09.12.2004 - Berliner Morgenpost - avi: Heimat für die Heimatlosen
In Eigenregie schaffte man eine ganze Menge. Die Mitarbeiter von „Mob e.V. – Obdachlose machen mobil“ haben Teile einer ehemaligen Tischlerei an der Prenzlauer Allee 87 selbst umgebaut. Jetzt gibt es dort Redaktionsräume für die Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“, ein Café, eine Notübernachtung und einen Trödelverkauf. In der Oderberger Straße betreibt der Verein zudem ein Selbsthilfe-Bauprojekt. Und es gibt neue Pläne.
„Wir wollen unsere Räume weiter ausbauen, um mehr Menschen, die auf der Straße leben, eine warme Mahlzeit und Waschgelegenheiten anbieten zu können“, sagt der Vereinsvorsitzende Stefan Schneider. Ihm schwebt ein Kiez-Restaurant vor, in dem Obdachlose und arme Leute aus der Nachbarschaft für wenig Geld essen können. Der überdachte Innenhof, in dem früher Holz bearbeitet wurde und in dem bald Restaurantgäste essen sollen, ist aber noch düster. Das Glasdach ist mit Dachpappe abgedeckt und muss erneuert werden. „Wir brauchen Geld für das Baumaterial, die Arbeit erledigen wir selbst“, sagt Schneider.
Im Wäscheraum ist Alexander Gehrke schon eifrig dabei, Fliesen zu legen. Der Mann mit der Schirmmütze hat eine Tischlerausbildung, war arbeitslos und wird jetzt durch eine so genannte „GzA-Stelle“ (gemeinnützige und zusätzliche Arbeit) des Senats finanziert. Andere Kollegen haben einen der neuen Ein-Euro-Jobs. „Es macht Spaß hier zu arbeiten, man trifft ganz unterschiedliche Leute“, sagt Gehrke. Trotz seiner erst 24 Jahre hat er sich zum inoffiziellen Bauleiter des Ausbauprojekts hochgearbeitet.
Patrick Wiggins betreut die Notübernachtung von Mob e.V., in der acht bis zwölf Männer und vier Frauen schlafen. „Bei uns geht es viel familiärer zu als in den Massenunterkünften für Obdachlose“, sagt Wiggins. Aber es bleibt eine Familie auf Zeit: „Unser Ziel ist es, dass die Menschen nach spätestens acht Wochen in eine eigene Wohnung umziehen können“, sagt der kräftige Farbige mit der Reibeisenstimme. Aber so lange sie da sind, helfen sie – beim Umbau, beim Waschen oder in der Küche. avi
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Quelle: Tagesspiegel 09.12.2004
01.12.2004 - unaufgefordert - Alexander Thobe: Hinterhof-Literaten
In Berlin werden jeden Monat über 80.000 Obdachlosenzeitungen verkauft. Ein Blick in die Redaktionen von »Stütze« und »Strassenfeger«.
»Meine Damen und Herren, bitte entschuldigen sie die Störung. Aber da ich zurzeit leider obdachlos bin und keine Lust habe, klauen zu gehen oder Ähnliches, verkaufe ich das Obdachlosenmagazin ›der Strassenfeger‹ …« Wem kommen diese Zeilen nicht bekannt vor? Jeder, der mit S- oder U-Bahn fährt, trifft täglich Verkäufer der drei Berliner Straßenzeitungen »motz«, »die Stütze« und »der Strassenfeger«. Und jedes Mal steht man vor der Entscheidung: kaufen oder nicht kaufen? Was passiert überhaupt mit dem Geld? Vielleicht sollte man besser an anderer Stelle spenden? Antworten auf diese Fragen geben Thomas Schepers und Uwe Kunz, Chefredakteure der Stütze. ->
Ihre Redaktionsräume sind in der Bastianstraße 21 am Gesundbrunnen. Im vorderen Teil befindet sich ein Internetcafé für Mittellose. »Bis vor einiger Zeit hatten wir hier auch noch eine Notübernachtung, aber wir haben beschlossen, uns mehr auf die Zeitung zu konzentrieren«, sagt Uwe Kunz. Grund für die Schließung der Notunterkunft war der hohe Drogenkonsum der Obdachlosen. »Wir haben überall Spritzen gefunden; im Treppenhaus und im Innenhof. Das war in einem Haus, in dem auch Kinder leben, nicht zu verantworten«, erzählt Kunz.
