10.12.2003 - Berliner Morgenpost - Anemi Wick: Der Traum von einer Wohnung
Wie Carola Wiechert leben in Berlin etwa 1000 Frauen auf der Straße - und deren Zahl unter den Obdachlosen steigt
Die Zahl der Obdachlosen nimmt in Berlin wieder zu. Davon betroffen sind immer mehr Frauen. Carola Wiechert ist eine der rund 1000 Frauen, die auf der Straße leben.
"Sechs Euro, das sind 15 Zeitungen - welche Verkäufernummer hast du? Und macht die Tür bitte leise zu!" Carola Wiechert fährt sich hektisch durchs krause Haar, listet den Kunden auf, zählt Geld. Seit vier Wochen führt die 40-Jährige in dem kleinen, lotterigen Wohnwagen am Ostbahnhof den Vertrieb der Zeitung "Straßenfeger" und verkauft von 8 bis 18 Uhr die Zeitungen an die Verkäufer. Für 1,50 Euro die Stunde. Nach dem langen Arbeitstag macht sie die Abrechnung. Danach legt sie sich in der Notübernachtung an der Prenzlauer Allee schlafen.
Carola Wiechert ist seit etwa sechs Jahren obdachlos. Nach Sonderschule und einem Jahr Hauptschule hatte sie eine einjährige Haushaltsschule absolviert. Dann begannen die Probleme mit ihrem Unterleib: "Eine Eierstockentzündung nach der anderen - ich war ständig im Krankenhaus. Das hat mir viele Jobaussichten verbaut."
Mit 28 bezog sie Sozialhilfe, gab das aber nach anderthalb Jahren wieder auf: "Ich war entnervt. Der ewige Kampf ums Geld, angefangen mit den Krankenscheinen, die nie kamen, das wurde mir einfach zu blöd. Und irgendwann hat man auch die Schnauze voll, auf andere angewiesen zu sein." Nach schlechten Erfahrungen mit "den falschen Männern" und ohne jede familiäre Unterstützung blieb ihr schließlich nur noch die Notunterkunft. Mit dem Straßenzeitungsverkauf schlägt sie sich seit zehn Jahren durch.
"Klar ist das eine Notlösung. In die Notunterkunft geht keiner freiwillig." Sie hat schon einige von innen gesehen, geteilt mit Leuten, die sich in die Hose pinkeln und sich nicht umziehen können. Und sich vor den Läusen geekelt. "Aber welche Alternativen habe ich denn?"
Dass Frau Wiechert es aufgegeben hat, bei der Sozialhilfe anzuklopfen, erstaunt Ortrud Kubisch, Sprecherin der Berliner Stadtmission, nicht, denn so ergeht es vielen. "Wir haben diese Erfahrungen in der Krankenstation selber gemacht. Selbst erfahrene Sozialarbeiter haben es satt, stundenlang am Telefon zu hängen, bis sich ein Bezirksamt verantwortlich fühlt. Zudem herrscht in den Sozialämtern Personalnot - selbst wenn die Leute dort noch so fleißig sind, sie sehen einfach nie das Ende der Fahnenstange."
Die Zahl derer, die keine andere Perspektive mehr sehen, steigt. "Besonders auffällig ist, dass in jüngster Zeit eher gepflegte Leute die Notübernachtung in Anspruch nehmen, denen man die Obdachlosigkeit nicht ansieht", so Kubisch. "Wir hatten auch schon einen Uniprofessor hier", bestätigt Gerhard Schumacher von der Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot. "Während der verlauste, versoffene Bahnhofspenner fast am Aussterben ist, verschiebt sich die Obdachlosigkeit auch in höhere Bildungsschichten. Und der Frauenanteil steigt: Vor 17 Jahren, als ich hier angefangen hatte, hatten wir noch einen Frauenanteil von etwa fünf Prozent, inzwischen liegt er bei 25 Prozent. Und so wie ich das sehe, wird sich die Situation noch weiter verschlechtern - bei den restriktiven Gesetzen und weiteren Sparmaßnahmen." Davor fürchtet sich auch Carola Wiechert. Denn sich selber hat sie noch nicht aufgegeben. Sie möchte es mit der Sozialhilfe noch mal versuchen. "Meine Träume? Mit meinem Freund in eine Wohnung ziehen. Und heiraten."
