Guten Tag!
Mumias Abu-Jamals Hauptanwalt Robert R. Bryan reichte am 19. Dezember 08 den letzten möglichen Antrag für ein neues Verfahren ein. Das ist Mumias letzte Initiative, noch jemals auf juristischem Wege frei zukommen. Im Januar wird das höchste Gericht der USA, der Supreme Court, darüber nachdenken, ob sie mehr zu Mumias Antrag hören wollen und/oder ihm ein neues Verfahren geben. Das Gericht ist nicht verpflichtet, den Antrag zu hören. Mit einer öffentlichen Bekanntgabe ist laut Bryan im Februar 2009 zu rechnen.
Gleichzeitig befindet das Gericht über einen Antrag von Philadelphias Bezirkstaatsanwältin Lynn Abraham. Die als "Deadliest DA" bekannte Staatsanwältin fordert die sofortige Wiedereinsetzung der Todesstrafe gegen Mumia. Sie möchte anscheinend weder ein neues Verfahren noch die ihr vom 3. Bundesberufungsgericht eingeräumte Möglichkeit nutzen, einen abgetrennten Jury-Prozeß alleine um das Strafmass zu führen. Bei letzterer Variante hätte sie jedoch noch etwas Zeit, einen entsprechenden Antrag einzureichen.
Robert R. Bryan sagte auf einer Podiumsveranstaltung am 3. November 2008 in Berlin: "Sollten wir unseren Antrag vor dem Supreme Court verlieren und gleichzeitig die Staatsanwaltschaft sich durchsetzen, wird Mumia in nicht mal einem Jahr hingerichtet."
In einem "legal update" Mitte Dezember 2008 fasste Bryan die Situation so zusammen: "Mumia Abu-Jamal befindet sich in der lebensbedrohtesten Lage seit seiner Festnahme 1981." (Original in englisch http://mumia-hoerbuch.de/mumiaenglisch.htm#legalupdate151208 )
Im Dezember 2008 gab es eine weltweite Aktionswoche für die Freiheit von Mumia Abu-Jamal. Verlinkte Berichte zu einzelnen Ereignissen befinden sich weiter unten. Neben vielen Informations- und Kulturveranstaltungen kam es u.a. in Philadephia, Detroit, Mexico City, Caracas, Berlin, Hamburg, Bern, Wien und Barcelona zu Protesten vor Vertretungen der US-Regierung.
Alle Berichte gleichen sich auf mehrfache Art: Die jeweiligen Proteste waren laut und von guter Stimmung der Beteiligten getragen, übertrafen aber nie eine Teilnehmer_innenzahl von maximal 500, oft deutlich darunter. Mediale Wahrnehmung ist außerhalb der Unabhängigen Medien selten erreicht worden. So wichtig die Aktionswoche bestimmt innerhalb der jeweiligen Linken war, um Mumia Abu-Jamal wieder ins Bewusstsein von Aktivist_innen zu bringen, hat sie die im Augenblick notwendige öffentliche Wirkung unserer Meinung nach verfehlt.
Es liegt jetzt wirklich an uns allen, vor einer (vermutlich im Februar 09 stattfindenden) Entscheidung des U.S. Supreme Courts eine unüberhörbare Unterstützung für Mumia aufzubauen.
stefan schneider
Seit über 25 Jahren in Haft – im Sommer 1982 wurde der afroamerikanische Journalist Mumia Abu-Jamal wegen Mordes an einem weißen Polizisten zum Tod verurteilt. Nachdem er sämtliche Berufungsmöglichkeiten gegen seine Verurteilung ausgeschöpft hat, steht sein Fall nun vor einem US-Bundesgericht zur endgültigen Entscheidung an.
Sein Fall ist von zentraler Bedeutung für den Kampf gegen die Todesstrafe – in den USA und damit auch der restlichen Welt. Rassismus, Klassenjustiz und die juristische Verfolgung eines Gegners des Status Quo resultierten hier in einem so grotesk unfairen Verfahren, dass Amnesty International sich zu dem ungewöhnlichen Schritt entschloss, ihm einen eigenen 32seitigen Bericht zu widmen: Ein Leben in der Schwebe. Der Fall Mumia Abu-Jamal.
Ein Fall von enormer Bedeutung
Der Ausgang dieses Verfahrens wird nicht allein über das Schicksal Abu-Jamals entscheiden, sondern gleichzeitig über das vieler Tausender in den USA zum Tod, oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilter Strafgefangener, denn in ihm bündelt sich auf beispielhafte Weise alles, was die Todesstrafe und eine ausschließlich auf hohe Strafurteile fixierte Justiz fragwürdig macht:
Anke Haarmann
Public Blue: eine Besetzung des öffentlichen Raums.
Wohnungslose in Japan
Überall in den öffentlichen Räumen japanischer Großstädte leuchten knallblaue Plastikplanen. Es sind Zelte, grob gezimmerte Hütten oder Sperrholzbaracken, mit wasserdichten, blauen Planen bedeckt. Manchmal sind diese Zelte verstreut, andernorts in Reihe gestellt oder zu kleinen Kommunen gruppiert. Wäschehalter hängen an den Befestigungsleinen, Schuhe sind vor den Eingängen abgestellt und Fahrräder parken an der Seite. Menschen leben unter diesen blauen Planen, und sie besetzen mit dieser wohnungslosen Wohnform den öffentlichen Raum Japans. Sie leben in den Parks, an den Flussufern, am Rande größerer Straßen, in der Nähe von Bahnhöfen, unter Überführungen und Brücken und sie nennen sich No-juku-sha[1] – die „Camper auf dem Felde“.
Der Begriff der Wohnungslosigkeit beschreibt die Situation dieser Camper nur unzureichend. Slums, Favellas, Barackendörfer, alle diese Begriffe umkreisen das blaue Phänomen der japanischen Großstädte besser. Trotzdem treffen auch diese Vokabeln mit ihrer Elendsmetaphorik nicht die Situation der Zeltbewohner, lassen doch die leuchtend blauen Plastikplanen beim flüchtigen Betrachten den Gedanken aufsteigen, dass die Zelte in den Parks ein vergleichbar angenehmes Wohnen versprechen, verglichen mit den Standards, mit denen viele „wohnhafte“ Japaner vorlieb nehmen müssen.
Sind die massenhaften Bewohner des öffentlichen Raums in Japan ein Zeichen der Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen, deren Lebenssituation ignoriert und deren Dasein in Japan diskriminiert wird, oder sind die eigenständig erbauten Unterkünfte eine Manifestation selbstbestimmter Lebensformen, die es in Japan selten gibt und die es zu verteidigen gilt? Statistisch liegt Japan hinter den USA auf Platz zwei der internationalen Rangliste des Bruttonationaleinkommens. Es ist eines der reichsten Länder dieser Erde. Selbstverständlich sagt der Index nichts über die Verteilung des nationalen Vermögens aus. Anders allerdings als die USA gilt Japan als homogene Mittelstandsgesellschaft. Das Image des ostasiatischen Landes ist von einer friedlich-fröhlichen Mischung aus familiären Werten und Hochtechnologie, Samurai-Ethos und Angestelltenkultur, Zen-Ästhetik und Manga-Pop geprägt. Und tatsächlich sind familiäre Werte und Angestelltenkultur ein verbreitetes Phänomen. Weniger verbreitet ist allerdings das Wissen, dass jene, die aus dem System von Firma und Familie herausfallen, vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden und häufig im öffentlichen Raum landen – ein urbaner und politischer Ort, der seinerseits nicht wirklich zum japanischen Selbstverständnis dazuzugehören scheint.
Das Lokale und das Globale
Was aus europäischer Perspektive überrascht, ist die Masse der Obdachlosen und das Vorkommen von Elendsvierteln in einem Land, das für durchgehend mittelständisch gehalten wird. Viele Zeltdörfer sind zwar von der Räumung bedroht, zugleich haben sie sich überhaupt in diesem Ausmaß etablieren können. War diese Entwicklung möglich, weil die japanische Ordnungsmacht gegen die massenhafte Verelendung der Gesellschaft nicht ankommt? Lässt sich anhand der japanischen Zeltbewohner also paradigmatisch die zukünftige Entwicklung auch westlicher Industrienationen ablesen und steht Japan damit einmal mehr als Vorreiter im Zentrum der Aufmerksamkeit? Oder materialisiert sich am öffentlichen Blau der Zelte und Baracken eine spezifisch japanische Verschränkung von globalen ökonomischen Prozessen und lokalen Verständnissen von Stadt, Politik und Menschenwürde?
