Anarchisten und Heilige
Unterhalb des Monte Verita lag Ascona immer noch friedlich mit seinen kleinen Häuschen und seinen blühenden Gärten, seinen zerbröckelnden Resten alter Festungen und seinen Katakomben. [58]
Mit ausgeprägt südländischem Sinn für jegliches Drama und für theatralische Szenen sah Ascona gespannt den wunderlichen Begebenheiten zu, die sich auf dem Berge abspielten. Dort wurde nun in vielen Sprachen diskutiert und nach den Wahrheiten des Diesseits und Jenseits geforscht. Die unwahrscheinlichsten und abenteuerlichsten Gestalten wurden von den flammenden Gerüchten angelockt.
Ein Pelzhändler aus Brüssel, der seine Millionen der anarchistischen Bewegung spendete und als »der reichste Anarchist der Welt« bezeichnet wurde, geriet in den Bann des Monte Verita, wie auch der Berliner Arzt Dr. Friedeberg, den der Berg sogar zwei Jahrzehnte lang festhielt, und von dem Szittya erzählt:
»Der Vater der Asconeser Anarchisten war lange Zeit hindurch Dr. Friedeberg. Er war einst Arzt in Berlin und sozialdemokratischer Reichtagsabgeordneter, bis er plötzlich die Bekanntschaft mit dem französischen Syndikalismus machte. Er war ziemlich konsequent, trat aus der Partei aus, legte sein Mandat nieder und schrieb die erste syndikalistische Broschüre, ,Direkte Aktion', in deutscher Sprache. Gründete die deutsche syndikalistische Bewegung. Hatte Unannehmlichkeiten mit der deutschen Behörde und verließ seine Heimat. Ließ sich in Ascona nieder. Eine Zeitlang hat er jeden Anarchisten, der in das Dorf kam, materiell unterstützt. Es lebte zeitweise eine ganze anarchistische Kolonie bei ihm.« Und weiterhin: »Die Theosophen, Spiritisten und Vegetarier hatten ihn als einen der ihrigen betrachtet; als aber die Sache mit den Anarchisten anfing, sah man sein Heim als das Nest des Teufels an und intrigierte überall gegen ihn.«
Man sieht, nur wenige kamen mit heiler Haut davon. [59]
Die schwärmerische Bürgermeisterstochter Lotte Hattemacher, die zusammen mit Henri und Ida von Anfang an dabei gewesen war, wurde mehr und mehr unzurechnungsfähig, schied schließlich als Mitbesitzerin gänzlich aus und zog sich in die Einsamkeit zurück. Von religiösen Wahnideen befallen, hauste sie zuletzt wie ein Tier in einem verfallenen Stall in den Bergen und endete im Irrsinn.
Ida Hofmann bemerkt mit ziemlicher Bitterkeit: »Sie ist wie alle jene Ansiedler, Durchzügler und Mitarbeiter, die Bedürfnislosigkeit zum Zwecke freiwilliger Entbehrung des Geldes vorgeben, aber meist nur dann in der Tat bedürfnislos sind, wenn der Mangel an Geld sie dazu zwingt. Entschiedene Trägheit und Unlust zur Arbeit sowie Unmut über Besitzende ist ihnen eigen... Pathologisches Lügnertum ist da vorherrschend.«
Der zynische Szittya bringt sogar etwas mehr Wärme für sie auf: »Die sympathischste, wenn auch die tragischste Entwicklung unter den Begründern des neuen Lebens hatte Lotte durchgemacht. Sie fand das Treiben ihrer Kameraden lärmend und zog sich von den zu lauten Idealisten zurück. Lebte in einem ruinenhaften Haus. Schlief auf bloßem Stein. Aß nur rohe Wurzeln. Jede Nacht kletterte sie auf einen Berggipfel. Klaubte trockenes Reisig zusammen Legte ein großes Feuer an und siebte die Asche, wobei sie jammervoll schrie: ,Mein Gott, es ist noch nicht fein genug!' Die Sta. Lotte von Ascona endete nicht ganz so, wie es sich für eine Heilige ziemt. Einmal packte Lotte der Heilige Geist und sie vergiftete sich. Man erzählt, sie habe ein Gift genommen, das bei jedem Menschen in einigen Augenblicken wirkte; bei ihr dauerte es aber zweieinhalb Tage, bis sie starb.« [60]
Und schließlich wurde sie zur legendären Figur in dem Ascona-Roman »Das göttliche Gesicht«, worin der Autor Bruno Götz sie romantisiert und als verklärte Madonna anbetet.
