01.08.2005 - die zeit - Henning Sussebach: Arm trifft arm
Ein heißer Morgen in Berlin, Bahnhof Zoo, deutsche Elendskulisse seit Christiane F., durchgewischt und aufgemöbelt in den letzten Jahren, die Wartehalle umstellt von Espressobars, Krawattenläden, Bodyshops - Rucksackreisende und Rollkoffer-Eilende unterwegs nach Hamburg, Stuttgart, München, jeder geschäftig, jeder unverzichtbar, Handelsblatt, Spiegel, FAZ unterm Arm und darin das große Thema: Was wird aus diesem Land? Wie kurbeln wir die Wirtschaft wieder an? Spitzensteuersatz rauf oder runter? Sorglose, in deren Leben Armut bislang nur Medienschauder ist, mag der Mann in den Sandalen denken, der ihnen eine kurze Frage in den Weg legt: Interesse am Straßenfeger, der Obdachlosenzeitung? - Keine Zeit ... keine Zeit ... keine Zeit. Sie lassen ihn an ihrer Geschäftigkeit abperlen. Wer heute Zeit hat, ist verloren!
Der Verkäufer sucht einen Ruhepol in all dem Streben. Sieht den Mann am Nordsee-Tresen, gemächlich einen Kaffee schlürfend. Interesse am Straßenfeger, der Obdachlosenzeitung? Der Kaffeetrinker sagt: Nein.
Tschuldigung. - Wenigstens eine Spende? - Der Mann mit Kaffee sagt sehr leise: Mann ey, ich bin selber arm.
http://www.zeit.de/2005/30/Arm_trifft_arm
29.01.2005 - Graswurzel: Der Freiheit nach - dem Hunger davon
Die Vagabundenbewegung in der Weimarer Republik
Vielen Schmähungen war der sogenannte "fünfte Stand" in den letzten beiden Jahrhunderten nicht nur seitens des Bürgertums ausgesetzt. Auch die marxistische Arbeiterbewegung sah auf Angehörige jener Schicht herab und zollte ihnen nichts als Verachtung.
Schon Marx, der in ihnen nur "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen" (1) erkennen wollte, hat diese Richtung (bis heute) vorgegeben.
Er hielt sie jeder Schlechtigkeit für fähig, wenn sie nur etwas Handgeld dafür bekämen: "Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen", hatten er und Friedrich Engels bereits im "Manifest der kommunistischen Partei" geschrieben. (2)
Im Anarchismus finden sich derartige Kategorisierungen nicht. Um ihn aber zu diskreditieren, wird die Zuschreibung, eine "kleinbürgerliche Ideologie" zu sein, die aus dem "Lumpenproletariat" komme und sich an dieses wende, von den KommunistInnen seit Marx aufrechterhalten.
Dessen ungeachtet gab es aus der anarchistischen Bewegung tatsächlich Impulse, Angehörige des "fünften Standes" gezielt für freiheitliche Ideen zu gewinnen und unter ihnen für Selbsterkenntnis, Selbstorganisierung und Selbstbefreiung zu werben.
Ich hab' mein' Sach auf nichts gestellt
Der Anarchist und Bohemien Erich Mühsam lernt früh ihre Kompromißlosigkeit, ihren fehlenden Hang, sich in der Gesellschaft in irgendeiner Form einrichten zu wollen, schätzen. Er stellt fest: "Es ist dieselbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet [...]. Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler - das ist die Boheme, die einer neuen Kultur die Wege weist." (3)
1909/10 wirbt Mühsam deshalb mit der Gruppe "Tat" in München gerade auch unter den Angehörigen des sogenannten "Lumpenproletariats", um sie für die Ideen des "Sozialistischen Bundes" um Gustav Landauer zu gewinnen. "Ich fragte mich: Sind unter diesen Arbeitsscheuen, Verbrechern, Lumpen, Vagabunden, Gesunkenen nicht solche, denen man durch Aufzeigen eines neuen menschlichen Ziels Halt und Hoffnung geben könnte?" (4)
Die Gruppe lädt zu Versammlungen ein, für die sie in den Spelunken wirbt, vor allem im "Gasthof zum Soller". Um das Interesse etwas anzukurbeln, schenkt man Freibier aus. "Sollte ich hoffen, daß sie um meiner schönen Augen willen kommen müßten?", wird Mühsam später ihr Vorgehen verteidigen. (5) Die an ihre Agitation geknüpfte Hoffnung jedoch, die Gründung einer Gruppe "Vagabund" anzustoßen, wird bald enttäuscht. Mühsam wird denunziert, verhaftet und wegen "Geheimbündelei" angeklagt; der Prozeß endet mit Freispruch.
