Editorische Notiz:
Im Rahmen meines Studiums der Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpädagogik an der TU Berlin entschied ich mich im Hauptstudium, in dem unter anderem ein zweisemestriges Theorie-Praxis-Seminar zu absolvieren war, für das Thema Heimerziehung. Ein Höhepunkt dieses TPS, wie wir es nannten, war eine Reise nach Nyksund auf den Vesterålen in Nord-Norwegen.
Eine sehr dichte Schilderung dessen, was in Nyksund los war und um was es bei diesem Projekt ging, stammt von Gunther Soukup, damals Professor an der TU war, dieses Projekt maßgeblich unterstützte und von dem ich viel über Gruppenpädagogik und Gruppendynamik lernte.
Ich freue mich, diesen Text an dieser Stelle dokumentieren zu können. Er ist entnommen dem Band C. Wolfgang Müller und Winfried Ripp (Hrsg.): „Tropfen auf dem heißen Stein. 25 Jahre Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin, Beltz Verlag, Weinheim 1992, S. 192 ff. Ein Teil dieses Textes ist auch auf den Webseiten des QuaBS e.V. dokumentiert.
Die Fotos sind dem freien Medienportal Wikimedia Commons entnommen.
Natürlich sollte an dieser Stelle auch eine eigene persönliche Auseinandersetzung mit Nyksund erfolgen. Ich hoffe, das in den nächsten Jahren nachtragen zu können.
Warszawa 19.11.2011, Stefan Schneider
Gunther Soukup
Das Abseits und das Gewöhnliche.
Nyksund als Chance der Verfremdung
Am 27.10.1990 fand in der TU Berlin eine Präsentation des Nyksund-Projektes statt. Dabei kam es den Veranstaltern auf eine mehrseitige Widerspiegelung des nunmehr sechs Jahre währenden sozialen und pädagogischen Experimentes Nyksund an. Der folgende Text enthält einen Ausschnitt der vorgetragenen Beiträge und Sichtweisen.
Es begab sich also zu der Zeit, daß Berliner Studenten die zum Zwecke der Spekulation leerstehenden Häuser besetzten und wieder bewohnbar machten. Sie nannten dies "Instandbesetzung". Für viele von ihnen war dies die erste Chance, sich als produktiv und gestaltend zu erleben.
Es begab sich aber zu der Zeit, daß eine neue Stadtregierung solche Art von vernünftigem Tun mit Gewalt beendete. So kam es, daß viele Studenten die neuerworbenen Kenntnisse anderswo anzuwenden suchten, und sei es im Abseits des hohen Nordens...
Am Anfang stand ein Zufall, kein pädagogisches Kalkül. Einer hört, wie ein anderer von einem Dia schwärmt, das er irgendwo gesehen hat. Das Bild zeigt eine halb verfallene Goldgräberstadt, ein aufgegebenes Fischerdorf am Rande der Zeit. Auch der Name des Ortes war vorhanden. Eine Nachricht wie diese mußte alle elektrisieren, die nach "herrenlosem" Territorium Ausschau hielten. So kam es zu einer ersten Anfrage an den zuständigen nordnorwegischen Bürgermeister. Der Absender war unser Institut. Die Antwort war eine Einladung, sich den Platz doch einmal anzusehen. 1985 fand die erste studentische Erkundungstour über Ost- und Nordschweden nach Nyksund statt.
Dieser Start brachte eine Interessenkonstellation zustande, die in sich konflikthaltig, im ganzen aber mit positiven Effekten die folgenden Jahre bestimmte. Die Selbstverwirklichungsinteressen der Studenten, auch ihre Fluchttendenzen aus Umweltzerstörung und Kriegsgefahr, mußten auf ein Refugium, eine teils private, teils kleingenossenschaftliche Idylle im Abseits gerichtet sein. Sie nahmen die Bedingung für die Beteiligung an der Uni - das es eine berufsbezogene, also sozialpädagogische Arbeit mit einer Zielgruppe als reguläres Theorie-Praxis-Seminar sein müsse - notgedrungen in Kauf. Was wie freiwillige Bejahung erschien, war für die meisten von ihnen über längere Zeiträume eine oktroyierte Zumutung.
Dennoch kam das Projekt in Gang. Ohne Geld aber mit einer relativ klaren Zielbeschreibung der Seminarleitung, der damals nicht widersprochen wurde: "Es ist ein doppeltes Ziel: Es besteht in dem Gewinn an Lebenssinn durch einsehbar nützliche Tätigkeit für alle Beteiligten während der Aufbauphase. Gerade Jugendlichen, denen die Chance gestohlen wurde, eine Berufsperspektive aufzubauen, brauchen die reale Erfahrung ihrer eigenen Wirksamkeit und Nützlichkeit. Viele müssen durch die Nötigungen der Wirklichkeit aus ihrer Erstarrung und Lethargie herausgeholt werden. Aber auch für die beteiligten Sozialpädagogen ergeben sich enorme Chancen ihre Nützlichkeit für andere zu vergrößern. Man weiß: Allzuviele Sozialpädagogen können außer Gesprächen und Hinweisen wenig praktische Hilfen und Angebote machen. Die Arbeit in Nyksund wird dazu beitragen, den Handlungsradius zu erweitern: Neben der Erweiterung der handwerklichen Fähigkeiten führt die Aufgabe Nyksund auch zum Aufbau sozialer und organisatorischer Kompetenz; gilt es doch, ein Gemeinwesen auf Zeit zu gestalten und die dabei notwendig auftretenden Interessen- und anderen Konflikten so zu wenden, daß das Ergebnis allen Nutzen bringt ... Das andere Ziel ist z.Z. nur in Umrissen erkennbar. Nyksund könnte ein internationales Begegnungszentrum werden, in der Regie einer internationalen Organisation oder einer bilateralen Stiftung.
Warum so weit im Norden? Nun, wir haben die Überzeugung, daß Nyksund eine besondere Qualität darstellt: Seine Lage am Rande, inmitten einer kargen und erhabenen Natur, bringt Verfreumdung hervor. Sie entsteht überall da, wo Selbstverständlichkeiten unverständlich werden, damit man sie dann verstehen und begreifen kann. Nyksund, am Rande, erzwingt das Nachdenken über die Selbstverständlichkeiten in den Zentren ...." (1985)
Das Institut für Sozialpädagogik an der Technischen Universtität Berlin war mit drei TPS-Gruppen am Projekt beteiligt. Die letzte der beteiligten TPS-Gruppen war bis zum Frühjahr 1990 involviert.
Weitere Theorie-Praxis-Seminare waren für die Aufgabe Nyksund nicht mehr zu gewinnen. Änderungen studentischer Interessenlagen und der Zeitgeist mögen für diesen Tatbestand verantwortlich sein. Auch hatte Nyksund an Neuigkeitswert verloren. Berlin ist nun nur noch durch die beiden Vereine Nordlicht und QuaBS im Nyksund-Projekt und in der Stiftung engagiert. (Nordlicht e.V. ist eine Gründung der Nyksund-Teilnehmer, QuaBS war von vornherein Berliner Träger).
Burkhard Herrmann, unser Mann in Nyksund, hat nach fast sechs Jahren die Geschäftsführung der Nyksund-Stiftung einem Norweger, Jon Petter Arnson, übertragen. Die Überführung in norwegische Verantwortung war von vornherein unser Ziel, dessen Realisierung jedoch mehr Zeit brauchte, als wir angenommen hatten. Schon in dem Text von 1985 war zu lesen, "daß es unmöglich ist - gerade im vom Faschismus heimgesuchten Norwegen - eine deutsche Exklave zu errichten." Aber um norwegische Bereitschaft herzustellen, das einmal aufgegebene Dorf wieder in die eigene Regie zu nehmen, mußten wir verdeutlichen, warum so viele Jugendliche aus den Ländern Mitteleuropas nach Nyksund kommen wollen, daß in diesem Bedürfnis eine Chance für eine neue ökonomische Basis für das Dorf steckt und diese auch wirtschaftliche Errettung Investitionen erforderlich macht. Für eine Konferenz mit den in Frage kommenden Behörden und Ministerien entstand 1989 der folgende Text:
I Nyksund und der Verlust der Unmittelbarkeit. Ein Beitrag zur Philosophie eines pädagogischen Versuchs
Seit 1985 ist in der Geisterstadt Nyksund wieder Leben eingekehrt. 15 Jahre lang hatte es so ausgesehen, als würde der Ort endgültig verschwinden. Aus Häusern wurden Ruinen, diese bildeten eine groteske Kulisse. Es war abzusehen, wann Sturm und Schnee, Wasser und Vandalismus dem Ort den Rost gegeben haben würden.