Was tatsächlich irritiert, ist die fast ständische Diskriminierung der homeless people[2] als Untermenschen und darüber hinaus der Mangel an sozial-politischer Artikulationsfähigkeit in einer Gesellschaft, die für demokratisch gehalten wird. In Japan spricht man über Politik im Allgemeinen nicht gerne. Kritik an den Verhältnissen wird als Aggression und Mangel an Loyalität wahrgenommen und die Lebenssituation der Einzelnen gilt als Folge von deren persönlichem Erfolg oder Versagen. Die Kollektividentität, für welche die japanische Kultur bekannt ist und deren wirtschaftliche Erfolgsdynamik vom internationalen Management gelobt wird, hat scheinbar auf der anderen Seite der Erfolgsmedaille keine Bedeutung mehr. Die gesellschaftlichen Strukturen, durch deren Dynamik Individuen nur begrenzt die eigene Lebenssituation in der Hand halten können, werden ignoriert. Andererseits entdecken gerade die No-juku-sha, die aus dem japanischen Kollektivbewusstsein Ausgeschlossenen, das Politische als ein Instrument der Artikulation, organisieren sich in Gruppen und machen sich ihre eigene Situation als Effekt gesellschaftlicher Kräfte klar. Es sind bei weitem nicht alle, die sich organisieren, aber jene, die es tun, eignen sich darin räumlich wie politisch die Öffentlichkeit an, die sie bewohnen. Sie knüpfen mit dieser Politisierung ihrer Existenz an eine lange Geschichte marginalisierten politischen Bewusstseins und Organisationswillens an, den es in Japan gab, auch wenn die offizielle Geschichtsschreibung den eigensinnigen Strom japanischen Individualismus gegenüber dem offiziellen Selbstverständnis loyalen Kollektivbewusstseins vernachlässigt hat.[3]
In den blauen Unterkünften verschränken sich lokale japanische Geschichte und globalisierte politische Diskurse, marginalisierte Selbstverständnisse und herrschendes ständisches Distinktionsbewusstsein, städtischer Raum und gesellschaftliche Struktur.
Öffentlicher Raum
Die blauen Behausungen, die in Parks, auf Verkehrsinseln, unter Brücken oder hinter Bahnhöfen in den japanischen Städten aufgebaut sind, besetzen ideell und real einen Raum, der in Japan häufig als Durchgangspassage zwischen Arbeitsplatz und Familienheim nur durcheilt wird. Kouen, das japanische Wort für Park, meint nicht alleine „Grünfläche“, sondern steht für die öffentliche Anlage im Allgemeinen, aber es bezeichnet damit einen urbanen Raum, der gesellschaftlich wenig belebt ist, obwohl er nach der Öffnung Japans im 19. Jahrhundert überall städteplanerisch geschaffen wurde.
Die traditionelle japanische Stadtplanung sah keine öffentlichen Plätze vor und das Konzept von Öffentlichkeit hatte keinen allgemein zugänglichen Ort. Japanische Städte wurden um den kaiserlichen Hof oder die militärischen Burgen herum gebaut.[4] Wichtige Metropolen sind in der Tokugawa-Zeit (1600-1869) entstanden und fungierten als Festungen des Militärherrschers – dem Shogun – und der Landesfürsten – den Daimyõ. Die politischen und architektonischen Zentren dieser Städte waren die Burgen der Herrscher. Diese waren nicht offen angelegt, sondern von Mauern umgeben und durch Gräben verschanzt.[5] Zugang zu den inneren Höfen der Macht hatten die Angehörigen der Kriegerkaste – die Samurai, die als Beamte die politischen und wirtschaftlichen Geschäfte führten. Jenseits dieser geschlossenen Mitte lichtete kein Platz, kein Park, kein Markt das städtische Straßengeflecht und Häusergewirr. Edo, das heutige Tokio, das vom Militärherrscher Japans zur Tokugawa Zeit errichtet wurde, war spiralförmig um die Herrscherburg angelegt und durch ein unübersichtliches Gewirr von Straßen, Gassen und Mauern für Ortsfremde nur als Labyrinth wahrzunehmen.[6] Ziel dieser Stadtplanung war es weniger, das städtische Leben zu ermöglichen, als vielmehr den feindlichen Zugriff auf das Zentrum der Macht zu verhindern. Die einzelnen Stadtviertel bildeten Schutzblöcke um die militärische Burg herum. Die Bewohner waren nach sozialen Schichten in die Bezirke aufgeteilt, Mauern umgaben teilweise die einzelnen Viertel, machten sie zu Sackgassen und reduzierten die Durchlässigkeit für Dinge, Menschen und Ideen. Anstelle der Marktplätze hat das japanische Wirtschaftssystem fliegende Händler etabliert. Diese Handelsleute – die Chõnin – suchten die Kunden an ihren Wohnstätten auf. Begrenzte wirtschaftliche oder auch soziale Begegnungen fanden auf den Egawas statt, terrassenartigen Plattformen um die Häuser herum, die einen neutralen Ort im Dazwischen von häuslichem Drinnen und städtischem Draußen etablierten. Händler oder Besucher setzten sich hier von der Straße aus auf die Holzplanken, ohne die Schuhe ausziehen und das Innere des Hauses betreten zu müssen. Hausbewohner knieten von innen kommend auf den Holzplanken, ohne sich die Schuhe anziehen und die häusliche Architektur verlassen zu müssen. Die traditionelle Haus- und Stadtarchitektur bot Zwischenräume des Sozialen für einzelne Begegnungen, aber keine offenen, für alle zugänglichen, wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Orte der Versammlung, des öffentliches Austausches oder gar der Zusammenrottung an. Zusammenkünfte größerer Art fanden innerhalb der Mauern von Tempeln und Schreinen statt. Diese religiösen Stätten des Shintoismus und Buddhismus boten mit ihren Gärten und Plätzen Raum für kultische Versammlungen und religiöse Festivitäten und sie beherbergten periodisch kleinere Märkte. Zur Kontrolle der priesterlichen Macht zwangen die Herrscher und Landesfürsten der Tokugawa-Zeit viele dieser religiösen Stätten in die Städte hinein, denn ursprünglich waren sowohl die buddhistischen Tempel wie die shintoistischen Schreine in der Landschaft außerhalb der Städte und Dörfer platziert. Häufig auf einem Hügel in der Nähe des Ortes gelegen, wo die Kami – die Götter – landeten und die Menschen sich zu Feierlichkeiten trafen, bildeten insbesondere die shintoistischen Schreine mit den menschlichen Wohnorten eine kulturelle Einheit in räumlicher Distanz. Das kulturelle Zentrum der traditionellen japanischen Kommunen lag gleichsam außerhalb des urbanen Zentrums – in der nahen Natur.[7] Ihre kulturelle Funktion behielten die religiösen Stätten unter Aufsicht der militärischen Herrscher nach ihrer Versetzung in die städtischen Zentren bei. Für das japanische Selbstverständnis sind diese Orte mitunter die ursprünglichen öffentlichen Räume Japans, bevor die innerstädtischen Parks als städteplanerische Importe in die urbane Landschaft implantiert wurden. Der Charakter der Schreine als öffentliche Orte ist vergleichbar mit heutigen Einkaufszentren: ihre Architektur bietet geschlossene Plätze, die durch Eingangspforten zu betreten sind; die Öffentlichkeit strömt zu Festivals und Märkten hinein; die Hausmacht liegt, vermittelt über die priesterlichen Hoheiten bei den Kami, deren „Materialisierungsorte“ die Flächen der Schreine eigentlich sind.
Städtischer Raum und gesellschaftliche Ordnung
Die räumliche Struktur der städtischen Flächen territorialisiert gesellschaftliche Ordnung und reguliert die erlaubten wie die unerlaubten Tätigkeiten der Bewohner. Der Horizont des denkbaren öffentlichen Verhaltens wird durch das Format der Straßen, die Möglichkeiten zum Aufenthalt, die Architektur der Macht und das Arrangement der Wohnorte mitbestimmt. Die Stadt ist sowohl Metapher, als auch Material des Gesellschaftlichen. Die Herrscher der Tokugawa-Zeit hatten eine präzise Vorstellung von der Wirkung des Städteplanerischen auf die Wirklichkeit des Politischen. Edo – das alte Tokio – war eine politische Organisation; eine urban arrangierte Distinktionsanlage und ein militärischer Strategieschauplatz. Der Mangel an Plätzen und die Unwahrscheinlichkeit des nicht arrangierten, nicht festivalisierten, öffentlichen Aufenthalts verringern die Gelegenheit des unerwarteten Ereignisses, der außerplanmäßigen Begegnung oder der unkontrollierten Aktivität.
Das innerstädtische Straßengeflecht japanischer Metropolen ist heutzutage immer noch selten von Plätzen durchbrochen – jenen eigentümliche Mischorten aus physischem Raum, geregeltem Verkehr, wirtschaftlichem Handel, menschlichem Aufenthalt und allgemeiner Zugänglichkeit – obwohl die städteplanerischen Bemühungen Japans nach dem Zweiten Weltkrieg eine Affirmation an westliche Normen zum Ziel hatten. Eher schon lichten riesige Straßenkreuzungen den urbanen Raum zwischen hohen Gebäuden. Diese Öffnungen der Betonlandschaft werden abwechselnd von Auto- und von Menschenmassen überquert und sind eher transitive Passagen denn situative Zwischenräume.[8] Selten laden Sitzbänke zum vorübergehenden Verweilen im öffentlichen Raum ein. Man hält sich an diesen Orten außerhalb der Häuser und Gebäude nicht auf. Aber auch die alten japanischen Familienhäuser mit ihren Engawas sind selten geworden. Häufig im Zweiten Weltkrieg abgebrannt oder in ihrer Holzkonstruktion marode geworden, füllen nun Betonbauten die entstanden Lücken und sorgen für die eklektisch Anmutung japanischer Städte.