80 Cent verdient
Die Redaktion der Stütze besteht vorwiegend aus Freien Mitarbeitern. Viele Artikel verfassen Professoren, Autoren, Politiker oder andere Leute mit Erfahrung. Obdachlose schreiben in der Stütze gar nicht. »Wir möchten ein Heft machen, das die Leute auch wegen seines Inhalts kaufen und nicht nur aus Mitleid mit den Verkäufern – sonst hätten wir ja nur ein Titelblatt mit zwei oder drei Texten«, erklärt Uwe Kunz.
In den Händen der Obdachlosen liegt bei der Stütze der Verkauf. Dafür unterhalten die Berliner Obdachlosenzeitungen an mehreren Verkehrsknotenpunkten wie dem Alexanderplatz, dem Ostbahnhof oder dem Bahnhof Zoo kleine Verkaufsbusse. Dort werden die Zeitungen an die Verkäuferinnen und Verkäufer ausgeben. Wer verkaufen möchte, geht zu einer dieser Anlaufstellen und meldet sich an. 80 Cent verdienen die Verkäufer pro Exemplar. Das Geld steht ihnen zur freien Verfügung. Auf diese Weise verkauft die Stütze jeden Monat 20.000 Hefte. »Viele der Verkäufer sind gleich für mehrere der drei Obdachlosenzeitungen tätig«, sagt Kunz.
Die 40 Cent, für die die Zeitungen an die Verkäufer abgegeben werden, benötigt die Stütze fast vollständig für die Produktion. Werbung findet sich in Obdachlosenzeitungen kaum. »Viele Unternehmen denken noch, dass Straßenzeitungen auch einen sozial schwachen Leserkreis haben und sich Werbung dort nicht lohnt«, erzählt Schepers.
Den Zweck der Stütze sehen die beiden Redakteure vor allem darin, den Obdachlosen durch den Verkauf der Zeitung eine Aufgabe und Tagesstruktur zu geben. »Viele Obdachlose«, sagt Kunz, »sind auf Grund ihrer mangelnden Perspektiven nicht in der Lage, die staatlichen Hilfen, die ihnen zustehen, auch einzufordern.«
Das gleiche Ziel verfolgt der Verein mit dem Projekt »Transit«: In Zusammenarbeit mit dem Studentenwerk Berlin soll ein alter Plattenbau saniert werden. Dort werden 330 zeitlich begrenzte Wohnangebote, sowohl für Wohnungslose, als auch für andere Hilfsbedürftige geschaffen. Das Projekt richtet sich auch an Menschen aus Therapieeinrichtungen und Frauenhäusern, oder einfach an alle, die eine günstige Unterkunft für eine begrenzte Zeit suchen. »Wir wollen kein Ghetto für Obdachlose schaffen«, sagt Kunz. »In einem solchen Ghetto könnte keine Resozialisierung stattfinden.« Denn Transit soll die Obdachlosen wieder an ein Leben mit eigener Arbeit und geregeltem Tagesablauf heranführen. Es werden Werkstätten entstehen, in denen die Obdachlosen einfache Produkte herstellen, die sich zum Weiterverkauf eignen.
Bankrott und Trödel
Ganz anders als bei der Stütze sieht es beim »Strassenfeger« aus. Im Hinterhaus der Prenzlauer Allee 87 tobt das Leben. Mehr als 30 Menschen tummeln sich unter dem Dach des »mob e.V.«. Es gibt das Café Bankrott, einen Trödel, Notübernachtungen für acht Männer und vier Frauen und die Redaktion des Strassenfegers. »Der Verein mob e.V. wurde 1994 von Obdachlosen als Selbsthilfeprojekt gegründet«, erzählt Mitarbeiterin Sonja. Ein Jahr später erschien dann die erste Ausgabe des Strassenfegers. Bis heute ist die Zeitung die Haupteinnahmequelle des Vereins. Die 40 Cent, für die auch mob e.V. jeden Monat über 40.000 Zeitungen an die obdachlosen Verkäufer weitergibt, decken nicht nur die Produktionskosten, sondern sichern zudem die Existenz des Cafés und der Notübernachtungen.