Die ersten Versuche einer Rettung des traditionsreichen Ortes wurden im fast 3.000 km entfernten Berlin geplant. Scharen junger Leute, Studenten und Auszubildende, Schüler und junge Arbeitslose machten sich auf die lange Reise nach Norden. Immer neueGruppen sind ihren Spuren gefolgt. Menschen aus vielen Ländern Europas (und Asiens und Afrikas) kamen nach ihnen nach und haben Sichtbares hinterlassen. Der Ort ist - soweit die Rechtslage es erlaubte - vorläufig vor weiterem Verfall gesichert worden. Die Anschlüsse an lebensnotwendige Vsorgungsnetze (Wasser, Strom, Telefon) wurden wiederhergestellt. Viele frühere Bewohner und ihre Erben haben die übriggebliebenen Privathäuschen als Wochenend- und Ferienhäuser wiederentdeckt und sie zu neuem Glanz aufpoliert. Nyksund, das im Begriff war, von der Landkarte zu verschwinden, ist heute eine Attraktion für Touristen von Nah und fern. Es ist eine Perle in unvergleichlich herber und schöner Landschaft, es ist aber auch - zumindest in den Sommermonaten - ein interessanter Treffpunkt der unterschiedlichster Menschengruppen. Es zieht durch Konzerte und Festivals, durch umweltfreundliche Technologie und durch profilierte Diskussionstaltungen viele Menschen an. Nyksund ist und bleibt ein gemeinnütziger und nach Non-Profit-Prinzipien organisierter Ort. Aber durch seine Besonderheit wird er zu einem Magneten für Touristen die zwar dort nicht wohnen können, aber durch ihr Kommen der Gastronomie der umliegenden Gemeinden neuen Auftrieb verschaffen. Aber auch alle diejenigen, die ohne Lohn in Nyksund gearbeitet haben, sind Konsumenten, deren Ausgaben sich als Aktivposten im Geschäftsleben bemerkbar machen. Inzwischen sind durch das Projekt einige Millionen Kronen in den Wirtschaftskreislauf der Region eingeflossen. Es sprechen also auch handfeste ökomische Gründe dafür, den Fortbestand des Experimentes zu gewährleisten. Aber ohne Frage sind die nichtökonomischen Wirkungen, die von Nyksund ausgehen können bedeutsamer. Nyksund soll leben. Aber kein Ort auf diesem Planeten hat überlebt wenn er keine wirtschaftliche Basis hat Die Menschen dort müssen eine Möglichkeit haben, die Mittel zum Leben und zur Entwicklung zu verdienen. Um diesen Verdienst zu ermöglichen, sind Investitionen erforderlich. Diese Investitionen können in einem sozialpädagogischen Projekt nicht auf dem Kapitalmarkt beschafft werden. Eine ausreichende Start-Finanzierung hat bislang in Nyksund gefehlt. Sie kann nach der Lage der Dinge nur aus nationalen und supranationalen Fonds kommen. Der bisherige Projektverlauf hat bewiesen, was sich aus idealistischen Motiven und mit einfachen Mitteln machen läßt, er hat aber auch die Grenzen des so Machbaren deutlich gezeigt.
Nyksunds ökonomische Basis der Zukunft kann auf längere Sicht nur aus den Tagessätzen derer gesichert werden, die in Nyksund etwas wichtiges für ihr eigenes Leben lernen wollen und können. Daneben werden Eintrittsgelder von touristischen Besuchern, die sich neben der Natur auch die historischen und ökologischen Ausstellungen ansehen wollen oder an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, zur ökonomischen Absicherung beitragen. Dies aber erfordert große Anstrengungen bei der Finanzierung des Ausbaus der Gebäude und zur Sicherung der personellen Situation. Denn ohne ein erprobtes, auf Zusammenarbeit trainiertes Mitarbeiterteam läßt sich der Betrieb nicht aufrechterhalten, ohne professionelle Anleitung und pädagogische Kompetenz verschwindet der Anreiz, die weite Reise in den hohen Norden anzutreten.
Wenn Nyksund durch seine zukünftigen Bewohner auf Zeit gesichert werden soll, so gewinnt die Frage eine zentrale Bedeutung, was denn diese jungen Leute nach Nyksund lockt, welche Art von Erlebnissen sie sich - bewußt oder unbewußt - erhoffen, welche Arrangements getroffen werden müssen, um diesen Bedürfnissen zu entsprechen. Die Auswertung bisheriger Erfahrungen erschließt die Möglichkeit, sich mit dieser Frage analytisch auseinanderzusetzen. Vom Ergebnis dieser Analyse hängt ab, in welcher Weise und wie in Nyksund investiert werden soll, welches Angebot und welche pädagogische Konzeption organisiert werden muß.
II
Was veranlaßt Jugendliche und junge Erwachsene, eine Menge Geld auszugeben, eine bequeme Wohn- und Lebenssituation in den großen Städten auf Zeit gegen ein hartes Lager und anstrengende Arbeit in einem gottverlassenen Nest jenseits des Polarkreises auszutauschen? Drei Tage und Nächte in einem Oldtimer-Bus mit fremden Leuten und Massen von Gepäck liegen vor der Ankunft am Zielort. Diese Ankunft ist für fast alle ein Schockerlebnis. Übrigens ereignet sich dies noch einmal, nämlich bei der Ankunft am Heimatort. - Viele Berliner entwickeln z.B. eine Art Phobie gegen die U-Bahn und den Straßenverkehr. - Ist es der spätromantische Traum einer Rückkehr zum einfachen Leben? Handelt es sich um eine Neuauflage des teutonischen Dranges nach dem Norden, so, wie es bündische Gruppen der deutschen Jugendbewegung in den 20er Jahren vorgelebt hatten? Spielen Sühnegedanken wegen der Sünden der (Groß-)Väter eine Rolle, die als Besatzer Norwegen heimsuchten? Oder geht es darum, daß eine Generation von verwöhnten Jugendlichen einen neuen Nervenkitzel braucht, nach Catania und Kreta der ferne Norden? Alles mag beteiligt sein.
Aber zunächst eines: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der bisherigen Nyksund-Aufenthalte sind sehr, sehr verschieden. Ihre soziale Lage, ihre Lebenschancen, ihre Anschauungen und Leitbilder spiegeln die ganze Breite der sozialen Struktur der Bewohner in der Bundesrepublik. Schon das unterscheidet die Nykund-Fahrer von den Bündischen von einst und den Gruppen der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Diese Gruppen waren vergleichsweise homogen zusammengesetzt. In Nyksund waren in den letzten Jahren Punks und Skinnies, Chancenlos und hochprivilegierte, biedere Handwerker und ausgebuffte Asphalt-Typen, Öko-freaks und Modepuppen, Politische und Unpolitische, Feministinnen und Traditionalistinnen, Machos und Softies. kurzum alle denkbaren Gruppierungen in der jungen Generation, dazu türkische, koreantische und westafrikanische Leute, Dänen vom Land und aus der Metropole, SchwedInnen und eine größere Zahl NorwegerInnen aus den südlichen Landesteilen.
Und sie alle erlebten bei der Ankunft in Nyksund einen Schock. Der fiel unterschiedlich stark aus, aber er fehlt in keinem Bericht. Was also ist diese allgemeinste Wirkung der Ankunft in Nyksund?
Bei einigen dominiert die Brutalität der Natur, wie sie es nennen. Nackte, schroffe Felsen, knallharte Kontraste, gleißendes Licht oder Sturmböen, donnernde Brecher, peitschender Regen. Andere erschrecken vor dem Mangel an Komfort, vor kaputten Häusern und einem Leben fast ohne Möbel. Wieder anderer waren noch nie so dicht mit soviel anderen Leuten zusammen. Wieder andere erkennen verblüfft, daß sie nun selber Ausländer sind. Einer konnte es nicht fassen, daß man Fische schlachtet und ißt. Er kannte und wollte nur Fischstäbchen. Wie auch immer die individuelle Wahrnehmung: sie spiegelte zunächst Verunsicherung angesichts einer unbekannten, fremden Situation. Das passiert auch anderswo. Fragt man sich genauer, so zeigt sich, daß es die Direktheit, die Unmittelbarkeit ist, mit der das alles über die Neuankömmlinge hereinbricht, die den Schock bewirkt.
Gut, bereits in den Konzeptionspapieren von 1984 findet sich die Hoffnung, daß Nyksund eine Gegenwelterfahrung bewirken möge, neue Sichtweisen provozierend und die kritische Potenz gegenüber dem heimatlichen Alltag verstärkend. Aber niemand von den Gründern hat diesen Aspekt der Unmittelbarkeit damals im Auge gehabt.
Wenn in Nyksund die Unmittelbarkeit aller Erfahrung eine so zentrale Stellung einnimmt, so muß man fragen, wie es sich mit dieser Unmittelbarkeit im sonstigen Alltag der jungen Generation verhält. Die allermeisten Jugendlichen sind nach 1965 geboren worden, die Studenten sind im Schnitt etwa fünf Jahre älter. Es handelt sich nicht mehr um "Nachkriegs"-Jugendliche. Die materielle Not gehört in der Regel nicht mehr zum Erfahrungswissen dieser Generation. Zentralgeheizte Wohnungen, eigene Zimmer, geflieste Bäder, Fernsehen und Stereoanlage gehörten bei den meisten schon zu den selbstverständlichen Standards. Der entwickelte Sozialstaat konnte selbst Heimkinder spätestens in den 70er Jahren an den Freuden des Konsumentendaseins - mehr als heute - beteiligen. Die große Zahl dieser Jugendlichen ist in Verhältnissen aufgewachsen, die durch zivilisatorischen Komfort, technische Hilfsmittel und medienvermittelten Kontakt zur Gesellschaft gekennzeichnet sind. Mit anderen Worten: Die von den Generationen zuvor geschaffenen Sicherungen gegen die Härten des Lebens und die Erleichterungen des täglichen Lebens haben eine Art von schützender und isolierender Käseglocke über die Angehörigen dieser Generation gestülpt. (Zugleich gingen herkömmliche Orientierungen zu Bruch). Erfahrung wurde weitgehend zur Erfahrung aus zweiter Hand. Man kann diesen Zustand nicht greifen und fassen, er verbirgt sich hinter der Maske von Selbstverständlichkeiten. Wenn ein Jugendlicher sagt, er könne unmöglich Hühnerkeulen essen, weil diese die Knochen enthalten und diese ihn daran erinnern, daß er ein Tier esse, welcher Gedanke ihm Ekel verursache, er brauche die Form, die MacDonalds ihm biete, präparierte und panierte Nuggetts, so drückt dies am extremen Beispiel den allgemeinen Tatbestand aus. Ein anderer Jugendlicher berichtet, er habe mit anderen vor dem Fernseher gesessen, als man bemerkt habe, daß es im Haus brenne, und da habe man eben das Programm gewechselt. Darin drückt sich ein Kontaktverlust zur Realität aus, der als "Verlust der Unmittelbarkeit" verstanden und bezeichnet werden kann.