Von den Gründern des mit so großen Hoffnungen begonnenen Werkes waren nur noch Oedenkoven und Ida Hofmann übrig. Wie werden sie sich gefühlt haben? Wie stark muß ihre Überzeugung gewesen sein, welcher zähe Wille gehörte dazu, um an diesem zerbröckelnden Werk noch weiterzubauen und neue Hoffnungen zu hegen.
Denn da waren ja nicht nur die »Teufelsnester« der Anarchisten und die »Heiligen«. Da waren auch alle jene, die sich an den warmen dunklen Abenden zu den umliegenden Dörfern schlichen, um so streng verpönte und verbotene Dinge wie gewürzte Salami und gute Tessiner Weine zu genießen. Es wird behauptet, daß es ganz ausgezeichnete Weinkenner unter ihnen gab. Wieder und wieder fand Oedenkoven auf dem Gebiet der Kolonie die Reste von fettem Schafkäse. Die anklagenden Beweise trug er wie Gift zwischen zwei Fingern und hielt sie bei den regelmäßigen Versammlungen den Anwesenden vor die Augen. Er hoffte immer, die armen Sünder würden bekennen. Es war und blieb eine fromme Hoffnung, nie meldete sich jemand und gestand.
Und da waren verfolgte Emigranten, die in ihrem unsteten Dasein hier eine Freistatt fanden. Da war der frühere ungarische Militärarzt Albert Skarvan, der zu der Überzeugung gelangt war, keinem Staat dienen zu wollen, und den Militärdienst verweigerte. Er mußte flüchten, sein Doktortitel wurde ihm abgesprochen, er fand vorübergehend liebevolle Aufnahme in Tolstois Haus, und zuletzt [61] ein Asyl auf dem Monte Verita. Und da war Krapotkin, der berühmte anarchistische Theoretiker, der müde und resigniert hierher kam, um sich zu erholen. Als auch die Schweizer Behörden ihn ausweisen wollten, den überall Gehetzten und Ausgewiesenen, erhoben bekannte Schweizer Gelehrte Einspruch. Der Fürst Krapotkin durfte bleiben und soll bei dieser Gelegenheit geäußert haben: »Wäre ich parasitischer Aristokrat geblieben, so würden sich lakaienhaft alle Länder vor mir öffnen; da ich aber aufrichtig und ernst für die Menschheit arbeite, bin ich an allen Stätten der Welt ein unliebsamer Gast.«
Da war auch der Dichter Erich Mühsam, der lange später einen furchtbaren Tod im deutschen Konzentrationslager finden sollte. Er gab in Ascona eine Broschüre heraus, in der er sich eingehend mit dem Monte Verita und Ascona befaßte. Und in dieser Broschüre standen die zuversichtlichen Zeilen: »Wenn ich nach Jahren wieder einmal nach Ascona komme und finde es bewohnt von Menschen, die durch Zuchthäuser geschleift, zerschunden von den Schikanen der Besitzenden und ihren Exekutionsorganen, dem Staat, der Polizei und der Justiz, endlich doch hier eine Heimat und eine Ahnung von Glück erlangt haben, dann will ich mich von ganzem Herzen freuen!«
Der Bürgermeister von Ascona las das, ergrauste, und wußte sich und seinem lieben Ascona nicht anders zu helfen, als daß er die gesamte Auflage der Broschüre aufkaufte und sie vernichten ließ.
