21.06.2004 - Das Parlament - Oliver Heilwagen: Big Nudes oder die Schönheit der Körpers
Davon kann man sich nun im neuen Museum für Fotografie in Berlin überzeugen, das zwei Tage nach Newtons Beisetzung eröffnet wurde. Mit den sterblichen Überresten kehrte auch sein Bilderschatz in seine Geburtsstadt zurück. Im September 2003, vier Monate vor seinem überraschenden Tod, hatte er der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mehr als 1000 seiner Werke als Dauerleihgabe vermacht. Der restliche Nachlass soll später folgen.
Wie Newtons Werk selbst ist auch das neue Museum von scharfen Kontrasten geprägt. Untergebracht wurde es im ehemaligen Casino der Preußischen Landwehr, einem 1909 gegenüber dem Bahnhof Zoo im wilhelminischen Stil errichteten Prunkbau. Für Newton hatte er symbolische Bedeutung: Dieses Gebäude war das letzte, was er von Berlin sah, als er 1938 mit dem Zug aus dem Dritten Reich floh. Besucher, die heute vom Bahnhof aus die Straße überqueren, werden gleich auf die Schattenseiten des Daseins aufmerksam gemacht. Direkt vor dem Museumseingang steht die in einem Wohnmobil untergebrachte Vertriebszentrale einer Obdachlosenzeitung.
Im Treppenhaus des Museums wartet der nächste Effekt: Wo früher preußische Offiziere in Öl hingen, blicken nun fünf monumentale "Big Nudes" den Betrachter frontal an. Damit wird er auf die Aktdarstellungen eingestimmt, die den Fotografen sein Leben lang beschäftigt haben. Auch die Doppelausstellung zur Eröffnung, die bis Jahresende gezeigt wird, setzt auf diesen Schlüsselreiz. Die Abteilung "Sex and Landscapes" kontrastiert Models in extrem freizügigen Posen mit atmosphärischen Landschaftsaufnahmen, die für Newtons Verhältnisse seltsam beiläufig und verwaschen wirken. Da kommt eine lyrische Seite zum Vorschein, die man bisher von ihm nicht kannte.
Die Abteilung "Us and them" ist dagegen dem Personenkult gewidmet. Zu sehen sind Porträts, die Helmut und June Newton in allen Lebensaltern und -lagen voneinander gemacht haben. Sie schonten einander nicht: Am eindrucksvollsten sind Bilder von ihm, während ihn Instrumente der modernen Medizin auf das Krankenbett fesseln. Der Fotograf, der die Schönheit des Körpers feierte wie kaum ein anderer, scheute sich nicht, auch seine eigene Hinfälligkeit zur Schau zu stellen. Aufschlussreicher ist jedoch die Perspektive des Ehepaars auf Dritte: Beide haben jeder für sich dieselben Prominenten fotografiert. Dabei wählte Helmut meist ein repräsentatives Arrangement, June eher einen intimen Moment - gerne mit Kindern. Die Rede vom spezifisch männlichen beziehungsweise weiblichen Blick bekommt hier schlagartig einen Sinn.
Noch ist aber die künftige Gestalt des Museums kaum zu erahnen. Die Helmut-Newton-Stiftung wird dauerhaft die beiden unteren Etagen des Gebäudes belegen, die sie auch auf eigene Kosten renoviert hat. Für andere Ausstellungen bleiben nur zwei Dachgeschosse übrig. Mit dem so genannten Kaisersaal enthalten sie zwar einen riesigen Raum im Berlin-typischen Ruinen-Look. Doch für Fotoschauen ist er wenig geeignet: Angekündigt ist bislang nur eine Großinstallation des Bildhauers Raimund Kummer. So macht das Ganze vorerst einen reichlich improvisierten Eindruck. Die neue Einrichtung muss noch beweisen, dass sie halten kann, was sie in ihrem Namen verspricht: Ein nationales Museum für die gesamte Geschichte der Fotografie zu sein.
http://www.bundestag.de/dasparlament/2004/26/Panorama/003.html
28.03.2004 - Welt am Sonntag - Maria Voigt - Der Berg ruft!