Gegenüber dem Mangel an Plätzen haben sich allerdings die Parkanlagen als städtisches Element durchgesetzt. In vielen Fällen sind diese Grünflächen umgewidmete Burgareale. Manchmal sind sie von Zäunen und Mauern umgeben, wie schon die alten Tempelgärten, wenngleich sehr viel großformatiger als diese. In diesen Landschaftsgärten verweilen und flanieren nun die Menschen, treffen sich Gruppen zum Picknick und verbringen Familien ihre Freizeit. Die Erwartungen gegenüber diesen urbanen Orten kollektiver Freizeitgestaltung sind ästhetischer Art. Zum traditionellen Kirschblütenfest – dem Hanamie – bewundern Picknickgruppen bei herzlicher Trunkenheit das Rosarot der blühenden Bäume. Wenn die Kamelien leuchten, die Pflaumenbäume blühen, die Ahornblätter sich orange färben, das Ginkolaub gelb wird oder die Azaleen sich öffnen, strömen Menschen mit Fotoapparaten und begeisterten „oh wie schön“ (kire desu ne) Ausrufen in die Parks und möchten sich erfreuen. Der Öffentlichkeitshabitus sieht geschäftige Eile auf den Straßen und ästhetisches Entzücken in den Grünanlagen vor. Die Ordnung der gewöhnlichen und der ungewöhnlichen Verhaltensweisen weist dem Verweilen einen Raum in der Schönheit zu und – auf der anderen Seite der Parkmauern – der Hast die Infrastruktur des Alltags. Öffentlicher Raum ist indifferente Durchgangspassage oder ästhetischer Verweilbezirk, dabei selten jedoch politisches Terrain oder gesellschaftlicher Aufenthaltsort. Trotz der lebhaften japanischen Geschichte politischen Widerstands sind die Städte heutzutage nur vereinzelt Schauplatz politischer Demonstrationen oder öffentlicher Kundgebungen und der soziale Aufenthalt ist nach festen Maßstäben reguliert. Innerhalb der öffentlichen Logik des Schönen und des Geschäftigen findet das Abweichende wenig Akzeptanz und das Politische, verstanden als dasjenige, was die Normen und Standards hinterfragt und entsprechend agiert findet kaum statt.
Vor dem Hintergrund der entweder transitiv gebrauchten oder reizvoll wahrgenommenen Stadtkulisse überlagert die Wohnform der Nu-juku-sha tatsächlich mit ihrer gleichsam ungeschäftigen und wenig blütenhaften Präsenz die Logik des Öffentlichen. Zum strahlenden Weiß der Kamelien gehört das Knallblau des Himmels, nicht aber das Knallblau der Plastikplanen, welche die Camper zur Absicherung gegen die Witterung benutzen. An den Straßenrändern und neben den Bahnhöfen vernachlässigen die homeless people die Norm öffentlicher Eile. Die Zeltbewohner besetzen die ästhetisch markierten und transitiv genutzten Lichtungen des Öffentlichen. Dort stören sie das habitualisierte Empfinden für öffentliche Tätigkeiten und durchkreuzen den Erwartungshorizont an das Naturschöne ebenso wie an das Alltagsgeschäft. Vielleicht hat die japanische Gesellschaft in ihrer hoch entwickelten Fähigkeit des „Ausschnittblicks“ versucht, das unpassende Blau und ungebührliche Verweilen zu übersehen. Japanische Wahrnehmung, so heißt es in der gängigen Ästhetik, sei fokussiert. Sie vermöge vieles auszublenden, um sich auf die Pracht einer einzelnen Blüte zu konzentrieren. Gleichzeitig konzentriert sich aber die Stadtpolitik zunehmend darauf, mit dem Argument der Verschönerung der öffentlichen Orte, die Zeltbewohner aus den Parks zu räumen. Diese ordnungspolitische Ästhetisierung wendet sich nicht alleine auf der Ebene der Erscheinung gegen die Zelte und Baracken, sondern auch auf der Ebene der Regierungskunst gegen die öffentliche Präsenz einer abweichenden, diskriminierten, als politisch begriffenen Lebensweise.
Einschluss - Ausschluss
Soto meint Außen im Japanischen, im Gegensatz zum uchi, dem Innen. Beide Begriffe beziehen sich auf den räumlichen wie den sozialen Zustand der inneren Dazugehörigkeit oder äußeren Ausgeschlossenheit. Soto bezeichnet keinen sozialen Raum, der sich gegenüber dem Innenraum durch ein Set von anderen Praktiken und spezifischen Dinganordnungen unterscheidet. Soto ist nicht das Andere von uchi, sondern dessen Negation. Gegenüber dem privaten Familienheim ist der Arbeitsplatz nicht die äußere Welt, sondern die Firma selber stellt einen anderen Innenraum der Dazugehörigkeit dar. Uchi und soto verhalten sich nicht wie privat und öffentlich zu einander, sondern wie Sein und Nichtsein – denkbare und undenkbare Orte des Aufenthalts. Eine Existenz im soto ist keine denkbar menschliche, weil Existieren bedeutet, sich in den Innenräumen der japanischen Gesellschaft zu bewegen und dort einen Platz in den Strukturen von Familie, Firma und Nation auszufüllen. Die Grenzziehung zwischen den Innen- und den Außenbereichen der Existenz ist diskriminierend im Sinne einer klaren Trennung und auch im Sinne der sozialen Distinktion. Vielleicht ist es dieses kulturelle Selbst- und Fremdverständnis, das einen gewissen Vorbehalt gegenüber offenen Plätzen bewirkt. Das Öffentliche als Konzept gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Begegnungsraum divergierender Gruppen ist mit dem Ideal eines harmonischen uchi nicht zu verbinden. Öffentlichkeit ist als Aufenthaltsort sich gegenseitig Fremder schwer vorzustellen, weil menschliches Leben bedeutet, Drinnen zu sein: in den familiären Kontexten und Wohnhäusern, den Betrieben und Großraumbüros, den gesellschaftlichen Rollenspielen und urbanen Verhaltensweisen.
Japanische Haushalte sind nicht nur ideell, sondern architektonisch gegenüber der äußeren Welt der Nichtfamilie abgeschottet. Wo die umgebende Holzterrasse fehlt, charakterisieren menschenhohe Mauern, sichtdicht geschlossene Fenster, abgeschirmte Innenhöfe und innen gelagerte Gärten das gewöhnliche Familienhaus. Ie heißt Familie, Haushalt, Sippe, innere Harmonie und Dazugehörigkeit – in der Abgrenzung zum Draußen.
Auch die Arbeitstätten bilden räumlich-soziale Einheiten, die einen Großteil des Lebens der Einzelnen strukturieren. Freizeitgestaltung ist häufig Arbeitsplatzsozialisation und bedeutet, sich mit den Kollegen zu vergnügen. Arbeiter und Angestellte sind sich nicht untereinander solidarisch, sondern gegenüber ihren Betrieben loyal. Zwischen unterschiedlichen Firmen und deren Mitarbeitern herrscht eher indifferente Nichtwahrnehmung denn Konkurrenz. Abseits dieser kollegialen Unternehmensverbände, außerhalb der eingefriedeten Familienhäuser und draußen auf den öffentlichen Anlagen befinden sich die Zeltbewohner im räumlich-kulturellen soto.
Radikales Außenseitertum stellt allerdings für die japanische Kultur keine Ungewöhnlichkeit dar, vielmehr markieren traditionell die diskriminierten Ränder der japanischen Sozialstruktur deren inneres Schichtenmodell. Jenseits der untersten Klasse menschlicher Gemeinschaft lag in der Tokugawa-Zeit immer noch eine Gruppe derer, die nicht einmal das „Recht“ hatten, Steuern zu zahlen. Der Status gegenwärtiger Außenseiter knüpft an die Tradition dieser „Nichtmenschen“ – Hinin – an, die schon seit dem Mittelalter aus der Kategorie der Dazugehörigen ausgeschlossen waren. Auch wenn die Kaste der „Unberührbaren“ offiziell nicht mehr existiert und ihre Diskriminierung gesetzlich verboten ist, durchzieht das japanische Selbstverständnis in Teilen der Bevölkerung immer noch eine feine, aber scharfe Distinktionslinie. Die Ainu von Hokkaido, die Einwohner von Okinawa sowie Koreaner und Chinesen werden als Fremde diskriminiert, Westler mitunter als unzivilisiert betrachtet, aber Hinin oder Buraku sind Namen für japanische Bevölkerungsgruppen, die als unrein galten. Ausgehend von shintoistischen Reinheitsidealen, dem buddhistischen Tötungsverbot und dem konfuzianischen Sesshaftigkeit- und Familienethos gehörten zu dieser Gruppe der Ausgeschlossenen die nomadischen Künstler und Akrobaten, die Prostituierten und Unterhaltungskünstler sowie die Schlachter, Kürschner, Henker, Bettler und Fischer. Die Wandernde, die, welche mit Blut und Tot in Berührung kommen und jene, welche dem Vergnügen dienen – sie alle galten oder gelten als inakzeptabel, unrein, sündig, wobei ihre Markierung vordergründig über die berufliche Okkupation verläuft, tatsächlich aber essentialistischen Charakters ist, weil Familiennamen ebenso wie Wohnorte Menschen von Geburt an zu Buraku machen.[9] Ursprünglich als Eta – Unflätige – bezeichnet und im feudalen Japan als Kaste außerhalb der vierstufigen japanischen Klassenstruktur platziert, entwickelte sich der Begriff der Buraku schließlich aus dem Sachverhalt, dass die Unberührbaren, wenn sie nicht nomadisch waren, getrennt von den anderen Japanern, in abgeschlossenen Kommunen wohnten, häufig an Flüssen, deren Kieselbetten sich nicht zum Reisanbau eigneten. Buraku heißt dörfliche Wohneinheit.