Nun, Ascona und der Monte Verita blieben zwar von Zuchthäuslern verschont, aber nicht von all den verschraubten Aposteln. Da ging ein Mann herum, der unaufhörlich »Nun danket alle Gott« sang und sich davon alles erhoffte. [62]
Ein anderer hielt glühende Reden über die Schädlichkeit roter Weintrauben. Der Genuß roter Trauben beeinflusse die Geschlechtshormone stark, behauptete er kühn, und sei darum unter keinen Umständen mit dem Keuschheitsprinzip vereinbar. Denn wurde Dionysos etwa nicht zusammen mit Aphrodite gefeiert? Und mitten in diesem Wirrwarr meditierten Gruppen von Buddhisten, in indische Gewänder gehüllt, mit seltsamen Zeichen geschmückt.
Wie Oedenkoven und der enge Kreis seiner ernsthaften Mitarbeiter überhaupt ihre Arbeit in den Gärten und Feldern und im Sanatorium durchzuführen vermochten, ist fast unbegreiflich. Immer noch gelang es ihnen, ihre saubere Linie beizubehalten und sich durchzusetzen.
Die Erhabenheit und der Irrsinn feierten ihre Triumphe auf dem Berg und bekamen ihren Glorienschein.
Aber noch lange nicht waren alle Stadien erschöpft.
Träumer und Spekulanten
Am Fuße des Monte Verita liegt in einer sonnigen Bucht des Lago Maggiore das romantische Ascona. Die Künstler aller Länder haben es wegen seiner idyllischen Lage und wegen seiner anziehenden Atmosphäre heimgesucht und zum Athen des Tessin erkoren – mit der Akropolis des Monte Verita. Worauf sich die wimmelnden Scharen der Mitläufer, der Sensationslüsternen und schließlich der Mondänen auf das arme Ascona stürzten, es übervölkerten und flach traten.
Gewiß, noch immer hat Ascona seine Reize, wenn man sich [54] Mühe gibt und sie zu finden weiß. Zu jener Zeit aber, als die Geschichte des Monte Verita begann, war Ascona ein ziemlich unbekanntes Fischerdörfchen. Die Bewohner standen dem merkwürdigen neuen Treiben auf dem Berge zwar fremd und mit Erstaunen, aber keinesfalls feindlich gegenüber.
Man kann sich das vorstellen. In dieser unberührten Umgebung bildete sich nun ein phantastischer Mittelpunkt von energischer Arbeit und kindlichen Spielen, von Frömmigkeit und hohem Streben und verlorener Romantik, von Begeisterung und Phantasterei, von Hochstapelei und Enthaltsamkeit, von Schaffensdrang und Abtrünnigkeit. Mit einer magnetischen Anziehungskraft für Träumer und Spekulanten, die wieder und wieder ihre Niederlagen erlitten. Gewiß gab es viele Möglichkeiten für dreiste Spekulationen, und es blieb wohl auch keine unbenutzt, aber dem Ganzen lag doch eine tiefe und ernste Idee zugrunde, die sich immer wieder zu behaupten wußte.
Der Kern der Gemeinschaft, Henri Oedenkoven und Ida Hofmann, die rebellische Bürgermeisterstochter Lotte Hattemacher, sowie Idas schwermütige Schwester Jenny, eine Lehrerin, und der individualanarchistische Offizier Gräser, hatten ein großes Gebiet des Berges käuflich erworben und mit einem Kreis von Anhängern eine rege Kolonisationsarbeit geleistet. Sie hatten Häuser errichtet und die brauchbaren Gebiete des größtenteils felsigen Bodens urbar gemacht.
Ida Hofmann skizziert in ihren Memoiren Oedenkovens vorläufiges Programm: »Sein Gedanke ist, mit Zuhilfenahme von Kapitalien als augenblicklich größtem Machtmittel, dem Kapitalismus mit allen seinen sozialen Folge-[55]übeln entgegenzutreten. Späteren Geschlechtern ist es vorbehalten, denselben gleichzeitig mit Steigerung der allgemeinen Sittlichkeit ganz zu bekämpfen. Henris vorläufiges Unternehmen gipfelt in der Gründung einer Naturheilanstalt für solche Menschen, die in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise entweder vorübergehend Erholung oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden und sich in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschließen wollen.«
In der Praxis zeigten sich sehr bald die ersten Brüche. Der ehemalige Oberleutnant Gräser entwickelte querulantische und egoistische Tendenzen und vertrat standhaft seine verschrobenen Ideen von der konsequenten Ablehnung jeglicher Kultur und Technik zur Erlösung der Welt und des einzelnen. Der mehr sachliche Oedenkoven forderte alle Mittel im Dienste der natürlichen Lebensweise. Bald konnten sie sich nicht mehr riechen, und der fanatische Offizier zog mit Jenny Hofmann, die unterdessen seine Frau geworden war, davon und siedelte sich in der Nachbarschaft an, um seine Form der Erlösung zu pflegen.
