (Verf.) (1997): Alleinstehende Frauen ohne Wohnung: soziale Hintergründe, Lebensmilieus, Bewältigungsstrategien, Hilfeangebote. Köln, S.54.
# Greiff, Rainer; Schuler-Wallner, Gisela (Hrsg.) (1990): Mehr als ein Dach über dem Kopf. Weinheim, S.200.
# ebd.: S.12.
# o.V. (1994): Der Schutz vor Obdachlosigkeit ist Aufgabe sozialstaatlicher Wohnungspolitik. In: Eildienst: Informationen für Rat und Verwaltung. (Hrsg.: Städtetag Nordrhein-Westfalen), Nr.17, Köln, S.578-582 (S.579).
# Leibfried, Stephan (1984): Sozialhilfe. In: Eyferth, Hanns, u.a. (Hrsg.) (1984): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Darmstadt, S.948-957 (S.948f).
# Weber, Roland (1984): Nichtseßhaftigkeit. In: Eyferth, Hanns, u.a. (Hrsg.) (1984): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Darmstadt, S.669-676 (S.673).
# Greiff, Rainer; Schuler-Wallner, Gisela (Hrsg.) (1990): Mehr als ein Dach über dem Kopf. Weinheim, S.44.
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# Wegner, Bettina (1989): Subsidiarität und „Neue Subsidiarität“ in der Sozialpolitik und Wohnungspolitik. Regensburg, S.86.
# Opielka, Michael (1997): Leitlinien einer sozialpolitischen Reform. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 48-49, Bonn, S.21-30 (S.25).
# BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung) (1998): Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen. Bonn, S.128.
Im Grunde wurmte mich die Sache ja schon länger. Aber wie das immer so ist, nie kommt man dazu. Immer nimmst Du Dir vor, im nächsten Winter wird alles anders. Aber dann kommt es doch immer wieder anders, als Du denkst. Diesmal fing es an im Oktober, die Tage wurden kürzer und das gefiel mir nun überhaupt nicht. Dunkelheit, das ist immer der Anfang von allem Übel. Und dann kam noch hinzu, daß auch in diesem Jahr wieder die Sommerzeit abgeschafft wurde - einfach so. Dabei hatte ich noch im Sommer - ich erinnere mich genau, es war der 1. August, Petitionen eingereicht an die Bundesregierung, an das Bundesverfassungsgericht, den Ministerrat der EU und an Kofi Anan von der UNO. Insgesammt hatte ich 3 Tage und Nächte an der Schreibmaschine gesessen und 43,30 DM für Porto investiert. Es ging um eine Eingabe für eine Winterzeit, also um im Winter nochmals eine Stunde Zeit zu verschieben zusätzlich zur Sommerzeit. Das Argument war, daß wenn es denn schon kalt wird, dann soll es doch wenigstens hell sein draußen, um einem armen Obdachlosen nicht vollends die gute Laune zu vermiesen. Jedenfalls hatte ich bis Ende Oktober immer noch keine Nachricht, die Stunde Helligkeit wurde in Mißachtung meiner Eingabe schlichtweg abgeschafft und ich war wirklich sauer. Ich meine, so einen Winter draußen zu verbringen, ist keine Kleinigkeit und mit zunehmendem Alter geht einem das wirklich auf die Knochen.
Den Monat November habe ich dann einigermaßen überstanden, vor allem wegen der Selbstmordrate. Also das mache ich grundsätzlich nicht. Das ist ja allgemeinhin bekannt, daß im Monat November die Selbstmordrate am höchsten ist, aber nur deswegen das jetzt mitzumachen - obwohl ich schon manchmal darüber nachdenke, mich umzubringen. Meistens eigentlich nur deswegen, um es irgendwelchen Idioten einmal so richtig zu zeigen. Aber dann denke ich doch, daß es ein bißchen blöd ist, dann danach für die ganze Zeit tot zu sein - so in Wirklichkeit. Und dann belasse ich es meistens bei der Vorstellung davon, wie es sein könnte.