Arbeitend als Tagelöhner, Müll sammelnd, in kleinen Einheiten halbnomadisch in Parks und an Flussufern wohnend, erinnern die No-juku-sha mehr als nur oberflächlich an die Geschichte und den Status der Buraku im japanischen Sozialsystem. Zumindest treffen die Bewohner des öffentlichen Raums mit ihrer Lebensform auf eine historisch verwurzelte und nach wie vor vorhandene Bereitschaft, Teile der Bevölkerung als Außersoziale zu markieren und sich herabwürdigend von diesen abzugrenzen. Möglicherweise bedarf die kollektive japanische Identitätsbildung der Gruppe als unflätig begriffener Anderer zur Bestimmung der eigenen Aufgehobenheit im sozialen Atrium. Mithin wären die Wohnungslosen nicht bloß ökonomisch, sondern auch kulturell ein konstitutiver Effekt der japanischen Gesellschaftsordnung. Mindestens aber sind die Camper auf dem freien Felde nicht Gegenstand gesellschaftlicher Verantwortung und nicht Träger der gleichen Würde – sie sind anders.
Ökonomie der Außenseiter
Osaka, die zweitwichtigste Metropole nach Tokio, beherbergt die meisten der ungefähr 25.000 Wohnungslosen, die es in Japan nach offiziellen Schätzungen gegenwärtig gibt. Viele dieser Wohnungslosen leben nicht in blauen Zelten, sondern nomadisch – nächtigen unter Pappen und verschwinden tagsüber in eine, der Stadtpolitik angenehme, Unsichtbarkeit. Offensichtlicher sind die Zeltbewohner und auch von ihnen lebt ein Großteil in Osaka. Diese Verdichtung der No-juku-sha und Obdachlosen hat sich in den letzten Jahren vor allem deswegen ergeben, weil Tokio einen Teil der sozialen Hilfsleistungen für Wohnungslose eingestellt hat und Kyoto als Ort mit hoher touristischer Attraktivität einen Großteil der Zeltbewohner vertrieb. Viele der homeless people sind nach Osaka gegangen, der Industrie- und Hafenstadt, die Tagelöhnerarbeit auf Niedriglohnniveau bereithält und Arbeitsuchenden – noch – eine warme Mahlzeit zahlt, falls sie keine Anstellung für den Tag gefunden haben. Die meisten No-juku-sha sind solche Tagelöhner. Oder sie versuchen, ihr Überleben mit Kleinstgewerbe zu meistern, indem sie leere Büchsen, alte Zeitungen, gebrauchten Pappkarton sammeln, sortieren und mit niedriger Gewinnspanne weiter verkaufen. Diese Ökonomie der Tagelöhner und Müllverwerter ist keine neuere Erscheinung in Japan. Sie ist nicht erst mit dem Einbruch der Bubble Economy Anfang der 1990er Jahre in Erscheinung getreten. Die Arbeitsplatzbörsen, an denen sich die Arbeitsuchenden ab 4 Uhr morgens zusammenfinden, um sich von Arbeitsvermittlern für Dienste im Hafen, auf dem Bau oder in der Stadtreinigung anheuern zu lassen, spielen seit der Industrialisierung Japans im späten 19. Jahrhundert eine Rolle. Damals wurde die Landbevölkerung als Armee billiger Arbeitskräfte in die Städte geholt, häufig in Elendvierteln untergebracht und über Arbeitsplatzbörsen an Unternehmer vermittelt.
Damals wie teilweise heute noch, vor allem aber in den 1970er und 1980er Jahren, organisierte die japanische Mafia – die Yakuza – Teile des Tagelöhnergeschäfts. Vergleichbar mit Arbeitsagenturen vermittelten Mitglieder der Verbrechersyndikate Tagesanstellungen an Arbeiter und behielten über die Hälfte der niedrigen Löhne ein. Die Rolle der Mafia war oder ist dabei komplex und nicht auf die Vermittlungsarbeit beschränkt. Sie kontrolliert auf der Unternehmerseite Teile des Bau- und Betongewerbes und ist darin ihr eigener Auftraggeber bei der Vermittlung von Tätigkeiten auf dem Bau. Zugleich hielten die Mitglieder der Yakuza die Tagelöhner nicht nur mit Niedriglöhnen kurz, sondern schüchterten sie auch mit Gewalt ein. Arbeiteraufstände, keine Seltenheit in den Armutsvierteln der Großstädte bis in die 1990er Jahre hinein und vielfach durch die Repressalien der Mafia provoziert, wurden häufig von Polizei und Yakuza gemeinsam niedergeschlagen. Darüber hinaus organisierte die Mafia das Glücksspiel, unterhielt billige Massenunterkünfte und regelte damit das gesamte Leben – die Einnahmen und Ausgaben, Freizeitaktivitäten und Nachtunterkünfte – der Unterklasse. Im Tagelöhnermilieu war man dem uchi der japanischen Unterwelt ausgeliefert.
Die gegenwärtige Lage ist unübersichtlich, da die Mafia nach dem wirtschaftlichen Einbruch Japans das Interesse an den Elendsvierteln verloren zu haben schien und sich ihre Bedeutung für das Tagelöhnergeschäft reduzierte. Mythos und Wirklichkeit sind mangels verlässlicher Informationen schwer auseinander zu halten. Aber auch in der undurchsichtigen Abwesenheit beeinflusst die Yakuza als potentielle Gefahr das Handlungsvermögen der Arbeitsuchenden. Insbesondere die Älteren, bei denen die Erfahrung mit der Mafia noch nachhallt, sind sich häufig nicht sicher, von wem sie tatsächlich angeheuert werden. Die Lage des gegenwärtigen Prekariats ist in Japan durch die lokale Tradition mafiotischer Strukturen erheblich beeinflusst, da die Schicht der Niedriglohnarbeiter und Wohnungslosen mit der Mafia auf perfide Weise verzahnt ist. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 60 Prozent der Yakuza aus der Kaste der ehemaligen Buraku kommen, die als Unterschicht mithin ihr eigenes Umfeld ausbeuten und sich zugleich zu Handlangern der Wirtschafts- und Ordnungsmacht machen.
De-territorialisierung des Öffentlichen
Die Situation der Wohnungslosen in Japan ist prekär im traditionellen Sinn des Wortes – sie ist unsicher in ökonomischen Hinsicht und gesellschaftlich peinlich. Allerdings verwirklichen die Zeltbewohner gegenüber der nomadisierenden Obdachlosenexistenz immerhin eine vergleichsweise angenehme Lebensform. Durch den Bau von Unterkünften eignen sie sich ihre Existenz physisch an und vermögen es durch die kontinuierliche Anwesenheit an einem Ort, nicht-hierarchische Gemeinschaften zu organisieren. Diese bauliche und soziale Durchsetzung einer eigenen Daseinsform stellt einen Affront gegenüber den Standards japanischer Lebensweise dar: No-juku-sha sind Außersoziale aber sie schaffen es, eine eigene Sozialstruktur zu entwickeln. Sie sind Elende und hausen trotzdem in akzeptablen Unterkünften; sie sind Niedrige und erlauben es sich gleichwohl, politisch zu agieren. Sie erschaffen einen öffentlichen Raum der Konfrontation und sozialen Interaktion – zumindest partiell, vorübergehend und an wechselnden Orten – und territorialisieren damit ein politisches Verständnis vom Stadtraum als öffentlichem Raum.10
Als Antwort auf diese Territorialisierung des Politischen und diese Verweigerung zu verelenden lassen städtische Behörden immer wieder Zelte aus Parks räumen und vertreiben Wohnungslose durch Unzugänglichmachung des öffentlichen Raums. Geräumt wird mit der Begründung, dass Verschönerungsmaßnahmen erforderlich sind, Spazierwege ausgebaut werden müssen, Sportwettkämpfe, Handelsmessen oder politische Großveranstaltungen in der Nähe geplant sind. Mit einem Großaufgebot von Polizei und Arbeiterschaft werden Zeltbewohner, die sich weigern zu gehen, dann vertrieben und ihre Unterkünfte zerstört. Neben diesen spektakulären Szenarien der Vertreibung findet eine kontinuierliche, schleichende Verdrängung durch behördlich angeordneten Barrikadenbau statt. Öffentliche Anlagen werden durch Zaunstrukturen separiert und damit unzugänglich gemacht. Durch die Grünanlagen führt mitunter nur noch ein schmaler Weg zwischen Maschendraht. Immer wieder tauchen Arbeiter mit neuen Stellwänden auf und schließen Flächen für den öffentlichen Durchgang. Feststehende Geländer werden installiert und Absperrungen aufgestellt. Mit dieser Parzellierung verschwindet der Kouen – die öffentliche Anlage, die das Öffentliche im Stadtraum lokalisiert. Die Besetzung des öffentlichen Raums hat dessen teilweise Rücknahme zur Folge.