Kaum ein Stadtteil ist über die Grenzen Berlins hinaus so bekannt wie Prenzlauer Berg. Zu Recht: Hier vermählen sich Ost und West, Gründerzeit und Plattenbau, Kunst und Kommerz zu einem Ort der Lebenslust
von Maria Voigt
Der Prenzlauer Berg ist sehr elastisch. Er nimmt alles auf, was er kriegen kann: Studentinnen, die in den Cafés lernen. Russen, die Spezialitätenläden eröffnen. Furiose Zigeunerkapellen, die des Nachts durch die Lokale ziehen. Alle möglichen Arten von Einsamen. Jede Menge Anwälte und Zahnärzte mit goldenen Türschildern. Erfolgreiche und noch mehr erfolglose Künstler. Inder, Araber, Polen, Chinesen, Türken. Swingbands, Szenefriseure und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, betuchten Mittelstand und sogar Bundestagspräsident Thierse, der hier nie weggezogen ist.
Jeder nur denkbare Menschentypus scheint im Prenzlauer Berg zu verkehren. Irgendwie findet jeder einen Platz. Vom Obdachlosen, der auf den Treppen am U-Bahnhof um Fahrscheine bettelt. Bis zum Manager im feinen Zwirn, der nicht abschalten kann und beim Nachtmahl im "Pasternak" lange, lange einen Untergebenen zutextet. Vor dem Café verkauft einer die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger". Drinnen am weißen Tischtuch kriegen sich zwei in die Haare über die Frage, wer daheim in Westdeutschland auf dem feineren Gymnasium war.
Gehobene Blumen- und Weinläden, Ökoparadiese und Designerlampengeschäfte sind mit geradezu verzweifeltem Schick eingerichtet. Daneben "Rudis Resterampe", "Connys Container" und die "Knüllerkiste". Darüber Lofts, die mehrere Etagen einnehmen. Vielleicht ist es diese komplexe Mischung aus Leuten und Schicksalen, die diesen Prenzlauer-Berg-Strudel fabriziert, in dem alles immer in Bewegung ist.
Keiner weiß übrigens, wo der Berg ist.
Die größte Geschäftsstraße des ehemaligen Ostberliner Bezirks Prenzlauer Berg ist die Schönhauser Allee. So schief und hässlich liegt sie rechts und links der U-Bahn-Brücke, so lärmend tobt der Verkehr, dass die Passanten Zahnschmerzen kriegen. Die U-Bahn rast hier nicht im Untergrund, sondern auf Stelzen zwischen Gründerzeitkulissen, die auch vierzehn Jahre nach der Wende noch keine frische Farbe gesehen haben. Im Einkaufszentrum "Schönhauser Allee Arcaden" sprechen die hin und her Hetzenden kein Wort, man hört nur das Trappeln der schnellen Füße. Trotzdem wird die Schönhauser Allee geliebt wie eine uralte Freundin. Besonders im Sommer. Seine wahre Schönheit zeigt der Prenzlauer Berg, wenn die Kastanien und Pappeln blühen, wenn so viele junge Menschen wie in einem Studentendorf ihr Leben auf die Straßen verlagern, wenn der Himmel blau und das Leben leicht ist, wenn mehr Fahrräder als Autos unterwegs sind.
Der Prenzlauer Berg würde nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen, denn er zeigt sich ungeschminkt. Vielen wird er regelrecht hässlich vorkommen mit seinen Mietskasernen, Hinterhöfen, seinem Grau. Die Farbe bringen die Menschen rein, die Kulturangebote, die bunte Ost-West-Mischung und die sich in rasender Eile fortpflanzenden Cafés. Schön nennt den Prenzlauer Berg nur der, der das Leben schön nennt.