Auch Ida und Henri hatten inzwischen ihre freie Ehe verkündet. Ein anderer Mitarbeiter, ein tüchtiger Handwerker, der kaum in diesem Kreis unpraktischer Menschen zu entbehren war, verliebte sich gleichzeitig so sehr in drei Mädchen, daß er es vorzog, allein nach Amerika auszuwandern und dort seine Ideen zu verwirklichen. Aber schon in Neapel wurde der liebeserschrockene Mann auf Grund mangelhafter Papiere verhaftet, erkrankte in der Haft und starb in der Gefängniszelle.
Neue Mitarbeiter kamen und gingen. Sie tauchten aus allen Ländern Europas auf, und aus allen Gesellschafts-[56]schichten. Ein Gutsbesitzer wurde wegen seiner gar zu engherzigen theosophischen Ansichten freundschaftlich ausrangiert und abgeschoben. Während eine russische Studentin und eine tüchtige Prostituierte aus Zürich vor der Strenge und wohl auch Schwäche des beschließenden Tribunals Gnade fanden.
Ida Hofmann schreibt über jene Zeit: »Die Vereinigung so vieler verschiedener Elemente verursachte eine heillose Unordnung auf unserem Berge. Die meisten tun nicht das Notwendige zur Förderung des Zwecks, sondern ungefähr genau das, was ihnen beliebt. Es waltet eine schlecht verstandene Anarchie.«
An keinem anderen Ort der Welt würde diese unwahrscheinliche Versammlung von »Langhaarigen« und »Nackten«, wie sie wegen ihrer Pflege der Nacktkultur genannt wurden eine Chance gehabt haben, auf die Dauer toleriert zu werden. Das war nur hier im Tessin möglich, wo sieben Jahrhunderte lang ein unbändiger Freiheitsdrang die Bevölkerung beseelte und noch immer jedem gestattete, zu tun, was ihm gerade paßte, wenn er nur nicht die Ruhe und den Frieden der anderen störte. Selbst die Gesetze wurden hier leichter genommen. Das barsche und gestrenge Einschreiten von Bürokratie und Obrigkeit war unbekannt. Man sah alles in einem milderen Licht, verklärt durch den Glanz der Sonne. Alles war mehr nachsichtig. Man hatte wohl, dem Herrn sei's gelobt, seine eigenen und ganz bestimmten Auffassungen davon, wie man leben will und zu leben hat – und die hat man heute noch.
Gerüchte über den erstaunlichen Berg verbreiteten sich rasch. Oedenkoven hatte sein lange geplantes Sanatorium erbaut, und es kamen stetig mehr zahlende Gäste zur Kur. [57]
Neue begeisterte Idealisten meldeten sich, leisteten wirtschaftlichen Zuschuß oder nahmen aktiv an der Aufbauarbeit teil. Einer der Unverwüstlichen und am klarsten Sehenden war Carlo Vester, der sich im Jahre 1902 der Kolonie anschloß. Er war von tiefer Aufrichtigkeit, mußte jedoch bald die Mängel und Fehler des Unternehmens erkennen. Er landete als Kolonist auf der Südseeinsel Samoa. Einige andere folgten ihm. Aber der eine nach dem andern trat hurtig wieder den Rückweg an. Zuletzt stand Vester allein, hielt aber immerhin noch einige Jahre aus. Dann kehrte er zum Monte Verita zurück, um sich nach ein paar brauchbaren Leuten umzusehen, die ihm auf Samoa helfen konnten. Aber er fand nur Phantasten, Schwärmer, Prediger und Propheten. Da gab er endlich Samoa für immer auf und blieb auf dem Berg. Enttäuscht von der Kameradschaft, die nur aus hohlen Phrasen bestand, beschloß er für sich zu bleiben. Er hatte keine Erlöser-Gefühle mehr, trennte sich von der Kolonie, kaufte sich ein Stückchen weiter auf dem Berg ein schönes Stück Erde und baute sich sein eigenes Heim.