Nyksund bietet keine Ausflüchte in andere Programme: Die Tatsache, daß Verpflegung herangeschafft werden muß, Fische gefangen und Pilze gesucht werden müssen, daß man leckere Salate und süße Beeren von den Berghängen holen kann. macht die Gewöhnung an die artifiziell-industriellen Produkte des gewöhnlichen Alltags mehr oder weniger fragwürdig,
Eine ursprünglichere Wirklichkeit gewinnt eine Chance, an die Menschen heranzukommen. (Es bleibt die Frage offen: Und wozu? Ist das rückwärtsgerichtete romantische Natürlichkeitsideologie? Zunächst handelt es sich um Erlebnisbeschreibung).
Die moderne Großstadtzivilisation überzieht ihre Bewohner mit einer isolierenden Folie, die teils als Schutzfilm, teils als ästhetischer Filter zwischen Realität und Individuum gelegt ist. Ein Wirtschaftssystem, das auf der Weckung immer neuer Massenbedürfnisse basiert, bildet die Wurzel dieses Vorgangs. Auch die Arbeitsbeziehungen haben sich gravierend verändert. Nur noch ein geringer Teil der Menschen ist mit der materiellen Produktion unm ittelbar befaßt. Aber auch in der materiellen Produktion ist zwischen den Produzierenden und dem Werkstück mehr und mehr Maschinerie wirksam. Elektronische Steuerungen zu bedienen ist etwas anderes, als Achswellen selber zu drehen. Mit anderen Worten: Auch in der Arbeitswelt schieben sich mehr und mehr abstrakte Handlungen und Vollzüge zwischen den Arbeitenden und die zu bearbeitende Materie. Das gilt erst recht für junge Menschen: Noch um die Jahrhundertwende trat der überwiegende Teil dieser Jugend mit 13 oder 14 Jahren in die Arbeitswelt ein. Heute gibt es kaum noch Heranwachsende, die vor dem 18. Lebensjahr den ersten Schritt ins Berufsleben tun - wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz finden. Die Jahre zwischen Kindheit und dem Eintritt ins Berufsleben werden durch Schule oder schulähnliche Maßnahmen gefüllt: mit abstrakter Vorbereitung auf eher abstrakte Grundlagen des Arbeitslebens.
Diese relative Ferne von der Erfahrung produktiven Arbeitens, von dem Erlebnis, Ursache einer Wirkung auf die materielle Umwelt zu sein, macht auch erklärbar, warum gerade Schüler und Studenten in Nyksund oft eine Phase "produktiver Euphorie" erleben. Das Bedürfnis nach sinnlicher Erfahrung der eigenen Produktivität, die ihnen durch die Art, wie Schule und Studium in der Regel organisiert ist, vorenthalten wird, bricht sich bei manchen von ihnen, z.B. als nächtliche Bauwut, Bahn. Nyksund funktioniert wie ein Laserstrahl, zerschneidet durch direkte Herausforderung die Wand zwischen Arbeitslehre und Arbeit. Diese Wand kann auch als eine moderne Variante von Entfremdung verstanden werden.
Entfremdung wird wahrnehmbar erst durch Verfremdung. Nyksund macht in der Tat die üblichen Selbstverständlichkeiten dadurch frag-würdig, daß es sie ihrer Normalität beraubt. Dies gilt auch für die Selbstwahrnehmung als ökologischer Faktor und ökologische Gefahr. In Nyksund kann der eigene Anteil an der Belastung der Natur unmittelbar erfahren werden. Wer seine Exkremente samt Papier einfach runterspült, kann sie im Hafenbecken schwimmen sehen. Die Wirkungen von Nyksund sind also - auf einer noch sehr allgemeinen Ebene - Verfremdungswirkungen. Nyksund macht Selbstverständliches in seiner Fragwürdigkeit bewußt. Damit kann der Alltag problematisiert und begriffen werden - und dies nicht im Sinne abstrakter Kritik, sondern durch Erfahrung von Realität durch Realität.
Aber Nyksund ist nicht nur eine Ortschaft, es ist auch ein sozialer Ort. Unter diesem Begriff versteht man die komplexen Wirkungen, die ein konkretes soziales Umfeld auf jeden einzelnen ausübt. Das schließt diejenigen Wirkungen mit ein, die der einzelne in das soziale Geschehen selbst einbringt. Der soziale Ort Nyksund erzielt seine spezifischen Wirkungen durch seine verdichtete Überschaubarkeit. Die Kompression beginnt schon während der langandauernden Anreise im Bus. Die anderen sind für drei oder mehr Tage unausweichlich. Es ist unmöglich, sich ihnen nicht zu stellen. Dieses Leben in der rollenden Gemeinschaftszelle ist konfliktgeladen, die lange Strapaze macht unleidlich, die Musikkassetten der anderen gehen einem meistens auf den Geist, die eigenen will keiner hören. Es gibt Streit um die Liegeplätze im Mittelgang oder um den nächsten Rastplatz. Die Zwischenerholung in einer Camping-Hütte macht die Enge im Bus erst richtig bewußt. Wenn die Konflikte aufbrechen, werden sie Gruppenthema. Es wird Partei ergriffen. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Differenzen bewußt. Cliquen bilden sich heraus.
Die Art und Weise, wie die Plätze in den Häusern verteilt werden, also die Aufforderung, sich selbst das Plätzchen seiner Wahl zu suchen, begüngstigt die Fortsetzung des der Kleingruppenbildung. Diese ist zunächst besser als die übliche Vereinzelung. Aber: Es reicht nicht aus, einige neue Freunde dazuzugewinnen. (Für manche ist das schon sehr viel. Viel mehr, als sie bisher an sozialen Bezügen und Bindungen aufbauen konnten). Es kommt darauf an, über die Clique hinauszudenken, Verantwortung für das Leben im Dorf zu übernehmen.
In großen Städten zu leben bedeutet für viele einem Prozeß der Isolierung ausgesetzt zu sein Das muß nicht heißen, daß man niemanden kennt. Es bedeutet das Verschwinden positiv besetzter Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familienwohnung. Jeder wird zur potentiellen Bedrohung: Der ist schaft auf meine Wohnung, die will mich anschwärzen, der ist mir unheimlich. Die verläßlichen Nachbarn werden zur Ausnahme. Generell findet in den Städten wie Berlin ein schleichender Prozeß der Disintegration und Parzellierung in Alters- und Jugendghetttos und innerhalb der Jugend in Subkulturen, die sich an unterschiedlichen Leit- und Vorbildern und Musikrichtungen orientieren, statt. Nyksund ist zu klein, um die Rekonstruktion heimatlichen Ghettos zu ermöglichen. Die Cliquen stellen eine schwache Ersatzlösung dar, sind aber, weil sie klein sind, nicht in der Lage, subkulturelles Sendungsbewußtsein in einen Kampf um Abgrenzung bzw. Überlegenheit umzusetzen. Das schafft eine günstige pädagogische Situation - wenn man an der Auflösung der falschen Ghetto-Vorurteile und -Mentalität interessiert ist. In Nyksund war möglich, was es in Berlin nicht mehr gibt: Frieden zwischen den anwesenden Skinheads und Punks. In Nyksund bildeten sich herzliche Freundschaften zwischen jungen Arbeitern und ihren türkischen Kollegen. Ohne die feindsehligen Impulse aus der heimatlichen Bezugsgruppe erübrigt sich Ausländerfeindlichkeit, insbesondere wenn in Nyksund beide Ausländer sind.
Eine andere Veränderung betrifft den Umgang mit Menschen, die Hilfe brauchen. Die Normalität der Großstadt ist nicht Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, sondern die Übertragung von Verantwortung für andere auf die, die dafür bezahlt werden.