Weil er lebendig ist, ist der Prenzlauer Berg schön. Seine Straßen sind breit, die Wolken jagen über die Dächer, überall siehst du Himmel. Alte Bäume mit rauschenden Kronen, die schon Mauern fallen gesehen haben. Du läufst auf den alten Granitplatten aus der Kaiserzeit deinen Slalom um den Hundekot. Du wähnst dich im Prenzlauer Berg auf der Höhe der Zeit. Die Kastanienallee musst du regelrecht erklimmen wegen des holprigen Bürgersteig-Pflasters. Sie ist die Flaniermeile mit den flippigsten Läden dieser Gegend. Im Sommer blüht hier der Prater, der größte innerstädtische Biergarten Berlins. Mitten im Kiez. Die Volksbühne, das beste Theater Berlins, unterhält im Prater eine Tochterbühne. Wer von der Kastanienallee abbiegt und die Schwedter Straße runterläuft, kann ein paar Ecken weiter die Reste vom Stacheldraht der Berliner Mauer sehen. Geschichte weht dem Besucher im Prenzlauer Berg wie Frostluft um die Nase.
Vertreter des Savoir-vivre sollten in die mondäne Gegend rund um den Kollwitzplatz eintauchen. Hier ist fast jedes Haus herausgeputzt, vor den stuckverzierten Fassaden parken Cabrios und Luxuslimousinen, edle Shops und teure Boutiquen verbreiten Großstadt-Glamour. Jeden Samstag findet auf dem Kollwitzplatz ein Markt statt, auf dem es Bio-Brote gibt, klein und teuer wie Mauersplitter. Und einen riesigen Stand mit orientalischen Keksen und Honigkerzen. Und Milchkaffee aus dem Designer-Pappbecher. Und einen Bundesaußenminister beim Gemüsekauf. Keiner guckt hin. Man ist am Kollwitzplatz Politprominenz gewöhnt. Schließlich hat Gerhard Schröder hier, gleich an der Ecke, im "Gugelhof" gesessen - mit Bill Clinton! Und da, der Breitschultrige mit dem Heiligenschein! Ist das nicht der Umweltminister? Wir blinzeln höchstens mal über unsere Vollkornwaffel mit Holunderaufstrich. Aber wir drehen uns nicht um, wir haben Kultur! Das Umdrehen überlassen wir den Touristen, die am Kollwitzplatz aus den Reisebussen steigen, einmal ums Karree laufen und vergeblich nach der im Reiseprospekt versprochenen Schönheit des Kollwitzplatzes suchen. Die bemerkt man erst, wenn man eine Weile bleibt.
Verlässt man die wohlhabende Oase, gelangt man nach wenigen Schritten zum Jüdischen Friedhof neben dem ehemaligen Polizeirevier, in dem zu DDR-Zeiten die Volkspolizei residierte. Oder es treibt Sie auf die Torstraße, die Sie aber nicht überqueren dürfen, sonst verlassen Sie den Prenzlauer Berg. Auf der anderen Straßenseite beginnt der verführerische Nachbarbezirk Mitte - der Bezirk der Kunst, der Mode, des Tourismus, der Prostitution und des Nachtlebens. Sie können in der Torstraße nach Mitte rübergucken wie über die Meerenge von Gibraltar nach Afrika. Sie sehen drüben das berühmte "Kaffee Burger", in dem die berühmte Russendisko braust. Sie sehen auf der anderen Straßenseite Petersburger Musiker sich schwankend aneinander festhalten. Und deutsche Dichter in schwarzem Leder. Wenn Sie gute Augen haben, sehen Sie auch katholische Künstler aus Polen in ihrem "Club der polnischen Versager" sitzen, Männer unter sich.