Im Café Bankrott werden Lebensmittelspenden für Obdachlose auch an andere sozial schwache Menschen verteilt. »Es kommen manchmal Rentner vorbei, um einige Lebensmittel mitzunehmen«, sagt Sonja. Außerdem wird jeden Mittag eine warme Mahlzeit zum Selbstkostenpreis angeboten. In den Notübernachtungen können Obdachlose acht Wochen für 1,50 Euro pro Nacht wohnen. »Wir versuchen, die Obdachlosen während der Zeit, in der sie hier wohnen, wieder in einer festen Bleibe unterzubringen, beispielsweise in betreuten Wohneinrichtungen«, ergänzt Sonja.
Keine Konkurrenz
Der Selbsthilfecharakter des Vereins hat sich bis heute gehalten. Viele der Mitarbeiter kennen Obdachlosigkeit oder andere soziale Notlagen aus eigener Erfahrung. Einige haben früher selbst die Hilfe des mob e.V. in Anspruch genommen und über eine Anstellung im Verein wieder in ein geordnetes Leben zurückgefunden. Anders als in der Stütze schreiben im Strassenfeger vorwiegend Leute aus dem Verein, zum Teil auch Obdachlose selbst. Der Inhalt der Zeitung konzentriert sich dadurch stärker auf soziale Probleme und Projekte für sozial Schwache.
Ob es zwischen den drei Berliner Straßenzeitungen denn keine Konkurrenz gibt? Sonja schüttelt den Kopf: »Das Verhältnis ist neutral.« Es gebe keine Zusammenarbeit, aber auch keinen Wettbewerb. Uwe Kunz von der Stütze ist gleicher Meinung. »Alle Straßenzeitungen in Berlin sind eigentlich aus einer einzigen hervorgegangen, der HAZ – Hunnis Allgemeine Zeitung«. Daraus gründeten sich nach und nach die anderen Projekte. Letztlich geht es bei allen um die gleichen Ziele: eine sinnvolle Beschäftigung, Geld verdienen und eine Resozialisierung in ein normales Leben.
Alexander Thobe
http://www.unaufgefordert.de/content/view/927/8/
27.08.2004 - freitag - Tina Veihelmann: Sing der Kundschaft ein Lied
ALLTAG Wenn die soziale Sicherung gefährdet ist, steht der Berufsstand der Bettler vor neuen Herausforderungen. Über das Schnorren als Dienstleistung
Ein mageres Mädchen mit Schäferhund spricht vor einem Berliner Kaufhaus einen Kunden an: "Hast du mal einen Euro?" Kunde: "Ich vergebe nur einen Euro am Tag, dem ersten der mich fragt. Du kommst zu spät." Bettlerin: "Was kann ich dafür, dass die andern so früh anfangen? Ich komme immer erst um drei. Du benachteiligst die Spätschicht." Kunde: "Was kann ich dafür, dass ihr immer mehr werdet? Schichtsystem! Ich vergebe einen Euro, fertig." Besinnt sich. Gibt der Bettlerin 50 Cent. Geht davon. Keine Statistik gibt Aufschluss darüber, wie viele Bettler täglich in der Stadt tätig sind. Doch sie sind zahlreich. Schon früh am Morgen werden die ersten freiwilligen Beiträge zur informellen Sozialsicherung eingetrieben. Und mancher Passant ist genervt. Nicht von allen Schnorrern, aber von denen, die für ihr Geld nichts tun. Sitzbettler mit Pappschildern stehen nicht hoch im Kurs, zumal, wenn sie bei der Arbeit schlafen, ausnüchtern oder von drogenbedingten Grenzerfahrungen in Anspruch genommen sind. Ein Bettler im klassischen Sinne bezieht seinen "Lebensunterhalt ohne dingliche Gegenleistung aus seiner Umwelt", heißt es. Doch das bedeutet keineswegs, dass der Bettler nichts zu leisten oder zu geben hätte, will er in der Welt bestehen. Betteln ist ein Handwerk. Es wird der geschätzt, der seinen Job gut erledigt.