Dort lebt er immer noch. Der Berg ließ ihn nie mehr los. Er hatte die Wahrheit gefunden.
Die Entdeckung des Monte Verita
Henri Oedenkoven, der Sohn eines Antwerpener Großindustriellen, und Ida Hofmann, eine ausgezeichnete Pianistin und Musiklehrerin an einem russischen Institut in Cettinje, trafen sich in einer österreichischen Naturheilanstalt. Beide waren gleich verzweifelt und angewidert von der Verlogenheit und Heuchelei in ihren Gesellschaftskreisen. Beide suchten nach einem Ausweg, beide verstanden sich sofort und schlossen innige und aufrichtige Freundschaft. Ein Naturarzt hatte Henri gerade von einer lebensgefährlichen Krankheit kuriert, und Henri schwor nun auf den Vegetarismus, den er für einen neuen Weg zur Gesundheit und Lebensfreude, überhaupt zur sittlichen und geistigen Erneuerung der Menschheit ansah. »Friede, Wahrheit und Liebe für das Leben des einzelnen und aller verheißend«, war Henris edler Gedanke.
Beide wurden einig, sich irgendwo abseits anzusiedeln, wo es viel Sonne, Früchte und Schönheit gab, um eine Kolonie Gleichgesinnter zu gründen und weiter zu wirken, über ihren Kreis hinaus, über die Grenzen hinaus, für die Befreiung der Menschheit von der erstarrten Lebensweise einer dahinsiechenden Gesellschaft.
Nach einigen Entdeckungsfahrten und vielem Suchen endeten sie auf dem Monte Verita und wählten den Berg zur Basis für ihr so innerlich gut gemeintes Experiment – das von Anfang an den Todeskeim in sich tragen mußte. Ihren himmelstürmenden Ideen fehlte, trotz Oedenkovens kluger Einsicht und seines Vaters Reichtum, die nüchterne und rein praktische Beurteilungskraft. [52]
Und doch kämpften sie imponierend aufrichtig und imponierend lange für ihre Überzeugung. Auch mehrere Teilnehmer hatten sich ihrem Plan begeistert angeschlossen. Einer von ihnen, der frühere Oberleutnant Karl Gräser, war von der doch zweifellos sympathischen Idee besessen, daß der Soldatenstand unmoralisch und Geld sündig sei. Er hatte den größten Teil seines ererbten Vermögens verschenkt, aber doch nicht vergessen, sich einen Notgroschen zu reservieren. Gesellschaftsmüde Naturmenschen kamen, Vegetarier und Rohköstler, in Kniehosen und barfüßig, mit langem Haar, das sie wild wachsen ließen. Immerhin waren sie harmlose und gutmütige Vertreter menschlicher Eigentümlichkeit. Anders verhielt es sich schon mit den ziemlich zweifelhaften Erscheinungen, die nun gleichfalls auftauchten und ein Gebiet unbegrenzter Möglichkeiten für ihre Faulenzerei witterten. Einer der frechsten Brüder dieser Sorte wanderte in einer langen, malerischen Tunika umher und trug ein ledernes Stirnband im Haar. Es wird erzählt, daß die Kinder in den abgelegenen südlichen Gegenden vor ihm niederknieten und glaubten, der Heiland wäre ihnen erschienen.
Diese aufdringliche und ziemlich skrupellose Erlöserfigur war ein Bruder des gewesenen Oberleutnants, mit Namen Gustav Gräser. Er trieb es aber doch zu bunt, wurde sehr bald aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und sah sich gezwungen, weiterzuwandern.