Aus der Berliner Morgenpost vom 10. Dezember
www.morgenpost.de/content/2003/12/10/berlin/646730.html?redirID
31.10.2003 - Die Welt - wick - Mitternachtsstart: Harry Potter und der Straßenfeger
Diese Nacht um Punkt 0.01 Uhr hat das Warten ein Ende: Das erste Kapitel des lang ersehnten neuen Bandes "Harry Potter und der Orden des Phönix" ist in den Berliner Straßenmagazinen zu lesen. Kurz nach Mitternacht beginnt am frühen Sonnabendmorgen der Verkauf der Magazine "Die Stütze", "motz" und "Straßenfeger" an Bahnhöfen, in der U-Bahn oder in den Kneipen. Wer ganz sicher sein will, als einer der Ersten die begehrte Ausgabe der Straßenmagazine in die Hände zu bekommen, dem stehen drei Verkaufsevents zur Wahl: Die "motz" lädt in ihrer Notübernachtung in der Weserstraße 36 in Friedrichshain zur "Warten auf Harry Potter"-Party. Ab 23 Uhr können Potter-Fans gemeinsam mit Verkäufern, Obdachlosen und den Projektleitern bei Suppe und Teepunsch in den Verkaufsstart "hineinfeiern". Die "motz"-Ausgabe ist dank Harry Potter um ganze acht Seiten dicker.
Im Café "Bankrott" an der Prenzlauer Allee 87 veranstalten die Macher des "Straßenfegers" die "Harry Potter Release"-Party und zeigen ab 20 Uhr Harry-Potter-Videos. Ebenfalls um Mitternacht beginnt der Verkauf. Im "Straßenfeger" zieht sich das Potter-Kapitel im unteren Drittel des Magazins durchs ganze Heft.
Die "Stütze" gibt es um 0.01 am Alexanderplatz vor dem Fernsehturm-Eingang bei Gratis-Buletten zu erstehen. Das Hochglanz-Magazin hat neun Seiten mit dem Potter-Kapitel und den Illustrationen von Potter-Zeichnerin Sabine Wilharm gefüllt.
Wer sich nicht zu nachtschlafender Stunde auf die Harry-Potter-Jagd begeben will, hat am Sonnabend noch genügend Möglichkeiten, den Beginn der neusten Abenteuer des Zauberlehrlings zu erstehen: Ab 12 Uhr unterstützen Frank Zander und Michael Lehmann den Verkauf der "Stütze" am Potsdamer Platz im Forum des Sony Centers. Am Bahnhof Alexanderplatz sind die "Stütze"-Verkäufer garantiert schon früh am Morgen anzutreffen. Für die "Straßenfeger"-Verkäufer stehen die Verkaufswagen am Bahnhof Zoo und am Ostbahnhof bereit. Am 8. November kommt dann das Buch auf deutsch auf den Markt. wick
Artikel erschienen am 31. Okt 2003
25.10.2003 - Berliner Zeitung - Marin Majica: Ein zauberhaftes Geschenk
Bei Motz, Stütze und Straßenfeger laufen die Vorbereitungen für die Harry-Potter-Ausgabe am 1. November
25.10.2003, Lokales - Seite 24, Marin Majica
Die heiße Ware liegt im Posteingang. "Ich habe die E-Mail gestern bekommen", bestätigt Grafiker und Künstler Andreas Koch und guckt ein wenig verschwörerisch. Nein, auf die Post darf man leider keinen Blick werfen. Auch keinen kurzen. Noch nicht mal einen klitzekleinen. Gar keinen.
Die geheimnisvolle Datei besteht aus 37 800 Zeichen und kommt aus der Redaktion der Straßenzeitung Motz. Koch und sein Kollege Stefan Stefanescu haben sich in ihrem Ladenbüro in der Brunnenstraße in Mitte mit Wolfgang Terner von der Motz getroffen. Die drei wollen über das Layout der nächsten Ausgabe sprechen. Das ist eigentlich nichts Besonderes, denn Koch und Stefanescu gestalten seit neun Jahren die Motz. Nur hängt an der E-Mail aus der Redaktion neben den normalen Motz-Artikeln das erste Kapitel des neuen Buches "Harry Potter und der Orden des Phönix".