Wo die Stadt die Zelte abreißen will, stellt sie temporäre Massenunterkünfte bereit. Diese offiziellen Anstalten der Unterbringung mit ihrer Platz sparenden Technik der Lagerung von Menschen und Materialien und ihrer Logik der Überwachung werden nicht als Alternative zur eigenen Baracke akzeptiert. Den No-juku-sha – den Campern auf dem Feld – geht es nicht um die nackte Unterbringung, sondern um die Autonomie ihrer Lebensform. Shelter – städtische Unterkünfte – sind nicht von Dauer, wer einmal dort unterkommen will, muss für immer sein Zelt abbauen und findet sich im nomadischen Pappkarton wieder, wenn nach drei Monaten oder einem Jahr die Einrichtung schließt. Wer seinen Unterhalt mit dem Sammeln von Dosen oder Altpapier verdient hat, findet im shelter keinen Ort der Lagerung. Wer einen Hausstand hatte, wird auf zwei Quadratmeter Privatfläche reduziert. Massenunterkünfte sind Orte des Verlusts von Eigentum und Privatsphäre; sie werden als Stätten der Abgabe von Freiheit und Würde empfunden. Die öffentliche Meinung aber geht davon aus, dass dort, wo die Unterkünfte stehen, kein Grund für Zeltbehausungen mehr vorliegt. Dinge des persönlichen Besitzes, Raum und individuelles Zeitmanagement gehören nicht zu den Angelegenheiten, die jenen zugestanden wird, die den öffentlichen Raum bewohnen. Die No-juku-sha werden im shelter wieder zu dem gemacht, als was sie gesellschaftlich empfunden werden: unflätige Nomaden, die keiner anständigen Profession nachgehen und unrechtmäßige Besetzer des öffentlichen Raums, der ein blütenhaft ästhetischer sein soll.
Alle Fotos Stils aus dem Video "Public Blue – ein Videoessay" 70 min. Englisch/Japanisch von [AHA] Anke Haarmann
www.aha-projekte.de/publicblue
1 Dieser Begriff ist besonders in der Kansai Region um Osaka herum gebräuchlich.
2 Der Begriff homless wird in ganz Japan und von offiziellen Stellen verwendet.
3 Vgl. dazu beispielsweise das Freedom and People’s Rights movment, eine politische Bewegung, die sich im späten 19. Jahrhundert, parallel zur so genannten Öffnung Japans gegenüber dem Westen, formierte und die gegen den Ausschluss der japanischen Bevölkerung aus politischen Entscheidungsprozessen opponierte. In dieser Zeit wurde eine konstitutionelle Monarchie nach preußischem Vorbild in Japan installiert und die Militärherrschaft der Shogunen abgelöst. Faktisch war diese „Meji-Restauration“ allerdings ein politischer Putsch widerständiger Landesfürsten gegen die Zentralgewalt des Shogun. Die aufständischen Landesfürsten hatten es verstanden, den Druck der Vereinigten Staaten auf wirtschaftliche Öffnung des Landes als destabilisierenden Faktor zu nutzen und die alte Kaiserfamilie, eingebettet in eine parlamentarische Demokratie, als Vehikel der Machtübernahme wieder zu installieren. Die tatsächlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten der bis dahin rechtlosen Bevölkerung Japans verbesserten sich mit dieser kaiserlichen Demokratie jedoch nicht wirklich. Stattdessen entwickelten sich ein zentralistischer Kaiserkult und eine geschlossene Politikerkaste aus den alten Samuraifamilien, die das politische Geschehen dominieren. Für die Mitbestimmungsmöglichkeit der Bevölkerung stritt das Freedom and People’s Rights movment und hatte vor allem im ländlichen Japan eine beachtliche Anhängerschaft. Vgl. Daikichi Irokawa: Freedom and the Concept of People’s Rights, in: Irwin Scheiner (Hg.) Modern Japan: An Interpretive Anthology, New York 1974, S.190-201. Auch die Arbeiten des Historikers Yoshihiko Aminos über marginalisierte Gruppen in Japan beanspruchen den vorherrschenden Eindruck zu korrigieren, die japanische Gesellschaft sei durch eine reibungsfreie und homogene Kollektividentität charakterisiert.
4 Vgl. J.W. Hall: The Castle Town and Japan's Modern Urbanization in: Irwin Scheiner (ed.) Modern Japan: An Interpretive Anthology, New York 1974 S. 104-121.
5 Die These Roland Barthes’, der angesichts der innerstädtischen japanischen Parkanlagen von einer leeren Mitte schreibt und dies für eine Signatur gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Identitätsstrukturen hält, übersieht schlicht die Machtfülle und den identitätspolitischen Zentralismus, den jene Anlagen als Herrscherburgen einmal materialisierten. Vgl. Roland Barthes: Im Reich der Zeichen, Frankfurt/M. 1981.
6 Vgl. Steven Heine, Ie-Ism and the Discourse of Postmodernity, In: Charles Wie-hsun Fu/ Steven Heine (Hg.): Japan: In traditional and postmodern perspectives, New York 1995 S. 25-53.
7 Diese These stammt von Michal Lazarin, Professor für Englisch und Literatur an der Ryukoku University in Kyoto.
8 Gerne filmisch festgehalten, werden die japanischen Großstadtkreuzungen, die abwechselnd den Autoverkehr regeln und die Passanten von allen Seiten gleichzeitig über die Straße lassen. Besonders an innerstädtischen Verkehrsknotenpunkten in der Nähe größerer Bahnhöfe wird in Japan diese Verkehrsregelung bevorzugt und sie liefert das passende Bild zum Image von Japan als Land der Massen und der Geschäftigkeit.
9 Immer noch beauftragen Familien in Japan Privatdetektive, um die Herkunft von Heiratspartnern zu beleuchten und einer (unreinen) Vermischung mit Buraku vorzubeugen. Firmen recherchieren bei potentiellen Angestellten deren Herkunft. In den 1970er und 80er Jahren hat ein 330 Seiten starkes, handgeschriebenes Buch Furore gemacht, das eine landesweite Liste von vermeintlichen Buraku-Gemeinden beinhaltete und über das Internet an Unternehmen und Privatleute vertrieben wurde, die es zur Recherche im Rahmen ihrer Heirats- und Anstellungspolitik nutzten. Nach Ansicht des „Buraku Liberation and Human Rights Research Centre of Osaka“ sind Kopien dieses Ghettoverzeichnisses auch an namhafte Firmen wie Toyota, Nissan, Honda oder Daihatsu gegangen; wie viele dieser Bücher noch im Umlauf sind, ist unbekannt.
10 Einzelne Zeltkolonien etablieren eine starke soziale Struktur, andere eher ein nachbarschaftliches nebeneinander. Häufig entstehen kleinere Bündnisse von Aktivisten anlässlich drohender Räumungen. Die Kamagasaki Patrol in Osaka, eine Gruppe bestehend aus Wohnungslosen und Sympathisanten, organisiert Mahlzeiten und Treffen von Wohnungslosen in unterschiedlichen Parks zum Informationsaustausch oder kümmert sich um die Planung und Durchführung von Protestaktionen und Medienarbeit im Fall drohender Räumungen. Das Kamagasaki Medical Network basiert auf ehrenamtlicher Arbeit Nicht-Wohnungsloser und fungiert als Beratungsstelle in Behördenangelegenheiten.
Diesen Beitrag habe ich hier gefunden:
http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=499&no_cache=1&sword_list[]=Haarman
Ich erlaube mir, ihn wegen seiner Bedeutung zu zitieren.
Stefan Schneider
Guten Tag!
Vom Verein OfW e.V. in Köln erreichte mich um das Jahr 2001 nachstehend dokumentierte Konzeption zur Wohnungslosenselbsthilfe. Dieses Konzept ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluß, enthält aber doch den einen oder anderen Gedanken, der im Zusammenhang der Diskussion von Selbsthilfe und Wohnungslosigkeit von Wichtigkeit ist. Ob es den Verein noch gibt und was er macht, ist mir nicht bekannt.
Berlin 02.04.2007
Stefan Schneider
1. Das alte System
Die Geschichte der Wohnungslosenhilfe ist die der fortgesetzten Bevormundung, Einschränkung, Beeinflussung und Disziplinierung von Außenseitern und Armen - der Nichtrespektierung und nonkonformer Lebensformen, besser gesagt: Überlebensformen.
Im Vordergrund der sozialen Arbeit bzw. der bürgerlichen Fürsorge standen: Kontrolle, Ordnung, Belehrung und ein starkes Bedürfnis nach Systematisierung und Professionalisierung der Sozialarbeit.
