[Standort] Meine Nachbarin träumt wie so viele davon, im Grünen zu wohnen. Das nimmt auch kaum Wunder, denn ein Leben in einer Großstadt bietet nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile. Dazu gehören die räumliche Enge, der Lärm, die nächtliche Lichtverschmutzung und vor allem die weitgehende Abwesenheit von dem, was wir als Natur empfinden. Natürlich gibt es Grünflächen, aber die sind vor allem in innerstädtischen Bereich klein und hoch frequentiert. Der Kauf eines Grundstücks im Umland bietet keine sinnvolle Alternative: Das Pendeln mit öffentlichem Nahverkehr zu Arbeitsorten in der Stadt frisst den Erholungswert wieder auf, und der Betrieb eines Autos ist ebenso umweltbelastend wie nervend – vor allem in den Zeiten von Berufsverkehr oder Stau. Und ganz in die Pampa zu ziehen in eine verlasse Region ist auch keine wirkliche Option.
[Einhegung] Aber es gibt Alternativen. Gerade in Berlin gibt es ausgesprochen viele Kleingartenanlagen. Der historische Grund für die Existenz dieser Flächen liegt ebenfalls in einer Zurück-zur-Natur-Bewegung. Nachdem bekannt wurde, wie gesundheitsschädlich das Leben in den dunklen Kellerwohnungen der engen Hinterhöfe der innerstädtischen Mietskasernen ist, gab es bereits in der Kaiserzeit erste Stimmen, die einen Ausgleich forderten. Ungenutzte Brachflächen und Bauerwartungsland sollte den Arbeiterfamilien zur Verfügung gestellt werden, damit diese die Flächen beackern könnten. Neben dem Aufenthalt im Freien wurde auch der Aspekt der Selbstversorgung mit Obst und Gemüse angeführt. Natürlich gab es noch einen weiteren Hintergedanken: Wer Unkraut jätet, Erde umgräbt und Stauden zieht, demonstriert nicht und hat auch weniger Zeit für die neu entstandenen suspekten sozialdemokratischen Arbeitervereine, de doch nur Umsturz und Chaos wollten.
[Aufbau] Jedenfalls ist meine Nachbarin zusammen mit ihrem Dauerfreund zum Bezirk gegangen und jetzt haben beide einen langjährigen Pachtvertrag für schmales Geld für einen Schrebergarten. Das Ganze hat nur einen kleinen Haken: Das Gelände ist total verwildert und eine Laube gibt es auch nicht. Was für andere ein Nachteil ist, sehen beide als Vorteil: Schritt für Schritt wollen sie sich eine Laube nach eigenen Vorstellungen aufbauen. 35 qm maximal darf die Größe sein, und bei geschickten Aufteilung, so sagen sie, ist das auch völlig ausreichend. Sicher werden sie für kältere Tage auch einen Kaminofen einbauen. Genug Auswahl haben sie ja, wenn sie sich im Ofenshop bei Edinger umsehen. Und das Holz für den Kamin wird bis dahin auch gut abgelagert sein. Denn erst vor ein paar Tagen haben mich beide gefragt, ob ich nicht mal rauskommen wolle. Zum Holzsägen.
Berlin, 17.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] Besucher an Kleingärten 1955 - Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0006359_028_Besucher_an_Kleingärten.jpg?uselang=de
[Attraktion] Als ich dann endlich im Alter von 9 Jahren das Fahrradfahren erlernen konnte, machte ich es mir zur Angewohnheit, täglich nach der Schule in den nahegelegenen Volkspark zu radeln und dort einige Zeit zu verbringen. Ich fuhr alle Wege ab – wohl, um zu kontrollieren, ob noch alles so war wie am vorherigen Tage – und dort, wo es mir interessant erschien, verweilte ich länger. Bei meinen Routinewegen liess ich aber den aufgeschütteten Trümmerberg aus. Der Aufstieg war mit meinem blauen Klapprad einfach nicht zu bewältigen – und im Grunde war der Berg auch etwas für den Winter. Das Plateau war nämlich der Startpunkt für die Rodelbahn. Attraktionen gab es im Volkspark im Grunde nur zwei: Modellbote auf dem grossen, vorderen Blümelteich und Fu0ballspiele im hinteren Teil. Das Mariendorfer Volksparkstadion mit seinen Rängen aus Stein war für den normalen Trainingsbetrieb normalerweise nicht zugänglich, aber davor gab es zwei Schotterplätze, auf denen regelmässig Fu0ballspiele ausgetragen wurden.