Hilfe für Obdachlose
Den Anfang des fünften Potter-Bandes dürfen die Motz und die anderen beiden Berliner Straßenzeitungen am 1. November eine Woche vor dem offiziellen Verkaufsstart in Deutschland veröffentlichen - ein Geschenk der sozial engagierten Autorin Joanne K. Rowling. Die Britin, die mit ihrem Zauberlehrling reich wurde, will etwas abgeben von ihrem Glück. Potter soll die Verkaufszahlen der Straßenzeitungen steigern, der Erlös den obdachlosen Verkäufern zugute kommen.
Nur ist Frau Rowling mit ihrem Geschenk recht zimperlich: Sollten Teile des Textes vor dem 1. November veröffentlicht werden, droht den Straßenzeitungen eine 25 000-Euro-Strafe. Als Illustrationen zum Text dürfen nur zwei vorgegebene Bilddateien verwendet werden: ein Harry auf seinem Besen und eine Eule. Das Copyright muss deutlich vermerkt sein. "Wir lassen Harry durch die Seiten fliegen", schlägt Grafiker Andreas Koch vor. "Vielleicht spiegeln wir ihn und lassen zwei Harrys aufeinander zufliegen", nimmt Stefan Stefanescu den Ball auf. "Ich weiß nicht, ob wir das dürfen", witzelt Koch über die überstrengen Vorgaben des Verlags.
Ganz geheuer ist die Aufgeregtheit um den Zauberlehrling der Stütze und dem Straßenfeger nicht. Aber eine solche Chance zur Umsatzsteigerung will sich trotzdem keine der drei Redaktionen entgehen lassen. Die Motz und die Stütze lassen jeweils 5 000 Ausgaben mehr drucken. "Und wir können jederzeit nachdrucken", versichert Thomas Schepers von der Stütze. Während sich der Straßenfeger mit Euphorie zurückhält, will die Stütze die Potter-Ausgaben in der Nacht auf Sonnabend um 0.01 Uhr im Sony Center am Potsdamer Platz präsentieren. Musiker Frank Zander und andere Prominente haben versprochen, Werbung für die Stütze zu machen. Die Motz wird ihre Ausgabe zur gleichen Zeit bei einer Party in der Friedrichhainer Weserstraße 36 präsentieren und drei Gutscheine für das Potter-Buch verlosen.
"Es ist ein Geschenk des Himmels", sagt Wolfgang Terner von der Motz über die Aktion. Nach dem Sommer, wenn Obdachlosen traditionell weniger Spenden und Zeitungen abgekauft bekommen, seien die Straßenzeitungen knapp bei Kasse. Den Geldzauber eines Harry Potter können die Obdachlosenprojekte gut gebrauchen, sagt Terner. Obwohl ihm der Geheimhaltungstrubel suspekt ist.
Eine Woche lang musste er seinen Computer im Auge behalten, damit niemand die geheime E-Mail liest. Terner selbst ist wegen der ganzen Aufregung auch nicht dazu gekommen.
Straßenzeitungen // Die Verkäufer der Straßenzeitungen kaufen beliebig viele Exemplare für 40 Cent das Stück und verkaufen die Zeitungen dann auf der Straße für 1,20 Euro. Die 80 Cent Differenz können die Verkäufer, die oft auf der Straße leben, behalten. Aus ihren Einnahmen finanzieren die Träger-Vereine der Zeitungen Obdachlosen-Projekte wie etwa Notunterkünfte.
Der Straßenfeger ist mit einer Auflage von 15-18 000 Exemplaren die größte Berliner Straßenzeitung. Gegründet wurde die Zeitung vor neun Jahren. Seitdem erlebte das Blatt einige Namenwechsel und hieß zwischenzeitlich Die Straßenzeitung. Heute arbeiten in der Redaktion in der Prenzlauer Allee 87 zwei Festangestellte, ein Redakteur und eine Grafikerin, und ein Zivildienstleistender. Rund 20 freie und ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen die Redaktion. Getragen wird die Zeitung von dem Verein Mob. Der Straßenfeger erscheint wie alle Straßenzeitungen alle 14 Tage und ist im Internet unter www. straßenfeger-berlin. de zu finden.