Der in verschiedenen Erhebungen festgestellte überproportionale lange Verbleib der Betroffenen im Hilfesystem legt den Verdacht nahe, daß Bewahren und Festhalten im weitesten Sinne Vordergründige oder verdeckte "gute Absicht" jedweder Hilfe war und noch ist, statt Verändern, Öffnen und Loslassen. Buchstäblich eine chronische Sisyphusarbeit. Der Stein rollt wieder und wieder. "Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Die Wohnungslosen haben sich über viele Epochen hinweg auf das jeweils gültige Setting im Hilfesystem flexibel eingestellt, ja eingebettet. Wer sich in das gemachte Nest der Voll- und Teilversorgung hineinbegibt, weiß in der Regel, was ihn erwartet; Drei Tage oder drei Jahre, lästige Befragungen zu seiner Biographie, aber ein Dach über dem Kopf, mit dem Preis der Unselbständigkeit und Entmündigung - wenig Platz für Persönlichkeitsbildung.
Die Wohnungslosen sind geprägt durch die eigene Geschichte und die Wohnungslosenhilfe, die gekennzeichnet war und noch teilweise ist durch:
- Unterordnung, Disziplinierung, Vereinheitlichung
- starre Ordnungselemente
- Nötigungsprozesse (Arbeitszwang), Demütigungsprozesse
- oktroyierte planmäßige Lebensführung
- unter Druck gestellt sein, Leistung zu bringen
- Verbotsstrukturen, z. B. Alkoholverbot
- Sozialarbeiter/innen, die zu viel wissen wollen
- u.a.m.
Entwicklungschancen?
- Ist Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstregulation, Selbstversorgung auf dem Hintergrund aller bisherigen Erfahrungen machbar? Selbst ist der Mann/ die Frau! Eine Utopie?
- Gibt es Alternativen zum Bestehenden und Gewesenen?
- Können die Wohnungslosen, trotz der unbestreitbaren Benachteiligunsprozesse, ein Stück erwachsen werden, „Würde“ und „Selbstvertrauen“ Wiedererwerben?
- Können alle Beteiligten - Träger, Helfer, Betroffene - miteinander erwachsen werden?
- Wollen und können die Betroffenen Verantwortung für das eigene Leben übernehmen?
- Lassen die Helfer das zu?
- Läßt dieses gewaltige Hilfesystem überhaupt zu, daß Menschen ihren eigenen Weg gehen?
- Ist das nicht, weiterphantasierend, problematisch und identitätsstörend für die ganze institutionalisierte Hilfe?
- Stehen Bewegungen in Richtung Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit überhaupt im Geist der Zeit?
2. OfW e. V. - sozialer Raum für Veränderung
Als eine der Grundvorausssetzungen für einen lebendigen sozialen Betrieb ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, die Bereitschaft zur selbstkritischen Bestandsaufnahme der sozialen Praxis, da Hinterfragen eigener Ziele und Wünsche.
Wenn wir das Ziel, die Idee aus den Augen verloren oder gar vergessen haben, hat das Eigenleben eines sozialen Betriebes bereits seinen Lauf genommen. Die Wohnungslosen sind Mittel zum Zweck geworden: Aufrechterhaltung eines möglichst störungsfreien Betriebsablaufes. Die Betroffenen sind passive Dulder von Geschehnissen, die sie nicht weiter beeinflussen können.
Wichtig ist die Förderung von Erfolgserlebnissen und das Wecken schlummernder Fähigkeiten beim Einzelnen. Nicht Arbeit um jeden Preis.
Die Mitarbeiter sind für die Schaffung einer Umgebung und eines allgemeinen Klimas verantwortlich, in denen Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Mitverantwortung erlebt werden können bzw. die einen weitestgehend selbständigen Lebensstil und prosoziale Orientierung fördern. Der/die Wohnungslose soll in erster Linie Voraussetzungen vorfinden, um zur Ruhe zu kommen und zu sehen, was er aus seinem Leben machen will. Wachstum, Integration und Verantwortung brauchen Zeit!
Die soziale Arbeit der Mitarbeiter in allen Funktionsbereichen orientiert sich so nah wie möglich an den real existierenden Gegebenheiten des Lebensalltages (die Welt der täglichen Erfahrung) und intendiert damit die ungeschminkte Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Realität. Aber auch Nischen - Suche und Einrichten von Gegenwelten sind zuzulassen. Die Mitarbeiter verstehen sich als Ressourcengeber und „Weggenossen“, nicht als Heilsbringer und Konfliktregler. Es ist sehr gut möglich, wieder Fuß zu fassen, eigenverantwortlich zu werden, auch ohne die Hilfe der Sozialarbeiter/innen in Anspruch zu nehmen.
Zielformulierung:
- Selbstversorgung
- Normalisierung
- Eigenverantwortlichkeit
- Erschließen von Lebensraum/Milieu
- Die Welt der alltäglichen Erfahrung
- Akzeptanz von subalternen Lebensformen
- Öffnung der Rahmenbedingungen
- Zulassen sozialer Experimente
Diese Einzelziele hängen zwar alle miteinander zusammen, sollten aber nicht unvorsichtigerweise als reines Zielbündel betrachtet werden, da selten alle Ziele gleichzeitig zu erreichen sind. Sie sind der Orientierungsrahmen eines lange währenden Prozesses aller Beteiligten Personengruppen.
3. Selbsthilfe - Selbstforderung - Verantwortung
Der sukzessive Abbau der Versorgung von oben, das zulassen „wilder“ Tagesabläufe, macht Kräfte der Wohnungslosenhilfe frei für mehr Solidarität untereinander, für Selbstverantwortung und Ideenreichtum.
Selbstversorgung ist das Gegenteil von Verwöhnung. Sie setzt bestimmte individuelle Fähigkeiten voraus bzw. lockt diese geradezu hervor und stabilisiert diese Schritt für Schritt:
- individuelle Tagesstrukturierung
- Umgang mit Geduld
- Führung des eigenen Haushalts
- Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Interessen
- Selbständigkeit
- Verantwortung für den eigenen Lebensraum
Selbstversorgung heißt auch, daß man Anerkennung oder Kritik erntet für das was man selbst produziert hat. Der Betroffene ist für das, was er herstellt, verantwortlich, und er weiß das sehr genau. Ein Abschieben von Mängeln und Fehlern auf eine andere Instanz ist letztlich nicht möglich (Abwälzen auf andere). Ein Weg des Erwachsenwerdens. Selbstversorgung ist ein aktiver Prozeß des Einzelnen. Er wird gefordert. Er ist selbst gefordert aus Einsicht in die Notwendigkeit und langfristig aus Lust am eigenen Erfolg. Je mehr Möglichkeiten zur Selbstforderung gegeben sind, desto weniger ist die Gefahr des Abgleitens in die Verwöhnung. Verwöhnung ist „Lust ohne Anstrengung“.
Die notwendige Selbstforderung und natürliche Anstrengung statt Verwöhnung führt auch zur Abnahme von aggressiver Langeweile. Lust und Befriedigung ohne Anstrengung erfordert künstliche Anforderungsprogramme und dauerhafte Animateure von außen, wie wir sie zur Genüge in unserer Konsumkultur kennen.
Die Sozialarbeit läuft Gefahr, diese verhaltensökologischen „Unbildungen“ zu übernehmen: Versorgung, Bedienung, Service, Programme zum Zeittotschlagen, Abnehmen von Verantwortung des anderen für seine Lebensgestaltung, aus Bequemlichkeit oder aus Ungeduld, weil nichts passiert usw.
3.1. Gemeinsames Handeln
Selbstversorgung, die Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Eigeninitiative und Selbstregulation beinhaltet, erzeugt ein Mehr an Können bei den Betroffenen. Können, angeeignete Fähigkeiten, Leistungen sind wiederum die Voraussetzungen für gemeinsames Handeln in einer Gemeinschaft. Unterschiedliche individuelle Fähigkeiten und Leistungen innerhalb einer Gemeinschaft machen erst Sinn für Kooperation und Mitverantwortung (beim Prinzip der Versorgung dagegen wird man mit allem Notwendigen versehen, ohne Rücksicht auf eine zuvor erbrachte Gegenleistung). Platt gesagt: Wer nichts kann, kann auch mit niemandem wirklich zusammenarbeiten. Ähnlich verhält es sich mit der Solidarität, eine fast schon verschüttete Tugend im Kampf ums Überleben und um die besseren Plätze. Solidarität unter den Leuten lebt wieder auf, wo die Chancen geboten werden, die eigenen Kräfte aufs Spiel zu setzen, sich auszuprobieren in Konkurrenzsituationen mit selbstentwickelten Spielregeln (Konkurrenz ist eine sehr ursprüngliche und natürliche menschliche Spiel- und Verhaltensform, die keineswegs negative Wirkung haben muß).