Im Mittelalter beispielsweise erbrachte der Stand der Bettler eine unverzichtbare Dienstleistung - und wurde deshalb gesellschaftlich anerkannt. Er verhalf den sündigen Reichen zur Rettung ihrer Seelen, indem er sich zur Verfügung stellte, bei Bedarf Barmherzigkeit an ihm zu üben. Deshalb lungerten die Bettler jederzeit griffbereit vor der Kirche herum - in professionell leidender Pose. Und der Reiche konnte im Vorbeireiten gute Taten vollführen. Zwar untergrub die Armenpolitik der Neuzeit diese Stellung der Bettler, denn sein Almosen entrichtete man nun mit der Steuer. Doch wenn die Zeiten schwerer werden und die staatlichen Sicherungen versagen, sind die Bettler wieder gefordert. Schnorren ist erlaubt, doch bei wachsender Zahl der Geldeintreiber steigen die Ansprüche der Kunden. Gegenleistungen werden erwartet. Heute wie damals bestehen sie in kleinen Dienstleistungen, gerne auch im ideellen Bereich. Die Leidensnummer ist passé, entbehrt die Leistung "Seele retten" doch mittlerweile der Nachfrage. Frauen mit Kopftüchern, die unter Klagen die hole Hand ausstrecken, rufen Widerwillen hervor. Innovative Bettler wenden der Zeit angepasste Methoden an. Sie müssen es verstehen, den Passanten ein gutes Gefühl zu geben, ihnen helfen, trotz der Krise den Glauben an sich und die Welt nicht zu verlieren. Auf einem Spaziergang durch die Hauptstadt begegnen uns oft erfolgreiche Bettler.
Ein verschwitzter junger Mann, in einem fast weißen Hemd mit verstrubbelten Haaren steht mitten auf einem Radweg und breitet weit seine Arme aus. Er strahlt: "Anhalten, ein Euro." Fuß vom Pedal. "Wofür willst du einen Euro?" "Siehst du das Bild?" Vor dem Eingang der Post lehnt ein Gemälde. Es stellt in gelb die kindlich gemalten Umrisse einer Blumenvase dar, daneben drei blaue Böller. Pflaumen vielleicht. Ein Stillleben. "Dafür soll ich dich bezahlen?" "Nein", sagt er freundlich. "Du sollst dafür bezahlen, dass ich besser werde. Ich habe, glaube ich, meinen Stil noch nicht gefunden. An der Technik muss ich auch noch arbeiten." Daniel ist ein 26-jähriger Gelegenheitsbettler, der täglich drei bis vier Stunden arbeitet. Er ist erfolgreich. Den hetzenden Menschen, die in ständiger Angst leben, nicht zu genügen, zeigt er ein sympathisches Bild von Unzulänglichkeit und Bescheidenheit. Daniel lächelt tröstend und versichert: Unvollkommenheit ist möglich. Entscheidend für Daniels Auftritt ist das strahlende Lächeln und das Tragen des fast weißen Hemdes. Der Passant sieht, auch wenn ein Mensch den hohen Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann, ist es ihm dennoch möglich, regelmäßig sein Hemd zu wechseln.
Auch weniger gut gekleidete Euro-Sammler haben ihre ideelle Funktion in der Stadtgesellschaft. Der 28-jährige Piotr setzt im Gegensatz zu Daniel nicht auf eine gepflegte äußere Erscheinung. Im Gegenteil. Das schwarze verwaschene T-Shirt ist schon zerschlissen, auch die Hosen sind nicht mehr intakt. Die Füße stecken in Militärstiefeln. Er ist braun gebrannt vom Arbeiten an der frischen Luft, der Kopf ist kahlrasiert bis auf einige Rastasträhnen, die ihm ins Gesicht baumeln. In diesem Aufzug putzt er Autofahrern, die an der Ampel anhalten ihre Windschutzscheiben. Wer will, bezahlt. Sie sind zu fünft und wechseln sich ab. Piotr ist in diesem Sinne nicht Bettler, sondern arbeitet in einem selbst geschaffenen Dienstleistungsjob. Doch auf die Frage hin, wofür die Fahrer ihn bezahlen, sagt er: "Sie bezahlen, weil sie sich freuen, dass deutsche Punks arbeiten." Piotr ermöglicht den Glauben daran, dass die Ausgegrenzten, die Verlorenen, die Aussteiger und Müßiggänger in die Arbeitsgesellschaft zurückkehren könnten. Piotr sagt: "Es ist wichtig, dass die Autofahrer glauben, wir seien deutsche Punks." Deutschlands verlorene Söhne, die nach Hause kommen. Weil die meisten von der Putztruppe aber aus Polen, Estland, Lettland und Litauen kommen, vermeiden sie beim Arbeiten Gespräche in der Landessprache.