Gregor Gog
Siebzehn Jahre später ist es wieder ein Anarchist, der sich um die Sammlung der Ausgestoßenen der Gesellschaft bemüht: Gregor Gog (1891-1945).
Gog, der 1910 freiwillig bei der Marine anheuert, weil ihn Welt und See lockten, wird im ersten Weltkrieg als Geschützführer zweimal wegen antimilitaristischer Propaganda und Meuterei vors Kriegsgericht gestellt, zu sechs Wochen Haft verurteilt und dreimal in eine "Irrenanstalt" eingewiesen. Gog und Theodor Plivier, mit dem er sich bereits bei Kriegsbeginn auf dem Vorpostenschiff "SMS Fuchs" anfreundete (6), lernen 1916 bei der 1. Marinedivision in Wilhelmshaven den anarchistischen Schriftsteller und Kupferschmied Karl Raichle kennen. Gemeinsam führen sie in einem Kasernenkeller geheime Treffen durch, an denen sich noch weitere Matrosen beteiligen. Gelesen und diskutiert werden die Schriften von Stirner, Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Tolstoi. 1917 wird Gog als "dauernd kriegsuntauglich" entlassen. Er arbeitet als Gärtner, reist als Handelsvertreter durch Deutschland, findet später für kurze Zeit Anstellung als Erzieher. Gog wird in der Lebensreform- und Siedlungsbewegung (u.a. 1924 auch in Brasilien) aktiv. Er engagiert sich in der Christ-Revolutionären Bewegung und wird Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift "Weltwende". Schließlich läßt er sich 1925 in Balingen bei Stuttgart nieder, wohnt zunächst mit seiner zweiten Ehefrau, der Schriftstellerin Anni Geiger, bei Freunden, um dann in ein selbst gebautes Holzhaus in Stuttgart-Degerloch zu ziehen. Er arbeitet als freier Schriftsteller, ist Autor diverser Beiträge für anarchistische und anarcho-syndikalistische Zeitungen. Das bescheidene Einkommen sichert Anni Geiger durch die Honorare für ihre Kinderbücher.
Gog, glühender Verfechter der Ideen Tolstois, Kropotkins und Landauers, wird 1927 Schriftleiter der erstmals im Frühjahr vom Balinger Landstreicher und Schriftsteller Gustav Brügel herausgegebenen Zeitschrift "Der Kunde". (7) Gleich die erste Nummer wird beschlagnahmt. Brügel, der darin unter Pseudonym die Liebe zwischen dem Knaben Rolf und dem Wanderprediger und Eremiten Polo beschrieben hatte, wird vors Amtsgericht geladen, setzt sich aber über Österreich nach Jugoslawien ab. Alle weiteren Hefte bis Ende 1929 werden von der von Gog initiierten "Bruderschaft der Vagabunden" (8) herausgegeben. Um die Zeitschrift scharen sich innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe von vagabundierenden SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, Akademikern, Wanderpredigern und Religionsphilosophen nebst SympathisantInnen. Zu letzteren gehört auch Erich Mühsam.
70.000 LandstreicherInnen ziehen zu jener Zeit über die Straßen Deutschlands, davon 80 Prozent Erwerbslose auf der Suche nach Arbeit. Andere haben bewußt ihr bürgerliches Leben hinter sich gelassen, um den Klassenschranken auf der Landstraße zu entfliehen.
Beginnen!
Die "Bruderschaft der Vagabunden" eint das Ziel, all jene ArbeiterInnen zusammenzufassen, die der Kapitalismus auf die Landstraßen geworfen hatte.
Zunächst geht es aber um die Hebung des Selbstbewußtseins, das Erkennen der eigenen Lage in den gesellschaftlichen Zusammenhängen, um Solidarität und gegenseitige Hilfe. In der Sammlung der Kräfte sieht die Bruderschraft eine Vorbedingung zum Sturz der bestehenden Ordnung.