Die Motz gibt es ebenfalls seit neun Jahren. Gegründet wurde die Zeitung mit Sitz in der Zossener Straße in Kreuzberg aus dem Umfeld des Obdachlosen-Vereins Mob und der heute nicht mehr existierenden Straßenzeitung Hatz. Aus den beiden Namen entstand die Mischung "Motz". Die Motz hat eine Auflage von 15 000 Zeitungen und wird von einem hauptamtlichen Redakteur betreut. Im Wechsel erscheinen die von der Redaktion gemachte Motz und die Motz Life. Deren Texte schreiben die Bewohner der Obdachlosen-Unterkunft in der Friedrichshainer Weserstraße. Im Internet unter www. motz-berlin. de.
Die Stütze wurde im Jahr 2000 gegründet und hat ihren Sitz in der Bastianstraße 21 in Wedding. Die Straßenzeitung, die mit einer Auflage von 10 000 Stück erscheint, wird ausschließlich von Ehrenamtlichen gemacht. Die Internetseite www. die-stuetze. com entsteht gerade.
BERLINER ZEITUNG/GERD ENGELSMANN Der Meister und ein Schüler: Ab 8. November gibt es den neuen Harry Potter-Roman auf Deutsch im Buchhandel.
31.07.2003 - Junge Welt: Chaotische Professionalität
Berlin: Der Obdachlosenselbsthilfeverein mob e.V. feiert seinen 9. Geburtstag und hat große Pläne
Böse Zungen behaupten, »mob« stehe für Mobbing. Das Gegenteil ist der Fall: »mob« steht für »Obdachlose machen mobil e.V.« und ist das älteste Berliner Selbsthilfeprojekt wohnungsloser Menschen. Am morgigen Freitag feiert der Verein sein neunjähriges Bestehen.
1994 gründeten Obdachlose und Unterstützer einen gemeinnützigen Verein, um aus der Straßenzeitung mob-magazin eine Obdachlosenzeitung zu machen. Die Idee, armen, bedürftigen Menschen ein Sprachrohr und die Möglichkeit eines Zuverdienstes zu bieten, ist heute so aktuell wie damals – und anspruchsvoll. Nach neun Jahren mob-magazin, motz, strassenfeger, straßenzeitung und straz in Berlin ist allen Beteiligten klar, daß der Versuch, Leser über die inhaltliche Qualität des Blattes zu binden, ein sehr beschwerlicher ist. Und jeder weiß, daß das Anliegen, den einzelnen Verkäufer zu unterstützen, nach wie vor im Zentrum der Kaufentscheidung steht.
Zurück zur Geschichte. Als es einige Monate nach Beginn der Redaktionsarbeit winterlich kalt wurde, verwandelten sich die Redaktionsräume schnell in improvisierte Übernachtungsstätten. Das war nur recht und billig: Schließlich waren es die Verkäufer, die das Geld verdienten, das die Redakteure erhielten. Übernachtungsregeln wurden aufgestellt: kein Rauchen im Bett, kein Drogen- oder Alkoholkonsum in den Räumen, Mitwirkung beim Saubermachen und vieles mehr. So entstand neben der Zeitungsarbeit eine an 365 Tagen im Jahr geöffnete selbstverwaltete Notübernachtung. Auch in Sachen »Komfort« tat sich einiges: Doppelstockbetten statt durchgelegener Liegen, Spinde, ein Aufenthaltsraum, Wasch- und Duschmöglichkeiten und schließlich getrennte Räume für Männer und Frauen. Selbstverständlich wurde abends in der Küche gekocht, morgens Kaffee und Frühstück gemacht. Computer, Fax und Telefon konnten für private Zwecke genutzt werden. Mit der Anmietung eigener Räume ging das Projekt in seine nächste Phase. Das Kaffee Bankrott in der Schliemannstraße im Prenzlauer Berg war nicht nur für Notübernachter geöffnet, alle Gäste konnten gegen eine kleine Spende Frühstück und Mittagessen zu sich nehmen. Heute befinden sich Treffpunkt Kaffee Bankrott und Notübernachtung in der Prenzlauer Allee 87.
Als Helfer kamen auch Menschen, die von einem Gericht zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden waren. Bald entstand eine Beratungsstelle für sozialhilferechtliche und medizinische Fragen. Wenig später konnten die ersten befristeten Arbeitsverträge mit Mitarbeitern abgeschlossen werden. Immer häufiger meldeten sich Bürger und boten gebrauchte Möbel, Küchengeräte, Bücher und Tonträger an. So entstand der TrödelPoint, der seit 2002 erfolgreich arbeitet. Der Hausrat wird abgeholt, gegebenenfalls gereinigt und repariert und an Bedürftige weitergegeben. Nützlicher Nebeneffekt: Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben, können hier ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten einbringen.