Speedy ist ein sehr junger Bettler, der den Standort U-Bahneingang Rosenthaler Tor besetzt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er sanftmütig zu jedem Passanten, der vorübergeht. Viele sehen ihn dafür wütend an. Speedy, der 19 Jahre alt ist und aus Essen stammt, beeindruckt das überhaupt nicht. Weshalb er nicht einfach stillsitzt und abwartet, was er bekommt? "Man muss die Leute gut ansprechen", sagt er und es hört sich ein bisschen so an, als hätte er das in einer Schulung für Versicherungsverkäufer gelernt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er wieder. Man darf Speedy nicht allzu viel von seiner Zeit stehlen. Zeit ist Geld. Eine Frau mit Einkaufstasche bleibt vor dem blassgesichtigen Speedys stehen und erklärt, sie habe "das hier schon vorbereitet". Sie bückt sich und wirft einen Euro in den Bettelplastikbecher. "Ich habe mir das hier lange aufgebaut", sagt Speedy. In vier Jahren am gleichen Ort hat er das Vertrauen der Leute gewonnen. Wieder eine Frau, die grüßt und spendet. Speedy nickt gnädig. "Viele haben keine Kinder", sagt er. "Die sehen in mir ihren Sohn oder sowas." - "Bleibt alle schön gesund." Pling, wieder 50 Cent. Speedy profitiert davon, dass immer mehr Frauen Kinder und Karriere nicht mehr verbinden können. Oder dass Frauen zwar Kinder haben, diese aber aus dem Haus gegangen sind und nun, einsam ihr Leben meisternd, ihnen ihre einst verausgabte Mutterliebe in keiner Weise zurückbezahlen. Der Generationenvertrag: gebrochen. Speedy hat für die enttäuschten Frauen ein gutes Wort: Bleib gesund, Mutti.
Kazimir ist ein Mann schwer schätzbaren Alters, der in einem roten Kaisergewand durch Berliner Gaststätten zieht. Der Kneipengast erkennt ihn am Ton einer Fahrradhupe, die er betätigt, wenn er ein Lokal betritt. Er führt ein Zepter mit sich, schreitet souverän durch den Raum und lächelt gütig, aber unnahbar. Meist spricht er nicht viel. Kazimir ist keineswegs verrückt, sondern ein höchst talentierter Bettler. Er selbst versteht sich als Künstler und seinen Auftritt als Dienst an der Gesellschaft. Vor einigen Jahren tauchte der kleine Mann mit hellen, wachen Augen als Verkäufer einer Obdachlosenzeitung auf. Er überraschte seine Kollegen und Kunden, indem er plötzlich begann, die Zeitung im sackleinernen Bettlerkostüm an den Mann zu bringen. Andere obdachlose Verkäufer versuchten den professionellen Verkäufer zu mimen und scheiterten: Die Sprache verrät den, der sie nicht spricht, sofort: "Guten Tag die Damen und Herren, ich verkaufe die neueste Ausgabe der hochinteressanten ..." Sofort wird die Selbstverleugnung des Verkäufers spürbar. Niemand mag das. Kazimir hingegen stand selbstbewusst im Bettlerkittel vor seiner Kundschaft, hielt seine Zeitung hoch und schwieg. Er strahlte nicht weniger, sondern mehr Würde aus als die anderen. Dass er schließlich das Bettlergewand gegen das kaiserliche austauschte, war folgerichtig: Er verlieh sich selbst einen Würdegrad. Kazimir verkauft Zeitungen, verteilt Blumen an die Damen oder sammelt einfach Spenden. Er steht dafür, dass ein Mensch, der aus der arbeitenden Gesellschaft heraus gefallen ist, stur auf Respekt besteht. Die Leute goutieren dies. Kazimir ist sehr beliebt und sehr erfolgreich. Er soll, so erzählen Kneipengäste, einer der reichsten Obdachlosenzeitungsverkäufer und Bettler von Berlin sein.