Wem nach einer Zeitreise in die DDR zu Mute ist, dem sei empfohlen, im Ernst-Thälmann-Park spazieren zu gehen, wo sich die wenigen Bäume zwischen Plattenbauten und wuchtigem Thälmann-Monument fast verlieren. Anschließend vielleicht ein Abstecher ins Cantian-Stadion, wo seit eh und je der BFC-Dynamo trainiert. Hier befindet sich auch die meistfrequentierte Jogging-Bahn der Stadt, wenn nicht der ganzen Welt. Besser vorher reservieren! Hinter der angrenzenden Max-Schmeling-Halle (wo schon Madonna und David Bowie auftraten) liegt der Mauerpark - früher gut bewachter Grenzstreifen, heute eine Installation aus Kronkorken, Granit und Liegewiese mit Blick auf die Kehrseite des früheren Westberlin, den etwas niedergeschlagenen Arbeiterbezirk Wedding. Wer Fernweh aufkommen lassen will, dreht den Kopf nach rechts und sieht die Flieger über dem Norden der Stadt vom Flughafen Tegel aufsteigen. Oben auf dem Mauerpark-Hügel stehen Schaukeln. Wer darauf sitzt, schaukelt wie im Himmel über Berlin. Eine Reise in den Sonnenuntergang.
Unterkunft: "Myers Hotel", Metzer Str. 26 gemütliches 41-Zimmer-Haus mit Dachterrasse, restaurierter Altbau aus dem 19. Jahrhundert, DZ ab 115 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/44 01 40, www.myershotel.de; "Ackselhaus", Belforter Str. 21 nahe Kollwitzplatz, Zimmer und Apartments in stilvollem Gründerzeithaus, 66 bis 200 Euro, Tel. 030/44 33 76 33, www.ackselhaus.de; "Transit Loft", Greifswalder Str. 219, hell und funktional, junges Publikum, in ehemaligem Fabrikgebäude, DZ ab 69 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/48 49 37 73, www.transit-loft.de
Artikel erschienen am 28. März 2004
Artikel drucken © WAMS.de 1995 - 200606.01.2004 - Frankfurter Rundschau - Helmut Höge: "Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld"
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/medien/?cnt=366130
"Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld"
Die Geschichte hinter den Obdachlosen-Zeitungen: Ein Insider berichtet aus der Szene in der Hauptstadt
VON HELMUT HÖGE
Obdachlosigkeit (dpa)
Obdachlosigkeit interessiert keine Sau mehr - die Leute haben sich daran gewöhnt. Dazu haben auch die vielen Obdachlosen-Zeitungen beigetragen mit ihrem ewigen Gejammer. Ich meine jetzt nicht die Verkäufer, die haben schon immer geklagt ("Ich bin 29, lebe seit vier Jahren auf der Straße und bin gerade auf Entzug …"), sondern die Redakteure, weil sie ewig die gleichen langweiligen Artikel bringen und weil sie Etikettenschwindel betreiben: Sie suggerieren den Lesern, dass die Zeitung von und für Obdachlose gemacht wird. Tatsächlich sind das aber alles Premiumpenner, das heißt extrem schlechte Journalisten, die da ihre Spielwiese haben, während sich die Herausgeber, also die jeweiligen Obdachlosen-Vereinsvorstände, damit vermutlich eine goldene Nase verdient haben. Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld ist das.
Wirklich entsetzt bin ich aber über eine Obdachlosenzeitung, die über Jahre hinweg Spenden gesammelt hat für ihr Haus in Berlin, das sogar vom Staat gefördert wurde - mit damals 3,4 Millionen Mark - aber letzten Endes wohnt dort nicht ein Obdachloser, kein Verkäufer, nischt. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins hat sich dort stattdessen wohl eine Wohnung genehmigt.
Das Grundproblem bei diesen ganzen Zeitungen ist die Heuchelei: Kauft uns! Wir sind die Guten! Sogar Harry Potter unterstützt uns. In Wirklichkeit wird dort aber übelster Manchester-Kapitalismus praktiziert. Diese armen Verkäufer, das sind genau genommen Drückerkolonnen. In einem normalen Unternehmen haben die Mitarbeiter bestimmte Rechte. Sie können nicht einfach gefeuert werden, es gibt einen Betriebsrat usw. Bei den so genannten Obdachlosenzeitungen werden dagegen die primitivsten Regeln innerbetrieblicher Demokratie missachtet. Sie haben zwar so etwas wie Verkäufersprecher, in der Regel kann der aber nicht mal für sich selbst sprechen, geschweige denn für andere. Für die obdachlosen Verkäufer ist es sowieso ungewohnt, sich zu organisieren, ihre Interessen durchzusetzen, die hauen lieber ab. Das sieht man daran, dass sich die Auflagen inzwischen nahezu halbiert haben. Um die Straßenblätter wäre es auch nicht schade.