Gewiß, in der Großstadt sieht man oft genug Menschen, die ihrer Selbstverwirklichung durch (Zeile fehlt) macht einen Bogen. In Nyksund trifft man/frau auf Menschen, mit denen man/frau in der Stadt möglichst Abstand hält. Zunächst versucht man/frau das übliche Verhalten auch da. Laß mich in Ruh, sollen sich doch die Experten um sie kümmern, sie werden ja dafür bezahlt. Dann aber kommt eine Situation, in der die Begegnung - so oder so - unausweichlich wird. Und da zeigt sich, nachdem die Maske aus Notwehr und Mißtrauen ein wenig gelüftet ist: da ist ja jemand wie ich, nur ein bißchen anders. Es kann sehr spannend sein, jemand von dieser anderen Seite einmal wirklich aus der Nähe kennenzulernen. Weder abstrakte Solidarität noch arrogante Abwehrreaktionen sind da angesagt. Fremdheit wandelt sich langsam, zu langsam in Vertrautheit, Angst kann Anteilnahme werden.
Der Zustand unserer Welt hat viel mit einem verbreiteten Mangel an sozialer Phantasie zu tun. Sich in die Lage anderer zu versetzen, Mitgefühl oder Solidarität mit Schwächeren zu entwickeln, setzt aber soziale Phantasie Voraus. Der Wille zu Änderungen erfordert Vorstellungen und Alternativen, diese fallen nicht vom Himmel. Sie setzen vergleichende Erfahrung voraus.
Gewiß, vom Ehekrach des Nachbarn im Neubaublock erfährt man nur dadurch etwas, daß die Wände so hellhörig sind, mancher lauscht empört-entrüstet, der andere kann sich vor Schadenfreude kaum retten. Ein dritter fühlt sich einfach gestört. Die Probleme der Schmidts von nebenan gehen uns ja "eigentlich" nichts an. Dafür gibt es das schnöde Wort "Privatsache".
In Nyksund weiß jeder, daß die Arbeitsfähigkeit der Gruppe unter anderem auch vom Stand der "Beziehungskisten" abhängt. Schon deshalb hören die Beziehungen auf, reine Privatsache zu sein. Seit Alters her ist der Topos Reise mit hochgespannten erotischen Hoffnungen verknüpft. Diesen Hoffnungen stehen Ängste und erlittene Enttäuschungen im Wege. Hoffnungen werden notwendig enttäuscht, wenn die Geschlechterverteilung in der je konkreten Dorfsituation sehr ungleich ist. Das verlagert die Hoffnungen zunächst auf die norwegische Umwelt, führt also zu häufigen Exkursionen zu den Discos und Jugendtreffs der Umgebung. Bleiben diese Aktivitäten ohne Kontakterfolg, tritt eine ärgerliche Grundstimmung auf. Reizbarkeit und Desinteresse an der Arbeit, Schimpfen über das Essen, Krach zwischen den Cliquen oder Nationen ist eine wahrscheinliche Folge. Für die Organisation ergibt sich daraus, daß eine Balance in der Geschlechterverteilung eine Planungsnotwendigkeit ist.
Es ist ein Mangel herkömmlicher Sexualpädagogik, daß sie nicht konkret auf das Geschlechtsrollenverhalten Einfluß nimmt. Entweder handelt es sich um Nachrichten über das Liebesteben der Blattläuse oder um eher anatomische Demonstrationen. Es fehlt an der Möglichkeit, konkretes Verhalten der Frauen und Männer im Alltag zum Gegenstand von Reflexion und Veränderung machen zu können. Es geht eben nicht nur um die Praktiken im Bett, sondern um den Umgang der ganzen Menschen miteinander. Nyksund ist auch in dieser Hinsicht anders. Niemand in Nyksund will sexuelle Kontakte behindern. Die übliche Sexualverhinderungs-Pädagogik hat hier keine Basis. Das aber ist nur die Voraussetzung der Möglichkeit des Lernens und Umlernens im Bereich des Umgangs von Frauen und Männern miteinander. Die Entwicklung unserer Zivilisation hat die klassische Rollenaufteilung zwischen den Geschlechtem zwar überflüssig gemacht, die Gleichheitsrechte und die Alltagsgleichheit aber noch lange nicht realisiert. Darüber zu reden oder zu klagen, ist eine Sache, Verhalten zu ändern eine andere. Wieder tritt die spezifische Nyksund-Wirkung der Wiederherstellung von Unmittelbarkeit auf den Plan. Es ist in dieser spezifischen Sicht der Dorfcharakter der Siedlung, der es - fast - unmöglich macht, daß die Herausbildung von Zweisamkeit unbemerkt bleibt. Erst recht sind Beziehungskonflikte nicht unter der Decke zu halten. Dies führt zu einer Teilöffentlichkeit einer Entprivatisierung der sogenannten Beziehungskisten. Die anderen nehmen Teil. Wie sie das tun, ist ein Gegenstand pädagogischer Intervention Jeder kennt die Mischung aus moralinsaurem Neid, erotischer Mißgunst und sensationshungriger Schadenfreude, wie sie Kleinstädtern und Dörflern in der Normalsituation eigen ist. Es gibt keinen Grund anzunehmen daß dies in Nyksund anders wäre, wenn diese Sache naturwüchsiger Entwicklung überlassen bliebe. Immerhin, durch die Nähe des Zusammenlebens und die Dichte des Kommunikationsnetzes würden auch denn Dämpfungen zu erwarten sein. Aber erst durch die Tatsache, daß das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Nyksund ein Dauerthema ist, sind nachhaltige Änderungen möglich und zu erhoffen. Diese Frage stellt sich nicht nur an Beziehungskonflikten zwischen Paaren, sie stellt sich auch bei der Arbeitsverteilung, bei der Art und Weise, wie "angemacht" wird, in der Beteiligung der Geschlechter an Außenaktivitäten, im Umgang mit Besuchern und Touristen, anläßlich von Frauentreffs. Viele der jungen Frauen, die nach Nyksund kommen, bringen den Anspruch mit, mindestens in dieser besonderen Welt ihren Anspruch auf den Abbau weiblicher Benachteiligung durchzusetzen. Das ist gut so. Durch die so hergestellte besondere Sensibilität wird das allgemeine Wahrnehmungsvermögen geschärft: Beispielsweise werden gönnerhafte Lehrmeister-Allüren mancher Männer - seien sie Handwerker, Pädagogen oder Teilnehmer - zum Gegenstand erregter Diskussionen. Oder es geht um das Recht von Frauen, das Duschhaus auch mal ohne Öffentlichkeit nutzen zu können. Oder es geht darum, scheinbar selbstverständliche Arbeitsteilungen - Frauen in die Küche, Männer zum Dachdecken - öfter mal radikal umzukehren,als Selbstverständlichkeit, nicht als Demonstration.
Es kommen aber auch Frauen nach Nyksund, die die herkömmliche Frauenrolle gar nicht oder nur in Teilen ablehnen. Für diese ist es z.B. selbstverständlich, daß sie die Wäsche ihres Freundes mitwaschen. Im Waschhaus gibt es da schon herbe Kritik von anderen Frauen. Männer, die für Frauen die Wäsche mitwaschen, werden dagegen kaum beachtet. Das ist gut so, es muß ja zur Selbstverständlichkeit werden - sagt die Theorie. Andererseits läßt sich ein Lernprozeß beschleunigen und stabilisieren, wenn er auch bemerkt und positiv verstärkt wird.
Es wird deutlich, daß auch das soziale Lernen zwischen den Geschlechtern in Nyksund anderen Bedingungen unterliegt als in den heimatlichen Großstädten. Gerade die sich veröffentlichenden Beziehungskisten eröffnen Wege der Einflußnahme. Der Einsatz von Elementen des Rollenspiels und des Psychodramas bietet weitere Möglichkeiten der Hilfestellung. Die Gruppendiskussion über verschiedene Möglichkeiten, eine Rolle spielerisch auszufüllen, beseitigt die Unfähigkeit, sich in der Realität anders zu verhalten, als es scheinbar eh passieren muß. Gerade Spiele um die Fragestellung: "Das passiert mir immer wieder!" bieten für solche Bearbeitung von Wiederholungszwängen ein gutes Hilfsmittel. Es muß allerdings jemand da sein, der um diese Möglichkeiten weiß und sie auch zu inspirieren imstande ist. Das ist nicht in jedem Durchgang gewährleistet, solange in Nyksund nicht im Ensemble gespielt werden kann, weil es an pädagogischer Arbeitskraft aus Geldmangel fehlt.
Es mag als Paradoxon erscheinen, ist nicht zu bestreiten Eine der stärksten Wirkungskräfte in Nyksund ist die Erfahrung der geglückten Selbstorganisation. Um diese Erfahrung herzustelIen, ist aber erheblicher organisatorischer und pädagogischer Aufwand erforderlich. Ohne kompetente Vorbereitung der Gruppen, mit einer Dorf zufällig zusammengesetzten Dorfgerneinde, ohne Hilfestellung bei der Verarbeitung des ersten Schocks, ohne gute Arbeitsvorbereitung und Materialbereitstellung, ohne gute Anteiltung im Bau-, Küchen- und Reinigungsbereich sinkt der Wert Nyksunds rapide ab. Der berühmte Lehrsatz von John Dewey, der besagt daß wir nie mittelbar, sondern unmittelbar, durch das Mittel der Umgebung erziehen, ist richtig, er wird aber auch von Dewey in den Zusammenhang der Notwendigkeit gestellt, daß die erzieherisch wirksame Umgebung dies nur wird, wenn die erziehenden Faktoren in die Planung dieser Umgebung richtig integriert sind. Und - mit Verlaub zu sagen - ganz ohne erzieherischen Direktkontakt geht es auch nicht.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß wir in Nyksund unter "Pädagogik" weder herkömmliche Manipulationstechniken, noch die Anwendung einer Komandostruktur verstehen. Die althergebrachte Lagerpädagogik hat ausgedient. Es kommt vielmehr darauf an, in der Annäherung an die Bedürfnisse und Wünsche der Jugendlichen deren Perspektiven aufzuklären und Schritte in die herausgefundene Richtung mit den Jugendlichen gemeinsam auszutasten1. Mehr lässt die Kürze der Aufenthaltszeit nicht zu. Die unabweisbaren Pflichtleistungen werden entweder durch Einsicht in Notwendigkeit, in schwierigen Fällen durch arbeitsteilige Gemeinsamkeit, also individuelle Zuwendung, im äußersten Fall durch spontanen oder organisierten Gruppendruck motiviert. Selten, aber manchmal doch muß sanktioniert werden.
