27.07.2006 - taz - Nadja Dumouchel: Kein Platz für Obdachlose
Auch wenn am Hauptbahnhof eine Bahnhofsmission eröffnet hat: Für Obdachlose ist der Glaspalast auch zwei Monate nach seiner Inbetriebnahme kein Ort des Ankommens. Die meisten bleiben deshalb, wo sie waren - am Bahnhof Zoo
Die Mittagshitze verstärkt den beißenden Uringestank in der Jebensstraße hinter dem Bahnhof Zoo. Auf dem Bürgersteig hat sich eine lange Schlange gebildet. Überwiegend Männer, einige davon mit Plastiktüten und in abgewetzter Kleidung, warten geduldig. Am Fenster neben der Schlange hängen Briefumschläge, die ein Mann von außen begutachtet. Vielleicht ist ja Post für ihn darunter. Wie viele andere, die hier vor der Bahnhofsmission stehen, hat er keine Adresse. Der kleine Mann um die 40 ist gekommen, um etwas zu essen und ein neues T-Shirt abzuholen. Aus dem Inneren des Gebäudes riecht es stark nach Bananen. Von denen ist heute ein besonders großes Paket eingetroffen.
"Die Schlange vor der Bahnhofsmission am Zoo wird durch den neuen Hauptbahnhof nicht kürzer. Die armen Menschen sind immer noch hier", sagt Holger Planck. Er sitzt in einem kleinen Wohnwagen gegenüber der Bahnhofsmission neben einem Stapel Zeitungen. Es sind Ausgaben des neuen "Straßenfegers", die er an Obdachlose verteilt, damit die sie weiterverkaufen. "Das Einzige, was sich durch den neuen Bahnhof verändert hat, ist, dass unsere Verkäufer längere Wege gehen müssen, um ihre Zeitungen loszuwerden", fügt der 32-Jährige hinzu.
Am neuen Hauptbahnhof, der wenige Kilometer östlich vom Zoo liegt und vor zwei Monaten eröffnet wurde, ist auch eine Bahnhofsmission eingerichtet worden. Dort geht es aber ganz anders zu als in der Bahnhofsmission am Zoo, die vor über hundert Jahren gegründet wurde. Statt eines undefinierbaren Gemischs unterschiedlicher Gerüche wie am Zoo, neutralisiert hier die Klimaanlage alle Ausdünstungen. Die Tische stehen wohl geordnet, jeden ziert eine kleine Vase mit einer gelben Blume. Durch die großen Fenster blickt man auf das Brachland an den Spreeufern.
"Hierher verirrt sich kaum ein Obdachloser", sagt die Leiterin der Bahnhofsmission, Janina Jonitz. "Wenn einer vorbeischaut, dann ist es aus Neugierde, wie unsere neuen Räume aussehen. Oder es ist jemand, der aus einer anderen Stadt kommt und neu in Berlin ist", meint sie. An dem nagelneuen Standort gibt es keine Essensausgabe und auch keine Übernachtungsmöglichkeit. Hier werden weniger Obdachlose betreut, so die 48-Jährige, sondern vor allem Reisende.
Vor einigen Monaten hatte man in der Redaktion des Straßenfegers überlegt, die Verteilstelle vom Zoo an den Hauptbahnhof zu verlegen, berichtet Vertriebsmitarbeiter Planck. Doch man habe sich dagegen entschieden: "Der Hauptbahnhof ist nur eine Durchgangsstation. Dort ist kein Leben."
Stattdessen drängt sich den Besuchern das Gefühl auf, in einer futuristisch anmutenden, kapitalistischen Utopiewelt gelandet zu sein. Die gleichmäßig sich bewegenden Rolltreppen tragen zur modernen Kaufhausatmosphäre bei, die durch die vielen Geschäfte auf mehreren Etagen entsteht.
Für Armut ist hier kein Platz. Im neuen Hauptbahnhof haben laut Planck die Straßenfeger-Verkäufer Hausverbot: "Wenn sie es doch versuchen, kriegen sie sofort eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs." Ein Verkäufer bestätigt das. "Hier darf man gar nichts. Man braucht nur kurz in ein Mülleimer zu gucken und schon kommt die Polizei", beschwert sich der junge Mann, der ein verwaschenes blaues Käppi mit dem Schirm im Nacken trägt und wie alle anderen Verkäufer seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er ist gerade am Hauptbahnhof aus der S-Bahn ausgestiegen - aber nur, um auf dem Gleis gegenüber in die nächste zu steigen und dort sein Glück beim Zeitungsverkauf zu versuchen.