Die Vagabundenbewegung lehnt staatliche und kirchliche Fürsorgeeinrichtungen (Herbergen, Wanderarbeitsstätten) wie jegliche Formen der Armutsverwaltung grundsätzlich ab. Sie setzt auf Selbsthilfe: Von KundInnen selbst aufgebaute Herbergen sollen an ihre Stelle treten, um sich so der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen (eine Forderung, die sich auch schon bei Mühsam und der Gruppe "Tat" findet). Ihre Kritik schließt die Erwerbslosenunterstützung als Gängelband des Staates mit ein.
"Der Kunde", die erste "Zeit- und Streitschrift der Vagabunden" (so der Untertitel) soll dieses soziale Bewußtsein schaffen und die Vereinzelung aufheben. Überall müßten sich die VagabundInnen zusammenschließen, um Druck auszuüben. Die Zeitschrift erscheint etwa viermal im Jahr mit einer Auflage von 1000 Exemplaren. Ca. ein Drittel davon wird in den Stempelstellen und Arbeitsämtern, in den Herbergen und Obdachlosen-Asylen verteilt. Zudem werden sie von Hand zu Hand weitergereicht und dürften so einen weitaus größeren Verbreitungsgrad gefunden haben, als die Auflage verspricht. VagabundInnen, die "unterwegs" sind, müssen nichts bezahlen. Die Zeitschrift enthält ein Potpourri aus autobiographischen Berichten, Zeichnungen und Gedichten, Liedern und Spottversen, Sozialreportagen und Geschichten sowie Beschwerden und praktischen Tips für das Überleben auf der Landstrasse. Gewürzt wird das Ganze mit einem gehörigen Schuß "Philosophie der Landstraße" aus anarchistisch-religiöser Perspektive. Die Beiträge stammen von VagabundInnen für VagabundInnen. "Der Syndikalist" über den "Kunden": "Eine der originellsten Zeitschriften, die je erschienen sind. Eine Zeitschrift von seltsam geistigem Format! Von Kunden geschrieben und herausgegeben, ganz im Sinne jener großen heimatlosen Wanderer und vagabundierenden Dichter: Villon, Rimbaud, Peter Hille, Jack London, Walt Whitman." (9)
Bald geht die Bruderschaft dazu über, öffentliche Versammlungen zu organisieren. Der erste öffentliche "Vagabundenabend" findet am 14. April 1928 in Stuttgart statt; es folgen weitere in Berlin, Mannheim, Hamburg und Dortmund.
Generalstreik das Leben lang!
In ihren Versammlungen und der Zeitschrift wenden sich die VagabundInnen nicht nur gegen die Arbeitsdienstpflicht und Zwangsarbeitsstätten (10), sondern gegen jegliche Form der Lohnarbeit. Sie erklären sich selbst für "bewußt 'faul'" (Gog). "Seine Aufgabe ist in dieser Welt nicht die spiessbürgerliche Arbeit. Diese Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung, wäre Arbeit an der bürgerlichen Hölle! Sklavendienst zum Schutze und zur Erhaltung der Unterdrücker! Der Kunde, revolutionärer als alle Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen: Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglicher Generalstreik! Nur durch einen solchen Generalstreik ist es möglich, die kapitalistische, 'christliche', kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!" Wenn sie sich vom Gängelband lösen wollten, mussten sich die KundInnen gegen Staat und Kirche, die Stützen der bestehenden Ordnung, auflehnen: "Der Staat ist nur der Zuhälter der Kirche; darum bekämpfen wir ihn nur als das, was er ist: als den Zuhälter der Kirche. Der Staat fällt mit der Kirche. Die Kirche ist das geistige Nachthaus, die Nacht der Finsternis, die verschleiert, dass hinter dieser Welt eine andere ist. Sie verlegt das Jenseits über die Wolken - diese 'Lügnerin von Anbeginn'!