Das zeigt sich besonders am Wechsel des kulturellen Klimas. Es gibt Durchgänge, die eine hohe Qualität von Partykultur entwickeln, andere zeigen ein starkes Interesse an Mal- und Sprayaktivitäten, dann ist Angeln oder Fußball angesagt. Der nächste Durchgang ist ganz und gar auf Musikmachen eingestellt, ein anderer macht ganz Nyksund zur Happeningbühne, manchmal passiert auch gar nichts, dann passiert in der Folge meist Unangenehmes. Geht man den jeweiligen Trends auf den Grund, findet sich meist jemand oder eine kleine Gruppe, von der die "Infektion" ausgeht. Von diesen "lebt" das Dorf, fehlen sie, kann es recht öde werden zwischen Meer und Felsen. Nun tragen anregende Menschen keine besonderen Kennzeichen. Deshalb ist dieser Bereich nur bedingt planbar, insbesondere dann, wenn es kein festes Potential gibt.
Noch ist Nyksund ein Sonderfall von Dorf. Es ist ein Jugenddorf. In Nyksund gibt es nur drei ältere Leute. Immerhin nutzen mehr und mehr Familien ihre ererbten Häuser als Wochenend-Datscha. Mitarbeiter und Teilnehmer bringen zuweilen Kinder nach Nyksund. Wir können uns gut vorstellen, daß Handwerker-Rentner in Nyksund Beratungs- und Anleitungsaufgaben übernehmen. Frauen aus den umliegenden Ortschaften bieten Kurse in Norwegisch an, auch in kunsthandwerklichen Bereichen. Das Dorf normalisiert sich allmählich. Familienerholung - z.B. für die Familien von Arbeitslosen - würde diese Normalisierung vorantreiben. Trotzdem: Nyksund ist primär ein Jugenddorf. Diese Tatsache wird durch die gemeinsame Organisation der Mahlzeiten unterstrichen. Jeder Teilnehmer findet bei seiner Ankunft eine Wandzeitung vor, in der für die Tage des Aufenthalts bestimmte Menüs eingetragen sind. Er trägt sich in die Küchengruppe jenes Tages ein, in der das Gericht angekündigt ist, das er mitkochen möchte. Zwischen den jeweiligen Kochgruppen regt sich Wettbewerb. Jede möchte Erfolg bei den Teilnehmern haben. Und in der Tat: In der Regel schmeckt das Essen sehr gut, es gibt sogar immer wieder Steigerungen.Auch sozial ist dieser obligatorische Küchendienst (und der Reinigungsdienst) von großer Bedeutung. Es entstehen auf diese Weise neue Kooperationsbeziehungen und in ihrem Gefolge neue Freundschaften. Eine ähnliche Funktion haben die sich spontan bildenden Gruppen, die nachts Brot backen. Offiziell tun sie das nachts, weil da die Elektroherde frei sind, es hat aber einen besonderen Reiz, eine Backnacht in der Küche zu verbringen.
Nyksund bestätigt die Vermutung daß gerade jene als pädagogisch unwichtig und banal bezeichneten Tätigkeiten, die um das Essen und Trinken angesiedelt sind, eine ganz wichtige soziale Funktion erfüllen. Das gilt auch für die Fahrt zum Fischfang und die Suche nach Pilzen und Beeren. Gerade die materielle Seite, der Bereich Versorgung und Entsorgung ist eine der wesentlichen Komponenten für die Entstehung der Dorfgruppe, der immer wieder neuen Lebensgemeinschaft in Nyksund. Diese Dorfgruppe ist zugleich auch ein Gemeinwesen, das die benachbarten Gemeinwesen nicht ignorieren kann. Die meisten Menschen in der Öksnes-Kommune waren zu einem großen Teil dem Projekt freundlich gesonnen. Ein weiterer großer Teil verhielt sich abwartend-skeptisch. Aber einige waren aus den unterschiedlichsten Gründen auch gegen die Wiederherstellung des Ortes - oder dagegen, dass die Initiative dazu von "den Deutschen" ausging. Dabei spielten politische Fronten oder die Erfahrung des 2. Weltkriegs mit deutscher Besatzung nur eine geringfügige Rolle. Es handelte sich vielmehr gegenwärtige konkrete Interessen. Die Gemeinde ist nicht reich und es gibt noch viele Mängel z.B. im Straßen- und KITA-Bau, die zu beseitigen sind. So ist es verständlich, daß viele Angst hatten, zuviel vom Gemeindegeld könnte nun nach Nyksund abfließen.
Gerade die Tatsache, daß die ersten Anfänge in Nyksund nur mit Hilfe der norwegischen Nachbarschaft möglich waren, mobilisierte auch die Hilfsbereitschaft der Menschen aus der Öksnes-Kommune. Das so entstandene freundliche Klima im Umgang mit den norwegischen Nachbarn wirkt auf die Binnenbeziehungen Dorf zurück. Es ist vielen jungen Leuten vom Kontinent wirklich wichtig, bei den Norwegern einen guten Eindruck zu hinterlassen. Es versteht sich von selbst, daß die Beachtung durch die norwegischen Besucher und das Echo, das Nyksund in der nordnorwegischen Presse findet, zur Aufwertung Nyksunds und seiner junger Bewohner beiträgt: "Ick finde det irre - in Berlin kann ick schrubben soviel ick will,. hier bin ick jleich mit Bild inne Zeitung".
Jugendliche beschreiben sehr genau die Unterschiede zwischen dem gewöhnlichen Leben und Nyksund. Sie registrieren genau jene Wirkungen, die vom "sozialen Ort" Nyksund ausgehen. Die relativ wenigen Menschen, die viele "Durchgänge" in Nyksund erlebt haben, wissen auch, wie völlig verschieden aufeinanderfolgende Durch
????stellen die raschen Wechsel eine große Schwierigkeit dar. Es fällt schwer, sich vom vertraut gewordenen Dorf als sozialer Gemeinschaft mit relativ klaren Rollenverteilungen zu trennen, und sich auf die zunächst ungeliebten, schon wieder Unwissenden einzustellen. Das wird auch nicht einfacher, wenn nur ein Teil der Gruppen wechselt. Sofort macht sich bei den dagebliebenen ein Trend zur Privilegienbildung breit. Immerhin kann gesagt werden: Die Wirkungen der Nyksund-Sozialisation wirken um so tiefer, je länger der Aufenthalt dauert.
Viel Nachdenken hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie denn die Teilnehmer nach ihrer Rückkehr mit den neuen Erfahrungen umgehen. Es hat dazu viele Befragungen gegeben. Sie machen vor allem eines deutlich: Die Verarbeitungstechniken sind so verschieden wie die Vorerfahrungen, mit denen die Jugendlichen nach Nyksund kamen. Da gibt es Techniken der Neutralisation (Nyksund ist halt Urlaub, hier ist eben Alltag und das muß auch verschieden sein) bis zu langanhaltenden Umbauphasen der eigenen Ansichten, Lebensperspektiven und Freundeskreise.
Für die, die unter besonderer Benachteiligung zu leiden haben, sind ebenfalls völlig verschiedene Verarbeitungsformen festzustellen. Ein Mädchen vom Kottbusser Tor in Kreuzberg: "Wenn ich abschalten kann und die Augen zumache, sehe ich Nyksund vor mir. Da will ich wieder hin." Dagegen ein 18jähriger aus St. Pauli: "Hör bloß auf mit Nyksund. Da bringen mich keine zehn Pferde mehr hin. Keine Weiber, kein Stoff: Was soll ich'n da?"
III
Die allgemeinste Wirkung von Nyksund als ein Ort der Wiederentdeckung der Unmittelbarkeit findet eine Reihe von Ergänzungen, die mit der sozialen Vorerfahrung der beteiligten Individuen eng verzahnt sind. Diese speziellen Wirkungen von Nyksund variieren auch sehr stark durch die Effekte des jeweiligen sozialen Arrangements. Dieses ist abhängig von der Struktur der je konkret anwesenden Gruppe(n), von der vorhandenen oder fehlenden sozialpädagogischen Sensibilität und Kompetenz der jeweiligen Leitungsteams und letztlich auch von den Witterungsbedingungen.