Eine Chance wurde verspielt
Nur ist der Begriff "Selbsthilfe" damit in Berlin auf lange Zeit diskreditiert. Und leider werden auch seriöse Obdachlosenprojekte davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Spendenbereitschaft für Wärmestuben und Notübernachtungen ist insgesamt merklich zurückgegangen. Schlimmer noch wiegt die Tatsache, dass die Chance auf politische Veränderungen dabei verspielt wurde. Noch vor drei Jahren waren die Leute sensibilisiert für das Thema. Als wir 1999 das Hotel Adlon besetzt haben und 2000 das Kempinski, mit Transparenten, auf denen draufstand "Es sind noch Betten frei!", gab es einen enormen Zuspruch, auch von der Politik.
Damals entstanden republikweit die "Tafeln": Wohlhabende und pfiffige Frauen taten sich zusammen, um von den Partys der Reichen die übrig gebliebenen Kaviarbrötchen einzusammeln, um sie an die Obdachlosen in ihren Sammelstätten zu verteilen. Zu Weihnachten, wenn die Presse die ersten Kältetoten vermeldete, wurden diese "Tafeln", die oftmals auf ABM-Basis arbeiteten, mit Spenden geradezu überschüttet. Das Problem ist aber nicht der Winter und auch nicht der Hunger. An Obdachlosigkeit sterben Menschen das ganze Jahr über: Hautkrankheiten, Alkohol, Hitze, die zunehmende Gewalt auf der Straße - sie sind genauso schlimm. Auf Platte erreicht man selten das Rentenalter.
Dabei passiert es gar nicht so selten, dass das Sozialamt einem Obdachlosen zu einer Wohnung verhilft. Oft kann man jedoch die Uhr danach stellen, wann derjenige wieder auf der Straße oder in Notübernachtungen pennt. Die Obdachlosigkeit ist vor allem ein seelisches Problem. Ihre ganzen sozialen Kontakte haben diese Menschen auf der Straße und in den Suppenküchen. Anfangs werden die Kumpel und Kumpelinnen noch in die neue Wohnung eingeladen - wo sie sich gemeinsam die Kante geben. Nachdem sie die ganze Stütze versoffen haben, beginnt die Einsamkeit, die Bude verkommt, der Müll türmt sich. Und irgendwann ziehen sie wieder los.
Die meisten Obdachlosen sind Männer. Frauen verlieren zwar schneller ihren Job, kommen aber besser damit klar, auch mit der Einsamkeit. Männer verwahrlosen zudem leichter. Sie suchen verzweifelt Kontakte, treffen sich mit anderen am Kiosk oder im Bahnhof, pennen mal hier mal dort und irgendwann sagen sie sich: "Ich brauch meine Wohnung, diesen Saustall, doch eigentlich gar nicht." Man gibt einem Menschen noch kein Zuhause, wenn man ihm eine Wohnung zuweist. Deswegen brauchen Obdachlose eher eine Wohngemeinschaft mit Betreuung. Die gibt es zwar, aber meistens nur für Jugendliche. Wer als Unbehauster in Berlin über 18 ist, hat schlechte Karten.
Natürlich gibt es auch Obdachlose, eine kleine radikale Minderheit, die gerne "Platte macht", das heißt: die obdachlos leben wollen. Und dann gibt es welche, die es aus eigener Kraft schaffen könnten, sich wieder aufzurappeln. Vielen gelingt das auch. Aber mehr und mehr Leute, die auf der Straße leben, kommen aus der Psychiatrie, sind schizophren oder paranoisch, und brauchen einfach qualifizierte Hilfe, die sie aber nirgends mehr finden.