Die Erde ist ein wunderbares Haus und Feld, und alles, was die sesshafte und nichtsesshafte Menschheit leidet, stammt aus den künstlich geschaffenen Grenzen, Grenzen, die nur auf dem Papier bestehen. Oder habt ihr schon je einmal solche Grenzen, wie sie auf dem Papier bestehen, in Wirklichkeit gesehen und gefunden bei eurer Wanderung über die Erde, Kumpels?!" (11)
Das Ziel der Vagabundenbewegung bleibt erklärtermaßen die freie, klassenlose Gesellschaft. Um frei zu werden, müssen die VagabundInnen selbst handeln. Vehement wenden sie sich deshalb gegen jede Art von Bevormundung durch eine Avantgarde: "Dieser Kampf da spielt sich nicht mit einem Parteibuch in der Hand ab, der Kampf wird nicht mit dem Federhalter zwischen Daumen und Zeigefinger geführt. Diese Menschen da haben keine dickleibigen, phrasendreschenden Führer, die ihnen das Problem ihrer Freiheit aus den Nöten von Rednertribünen aus vorillusionieren." (12)
AnarchistInnen und Anarcho-SyndikalistInnen
Die "Bruderschaft der Vagabunden" besteht zu einem Großteil aus MitstreiterInnen, die anarchistischen Ideen nahestehen. Einige VagabundInnen schreiben aber nicht nur für den "Kunden", sondern veröffentlichen auch Beiträge in anarcho-syndikalistischen Blättern: Gregor Gog beispielsweise im "Syndikalist", der Vagabund Gerhard Siegismund (gen. Siegi) in "Besinnung und Aufbruch". Die Nähe der Vagabundenbewegung zur Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) kommt nicht von ungefähr, gehören ihr doch auch ein paar aktive Mitstreiter an: Artur Streiter (1905-1946), Schriftsteller, Maler und Landstreicher aus Berlin, ist seit der Gründung beim "Kunden" und der "Bruderschaft" dabei. (13) Dazu kommen Helmut Klose (1904-1987), Schneider, Kundendichter und Landstreicher (14), Hermann Giesau (von seinem Freund Landauer "Nieselprim" genannt), der schon 17 Jahre auf der Landstrasse lebt (15), und Karl Heinz Bodensieck, Künstler (16). Über diese vier Genossen kommt die enge Verbindung zur Berliner FAUD und der "Gilde freiheitlicher Bücherfreunde" (GfB) zustande. (17)
Linksschwenk, marsch!
Seit 1928 werden fieberhafte Vorbereitungen getroffen, um ein erstes "Vagabundentreffen" zu organisieren, das schließlich vom 21. bis 23. Mai 1929 mit ca. 500 TeilnehmerInnen im Freidenker-Jugendgarten in Stuttgart stattfindet.
Die Zahlen bleiben zwar hinter den Erwartungen zurück, aber die Behörden hatten es den OrganisatorInnen auch nicht gerade leicht gemacht.
KundInnen hatten überall Flugblätter ausgelegt, viele erfuhren davon über "Mund-zu-Mund-Propaganda". Das Treffen wird ein voller Erfolg. Das Kunsthaus Hirrlinger öffnet zeitgleich seine Pforten zur ersten "Vagabunden-Kunstausstellung".
Mehr als 30 sollen noch folgen, an denen sich Mitglieder der im Frühjahr 1928 gegründeten "Künstlergruppe der Bruderschaft der Vagabunden" beteiligen. Die zweite große Vagabunden-Kunstausstellung findet am 1. Mai 1931 in den Räumen von Herwarth Waldens "Sturm" statt, auf der die Künstlergruppe ihren Anschluß an die kommunistische "Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands" (ASSO) (18) erklärt. Doch schon kurz nach dem Vagabundentreffen kommt es zur ersten Krise: Gog stürzt sich in die Arbeiten am Film "Vagabund" (Regie: Fritz Weiss, Erdeka-Film GmbH, Berlin), der am 16. Juni 1930 im Marmorhaus Berlin seine Uraufführung erlebt und in den darauffolgenden Monaten noch in anderen großen Berliner Filmtheatern läuft.
Die Künstlerin und Autorin Jo Mihaly, seit 1929 Mitstreiterin in der Bruderschaft und mit Gog befreundet, beschreibt das Mißtrauen und die Enttäuschung über Gog in dieser Zeit.
"Der Kunde" erscheint 1930 nicht.
Einen Monat nach der Uraufführung des Films reist Gog in die Sowjetunion. Sein besonderes Interesse gilt dem Leben der Besprisornij, der vagabundierenden Kinderbanden, die auf Geheiß des sowjetischen Erziehungsministeriums in Heimen und Kolonien "in den gesellschaftlichen Aufbauprozeß integriert" werden sollen. Gog, der leidenschaftliche Anarchist, der zusammen mit seinem Freund, dem Künstler Hans Tombrock, auf dem Vagabundentreffen noch jegliche Vereinnahmungsversuche kommunistischer Parteifunktionäre entschieden zurückgewiesen hatte, kehrt als überzeugter Kommunist nach Deutschland zurück.