Nach vier Jahren ist folgendes konstatierbar: Es ist besonders wichtig, daß daß die je anwesende Gruppe ein breites Spektrum der sozialen Mischung enthält. Die Verengung auf eine schichtenspezifische Zielgruppe oder gar Problemgruppe würde der Nyksund-Pädagogik zuwiderlaufen. Die Konzentration einer Problematik - nur Ex-User, nur Skinheads, nur Magersüchtige. wurde deren Problematik unter den Bedingungen der Insel-Situation potenzieren, weil solche Verdichtung den Betroffenen signalisiert, ihr Verhalten sei das schlechthin Selbstverständliche. Nein, gerade die Mischung aus sehr verschiedenen sozialen Schichten und Hintergründen macht es möglich, andere Orientierungen und Erfahrungen kennenzulernen, die Motive anderer zu erfahren und zu akzeptieren und auf diese Weise eigene und fremde Toleranzspielräume zu erweitern, eine Verbreiterung der Handlungsmöglichkeiten anzubahnen. Vorausgesetzt, der kommunikative Diskurs kommt in Gang. Allerdings, eine Einschränkung: Solange Nyksund noch ein Bauplatz ist und Gruppen dorthin kommen, für die der Aufenthalt eine Verlagerung ihres Ausbildungsplatzes darstellt, solange soll nach Möglichkeit vermieden werden, gleichzeitig dort Ferien- oder reine Seminarveranstaltungen durchzuführen. Es hat sich gezeigt daß der Motivationskomplex Abenteuerurlaub mit Bastelmöglichkeit mit dem Motivationskomplex Ausbildung und Berufsarbeit schwer vermittelbar ist. Die ohnehin unter den speziellen Arbeitsbedingungen Nyksunds (Materialknappheit, Witterungsanfälligkeit, Improvisationszwang, Werkzeugsuche) labilisierte Arbeitshaltung wird durch das Modell von Abenteuerurlaubern leicht vollends zum Kippen gebracht. Die Zeiträume für Feriendurchgänge und Arbeitsdurchgänge sollten deshalb klar getrennt bleiben. Diese Einschränkung steht dem Gebot nach einer guten Mischung aus Menschen mit sehr unterschiedlichen Sozialisations-Prägungen nicht entgegen. Jener produktive Diskurs, dessen Herstellung die eigentliche pädagogische Leistung von Nyksund ist, braucht die Unterschiede, Widersprüche, Gegensätze und die aus ihnen hervorgehenden Gesprächsanlässe, auch und gerade dann, wenn sie sich zunächst in Konflikten anzeigen und entladen.
Neben diesen, noch an soziologischen Differenzen festgemachten Erfahrungen hat sich aber auch gezeigt, daß ganz individuelle Wirkungen in und durch Nyksund zu beobachten sind. Es sind ganz persönliche Entdeckungen und Erfahrungen mit sich selbst. Die Konfrontation mit neuen Herausforderungen und Anreizen führt zur Entdeckung neuer Interessen. So wurden Jugendliche zu Hobby-Köchen, die nie zuvor gekocht hatten. Da entdeckt jemand seine Liebe zur See, zur Botanik oder zur Selbstdarstellung auf der Bühne.
Im intensiven Kleingruppengespräch erfährt man/frau mehr über die Alltagsrealität anderer Familien und stellt dadurch die eigene stärker in Frage. Da gibt es ein Handwerk, in dem man/frau sich erprobt hat und das als neue Perspektive für das eigene Leben attraktiv wird. Da erfährt jemand erstmalig, daß er die Grundbegriffe einer fremden Sprache in der Schule nicht nur für Lehrer und Zeugnis gelernt hat, sondern daß man diese Kenntnisse tatsächlich zur Verständigung mit anderen einsetzen kann. Unendlich viele dieser individuellen Veränderungen und Lernprozesse wären zu berichten. Insgesamt führen sie in der Regel zur Stärkung des Selbstbewußtseins, der Individualität und Identität der Jugendlichen. Damit trifft das Nyksund-Leben genau den zentralen Punkt der Jugendkrise. Nyksund begünstigt die Herausbildung einer positiven Identität. In der Regel. Es gibt auch die Ausnahme. So sind zum Beispiel Jugendliche, die zu Hause voll integriert sind, die sich auf Konsum und Leben vor dem Bildschirm voll eingelassen haben, oft nicht in der Lage, den ersten Schritt aus dieser passiven Unterwerfung unter die Gebote der Konsumgesellschaft zu tun. Sie erleben Nyksund als ein dreckiges, primitives Nest, als einen rückständigen Ort, an den verschlagen worden zu sein, ein persönliches Unglück ist. Werden diese Jugendlichen nicht sozial abgefangen, haben sie nur den Wunsch, ganz schnell wieder nach Hause zu kommen oder ans Mittelmeer, in ein Hotel oder einen Club, der perfekt organisiertes Urlaubmachen garantiert. Auch Jugendliche mit extrem negativen, miserablen Kindheitserfahrungen können dem einfachen Leben in Nyksund oft nichts reizvolles abgewinnen: das Leben in improvisierten Zuständen, mit primitiven Sanitäranlagen und viel Handarbeit haben sie zuvor schon zur Genüge kennengelernt. Sie würden zum Aufbau positiver Identität gerade das Gegenteil, vermutlich soziale Aufwertung durch relativen Luxus und Steigerung von Genußfähigkeit brauchen.
Nyksund ist also zuweilen auch kontraindiziert. Die Vorbereitung der Gruppen sollte nach Möglichkeit auch Signale geben, die denen, die nicht nach Nyksund passen, einen Ausstieg nahelegen. Aber das ist im Voraus schlecht einzuschätzen. Nyksund hat auch da verblüffende Wirkungen, es setzt zuweilen verschüttete Wünsche und Haitungen frei, die nicht vorhersehbar sind. Es kann sich also nicht darum handeln, Individuen auszuschließen. Es geht um die Gruppenauswahl und um die Montage von Gruppen in einem Turn.
Je mehr sich Nyksund der Wiederherstellung und damit einer Nutzbarkeit als Bildungsstätte nähern wird, desto wichtiger wird das thematische Angebot der jeweiligen Saison sein. Noch sind Reste von Pioniersituation und Pioniergeist möglich. Die Mangelsituationen, die gegenwärtig noch das Bild beherrschen, schaffen auch Not-Wendigkeiten, um diese abzuwenden. Dies war in den ersten Jahren noch sehr viel stärker der Fall. Damals konnte man nur trocken schlafen, wenn man zuvor das Dach gedichtet hatte. Wie man sich bettet, so liegt man: Dieser Grundsatz war damals voll wirksam. Heute kann man auch ohne Anstrengung einen guten Schlafplatz finden. Auch der Kassettenrecorder kann an die Steckdose gebracht werden. Es gibt kaum noch wirklich zwingende Mangelsituationen, die man durch individuelle oder kollektive Anstrengung abwenden müßte. Damit ergibt sich bereits jetzt die Notwendigkeit, positive Motivationen pädagogisch synthetisch herzustellen. Wie schwer das ist, weiß jeder oer ähnliches versucht hat. Aber gerade von der Bewältigung schwieriger Aufgaben gehen die stärksten Impulse für den Aufbau des Selbstbewußtseins aus. Dies ist aber der eigentliche Gewinn, den Nyksund anzustreben hat, er ist wichtiger als der Aufbau der Häuser und Kaanlagen. Dennoch ist eine Zeit abzusehen, in der Nyksunds Anziehungskraft nicht durch seine Bau-Angebote, sondern durch seine kulturellen und inhaltlichen Seminarangebote bestimmt sein wird. Für diese übernächste Runde sind Vorentscheidungen erforderlich. Solche Angebote sind nur planbar, wenn sie in großen Entwürfen und Visionen bereits vorhanden sind.
IV
Das Nyksund von morgen wird als Bildungs- und Begegnungsstätte nur überleben, wenn es seinen zukünftigen Bewohnern Antworten auf ihre Lebensprobleme anzubieten hat. Nyksunds bisherige Stärke ist die Konkretheit und Direktheit der Konfrontation mit anderer, oft unerwartet gegensätzlicher Wirklichkeit. Bildungsstätten, die sich den zentralen Fragestellungen unserer Zeit widmen, gibt es viele. Nur ganz wenige wissen die Krisenpunkte und ihre Ursachen so konkret zu wenden, daß sie tatsachlich Änderungen im Leben ihrer Besucher und Lehrgangsteilnehmer hervorbringen können. Nyksund wird den Versuch wagen müssen, sich auf diese konkrete Weise auch praktisch mit den menschheitsbedrohenden Tendenzen unserer Zeit auseinanderzusetzen, also so, daß daß die Bedrohungen faßbar werden und die individuellen Verarbeitungen und Antworten erlernt werden können, und sei es zunächst nur in der und für die andere Umwelt, die Nyksund darstellt.
Die Kristallisationspunkte dieser Krisen sind allenthalben bekannt. Bedrohung durch mörderische Waffensysteme und hinter ihnen stehende Interessengegensätze, Übervölkerung der Erde und dramatische Umweltzerstörung, Übertechnisierung und Verlust der Identifikation durch Arbeit, neuer Nationalismus und Konsumwahn, Bürokratisierung des Lebens und Manipulation von Einstellungen und Meinungen durch übermächtige Medienkonzerne, ungleiche Verteilung von (Über-)Lebenschancen.