[Spielstand] Und so entwickelte ich mich zu einem exzessiven Fussballspielbeobachter. Es gab im Grunde zwei interessante Positionen. Zum eine war mehr oder weniger direkt an der Mittellinie und die andere direkt hinter einem Tor oder leicht seitlich versetzt, so dass ich nicht durch die Maschen gucken musste. Beide Positionen hatten so ihre Vorteile. Wenn das Spiel ausgeglichen war, war von der Mittellinie aus gut zu beobachten, wie das Spiel mal zur einen, mal zu anderen Seite wogte. Von der Hintertorposition liess sich gut beobachten, wie die eine Mannschaft versuchte, ein Tor zu erzielen und die andere, dieses zu verhindern. Dumm nur, wenn sich das Spiel überwiegend auf der anderen Spielfeldhälfte abspielte. Da ich aber mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte ich schnell die Beobachterpostion wechseln. Und so habe ich im Verlauf der Jahre etliche Spiele beobachten können. Das interessante daran war, dass nie abzusehen war, wie es ausging. Gut, es gab auch eindeutige Siege, aber fast genau so häufig kam es vor, dass eine Mannschaft, die in Führung war, das Spiel zum Schluss noch verlor.
[Sportwette] Heute habe ich das Interesse an Fussball nahezu vollständig verloren. Das Spiel ist mir zu wenig komplex, und es stört mich die extreme Kommerzialisierung. Und auch die nationalistische Fixierung, die ich im Grunde widerwärtig finde. Wenn da Lappen hochgezogen und Lieder geträllert werden und alle stehen stramm wie aufgezogen. Das ist doch ausgesprochen dumm. Und für Menschen, die Geld haben, gibt es noch die Möglichkeit, auf den Ausgang des Spiels zu wetten. Und weitere Infos zum Thema stehen selbstverständlich im Internet zur Verfügung. Da für mich Geld keine besondere Bedeutung hat, gebe ich das wenige Geld, was ich habe, dann doch lieber aus für Dinge, die ich für Geld am einfachsten erlangen kann. Aber wenn mich mal jemand mitnehmen würde, vielleicht würde ich mich auch auf die eine oder andere Fussballwette einlassen.
Berlin, 16.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] commons.wikimedia.org/wiki/File:Tepantitla_mural,_Ballplayer_B_Cropped.jpg, Foto by Daniel Lobo (Daquella manera) Small detail of a reproduction of a mural at the Tepantitla complex of Teotihuacan. Cropped and enhanced from a photo by Daquella manera
[Katzenauge] An den Tag meiner Einschulung habe ich kaum Erinnerungen. Es gibt dieses Foto, das mich mit kurzen Hosen, Kniestrümpfen und einer riesengroßen Schultüte zeigt. Die Schultüte war wohl fast so groß wie ich. Dabei war es gar nicht erforderlich, mir den Schulbeginn mit Schokolade und Keksen zu versüßen. Denn Schule war besser als Kindergarten. Alle Schüler hatten auf ihren Stühlen zu sitzen und es gab immer welche Aufgaben. Das war sehr gut, weil so konnten sie mich nicht ärgern. Ich erinnere noch genau, dass wir auf liniertem Papier irgendwelche Kringel malen sollten. Das waren die Vorübungen zum Schreiben von Buchstaben. Meinen ersten Schulranzen habe ich auch noch in Erinnerung. Er war aus hellbraunem Leder und hatte ein Querformat. Im Verlauf der Schuljahre kamen immer mehr Schulbücher hinzu, so daß der Ranzen immer praller gefüllt war. Und auf der Rückseite war ein Reflektor in Gelb – ein sogenannes Katzenauge – befestigt. Das hatte aber schon bald einen Sprung und war sehr zerkratzt. Der Schulranzen war mit groben Garn genäht und ich erinnere mich noch genau, dass er oftmals geflickt werden mußte.
[Lastenträger] Jahre später änderte sich die Schulranzenmode rapide. Es kamen Schulranzen aus Plastik in Mode. Sie waren zwar leichter, aber sehr viel größer, so dass die Schülerinnen im Endeffekt mehr zu tragen hatten. Und sie waren deutlich bunter – ja, es gab eine wirklich beeindruckende Kollektion und auch mehr Reflektoren. Und dann kam eine Diskussion auf, dass die Schüler viel zu viel zu tragen hätten und dass sowohl Eltern als auch Schüler darauf zu achten hätten, keine unnötigen Bücher mitzuschleppen. Welches der heutige aktuelle Stand der Schulranzenentwicklung ist, kann ich gar nicht sagen, da ich mich seit Jahrzehnten damit nicht mehr beschäftigt habe. Das könnte aber anders werden, wenn meine Nichte eingeschult wird und ich auf die Idee komme, ihr einen Schulranzen zu schenken. Oder, noch besser, ich gehe mit ihr rechtzeitig zu einer Schulranzenparty der Region und suche mit ihr zusammen einen aus. Mal sehen, vielelicht ist ja auch für mich ein neuer dabei. Für meine Besuche in der Volkshochschule.