Anfang 1931 gibt Gog wieder eine Zeitschrift heraus: "Der Vagabund". Sich und die "Bruderschaft der Vagabunden" erklärt er plötzlich zu einem Teil der kommunistischen Arbeiterbewegung. Die Spaltung ist bereits mitten im Gange: Gog unterscheidet nunmehr in "Kunden" und "Vagabunden". Als letztere bezeichnet er nur noch die "bewußten Landstreicher", die eine Art "Reservearmee der Arbeiterklasse" bilden sollen. Kommunistische statt anarchistisch-utopische Positionen bestimmen das Blatt. Die Losung "Generalstreik ein Leben lang" fällt zugunsten von "Wandertrieb ist Hungertrieb". Die Bruderschaft soll Wahlagitation für die KPD betreiben; Gog versucht, die LandstreicherInnen an die Urnen zu bringen. Ende 1932 tritt Gog selbst der KPD bei.
Niedergang und Verfolgung
Seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 wandelt sich die Situation auf der Landstrasse grundlegend: bis 1933 wächst die Zahl der LandstreicherInnen auf 450.000, darunter viele Notwanderer, die von der Erwerbslosenfürsorge ausgesteuert worden waren. Zu Beginn der dreißiger Jahre gewinnen die Nazis gerade unter den jungen arbeitslosen Notwanderern zunehmend an Einfluß. Etliche füllen die Reihen der SA. Gog warnt vor dieser Entwicklung, steht aber schon weitestgehend isoliert da. Seine Wandlung zum Kommunisten hatte viele vor den Kopf gestoßen. Als erste hatten sich die libertären VagabundInnen abgewandt, die die Parteidisziplin und plötzliche Staatshörigkeit Gogs grundlegend ablehnen.
Einer der ersten war der Anarcho-Syndikalist Helmut Klose. Aber auch die übrigen schreckt die Unfreiheit, die eine starre, zentralistische Organisation verheißt. Gog kannt zwar noch junge ArbeiterInnen, Erwerbslose um sich sammeln, aber das ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Er verliert endgültig seine FreundInnen und einen Großteil seiner AnhängerInnen auf der Landstraße. 1933 existiert die Bruderschaft schon nicht mehr.
Anfang April wird Gog zusammen mit seiner Frau Anni Geiger-Gog verhaftet. Das gesamte Archiv der Bruderschaft wird von der Gestapo beschlagnahmt und abtransportiert. Während Anni wenig später freikommt, wird Gog ins KZ Heuberg gesperrt. Siebeneinhalb Monate später wird er "zur Heilbehandlung" (Wirbelsäulenleiden) entlassen. Ihm gelingt die Flucht in die Schweiz, von dort reist er im Juni 1934 weiter in die Sowjetunion. Er knüpft Kontakte zu anderen Exilanten der Bruderschaft: Johnny Rieger in Dänemark und Hans Tombrock in Schweden. Nach Jahren, die immer wieder von Krankheit gezeichnet sind, stirbt er im Oktober 1945 in einem Taschkenter Sanatorium an seinem chronischen Nierenleiden aus dem Ersten Weltkrieg.
Resümee
Der Versuch der "Bruderschaft der Vagabunden", eine umfassende Selbstorganisation der Nichtsesshaften, von VagabundInnen auf überregionaler Ebene zu initiieren, steht bis heute einmalig da. Sicherlich gab es auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Ansätze dazu.
Meist waren sie nur von kurzer Dauer oder blieben lokal beschränkt.
Was aber hat sich im Vergleich von damals zu heute vom Grundsatz her geändert? Armutsverwaltung, kirchliche und staatliche Fürsorgeprogramme, Zwangsarbeit für SozialhilfeempfängerInnen, an Restriktionen geknüpfte Beschäftigungsprogramme für Erwerbslose,
Leiharbeit bzw. Wanderarbeit (Montage), Streichung von Unterstützungsgeldern, Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben und Verweigerung von Lohnarbeit, Vertreibung und Kriminalisierung Nichtsesshafter - sind das denn tatsächlich so neue Entwicklungen?
Oder nicht doch nur wieder eine Seite der gleichen Medaille?