Im Dezember wurde es dann wirklich kritisch. Die erste Weihnachtsfeier ging dann los Ende November, ich glaube am 25. November. Noch hat bisher keiner darüber nachgedacht, wie ungesund und teuer Weihnachten eigentlich ist. Alles geht damit los, daß die Räume viel zu überheizt sind wegen der vielen Leute und dem ganzen Braten von den Gänsen in der Röhre. Und wenn man dann immer wieder raus und rein geht, sei es, um mal kurz einen Schluck zu nehmen oder eine zu rauchen, dann hat man ratz-fatz eine Erkältung weg. Und dann soll mir mal noch einer erzählen, daß die Ernährung von Dominosteinen, fettem Gänsefleisch und Bier auf die Dauer gesund ist. Das ging ja schon am 17. September los. An diesem besagten Tage sichtete ich die ersten Spekulatius bei ALDI. Ich weiß das deswegen so ganz genau, weil an diesem Tage gab es dort Hansa-Pils im Sonderangebot für nur 49 Pfennig eine ganze Woche lang.
Jedenfalls jetzt am Ende der Weihnachtszeit hatte ich 17 Paar Socken, 5 Paar Handschuhe und drei Tüten voller Süssigkeiten, und mußte jeden Tag zwei Mark ins Schließfach werfen, wo das alles und weitere Habseligkeiten von mir verstaut sind. Und die Sachen, die man wirklich brauchen kann, kriegt man in der Regel nie, zum Beispiel gute Unterhosen aus Feinripp, die beim Tragen auch nicht in die Spalte rutschen.
Jedenfalls saßen mein Kumpel Manne und ich an einem Abend kurz vor Weihnachten, an dem gerade ausnahmsweise mal keine Weihnachtsfeier von irgendeiner Wärmestube war, frustriert in der Kneipe rum und wir waren uns einig, daß das so nicht weitergehen könne. Manne hatte eine 15 Uhr aktuell dabei, diese Zeitung, die er auch manchmal verkauft, wenn die strassenzeitung alle ist, obwohl die ja eigentlich für umsonst sein soll. Aber Not macht ja bekanntlich erfinderisch. Wir lasen unser Horoskop für morgen, und bei mir stand was drin von wegen: „Sie sollten endlich Initiative ergreifen!“ und bei Manne, der ja bekanntlich Stier ist, war die Rede von „Höchste Zeit für eine Ortsveränderung!“ - Das ist es, sagte Manne. Wer sagt denn, daß wir den Winter hier in Berlin verbringen müssen. Garmisch-Patenkirchen ist doch viel schöner. Oder Oberammergau.
Glücklicherweise fanden wir nach fünf weiteren Bierchen noch den internationalen Wetterbericht in der Zeitung und waren deswegen gut informiert über den Winter weltweit. Ein paar Orte haben wir dann gleich ausgeschlossen wegen der Kälte. Richtig gestritten haben wir uns dann über Rio de Janeiro (30 Grad, aber bedeckt), Kapstadt (33 Grad, also fast schon zu heiß) und Sydney (31 Grad, wolkenlos). Sydney bekam schließlich den Zuschlag, weil am weitesten weg und wegen der Olympischen Spiele. Und wenn wir schon mal da sind, dann können wir auch teilnehmen, so im Leistungsbetteln als Olympische Disziplin, haben wir uns vorgestellt. Weil als ordinärer Bettler wird man ja einfach weggeschickt. Und eine Straßenzeitung soll es da auch geben, sagte mir Manne: Also Leistungsbetteln, Marathonbetteln, Free-Style. Auf einem Bierdeckel schrieben wir dann alle Wettbewerbsregeln auf, mit Schiedrichter, Ausschluß wegen unsportlichem Verhalten und Dopingkontrolle. Jeder muss ja eine faire Chance haben.
Was wir noch nicht abschließend klären konnten war die Frage, wie wir denn jetzt noch nach Sydney kommen. Wahrscheinlich werden wir nur in Unterhosen bekleidet uns an die australische Botschaft ketten und gegen die Minustemperaturen in Berlin protestieren. Entweder wir kriegen dann sofort Asyl oder aber wir werden ausgeflogen. Und dann verbringen wir den Winter am Strand von Sydney. Schöner Frieren? Wäre ja gelacht. Nicht mit uns. Nicht in diesem Winter. Nie mehr.
Hajo T.
Editorische Notiz 2010: Diesen Text fand ich auf meinem Rechner. Er ist aus dem Jahr 2000. Wahrscheinlich haben wir ihm im Strassenfeger veröffentlicht. Muss ich mal nachsehen. Ich weiss nicht, ob ich ihn geschrieben habe. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ja, ein paar Ideen sind klar und eindeutig von mir. Aber der Stil kommt mir so fremd vor. Kann sein, dass ich beim Schreiben ziemlich besoffen war. Anyway. Die Story ist gut. Egal ob von mir oder irgend einem Geistesverwandten. Lustig ist, 10 Jahre später alles nochmal lustig zu verlinken.