Nicht wenige Obdachlose sind einfach sterbende Menschen. Da ist zu viel kaputtgegangen. Das ist kein Leben mehr. Erschwert wird es ihnen auch noch durch immer mehr Schikanen. Sie werden aus den Bahnhöfen und Einkaufscentern entfernt, wenn sie dreimal beim Schwarzfahren erwischt werden, dann geht das an die Staatsanwaltschaft, und dann trauen sie sich nicht mehr aufs Sozialamt. Dabei müssen sie immer öfter die BVG benutzen:
Die Sozialämter zahlen hier keinen Tagessatz mehr aus - immerhin neun Euro. Wenn sie Stütze haben wollen, müssen Obdachlose in Berlin polizeilich gemeldet sein, in Männerwohnheimen etwa. Viele haben darauf keinen Bock, deswegen fahren sie täglich raus nach Brandenburg, um sich dort ihre Sozialhilfe abzuholen. Da können sie aber dann nirgends pennen, deswegen fahren sie anschließend wieder in die Stadt zurück.
Für die meisten sind die Berliner Sozialämter sowieso ein Horror. Sie sehen sich gar nicht in der Lage, deren Kriterien zu erfüllen. Sie müssten genaue Angaben über ihre Angehörigen machen, damit die sie gegebenenfalls unterstützen. So mancher lebt getrennt von seiner Frau und hat sich bei der Trennung nicht gerade mit Ruhm bekleckert: sie zum Beispiel geschlagen. Folglich will er nicht, dass sich das Sozialamt an die Ehefrau wendet, auch nicht, dass seine Eltern angeschrieben werden.
Bei uns im Nacht-Café sind regelmäßig etwa zwölf Männer und zwei bis drei Frauen. Der einen ist die Wohnung abgebrannt und sie will keine neue haben, weil sie einfach nicht noch einmal wieder von vorne anfangen mag. In ein Frauenhaus will sie aber auch nicht. Ich denke, dass sie an dem Punkt einfach nicht geschäftsfähig ist, denn da führt ja kein Weg dran vorbei. Andere Frauen sind nur deswegen nicht richtig obdachlos, weil sie immer bei jemandem anderen schlafen. Das ist so eine Art Wohnungsprostitution. Für Frauen gibt es an sich jedoch mehr und bessere Hilfsangebote als für Männer. Außerdem sprechen die Gerichte zu Recht im Trennungsfall, wenn ein Kind da ist, meistens der Frau die Wohnung zu.
Und dann sind hier in den letzten Jahren rund 500 000 Männerarbeitsplätze weggefallen, aber 700 000 Frauenarbeitsplätze neu entstanden. Für Männer sieht es also immer schlechter aus - besonders von einem bestimmten Alter an und bei bestimmten Berufen. Es gibt inzwischen eine regelrechte Partnerlosigkeit aus Armut. Die Männer sind einsam, weil sie arm sind und umgekehrt.
Jetzt werden auch noch viele Notunterkünfte geschlossen, aus Spargründen - unsere will man ja auch dicht machen. Das letzte Wort ist dabei aber noch nicht gesprochen. Ich bin sogar optimistisch. Obwohl man eigentlich schon mürbe werden könnte: Es hat sich in all den Jahren nichts geändert. Die zunehmende Armut und Obdachlosigkeit wird bloß verwaltet, es fehlen Ideen und Konzepte. Und dann werden noch laufend ohne Sinn und Verstand die Mittel gekürzt. Sogar die medizinische Grundversorgung wird immer schlechter: Die eine Obdachlosen-Ärztin, Jenny de la Torre, im Ostbahnhof hat entnervt nach neun Jahren gekündigt, der anderen, Lisa Rasch, im Bahnhof Zoo ist gekündigt worden. Eine psychologische Betreuung gibt es überhaupt nicht. Und in den wenigen Wärmestuben und Nacht-Cafés, die es gibt, kann man inzwischen nichts mehr kürzen. Bei uns in der "Arche" decken wir den Personalbedarf teilweise durch die Jugendgerichtshilfe ab. Straffällig gewordene Jugendliche leisten bei uns in der Küche ihre gemeinnützigen Stunden ab. Und das Essen beziehen wir schon seit Jahren aus dem Abschiebeknast Grünau - 30 Mahlzeiten täglich, kostenlos und tiefgefroren. Dort treten immer wieder Insassen in einen Hungerstreik, so dass sie da anscheinend immer genug Portionen übrig haben.