Selbsthilfe und Selbsthilfeversorgung ist Teil der längst fälligen Demokratisierung der Wohnungslosenhilfe durch:
- Abbau fürsorglicher Belagerung
- Minimierung der Autoritätsfixierung
- selbsttätige Gestaltung und Veränderung des eigenen Umfeldes
- ernst nehmen der Kompetenzseite der Wohnungslosen
- Förderung von Autonomie, Lernanreiz und Selbstwertgefühle
- ein vielfältiges Angebot von Personen und Verhaltensweisen
- Leben mit mehr Höhepunkten
- Verzicht auf Verbote, Kontrollen und Herrschaftsregeln
- Selbstbeschränkung der Mitarbeiter
- Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte der Wohnungslosen
3.2. Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität
Selbsthilfe ist die Entscheidung für lebendige (auch schmerzhafte) Prozesse und Entwicklungen und gegen griffige Strategien und schnelle Lösungen.
Verzicht auf Strategie heißt, das Wagnis einzugehen, auch mit leeren Händen dazustehen. Selbsthilfe heißt, den/die Betroffene/n an seinen/ ihren Möglichkeiten zu messen und nicht an seiner Norm. Das heißt:
- Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität kontra Einheitlichkeit/ Vereinheitlichung, Konformität und Festlegung
- Berücksichtigung individueller „Gangarten“ (Lebenstempo)
- Learning by doing (Versuch und Irrtum)
- Bereitschaft zur Öffnung der Rahmenbedingungen und zum Eingehen von Risiken
- Aushalten von Mißerfolg, Irrtum, Eigensinn, Chaos, Leerlauf
- Bereitschaft, eigene Arbeitsnormen, Arbeitstugenden, Wertvorstellungen (Zweckrationalität) in Frage zu stellen
- Respekt vor dem erfahrenen Leben der Wohnungslosen
- Entscheidung für „Erwachsenenwege“
Selbsthilfe ist das konsequente Suchen danach, was die Betroffenen können, ein aufmerksames Eingehen auf das, was von diesen Menschen eingebracht wird, ein Aufgreifen all dessen, was sich an Alltagssituationen aus der Realität ergibt.
Selbständigkeit und Autonomie der Wohnungslosen entziehen dem Helfer den Boden, auf dem er gewöhnlich steht, nämlich Programme zu machen, Angebote zu machen, Experte zu sein etc.
Neues Überdenken der sogenannten „Aufgaben“ von Sozialarbeit (z.B. weniger ausgefeilte Programme, Hilfeangebote, kompetentes Zurseitestehen: „Wir sind immer für Dich da!“.
3.3. Nischensuche
Normalisierung ist Arbeit an der Aufhebung des Ausgegrenztseins von Wohnungslosen - damit Integrationsarbeit - und doch jederzeit die Sorge um die mögliche Erfordernis von Gegenmodellen und Nischen zum Schutz der Betroffenen vor der Leistungs- und Überforderungsgesellschaft; in diesem Sinne Erfahrung eines freundlichen und freien Umgangs miteinander, ein Leben, in dem die Menschen in ihrem Eigensinn und ihrer Unberechenbarkeit zählen.
Normalisierung und Integration sind ein langer Weg und weit weniger eine Frage von Programmen, Therapien und pädagogischen Techniken; alles andere als Hilfe, die übervorsorgt und entmündigt, die gemeindefern den Hilfesuchenden in Asylen oder Wohnheimen ausgliedert, statt die Teilnahme am kommunalen Leben zu ermöglichen.
Eigenverantwortlichkeit, Selbstversorgung und Betroffenenbeteiligung gehören zusammen. Alle diese Elemente, Normalisierung eingeschlossen, sind miteinander verknüpfte Funktionen, deren Wirksamkeit im Abbau der Abhängigkeiten von der Versorgung durch professionelle Helfer, aber auch in der Verringerung (Einschränkung) von inneren Abhängigkeiten (Lebensängste, Sucht etc.) liegen sollen und können.
3.4. Regeln mit eigenem Stempel versehen
Die Absichten dieses offenen Konzeptes bestätigen sich in der Praxis, wenn auch immer wieder betont werden muß, daß Denken und Handeln in Prozessen wichtig sind. Zu stark wirken noch die Vorprägungen des konventionellen Systems der Wohnungslosenhilfe auf alle Beteiligten.
Es kostet einiges an Disziplin und Praxisbearbietung von allen Mitarbeitern, dem verführerischen Blick der Betroffenen nach oben - damit ihnen in schwierigen Situationen die Entscheidung hoffentlich abgenommen werde - zu begegnen und den Spieß herumzudrehen: „Was würdest Du tun, wenn ich nicht wäre?“
Die Betroffenen müssen sich schon etwas einfallen lassen, sind oft irritiert, und das alte Schema bekommt erste Risse. Die Ergebnisse und Konsequenzen sind in vielerlei Hinsicht interessant und ermutigend, selten endgültiger Natur:
- das Regel- und Ordnungssystem wächst von innen heraus, von unten. Die Wohnungslosen müssen nach und nach lernen, Entscheidungen selbst in die Hand zu nehmen, Konflikte untereinander zu regeln.
- So viel, wie sie bereit sind selbst auszuhalten, so weit sie bereit sind, sich mit ihrem vorhandenen Lebensraum zu identifizieren, ihn vor schlechtem Ruf zu bewahren und dafür etwas zu tun. Der Maßstab liegt also in der eigenen Akzeptierung und Tolerierung von Verhaltensweisen anderer und dem letztlich wirklich individuellen und gemeinschaftlichen Nutzen eines entsprechenden Ordnungs- und Regelsystems. Regeln, die selbst gesteuert werden können, auch ohne Machtwort. Das bedeutet einen Mittelweg zwischen Freiraum und Grenzen.
- So bleibt keinem die Auseinandersetzung mit sich selbst erspart, wenn gegen eine Spielregel verstoßen wurde. Auch das Verlassen der Einrichtung kann eine Lösung für den Fall unterlassener Auseinandersetzung sein.
- Wo Selbsthilfe, Selbstversorgung, Selbstverantwortung und Selbstregulation Platz haben, ist auch der Ort, wo Regeln von Betroffenen selbst mit eigenem Stempel versehen werden.
- Wenn die Hoffnung nach „oben“ geht, lähmt es die Entscheidungskraft auf der nächst tieferen Ebene. Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiterkultur. Wir wollen die Selbständigkeit und Entscheidungsfähigkeit fördern, den Einfluß des einzelnen auf sein Tun und Handeln vergrößern, statt einwirken und von oben bestimmen. Was man real erfahren hat, auch tun dürfen! Lernen, nicht Regeln gesetzt zu bekommen, sondern selbst Regeln zu setzen, Regeln ändern und Hinterfragen, Neues ausprobieren. Den Menschen die Selbstentscheidung geben. Behutsam und schrittweise Herstellen von Öffentlichkeit bei Problemen, Streitigkeiten etc.
- Wo Wohnungslose etwas tun können, verlieren sie auch ein Stück Angst vor der Zukunft.
3.5. Betroffenenbeteiligung
Betroffenenbeteiligung ist eine Form der sozialen Arbeit, die Wohnungslosen in die Grundüberlegungen, Planungen und Durchführungen miteinzubeziehen. Dabei kommt es zunächst nicht einmal so sehr auf die Dimension des Projektes an, als auf die grundsätzliche Bereitschaft der sozialen Kräfte, die Kompetenzen der Einzelnen ernstzunehmen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Selbstbeteiligung ist langfristig sinn- und identitätsstiftend für Menschen, die gewohnt sind, daß man für und über sie entscheidet; bequem zwar, aber mit dem Preis der dauerhaften Abhängigkeit uns Unselbständigkeit.
Selbstbeteiligung und Mitbeteiligung ist ein Teil von verschiedenen Möglichkeiten, sich seinen Lebensraum zu erschließen. Das Erschließen und Aneignen von Territorien ist Integrationshilfe.
Die Erfahrung lehrt, daß weder mit Zwang, Verbot, Härte, Reglementierung, Vorschriften, Kontrolle usw., noch über die vielen gutgemeinten Beeinflussungsmethoden, Strategien, Therapien, Absichten der Sozialarbeit wirkliche persönliche Entwicklungen erreicht werden, wenn nicht das Einverständnis der Wohnungslosen vorliegt.
3.6. Erschließen von Lebensraum/Milieu und Akzeptanz von subkultureller Lebensform
Möglichkeit: Die Erschließung von Lebensraum durch die Betroffenen über die Eigenbeteiligung, Eigenleistung, das Mitspracherecht, die Mitwirkung an Planung und Durchführung von Maßnahmen. Eine Art Aneignung von Territorium und Verantwortung übernehmen.
Möglichkeit: Bereits vorhandenes Milieu von seiten der Beteiligten des Hilfesystems ernst nehmen; Respektierung der Lebenswelt und Lebensorganisation der Wohnungslosen; Respekt vor der Autonomie subkultureller Lebenswelten, die unser Bild von Norm, Ideal stören; Akzeptanz von Subkulturen.
Respektierung der subalternen Lebenswelt, trägt auch zur Verringerung von Stigmatisierung der Wohnungslosen und ihrer sozialen Isolation bei; Würde und Stolz des anderen, auch in der Schäbigkeit und Entgleisung, zu wahren, macht ein Stück Freiheit auch für Schwächere möglich.