Gut, es gibt keine Arbeitshäuser mehr. In den Naturalverpflegungs- und Wanderarbeitsstätten wurde aber auch nichts anderes als eine Arbeitsleistung gefordert, um in den Genuß elementarer Leistungen (Nahrung und Unterkunft) zu gelangen.
Die Arbeiterkolonien dienten allein dem Ziel, "Arbeitsfähige" von "Arbeitsunwilligen" zu trennen.
Die ArbeiterInnen mußten sich für ca. drei bis zwölf Monate vertraglich verpflichten, die geforderten Arbeiten zu verrichten - für 'nen Appel und 'nen Ei. Bei Zuwiderhandlungen wurden sie von der Fürsorge ausgeschlossen und auf "schwarze Listen" gesetzt. Die Not- und Berufswanderer zogen nur auf der Suche nach Erwerbsarbeit und Auskommen durchs Land, arbeiteten einen Tag hier, die andere Woche vielleicht dort.
Die Arbeitsformen und ordnungspolitischen Instrumente haben demnach nur einen anderen Namen bekommen.
Die Grundprobleme sind damit jedoch nicht verschwunden: sie heißen Staat und Kapitalismus. In Zeiten grassierender Armut, mit der Perspektive der Verelendung von noch weit größeren Teilen der Bevölkerung (mit Alg II), drängt sich die Frage geradezu auf, was die direkt und indirekt Betroffenen dem entgegenzusetzen haben.
Eigentlich ist meine Antwort darauf immer dieselbe: Selbstorganisierung und Aufbau gesellschaftlicher Gegenstrukturen.
Zerschneidet das Gängelband!
(1) Karl Marx im "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte"
(2) zitiert nach: Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I. Dietz Verlag Berlin 1959; S. 33
(3) Erich Mühsam: Publizistik - Unpolitische Erinnerungen. Ausgewählte Werke Band 2. Herausgegeben von Christlieb Hirte. Verlag Volk und Welt Berlin 1978, 1. Auflage, S. 31
(4) wievor, S. 62
(5) wievor, S. 63
(6) Plivier verarbeitete seine Erinnerungen an Gog und seine Kriegserlebnisse bei der Marine in seinem Roman "Des Kaisers Kuli"
(7) Kunde: niederdeutsch für LandstreicherInnen
(8) Vagabund: verächtliche Bezeichnung für LandstreicherInnen; wurde zum Kampfbegriff umgedeutet
(9) "Der Syndikalist", 9. Jg. [1927], Nr. 49 [Beil.]. Zitiert nach: www.free.de/ dada/ dada-p/ P0001693.HTM
(10) 1. Naturalverpflegungs- und Wanderarbeitsstätten: in kommunaler Trägerschaft; Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung für arme Wanderer gegen Arbeitsleistung (Holzhacken, Steineklopfen). 2. Ländliche und städtische Arbeiterkolonien: in Trägerschaft von Provinzial- und Landesvereinen; vertragliche Verpflichtung für einige Monate bis zu einem Jahr; Zuwiderhandlung bzw. Verstöße gegen die Hausordnung führten zu Ausschluß aus Wanderarmenfürsorge ("schwarze Listen"); gefängnisähnliche Hausordnung, religiöse Prägung; Stellen von Unterkunft, Verpflegung, brauchbarer Kleidung gegen Arbeitsleistung (Meliorations- und Kultivierungsarbeiten von Ödland, Ackerbau und Viehzucht bzw. Fabrikation von Bürsten, Holzschuhen, Kisten und Strohhülsen für Flaschen). 3. Arbeitshäuser: strafrechtliches Instrument, sogenannte "korrektive Nachhaft für unverbesserliche Arbeitsscheue" im Anschluß an Haftstrafe; Vollzugsanstalt der Landespolizeibehörden mit Gefängnisdisziplin und Arbeitszwang
(11) beide Zitate aus: Gregor Gog: Was will die Bruderschaft der Vagabunden. Aus: Der Kunde, Heft 1/ 2, 3. Jg., 1929. Zitiert nach: Trappmann: Landstrasse, Kunden, Vagabunden, S. 90
(12) Hans Tombrock: Vagabundenabend in Berlin am 25. Juli 1928 im Jugendheim des Ostens. Aus: Der Kunde, Heft 1/ 2, 2. Jg., 1928. Zitiert nach: Trappmann: Landstrasse, Kunden, Vagabunden, S. 67
(13) lieferte zahlreiche Artikel und Zeichnungen; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Die Internationale", "Besinnung und Aufbruch", "Der proletarische Atheist". Ausstellung seiner künstlerischen Werke auf der ersten "Vagabunden- Kunstausstellung"1929 in Stuttgart
(14) wirkte als Darsteller in Gogs Film "Vagabund" von 1930 mit. 1933 Flucht nach London; 1936 Spanienkämpfer, wurde nach dem Bürgerkrieg im französischen Lager Gurs interniert; gehörte zur Exilgruppe "Deutsche Anarcho-Syndikalisten" (DAS)
(15) lieferte Artikel; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Besinnung und Aufbruch"
(16) lieferte Artikel und Zeichnungen; weitere Veröffentlichungen u.a. in: "Besinnung und Aufbruch". Ausstellung seiner künstlerischen Werke auf der ersten "Vagabunden- Kunstaustellung"1929 in Stuttgart
(17) Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte, Bd. 5. Libertad Verlag Berlin/ Köln 1994, S. 180, 213, 215, 251, 294.