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Der Experte
Karsten Krampitz, geboren 1969 in Rüdersdorf, studiert Geschichte im 13. Semester. Im Jahre 1996 veröffentliche er einen Roman über Obdachlosigkeit: "Rattenherz", und 2000 einen über Obdachlosen-Zeitungen: "Affentöter". Er war sechs Jahre Redakteur bei den Berliner Obdachlosenzeitungen "Mob", "Haz", "Moz", "Straßenfeger" und "Straßenzeitung". Seit nunmehr zwölf Jahren arbeitet er in der Treptower Wärmestube "Arche", die mit ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung zugleich ein Nacht-Café ist. Die "Arche" soll nach dem Willen der PDS-Stadträtin geschlossen werden. Was Krampitz über Obdachlosigkeit zu sagen hat, wurde von Helmut Höge aufgezeichnet.
Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Erscheinungsdatum 06.01.2004
01.01.2005 - armutszeugnisse - Jürgen Achatzi/Ute Leienbach: Assel, ein Straßenzeitungsverkäufer
Es ist Montag, später Nachmittag. Wir sind im Café des "Straßenfegers" und versuchen einen Straßenzeitungsverkäufer für ein Interview zu gewinnen. Zunächst verunsichert durch die Ablehnung einiger Besucher des Cafés, erklärte sich Assel, 20 Jahre jung, bereit für 'n Kaffee eine halbe Stunde mit uns zu reden. Im folgenden Text wird das Gespräch gekürzt und zusammengefasst wiedergegeben.
Du verkaufst die Straßenzeitung "Straßenfeger"?
Ja, gelegentlich. Ich will nicht, dass die Leute denken, dass ich nichts für mein Geld tue und mich nur durchschnorre. So können die wenigstens nicht sagen, dass ich arbeiten gehen soll, weil das ja zu vergleichen ist mit nem Bildzeitungsverkäufer. Dem sagt ja auch keiner "geh arbeiten". Aber häufig bekomme ich auch mehr Geld, wenn ich keine Zeitung verkaufe und einfach nur so dastehe.
Glaubst du, dass man ein Verkaufstalent braucht?
Nee, das nicht unbedingt. Aber man muss irgendwie Mitleid erregen. Und mir sagen immer viele, dass ich gar nicht so aussehe, als hätte ich es nötig. Es macht halt einen besseren Eindruck, wenn man eine Zeitung verkauft. Und davon kann ich dann wieder profitieren.
Ist dir der Eindruck, den du machst, das Wichtigste am Verkaufen?
Ich geh eigentlich auch gerne arbeiten. Hab ich auch schon mal gemacht für drei Jahre. So richtige Schwerstarbeit in einem Dorf. Da hab ich mir gedacht, dass ich mal hier raus muss. Das war gut, weil man da was zu tun hatte. Und man hat sich auf den Feierabend und das Wochenende gefreut. Morgens musste man aufstehen und hat sich auf die Arbeit gefreut. Insgesamt gibt es, wenn man arbeitet, viel mehr, auf das man sich freuen kann. Sonst hängt man nur 'rum, es passiert nichts und man hat nichts zu tun.
Kannst du uns beschreiben, wie dein Alltag jetzt aussieht?
Das ist nichts Besonderes. Morgens stehe ich auf trinke n Bier und kiffe erstmal. Dann gehe ich zwei oder drei Stunden mit meinem Hund spazieren. Wenn ich wieder zu Hause bin kiffe ich wieder. Manchmal hole ich mir ein paar Straßenzeitungen, manchmal aber auch nicht. Dann gehe ich schnorren, mach meine Einkäufe und sitz stumpfsinnig vorm Fernseher 'rum, wie es jeder macht. Manchmal geh ich feiern oder häng mit meinen Kumpels rum. Man kifft und säuft, geht mit dem Hund raus und kifft und säuft. So ist der ganze Tagesablauf.