Die Lebensqualität subalterner Schichten wahrzunehmen und u.a. sehen, daß manche der Wohnungslosen einen souveränen Eindruck machen, trotz des Ausklinkens, der vielen Jahre Straßenleben. Es erweckt auch den Eindruck, daß manche ihren Weg gefunden haben, Stolz und Würde nicht verloren haben; Erstaunliche Lebensqualitätsformen! (Die Bewältigungsstrukturen der Betroffenen verstehen lernen).
3.7. Öffnung der Rahmenbedingungen - Soziale Experimente zulassen
- Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen
- Veränderung des Ordnungs- und Regelsystems ermöglichen
- Infragestellen der laufenden sozialen Praxis
- Sachzwänge und Gewohnheiten „knacken“
- die Frage stellen: Was muß arbeitsorganisatorisch, strukturell, konzeptionell geändert werde, um das Ziel zu erreichen?
- Erneuerungen und Lernprozesse zu bewirken auf dem Weg von Versuch und Irrtum, einschließlich Selbstkontrolle.
3.8. Die Betroffenenebene
- Nicht zu verkennen ist das tiefe Bedürfnis vieler Menschen nach Gehorsams- und Unterordnungsstrukturen, nach der Delegation der eigenen Verantwortung an höhere Instanzen.
- Die, auch unter Mithilfe des traditionellen Hilfesystems, vor- und ausgeprägte Unterwürfigkeit und Schicksalsergebenheit.
- Die Angst vor der Autonomie und der Freiheit, eine eigenes Selbst zu haben.
- Das Bedürfnis des Geführtwerdens und das allzu häufige Einfordern von noch mehr Druck, „damit ich mich halte“. Die Erfahrung von Autorität scheint lebensbestimmend zu sein.
- Der bereits wirkende „Hospitalismus“, die „Heimkrankheit“: die psychischen Schäden nach den längeren und vielen Heimaufenthalten; der partielle Stumpfsinn; die Selbstzerstörung (z. B. Alkohol); die Störung der sozialen Kontakte, die Depression, die übermäßige Angst und damit das reduzierte selbstfordernde Verhalten u. a. m.
- Das Dilemma der rein begrenzten Lebensperspektiven/Erfolgsperspektiven der Wohnungslosen - die Sinnvermittlung!
- Die Gefahr der Überforderung und Vernachlässigung beim Konzept der Normalisierung und Eigenverantwortlichkeit. Freiräume stellen an den Einzelnen höhere Anforderungen an die individuelle Improvisations- und Planungsfähigkeit. Diesen Anforderungen sind offensichtlich viele nicht gewachsen.
3.9. Die Helferebene
Das Haupthindernis im Selbsthilfeprozeß liegt in der Person des Helfers. Selbständigkeit und Autonomie der Wohnungslosen entziehen dem Helfer den Boden, auf dem er üblicherweise bzw. wünschenswerterweise stehen will; Einlösung der Erwartungshaltung der Betroffenen, Experte, Ratgeber und Leiter zu sein.
Wir haben alle unsere bereits abgelegten Hoffnungen und Kränkungen, die uns hindern, konsequent weiterzudenken, Zwischenziele auszumachen, Erfolgskriterien selbst zu setzen, „Mut zur Lücke“ usw.
Das Bedürfnis der Helfer/Mitarbeiter nach Sicherheit, Geborgenheit, Delegierung und Verantwortung. Die Schwächung der eigenen Entscheidungskraft einerseits durch Sachzwänge, sprich fremdbestimmte Einflüsse, andererseits durch die nach oben strebende Hoffnung.
Die immer noch weit verbreitete Haltung und Neigung, Mensch nach eigenen Wertmaßstäben zu beeinflussen, zu früh in Prozesse von Betroffenen einzugreifen, aus Angst etwa vor Mißerfolgen oder dem Nichtaushaltenkönnen von Folgen, Ereignissen, Konsequenzen und Entwicklungen, mit denen wir schlecht umgehen können.
Das Ideal einer sich selbst verändernden, sich selbst entwickelnden Zielgruppe, dem die wenigsten standhalten, wenn die Rahmenbedingungen mangelhaft sind.
3.10. Die Chancen
Selbstversorgung und Selbstorganisation ist auf allen bereits genannten Ebenen des Geschehens Arbeit und die Bereitschaft zur Selbstkontrolle und Selbstkritik, die Fähigkeit Stellung zu beziehen.
Passiert dies nicht, sind die produktiven Effekte von Selbsthilfe zum Scheiten verurteilt, weil sie auf der ganzen unteren Ebene zum Krampf werden.
Für die Mitarbeiter heißt dies, Sorge dafür zu tragen, ein für die beabsichtigten Strukturveränderungen günstiges Klima zu schaffen. Dies kann nur durch Wohlbefinden, menschliche und fachliche Kompetenz und Selbstverantwortung von den Mitarbeitern selbst erreicht werden. Somit ist die Selbstverantwortung von Mitarbeitern zu gewähren und abzusichern, damit sie überhaupt zu „Gewohnheits- und Sachzwangknackern“ werden können für die Freischaufelung der Fundamente einer selbstversorgenden, selbstregulierenden Praxis bei den Betroffenen.
Wohnungslose lernen am Modell. Der Mitarbeiter kann sich als eine Art Lernmodell zum Ausprobieren verstehen.
Entscheidende Bedeutung gewinnt dabei die eigene Haltung des Mitarbeiters, die innere Bereitschaft, über die eigenen Fähigkeiten (das Verstehen, die Empathie, die affektive Unterstützung) zu reflektieren, nicht die Umsetzung in therapeutische Techniken und diese „Selbstkontrolle“ „zum Angelpunkt professioneller Kompetenz“ zu machen.
Nicht um eine Professionalisierung mitmenschlichen Verstehens geht es hier, sondern - wenn schon - um Professionalisierung der Geduld: Es geht um die Fähigkeit, systematisch die eigenen Wünsche an das Gegenüber in Zweifel zu ziehen, die immer schon verstanden haben wollen; um die Fähigkeit, das eigene Nichtverstehen und die Fremdheit des Gegenübers nicht zuzudecken, sondern auszuhalten. Umgekehrt bedeutet dies die Fähigkeit und Disziplin, die Wünsche des Gegenübers nach Verstandensein, nach „Lösungen“, nach Unterstützung und emotionaler Zuwendung nicht in einen Arbeitskonsens umzumünzen, der auf manipulativer Basis steht d.h. nur eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt.
3.11. Gesellschaftliche Entwicklungen - Anforderungen
Die Selbsthilfe, Selbstversorgung und Selbstverantwortung ist ein Gegengewicht zur flach gewordenen Versorgungshaltung - auch unter den Wohnungslosen; ein Gegengewicht zum rastlosen Aktivierungs"markt", eine selbstfordernde Übung gegen die programmierte Langeweile, eine Möglichkeit für Betroffene, das Heft des häufig ritualisierten Alltags ein Stück weit in die Hand zu nehmen und nicht ständig auf "die Stimme des Herrn" zu warten; ein mögliches Lernfeld gegen die Ungeduld und Programmliebe von Sozialarbeit.
路上での生活-ドイツのホームレス
彼らの存在は目立たない。少なくとも一見したところでは。しかし、目を凝らしてよく見ると、彼ら の姿はそこにある。駅の周辺や、歩行者ゾーンやショッピングセンター、それに教会や町の中心地や公園や公共の場に彼らはいる。服装は少しみすぼらしく、顔 は日に焼け、全体の姿は疲れきった感じである。中にはアルコールをたしなんだり、ドラッグをかいでいる者もいる。ホームレスと呼ばれる人達のことである。
彼らは時折物乞いをする。ごく控えめに「お恵みを」と書いた札を自分が座っている路上に置いているだけの者もいれば、道行く人に「1ユーロ硬貨持ってませ んか」と尋ねる者もいる。そこまでの勇気がない者は「何セントか持ってませんか」と尋ねる。中には、ドイツの都会によくあるタブロイド版の新聞を販売した りもする。
無宿者(Obdachlos)かホームレス(Wohnungslos)か:定義の違い
ビー レフェルトの町に拠点を置くホームレス支援連邦協議会によると路上生活者の数は2万人から3万人と見られている。しかし、その正確な数を知る者はいない。 時折正確な数が必要とされるのだが、だからといって誰が全ての通りや住居を虱潰しに回ってホームレスを捜すだろう。彼らは屋根裏部屋や地下室や大型のア パート、それに工事現場や公園や公共の場などで寝起きし、休閑農地や駅の構内や取り壊しになった家屋や廃墟や橋の下、それに大学のキャンパスなどに自分の 隠れ場所を探す。しかし、これも氷山の一角にすぎない。これよりはるかに多くの人が、緊急宿泊施設やホームレス収容施設や木賃宿や難民収容所といった保護 施設や友人や知人や親戚のもとで暮らしている。だが大抵は居候させてもらっているだけで、一時的なものにすぎない。
ドイツ都市連合会の定義では、ホームレス(Wohnungslos)は、賃貸契約で保証された住居を持たない者のことである。今現在、 自分の住む場所がなく、一時的に親戚や友人のもとで暮らしている人達、それに全く家がなく施設や緊急宿泊施設や難民収容所や女性収容所などに身を寄せてい る人達がこれに該当する。
Weiterlesen: Freiheit für Mumia Abu-Jamal!