(18) Kurzform; eigtl. Abk. ARBKD
Weitere Quellen
Klaus Trappmann (Hg.): Landstrasse, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Gerhardt Verlag Berlin 1980.
Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Landstrasse. Herausgegeben vom Künstlerhaus Bethanien. Verlag Frölich & Kaufmann GmbH Berlin 1982.
29.12.2004 - Junge Welt - Peter Wolter: Berichte von »ganz unten«
Kampf ums Überleben ist ein Dauerthema. Banger Blick ins kommende Jahr
In vielen Städten gehören sie zum Straßenbild: die meist wohnungslosen Verkäufer von Straßenmagazinen. Mittlerweile gibt es etwa 40 dieser Monatshefte, die Gesamtauflage dürfte bei 300000 Exemplaren liegen. So unterschiedlich sie auch sind – sie haben vor allem zwei Gemeinsamkeiten: Themen »von ganz unten« und den ständigen Kampf ums Überleben.
Als erstes deutsche Straßenmagazin wurde 1993 in München BISS (Bürger in sozialen Schwierigkeiten) gegründet. Kurz darauf erschien in Hamburg Hintz & Kunzt, das im ersten Jahr während der Wintermonate auf über 100000 Auflage kam. Danach kam es in vielen Städten zu Neugründungen, unter anderem in Kiel (Hempels), Berlin (Straßenfeger), Münster (draußen!), Dortmund (BODO) und Rostock (Strohhalm). Auch in anderen europäischen Ländern wurden Straßenmagazine gegründet.
Vorbild war Big Issue
Vorbild für die meisten war das Londoner Big Issue. Sein Gründer, John Bird, baute das Blatt zu einem kleinen Medienimperium aus: Big Issue erscheint mittlerweile in Südafrika und Australien, in Großbritannien gibt es vier Regionalausgaben. Überschüsse fließen in soziale Projekte.
Grundgedanke aller Straßenmagazine ist, daß Wohnungslose, Bettler und sonstige Arme am Verkauf jedes einzelnen Exemplars beteiligt sind. Auf diese Weise können sie sich ihre Sozialhilfe aufbessern, sich mitunter auch mal eine Fahrkarte oder ein Geschenk leisten.
Überlebt haben bisher fast alle dieser Straßenmagazine – wenn auch oft am Rande des Existenzminimums. Öffentliche Gelder gibt es nur noch im Ausnahmefall. Die Magazine finanzieren sich meist aus den Verkaufserlösen und aus Spenden, das Anzeigenaufkommen ist selten zufriedenstellend. Welches Unternehmen schaltet schon gerne Anzeigen in Zeitschriften, denen das Schmuddel-Etikett »Obdachlosenzeitung« anhaftet?
Ein Vorurteil: Viele Straßenmagazine sind grafisch ansprechend, die meisten werden mehr oder weniger professionell gemacht. In der Regel haben sie die »Betroffenheitslyrik« der Anfangsjahre hinter sich gelassen, es finden sich heute packende Sozialreportagen neben nüchternen Berichten, Glossen neben Kommentaren. Die Redaktionen sind oft mit gelernten oder angelernten Journalisten besetzt, begabte Verkäufer helfen mit. Leser sind »ganz normale« Leute: Hausfrauen, Lehrerinnen, Busfahrer, Polizist, Studentin. Obdachlos bei der »Obdachlosenzeitung« sind meist nur die Verkäufer.