Berlin, 10.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] Schulanfänger, Urdenbach, 3. April 1953, Sammlung Hans Lachmann (Bild 194) This image was provided to Wikimedia Commons by the German Federal Archive (Deutsches Bundesarchiv) as part of a cooperation project. The German Federal Archive guarantees an authentic representation only using the originals (negative and/or positive), resp. the digitalization of the originals as provided by the Digital Image Archive. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_194-0557-15A,_Erster_Schultag.jpg
[Aufgabe] Ich weiss gar nicht mehr genau, wann diese Mode aufkam. Auf jeden Fall war es notwendig, einigermaßen lesen und schreiben zu können. Deswegen würde ich sagen, so etwa in der dritten oder vierten Klasse oder später. Die Dinger waren viereckig, hatten eine Größe von vielleicht 15 x 15 Zentimetern und waren gut ein oder wzei Zentimeter dick. Eines Tages fing es an, und auch ich bekam eines in die Hand gedrückt. Nun war die Not groß. Es musste ein vernünftiger Sinnspruch gefunden werden. Keine Ahnung, was ich damals geschreiben habe – nur soviel weiß ich noch, dass mir Goethe suspekt war. Wahrscheinlich hat mir meine Mutter geholfen und mir einige Vorschläge unterbreitet. Die größte Schwierigkeit bestand aber wohl darin, die Sache fehlerfrei hinzukriegen. So war jedenfalls damals mein Anspruch. Natürlich gab es damals Stifte, mit denen es möglich war, kleine Korrekturen vorzunehmen – den sogenannten Tintenkiller, aber wenn man genau hinsah, sah man es eben doch. Deshalb war es eine gute Methode, den Text schon mal vorzuschreiben und dann nur noch zu übertragen – gaaaanz langsam. Und darunter stand dann meistens: Dein Klassenkamerad Stefan. Diese Poesiealben waren insgesamt also eher schrecklich, und dass ich auch eines hatte, lag im Grunde nur daran, dass alle so eins hatten. Und dann gab es auch noch Dinge zum Einkleben darin: Glitzernde Sterne, Herzchen, Blümchen und so weiter. Ich glaube, ich möchte gar nicht wissen, das ich damals in meiner großen Not den anderen hineingeschreiben habe.
[Abriss] Nur einmal, da gab es ein Problem: Ich war schon dreizehn und mitten in meiner ersten Sinnkrise, als mir mein kleiner Bruder sein Poesiealbum vorlegte. Meinem damaligen Selbstverständnis entsprechend zitierte ich einen Ausschnitt aus dem Musical Hair mit der Textzeile: Wo komm ich her? Wo geh ich hin? Sagt wozu? Sagt woher? Sagt wohin? Mit diesem Text gab es ein Problem: Für meine Eltern war die Sinnfrage mit Gott und Christus ein für alle mal beantwortet (möglicherweise auch deshalb, weil sie sich ernsthaft nichts anderes als das vorstellen konnten), der Text also untragbar und ich erinnere mich noch, dass diese Seite dann aus dem Poesiealbum ganz sorgfältig herausgetrennt und entfernt wurde. Nur wer ganz genau hinsah, konnte da noch was erkennen. Ja, das war wirklich ein Ding.
[Anleitung] Wie auch immer, das Poesiebuch des 21. Jahrhunderts heißt vielleicht Gästebuch oder Facebook oder möglicherweise Pinterest, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben: Man wird daraum gebeten, einen Eintrag zu hinterlassen. Manchmal will mensch das auch freiwillig tun. Und dann ist es natürlich schön, ein passendes Bild zu hinterlassen. Es gibt Portale, um beispielsweise für Facebook Bilder zu finden und einzubinden. 71975 Bilder in 131 Kategorien auf ja-pics.net, das ist schon eine ganze Menge. Und wer genauer wissen will, wie es funktioniert, kann im Netz auch noch eine Anleitung finden. Ich für meinen Teil habe jetzt die Möglichkeit, in den Sozialen Medien nun ganz individuelle Grüße zu versenden.
Berlin, 09.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Album2kleiner.jpg