Alle diese Probleme bilden ein Syndrom. Ein Syndrom, das den konkreten Menschen ebenso zu zerstören droht wie die Menschheit als Ganzes. Aber all dies würde es nicht geben, wenn nicht jeder auch ein Stück Vorteil aus den bestehenden Zuständen beziehen würde.
Die subjektive Fixierung auf fragwürdige Vorteile ist das eigentliche, in Nyksund und anderswo zu bearbeitende Problem. Nyksund als Ort bietet gute Voraussetzungen. Stille und Herausforderung, Einsamkeit und Verbindungen in viele Länder. Der Rest ist Anstrengung.
Anmerkung:
1 Der Film "Verrücktheiten in einem Dorf" von Katja Beyer und Frieder Moritz zeigt wie dieser andere Stil aussieht. Diplomarbeit, TUB 1990
Meine Nachbarin von gegenüber freut sich immer, wenn ich dusche. Sie meint, sie hätte mich schon öfter beim Duschen beobachten können. Das glaube ich zwar nicht, denn ich kann ja auch nicht in ihre Wohnung schauen. Und außerdem wohnt sie einen Stock höher als ich und sieht bestenfalls nur meine Beine. Und selbst wenn sie mich beobachten könnte, es würde mich nicht besonders stören. So war es jedenfalls bisher.
Problematisch an meinem Bad ist eigentlich nur, dass nach dem Duschen alles nass ist. Da kann ich noch so vorsichtig duschen, irgendwas spritzt doch über. Es ist eben cool, ein Bad ohne Duschvorhang zu haben. Aber doch unpraktisch. Mit Rücksicht auf zahlreiche Gäste und aufgrund einer günstigen Finanzsituation war ich nun doch der Meinung, dass eine Modernisierung anstehen würde. Und mein Ergebnis umfangreicher Recherchen in alle Richtungen war, dass die einfachste und zugleich eleganteste Lösung die Installation eines Duschvorhanges sein könnte.
Nun gibt es genau eine Schwachstelle bei einer solchen Lösung. Das ist die Duschvorhangstange. Die meisten Vorhangstangen sehen billig aus und vor allem halten sie nicht. Das liegt daran, dass eine weit ausladende Stange eben nicht mit zwei kleinen Dübeln an der Wand befestigt werden kann. Das funktioniert einfach statisch nicht. Und irgendwelche Schnüre von oben sehen erstens häßlich aus und zweitens läßt sich dann der Duschvorhang nicht mehr bewegen.
Hier habe ich bei der Firma Stahldeko-Metalldesign - aus Erlangen, glaube ich - eine Lösung gefunden, die mich überzeugt hat. Ihre Stange ist so geformt, dass die Duschvorhanggleiter auf der unteren Seite innenliegend verlaufen. Die Stange ist zudem noch aus einem Stück gefertigt, so dass ein störungsfreier Weg des Vorhangs möglich ist. Eine ähnliches Innenlaufrohr verläuft auf der oberen Seite, hier wird die Halterung von der Decke befestigt, die dem Ganzen erst die nötige Stabilität verleiht.
Das Ganze kam auf einem Holzrahmen sorgfältig verpackt per Post bei mir an und sah auf den ersten Blick eher aus wie ein Fahrradbügel. Ich glaube, zwei Stunden, nachdem ich die Sendung von meiner Nachbarin abholte, war die Duschvorhangstange fix und fertig in meinem Bad montiert. Am nächsten Tag holte ich aus einem Baumarkt meines Vertrauens noch einen eleganten weißen Duschvorhang aus Textil, und fertig war die Angelegenheit.
Seit dneuestem staune ich jedes Mal, wenn ich von der Dusche komme, wie vollständig trocken doch das Badezimmer geblieben ist. Ich gebe zu, die Anschaffung war nicht gerade preisgünstig, aber ich bin doch sehr zufrieden: Die Konstruktion edel und erfüllt ihren Zweck. Nur für meine Nachbarin tut es mir ein bisschen leid. Ich überlege schon, ob ich über der Dusche eine Webcam installieren soll. Aber auch das wird nicht viel nützen: Meine Nachbarin hat kein Internet ...
(Mal sehen, sicher gibt es irgendwo einen durchsichtigen Duschvorhang)
Ich weiß gar nicht mal, wann genau er auftauchte und wo. Sicher war es in einem unserer Büros, und mit Sicherheit ging es darum, dass er einen Einsatzort suchte für das Programm Arbeit statt Strafe. Er war ein großer, beinahe hagerer Typ mit blonden, halblangen Haaren. Wenn er sprach, war eine Zahnlücke erkennbar. Er war ordentlich gekleidet mit blauen Jeans, Turnschuhen und einem breit gestreiften T-Shirt, aber seiner Kleidung war doch anzusehen, dass Geld bei ihm Mangelware war. Sein Gesicht hatte verbitterte Züge, aber er konnte auch freundlich blicken und sogar lachen. Es war so dazwischen. Es war schwer, ein Einsatzgebiet für ihn zu finden. In die Redaktion wollte er nicht, schreiben sei nicht so sein Ding sagte er. In den Vertrieb könne er auch nicht gehen, da hätte er zu viel Kontakt mit den Junkies, und das sei nicht gut für ihn. Der Bereich Küche käme auch nicht in Frage. Er sei HIV positiv und hätte obendrein Hepatitis, da wäre ein Umgang mit Lebensmitteln nicht gerade sinnvoll. Es war wirklich schwer, für Sven etwas passenden zu finden. Aber abwimmeln wollte ich ihn auch nicht, denn er machte den Eindruck, als wolle er wirklich versuchen, die Kurve zu kriegen. Nicht nur in dieser Angelegenheit. Überhaupt.
Ich meine, er schlug selbst vor, irgendeine Arbeit im Büro übernehmen zu wollen. Ich fragte ihn ab: Computerkenntnisse, 10-Finger-Schreiben, Rechtschreibung. Alles nicht so super toll, sagte er selbstkritisch. Aber er wolle sich einarbeiten und könne ja jemanden unterstützen. Am Ende des Gesprächs war er zuständig für die Personalabteilung.
Die Personalabteilung bestand damals aus einem Aktenordner. Ein paar, die von der Gerichtshilfe kamen und wegen kleinerer sogenannter Vergehen wie Schwarzfahren Arbeit statt Strafe abzuleisten hatten. Ein paar, die vom Sozialamt kamen und gemeinnützige zusätzliche Arbeit leisteten. Noch der eine oder andere Praktikant zwischendurch. Nicht wirklich viel, aber immerhin doch eine mir lästige Arbeit, und die Buchhalterin wollte das nicht unbedingt mit erledigen. Also war Sven jetzt zuständig für diese Arbeit, die in der Hauptsache darin bestand, Akten anzulegen, Stundenlisten zu erstellen, Übersichten abzuzeichnen und die Korrespondenz zu erledigen. Mit Anschreiben und Kopie.
Sven nahm diesen Aufgabenbereich sehr ernst. Er erkundigte sich genau, was zu tun sei. Bald schon führte er eigenständige Personalgespräche, machte Vorschläge zu Einsatzgebieten neuer Leute und sagte geradeaus seine Meinung, was er von den Leuten hielt, die da eintrudelten. "Den würde ich nicht an die Kasse lassen!" oder "Ich glaube nicht, dass der wieder kommt!!", waren typische Sprüche. Aber er verstand schnell, das ein wichtiges Prinzip des Vereins darin bestand, allen eine Chance zu geben. Seine Skepsis ließ ihn oft hadern. Was Sven als Mitarbeiter so liebenswürdig machte, war, dass seine Arbeit meistens immer einen gravierenden Fehler enthielt. Manchmal vergaß er bei der Adresse einfach die Straße. Oder die Postleitzahl. Oder er schickte ein Stundenabrechnung raus, ohne eine Kopie zu erstellen. So sehr er sich auch konzentrierte, irgend etwas Wichtiges war immer falsch, verdreht, unvollständig, ausgelassen oder vergessen. Dieses Problem konnte aber schon bald behoben werden durch die neu geschaffene Stelle einer Sekretärin, deren Aufgabe unter anderem darin bestand, Svens Korrespondenz nochmal durchzusehen und zu korrigieren.
Eines Tages kam Sven mit einem Hund an. Ein schöner, mittelgroßer schwarzer Straßenmischling mit einem weißen Fleck auf der Brust und weißen Vorderpfoten. Nur leider völlig verängstigt. Mit eingezogenem Schwanz lief er angstvoll im Büro herum und versteckte sich am liebsten unter einem der Schreibtische. Er habe ihn in einer Mülltone gefunden, sagte Sven. Das erklärte vieles. Mutig wie Paco wurde dann lange Zeit zu einem geflügeltem Wort in unserem Büro. Dennoch liebten alle diesen Hund, vielleicht gerade, weil er so ängstlich war. Alle versuchten, sich im freundlich zuzuwenden und ihm zu vermitteln, dass er nichts zu befürchten hätte. Im Verlauf der Wochen und Monate gab es erkennbare Fortschritte. Paco lief nicht mehr ständig mit eingezogenem Schwanz durch die Gegend und versteckte sich auch nicht mehr sofort unter dem Tisch. Dennoch blieb er stets schreckhaft. Aber ab und an unternahm er doch kleine Erkundungen und begann, sich einigermaßen heimisch zu fühlen in der Atmosphäre.