Michalina singt für ihre Kundschaft ein Lied. Sie singt es am Ausgang einer Unterführung am Alexanderplatz. Wer den schlecht beleuchteten Gang mit der zu niedrigen Decke passiert, dem dringt ihr Lied ans Ohr, das mit reiner, hoher Stimme vorgetragen wird. Wo es schon heller wird, steht Michalina, eine kleine, schmale, blondgelockte Erscheinung im kurzen Rock. Sie steht kerzengerade auf Plateausandalen. Ein elektronisches Klavier hängt ihrem Gesang etwa einen halben Ton hinterher. Die 20-jährige Michalina und der 44-jährige Jacek musizieren gerade eine Endlosschleife. Als sie nach einer halben Stunde eine Pause machen, erzählt Michalina, Jacek allein habe einen ganzen Tag gebraucht, um 30 Euro einzuspielen. Zusammen haben sie den selben Betrag bereits in zwei Stunden eingspielt. Michalina ist gerade aus Polen gekommen. Gestern. Jetzt sucht sie Arbeit in Deutschland. Vielleicht als Sängerin, sie habe Talent, sagt sie. Sie sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Instrumentenkoffer, als wäre das ihr Reisegepäck und schlägt ihre Sterntaleraugen auf. Man überlegt einen Moment, ob man sich nicht dringend Sorgen um sie machen soll. Gleich wird sie sich wieder hinstellen und unbeirrt weitersingen, in das widerhallende Dunkel hinein: "Dream a little dream of me." Michalina symbolisiert Hoffnung. Stellvertretend für alle Passanten glaubt sie fest an ihre Chance in einer rauen Wirklichkeit, allem zum Trotz. Ein kleiner Traum. Den bezahlen die Leute. Und Michalina wird auf diese Weise in kurzer Zeit ein hübsches Startkapital für ihre Karriere beisammen haben.
04.07.2004 - rp online: Köhler verschenkt seine Suppe an Obdachlose
Botschaft: Obdachlose gehören zu unserer Gesellschaft
Berlin (rpo). Zahlreiche Obdachlose haben am Sonntag ihr warmes Essen vom neuen Bundespräsidenten selbst bekommen. Horst Köhler verteilte am Zoo Reste seiner Suppe vom Vorabend.
Horst Köhler meint es ernst: "Ich bin Bundespräsident aller Menschen in Deutschland - und auch sie gehören dazu. Das will ich zeigen", sagt Köhler, als er am Sonntag Berliner Obdach- und Arbeitslosen, sozial Schwachen und Straßenkinder in der Bahnhofsmission am Zoo eine warme Mahlzeit auftut. Nach einem Lächeln für die Bedürftigen fügt er dann ernst hinzu: "Wir müssen uns auch um sie kümmern."
Für Moritz Siegmar ist es kaum fassbar - ein "leibhaftiger" Bundespräsident zum Anfassen, zum Nöte erzählen. Einer, der zwar nur 20 Minuten da ist, aber der konzentriert zuhört. "Ich finde es toll, was der macht", sagt der 53-Jährige, der Köhler gerade seine Sorge mit dem Sozialamt um einen neuen Rollstuhl geschildert hat. Und er glaubt daran, dass dieses Suppenverteilen "keine demonstrative Geste" von Köhler sei.
Die Idee entstand am Samstagabend, als der gerade zwei Tage im Amt befindliche Bundespräsident am Brandenburger Tor an der "Tafel der Demokratie" saß. Zusammen mit 1500 Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft plauderte er über die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. "Ich denke, jeder kann dazu beitragen, dass Deutschland seine Schwierigkeiten überwindet", betont Köhler. Und diese Probleme seien eben nicht nur verkrustete Strukturen oder ein fehlender wirtschaftlicher Neuanfang. Die Probleme seien auch am Rand der Gesellschaft zu finden.
Einer der "Stammgäste" der Bahnhofsmission ist Michael Braun. Er verkauft normalerweise die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger", die er dem Bundespräsidenten aber kostenlos überreicht. "40 Cent bezahle ich für die Zeitung, für 1,20 Euro verkaufe ich sie dann. Von der Spanne kann ich einen Teil meines Lebens bestreiten", erzählt der 45-Jährige. Und er wünscht sich, dass Köhler "im Auto oder so mal Zeit findet, in der Zeitung zu blättern. Dann sieht er, wo uns auf der Straße der Schuh drückt."
Zunächst reicht Köhler erst einmal Kelle um Kelle "Gaisburger Marsch" aus - ein Eintopf, der am Samstag von der "Tafel der Demokratie" übrig geblieben ist. Frank Zander, einer der Mitorganisatoren des Hilfsprojektes "Berliner Tafel", hatte den Bundespräsidenten gefragt, ob er mithelfen würde, die Suppe an Bedürftige zu verteilen - quasi "als Einladung des Volkes". Für Köhler war eine Zusage nach eigenen Worten selbstverständlich: "Gute Suppe, gute Idee!"
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