Schließlich wurde der Verein von einer Hauseigentümerin im Prenzlauer Berg angesprochen, ob er nicht Interesse hätte, ein Haus zu sanieren und im leerstehenden Quergebäude Wohnraum zu schaffen. Ein Erbbaurechtsvertrag wurde abgeschlossen, und in den Jahren 2001 bis 2003 wurden mit öffentlichen Fördergeldern und einem Eigenanteil von 330000 Euro zwei komplette Altbau-Wohnhäuser saniert und modernisiert. Damit verfügt der Verein heute über die Möglichkeit, selbst Wohnungen an Wohnungslose oder an Menschen in schwierigen Wohnverhältnissen zu vermieten.
Kaffee Bankrott, die Zeitung, das Hausprojekt und der Trödel tragen sich finanziell selbst. Allein die Notübernachtung ist ein »Zuschußgeschäft«, das sich zum größten Teil durch die Spenden aus der Kampagne »Ein Dach über dem Kopf« finanziert. Im Bereich Trödel und Wohnungseinrichtungen sowie Dienstleistungen wird demnächst der Versuch unternommen, eine Firma zu gründen, um durch professionelle Angebote eigenfinanzierte Arbeitsplätze zu schaffen. Ob und wann dies gelingt, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden.
Das bisher Erreichte ist kein Grund, sich auszuruhen. Im Kiez hat der Verein inzwischen »Wurzeln geschlagen«. Es gibt viele Kooperationen mit anderen sozialen Initiativen. Längst bezieht sich die Arbeit nicht nur auf Obdachlose, sondern auf alle armen, sozial ausgegrenzten Menschen. Durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sind immer mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen, da die ihnen von öffentlichen Stellen zunehmend verwehrt wird. Obwohl die Selbsthilfeangebote für Obdachlose zentraler Bestandteil der Arbeit und des Selbstverständnisses von mob
e.V. bleiben sollen, engagiert sich der Verein zunehmend in der Stadtteilarbeit, beispielsweise durch die Mitwirkung im Förderverein Helmholtzplatz und in der Arbeitsgemeinschaft Kiez und Bezirk. Außer Sozialberatung werden inzwischen auch Gesundheits- und Kulturprogramme angeboten.
Die Arbeit von mob e.V. ist multinational. Viele Zeitungsverkäufer, Notübernachtende, Gäste und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stammen nicht aus Deutschland. In Zukunft werden jugendliche Freiwillige aus Europa und dem nichteuropäischen Ausland die Arbeit des Vereins bereichern. Der Anteil der ausländischen Gäste und Mitarbeiter wird in den nächsten Jahren, nicht zuletzt mit der Osterweiterung der Europäischen Union, weiter zunehmen. Damit kann mob e.V. dazu beitragen, auch die Wohnungslosenselbsthilfe international zu vernetzen. Dies alles kann jedoch nur bewältigt werden, wenn die ökonomische Basis des Vereins weiter stabilisiert wird. Denkbar sind Projekte im Bereich der sozialen Wohnraumsanierung durch Selbsthilfe, in der Gastronomie, bei sozialen und allgemeinen Dienstleistungen bis hin zur Jobvermittlung. Über ein Engagements in den Bereichen Landwirtschaft, Erholung, Tourismus und Gesundheit wird ebenfalls nachgedacht.
Wenn also mob e.V. daran arbeitet, unabhängige, selbstorganisierte und selbstverwaltete gemeinschaftliche Strukturen sozialer Selbsthilfe zu etablieren, wird deutlich, welche Dimension der bisweilen von uns gebrauchte Begriff einer »Ökonomie der Armut« haben kann: Es geht um mehr als nur eine grundlegende soziale Absicherung, die das blanke Überleben gewährleistet. Es geht auch um Lebensqualität , um gelebte Nachbarschaft, Arbeit, Bildung, Kultur und Gesundheit unter dem Motto: Global denken – lokal Handeln.
stefan schneider
31.07.2003 - Junge Welt