Sozialkritisch, eher links
Soziale Themen standen immer schon im Mittelpunkt der Straßenmagazine, vor allem solche, die mit Obdachlosigkeit zu tun haben. Fast ausnahmslos stellen sie in ihrer Berichterstattung soziale Probleme in den Vordergrund; vor »Hartz IV« und den damit einhergehenden regierungsamtlichen Lügen haben sie von Anfang an gewarnt. Parteipolitisch gebunden ist keines dieser Blätter – auch wenn hin und wieder versucht wird, sie vor den einen oder anderen Karren zu spannen. Aber Ausländerfeindlichkeit oder männlichen Chauvinismus wird man in diesen Heften nicht finden, rechts steht keins von ihnen.
Dem Inkrafttreten der Armutsgesetze am 1. Januar blicken viele Zeitungsmacher mit Bangen entgegen: Einerseits könnte die Zahl der Verkäufer steigen. Andererseits fürchten sie einen Auflageneinbruch, weil dann mancher Leser die 1,50 Euro für eine Zeitung nicht mehr übrig hat.
(Siehe auch Interview mit Gerrit Hoekmann)
23.12.2004 - Tagesspiegel Berlin - Tanja Buntrock - Horst Köhler hat ein Herz für Obdachlose
Bundespräsident schreibt für Straßenzeitungen
Den „wirklich Bedürftigen, nicht den Bequemen“ will Bundespräsident Horst Köhler helfen. Dabei scheint er die Obdachlosen besonders ins Herz geschlossen zu haben. Vor allem diejenigen, die trotz ihrer schwierigen Lebenssituation etwas tun: So wie die Verkäufer der Straßenzeitungen. In seinem Weihnachtsgrußwort an die Wohnungslosen, das Berliner Obdachlosenzeitungen wie „Motz“ und „Straßenfeger“ veröffentlicht haben, schreibt Köhler: „Wir finden Menschen in sozialen Notlagen, die gewiss nicht die besten Chancen von Kindesbeinen an hatten, die das Unglück getroffen hat oder deren Kraft nicht immer gereicht hat. Aber sie ’machen mit’: Sie bemühen sich, so weit ihre Kraft reicht, und sie sind alles andere als bequem.“
Als Horst Köhler, der promovierte Ökonom und einstige Chef des Internationalen Währungsfonds, sein Amt in Berlin antrat, verband damit manch einer eher die Erwartung sozialer Kälte als Unterstützung der Obdachlosen. Aber der neue Bundespräsident machte sich schnell einen Namen – auch bei denen, die auf der Straße leben. Am Tag nach der „Tafel der Demokratie“, zu der Köhler 1400 Deutsche im Juli zum Speisen ans Brandenburger Tor eingeladen hatte, schenkte der Bundespräsident eigenhändig die übrig gebliebene Suppe an Obdachlose aus. Zusammen mit Sänger Frank Zander fuhr Köhler damals zur Bahnhofsmission am Zoo und schwang die Suppenkelle. Auf die Idee hatte ihn Zander bei der „Tafel der Demokratie“ gemacht. „Ich bin der Präsident aller Deutschen. Dazu gehören auch die Obdachlosen“, hatte Köhler damals gesagt. Die Bedürftigen waren begeistert.
Auch Köhlers Vorgänger, Johannes Rau, hat während seiner Amtszeit zum Jahresende ein Grußwort an alle Straßenzeitungen gesandt, um den Kauf dieser Zeitungen zu unterstützen: Weil man damit Menschen unter die Arme greife, die auf der Straße leben – und die sich nicht nur passiv helfen ließen, wie er im vergangenen Jahr schrieb.
Berlins Obdachlosenzeitungen erscheinen alle 14 Tage. Sie kosten jeweils 1,20 Euro – davon gehen 80 Cent an die wohnungslosen Straßenverkäufer. Finanziert werden die Zeitungen durch den Verkauf, durch Spenden und Einnahmen durch Annoncen.
Tanja Buntrock
http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/23.12.2004/1555450.asp
Nachbemerkung von Stefan Schneider:
Tatsächlich erhält der strassenfeger in der Regel im November seit einigen Jahren Post vom jeweiligen Bundespräsidenten. Diese Schreiben werden, wie alle unaufgeforderten Zuschriften, in der Regel in der Rubrik Leserbriefe veröffentlicht.