Bei Szittya ist im »Raritätenkabinett« dann über ihn zu lesen: »Thomas Heine, der 'Simplizissimus'-Zeichner, pumpte ihm nur unter der Bedingung etwas, daß er mit ihm mittrinke. Der arme Gustav wurde zum erstenmal in seinem Leben besoffen und, was noch grausamer ist, man [53] zwang ihn, im betrunkenen Zustand seine antialkoholischen Gedichte zu verkaufen.«
Den Aufstieg und Fall vieler solcher Apostel sollte der Berg noch erleben, auf dem sich jetzt neue Kräfte entfalteten und hart gearbeitet wurde. Männer und Frauen waren gleichberechtigt, hatten dieselben Verpflichtungen und führten alle vorkommenden Arbeiten gemeinsam aus. Es war heiliger Ernst für sie. Nicht nur eine bleibende Heimat wollten sie sich schaffen, sondern auch einen lebenden Beweis für ihre – in jener Zeit aufsehenerregenden – Theorien führen, die sich von der Ernährungsreform über Frauenrecht und freie Ehe bis zur Militärdienstverweigerung und zum Internationalismus spannten.
Aber es war der Berg, der in dem Film ihres Lebens zur Berühmtheit gelangen sollte, – sie selbst blieben vergessene Statisten.
Natürlich kann ich es nicht lassen, ich kann es nicht übers Herz bringen und muß nach den ersten paar Tagen im Tessin unbedingt zum Berg der Wahrheit wallfahrten.
Wieso?
Kein Außenstehender kann das begreifen. Denn das ist eine lange und ziemlich verwickelte Geschichte, die weder des Humors noch der Tragik oder Spannung entbehrt. Und diese Geschichte will ich hier erzählen, während ich mich auf den Weg mache und zum Monte Verita hinabsteige.
Hinab? Hinab!
Da haben wir es schon. Sagte ich nicht, es ist eine verwickelte Geschichte? Aber um nicht bezichtigt zu werden, daß ich mir schon ein gehöriges Rotwein-Augenmaß zugelegt hätte, sehe ich mich genötigt zu erklären: Da Fontan Martina in einer Höhe von genau 367 Metern liegt und der Monte Verita, aber auch ganz genau, 351,5 Meter hoch ist, bin ich gezwungen, zu ihm hinabzusteigen.
Einig?
Und nun will ich keine vernünftigen Einwände mehr hören. Denn wer redet hier von Vernunft, wer ist vernünftig im Tessin? Hier nehmen die Gedanken genau so seltsame Formen an wie die Wege, die sich winden und schlängeln und schnörkeln. Mein Lieber, das gehört mit zur [50] Tessiner Mentalität. Das Tessin liebt den Barockstil, es ist gefüllt mit Barock, – es ist barock! Und es ist bis heute noch nicht richtig aus der Barockzeit herausgekommen. Was sollte man beispielsweise sonst von einem Mann halten, dem es gleichgültig sein kann und auch wirklich gleichgültig ist, ob wir heute Sonntag oder Donnerstag haben, ein Mann, der überhaupt nicht ahnt, welcher Wochentag auf dem Kalender steht. Und dieser Mann meint aber absolut darüber informiert sein zu müssen, wieviel Uhr es ist, und kauft sich aus diesem Grunde nicht etwa eine Uhr – sondern ein Fernglas, um die Turmuhr deutlich erkennen zu können. Absurd? Barock? Das ist echt tessinerisch! Vielleicht sollte man sich nur genügend Zeit lassen, mal näher darüber nachzudenken.
Im Tessin hat man Zeit, viel Zeit. Man nimmt sie sich einfach. Und wenn es sich irgendwie machen läßt, mit heiterer Grandezza den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, so tut es der Tessiner. Wenn ein Haus abbrennt oder aus Altersschwäche zusammenfällt, dann wird daneben oder ein Stückchen weiter ein neues erbaut. Die Ruine darf stehen bleiben und malerisch aussehen.
Aber wir befinden uns auf dem Wege zum Monte Verita, und ein langes Stück dieses Weges führt auch hier über eine unverwüstliche Römerstraße. Im Laufe von zwei Jahrtausenden haben Menschenfüße diese Steine rund und glatt geschliffen. Da liegen sie und könnten viel erzählen, – aber wir lassen sie ruhig liegen und fangen unsere Geschichte im Jahre 1899 an: [51]