Seit wann lebst du auf der Straße?
Ich wohne immer bei Kumpels oder so. Das ist seitdem ich 12 bin. Da hatte ich keinen Bock mehr auf zu Hause. Eigentlich hab ich 'ne gute Familie. Daran liegt's nicht. Hab halt viele Drogen genommen und so. Hab auch keinen Schulabschluss. Bin nach der achten Klasse abgegangen. War sogar mal auf dem Gymnasium.
Möchtest du im Moment etwas an deiner Situation ändern?
Ich könnte jederzeit mit 'ner Ausbildung als Koch anfangen. Das liegt nur an mir selber. Deutschland ist n Land, in dem man alles bekommen kann, wenn man nur will. Ich bin halt ziemlich faul und außerdem habe ich mir gesagt, dass ich, bis ich 22 bin, noch so weiter machen kann. Und hier in Berlin kommt man immer irgendwie über die Runden. Ich bekomme ja auch keine Sozialhilfe oder so. Aber ich lebe ganz gut so wie es ist. Es kommt halt darauf an, was man unter gut leben so versteht. Der Spießer mit seinem Sonntagsschnitzel im Kühlschrank und der schönen Ledercouch, der sieht das bestimmt anders. Mir reicht es so wie es ist. Von der Reihenfolge kommt zuerst mein Hund, weil der sich das nicht ausgesucht hat, dann kommt Gras, dann kommt Bier. Wie gesagt, ich könnte das jederzeit ändern. Aber man will ja mal gefeiert haben. Ich hab bestimmt schon viel mehr erlebt, als die meisten, die immer nur gearbeitet haben und so. Ich hab auf jeden Fall nichts verpasst. Man lebt ja nicht, um zu arbeiten. Aber so wie die anderen hier, die mit 50 immer noch auf der Straße rumhängen, das sind für mich die absoluten Looser. Bin aber auch nicht so'n typischer Fall von nem Straßenzeitungsverkäufer. Die, die älter sind, die kommen da nicht mehr so leicht raus. Die Drogen sind halt das Problem. Nicht so das Kiffen, vielmehr der Alkohol. Das ist ja auch irgendwie ne Art Selbstzerstörung. Auf Dauer zumindest.
Würdest du dich selber als arm bezeichnen?
Kommt drauf an wie man das sieht. Finanziell schon. Aber ich glaube, dass es Leute gibt, die zwar 3000 Euro verdienen, die aber vom Kopf her viel ärmer sind. Die haben ja nur die Arbeit im Kopf. Weiß nicht was die für nen Sinn im Leben haben. Wen stört es denn, wenn es n paar Leute gibt, die nicht arbeiten gehen. Es gibt ganz andere Leute, die einem das Geld aus der Tasche ziehen. Die Typen, die 50 000 Euro im Monat verdienen, davon redet keiner. Aber die Menschen haben immer was, worüber sie sich beschweren können. Dabei gibt es gerade hier allen Grund dafür zufrieden zu sein. Besser als hier kann's einem gar nicht gehen. Man muss halt was machen für sein Leben. Eigentlich geht's jedem gut. Hier muss keiner hungern, keiner frieren und eigentlich auch keiner obdachlos sein. Es liegt an jedem selbst. Für die, die es nicht auf die Reihe kriegen, gibt's überall Hilfen. Sonst muss man sich halt so ein Buch besorgen, da steht alles über die Sozialhilfe drin, dann geht man zum Sozialamt, legt n Haufen Anträge auf den Tisch und geht mit vier bis fünftausend Euro wieder raus.
Wenn jetzt eine gute Fee zu dir kommen würde, was würdest du dir wünschen?
Also, ich könnte mir viel Geld wünschen, aber das liegt ja an mir selber. Das kann ich ja selbst ändern. Ich glaube, ich würde mir ein leeres Führungszeugnis wünschen.
Assel schaut auf die Uhr. Die halbe Stunde ist rum. Wir bedanken uns, für das Gespräch und verabschieden uns.
Jürgen Achatzi
Ute Leienbach
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03, WiSe 03/04)