Aber Svens Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Er litt darunter, dass es für ihn im Verein keine berufliche Perspektive gab. Außerdem war er chronisch knapp bei Kasse. Auch fing er an, sich bei Mitarbeitern, deren Personalchef er ja eigentlich war, kleinere Geldbeträge zu leihen, die er aber nur teilweise zurückbezahlen konnte. Das war nicht unbedingt förderlich für seine Autorität im Verein. Das bekamen wir aber erst mit, als es eigentlich schon zu spät war und Sven sich bereits in einige Probleme dieser Art verstrickt hatte. So wurde seine Mitarbeit sporadischer, und bald schon war klar, dass auch der Hund litt unter dieser Situation. Paco war abgemagert bis auf die Knochen und verschlang gierig alles, was er auf der Straße finden konnte – obwohl Sven ihm das eigentlich zu verbieten versuchte.
Das war der Beginn der Patenschaft für Paco. Ich glaube, alles fing damit an, dass K. den Hund sehr mochte und ihm Leckerlis mitbrachte und auch Sven das eine oder andere Mal eine Dose Hundefutter mitbrachte. Sven begriff, dass obwohl wir mit ihm den einen oder anderen Konflikt hatten, dies nichts mit unserer grundsätzlichen Sympathie ihm gegenüber zu tun hatte und das wir auch seinen Hund sehr mochten. Paco brauchte irgendwelche Impfungen, und Sven, chronisch knapp bei Kasse, hatte nicht das Geld, diese zu bezahlen. Natürlich auch keine Hundesteuer. Dann musste Sven eines Tages selbst ins Krankenhaus und von einen Tag auf den anderen hatten K und ich einen Hund. Das war schön, aber auch schwierig. Gleich am ersten Tag erschreckte ihn irgendetwas und er suchte das Weite, quer über die Straße und voller Panik. Damit hatten wir nicht gerechnet. Ergebnislos und fast schon ein bisschen verzweifelt suchten wir die gesamte Umgebung ab und kontaktierten schließlich Sven im Krankenhaus. Wir sollten vor seiner Haustür nachsehen oder aber vor dem Büro. Und dort schließlich fanden wir ihn auch.
Das passierte später noch das eine oder andere Mal, dass Paco ohne erkennbaren Grund von Panik ergriffen das Weite suchte. Aber wir fanden ihn doch immer wieder. Meistens vor dem Büro, manchmal auch vor Svens Haustür. Paco, das fanden wir schnell heraus, war völlig unbeschwert immer dann, wenn er in der freien Natur herum toben konnte. Entsprechend oft versuchten wir, mit ihm draußen zu sein. Auch klappte die Kommunikation mit ihm immer besser. Paco lernte, vor uns zu gehen (damit wir ihn im Blick hatten), sich aber nicht zu weit nach vorn zu verirren, weil wir ihn sonst zurückpfiffen. Ohne Leine folgte er viel besser "bei Fuß" als mit Leine. Die Leine mochte er instinktiv nicht und an der Leine fing er immer an zu ziehen und zu zerren, ohne dass ihm das abzugewöhnen wäre. Also ließen wir ihn so oft als möglich ohne Leine vor uns her oder am Fuß laufen.
Wir merkten bald, dass er Bewegung mochte. Auf Spaziergängen absolvierte er häufig das Mehrfache unserer Strecke, weil er unermüdlich rechts und links des Weges, nach vorne und wieder zurück alles absuchen und erschnüffeln musste. Wir kamen bald auf die Idee, es mit dem Fahrrad zu versuchen. Mit Leine klappte das halbwegs gut, doch richtig gute Erfolge hatten wir damit, indem wir ihm am Rad frei mitlaufen ließen. An unseren Spurts hatte er eine helle Freude und überhaupt eine sehr gute Kondition. Das war in der Natur, auf Fahrrad- oder Wanderwegen. Aber in der Stadt?
Wir trainierten also: Ich fahre mit dem Fahrrad auf der Straße – Paco läuft nebenher auf dem Bürgersteig. Wir brauchten drei Tage, bis wir das drauf hatten. Zuerst wollte Paco immer auf die Straße kommen. Schnell jedoch begriff er, dass er nebenher auf dem Bürgersteig laufen sollte. An der nächsten Straßenkreuzung trafen wir uns dann. Paco hatte, wie alle gut erzogenen Großstadthunde natürlich von uns gelernt, dass Bordsteinkante Halt bedeutet. So konnten wir ein einigermaßen hohes Tempo erreichen – ich auf der Straße und Paco mit dem Hund. Dann probierten wir die größeren Straßen mit den parkenden Autos zwischen Bordsteinkante und Fahrweg. Zuerst schaute Paco zwischen den parkenden Autos einigermaßen irritiert, wo oder ob ich denn noch da sei, aber durch ermutigende Worte begriff er schnell: Selbst wenn er mich über mehrere parkende Autos hinweg nicht sieht, würde er mich doch an der nächsten Kreuzung wieder antreffen. Und das klappte, selbst wenn es auf dem Bürgersteig mächtig viele Fußgänger gab.
Oft habe ich mich gefragt, was das für Außenstehende für ein Bild abgegeben haben muss, einen Hund zu erleben, der ohne Leine mit einem Irrsinnstempo den Bürgersteig lang donnert, um an der nächsten Kreuzung brav zu warten, um dann bei Ampel-Grün zusammen mit einem Radfahrer die Kreuzung zu überqueren.
Irgendwann wollte Sven nicht mehr, dass Paco bei K. bleibt, und ich hatte auch beruflichen Gründen für den Hund auch nur wenig Zeit. Sven war nur noch gelegentlich im Verein, und ich traf die beiden meistens am S-Bahnhof Schönhauser Allee, wo er Zeitungen verkaufte oder bettelte. Er vergaß auch nie, mich um Geld zu fragen. Und Paco erkannte mich immer, mit einer Zeitverzögerung von 5 Sekunden und freute sich schwanzwedelnd und an mir hochspringend. Wenn ich daran dachte, erinnerte ich Sven, dass er jederzeit den Hund zu mir bringen könne, wenn was sei.
Jedoch mit der Zeit verließ auch ich den Verein und die Kontakte zu Sven wurden noch sporadischer, bis sie eines Tages ganz abrissen. Dann hörte ich nur noch gerüchteweise, dass Sven irgendwo gesichtet worden sei oder aber eben nicht.
Das mit Sven war sowieso so eine Sache. Manchmal sah er einfach erbärmlich aus und ich persönlich rechnete nicht damit, dass er Weihnachten noch erleben würde. Und doch erholte er sich immer und immer wieder und ab irgend einen Zeitpunkt hörte ich auf zu glaube, dass Sven überhaupt eines Tages sterben könne. Aber eines Tages, ich meine im Jahr 2009 - war es dann doch so weit und es ärgerte mich sehr, dass ich noch nicht einmal an seiner Beerdigung teilnehmen konnte. Bis heute weiß ich auch nicht, wo Sven begraben ist und ob er überhaupt ein Grab hat. Ich hörte, das S. sich nun um Paco kümmern würde und meldete mich bei ihr und sprach auch über die Patenschaft, die natürlich auch jetzt noch bestehen würde. Wir hatten beide viel zu tun und wollten in Kontakt bleiben, aber daraus ist nichts geworden, bisher. Von Bekannten hörte ich neulich, dass Paco gesichtet worden sei und dass es ihm offensichtlich gut geht.
Jetzt, beim Aufräumen meiner Wohnung im Sommer 2011 finde ich die alten Bilder aus dem Jahr 2001 und auch den Patenschaftsvertrag, den wir damals geschlossen hatten. Paco ist mit inzwischen dreizehn oder vierzehn Jahren ein alter Hund, Sven ist tot, und ich erzähle die Geschichte hier im Internet. Gemessen daran, dass Sven diesen Hund damals völlig verängstigt in einer Mülltonne gefunden hat, dürfte er doch ein halbwegs gutes Hundeleben geführt haben und auch heute bei S. Sollte es im gut gehen.
Geschrieben zwischen Warszawa und Poznan am 22.09.2011
Stefan Schneider
Du sagtest, ich solle eine eigene Existenzgrundlage, sprich, eine Arbeit haben.
Das ist schon richtig. Darum werde ich mich auch kümmern, auch wenn ich die gegenwärtigen profitorientierten Arbeitsbedingungen nicht schätze.
Ich werde nicht arbeiten für ein Auto, nicht für einen Fernseher und Videospiele oder sonstigen Spielkram, nicht für eine pompöse Wohnungseinrichtung, nicht für Luxus, unnötigen Schmuck und teure Mode (da kann es vielleicht die eine oder andere Ausnahme geben).
Aber ich gehe gerne Arbeiten für eine schöne Wohnung und zweckmässige Einrichtungsgegenstände, für gemütliche Möbel, zweckmässige und ökologische Kleidung.
Ich gehe gerne arbeiten für gesunde Lebensmittel, für Bücher, Kino- und Konzertbesuche, überhaupt für Bildung, den Besuch von Sprachkursen, Ausstellungen und interessanten Veranstaltungen. Ich gehe gerne arbeiten für Reisen, Ausflüge und Erkundungen. Und für Blumen ab und an mal.