Am Bahnhof Zoo versucht derweil ein grauhaariger Mann, an ein Grüppchen amerikanischer Touristen Briefmarken und Postkarten zu verkaufen. Sie sind mit WM-Motiven bedruckt. Der Mann, der sich als "der kleine Bernd von Tempelhof" ausgibt, ist deprimiert über das geringe Interesse an seiner Ware. "Vielleicht hätte ich mehr Erfolg, wenn Deutschland Weltmeister geworden wäre", sagt er. Ohnehin seien hier wenig Touristen, seit die ICEs nicht mehr am Bahnhof Zoo hielten. "Vielleicht sind sie jetzt eher am Alex oder am neuen Hauptbahnhof", meint er. Doch da darf er mit seinem Bauchladen nicht rein.
Zwar seien am alten West-Bahnhof nun weniger Menschen unterwegs als früher, "aber so lange die Gedächtniskirche nicht abgerissen wird, besteht noch Hoffnung für den Zoo", sagt Holger Planck vom Straßenfeger. "Und außerdem", fügt er hinzu, ",Wir Kinder vom Hauptbahnhof' - das klingt doch nach nichts." Die Szene von Obdachlosen, Drogenabhängigen und Prostituierten, die sich in vielen Jahren am Zoo entwickelt hat und durch Christiane F.s Be- richt "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" berühmt wurde, wird seiner Meinung nach nicht so schnell verschwinden oder zum neuen Bahnhof ziehen. Die Ordnung und die Sauberkeit, die dort herrschten, signalisierten, dass diese Menschen nicht erwünscht seien. Und es wird dafür gesorgt, dass sich am Hauptbahnhof keine Szene etabliert: Zwischen Swarowski-Kristallgeschäft und Delikatessrestaurant, zwischen S-Bahn- und ICE-Gleisen patrouillieren jeden Tag 70 Polizisten im Wechselschichtdienst.
Nadja Dumouchel
taz Berlin lokal Nr. 8032 vom 27.7.2006, Seite 24, 173 TAZ-Bericht Nadja Dumouchel
29.06.2006 - Die Zeit - Ulrich Gineiger: Dr. phil. Obdachlos
Unter den Brücken Berlins hält eine neue soziale Gruppe Einzug: Wohnungslose Akademiker
Von Ulrich Gineiger
Berlin. In der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo scharen sich unter Neonfunzeln gebeugte Gestalten um eine warme Mahlzeit. Unter denen, die allein am Tisch sitzen, ist Fritz Joachim Rudert, Doktor der Philosophie. »Wenn Marx den Schopenhauer gelesen hätte«, verkündet er, »dann wäre die Weltgeschichte anders verlaufen.« Rudert spricht hastig, seine Augen wechseln ihr Ziel so schnell wie seine Gedanken. Buddha, Leonardo, philososphisch-sozialistische Bekenntnisse, dazwischen der anklagende Satz: »Warum sind Büchereien nachts und an Feiertagen geschlossen?« Am Hals trägt er ein Wirrwar aller möglicher Utensilien, unter anderem Wohnungsschlüssel. »Am 30. Juli werde ich rausgeschmissen«, sagt er und fügt hinzu, dass das so schlimm nicht sei. »Mit einer Wohnung ist es wie mit dem Bewusstsein: Es geht auch ohne.« Sein Blick verfinstert sich. »Aber meine Bücher«, sprudelt es aus ihm hervor, »ich habe 6000 Bücher.«
Gibt es das, obdachlose Akademiker? Am Anfang standen zufällige Beobachtungen, die das Gesamtbild eines Phänomens nur zögernd preisgeben. Da war das Truthahnessen für Obdachlose zum Thanksgiving Day in der US-Botschaft. Als die Ansprache einer Sozialarbeiterin an mangelnden Englischkentnissen scheiterte, erinnert sich Ortrud Wohlwend, Sprecherin der Stadtmission, »ergriffen spontan zwei oder drei Obdachlose das Wort, hielten in perfektem Englisch Ansprachen und bedankten sich beim Botschafter mit ausgesuchten Umgangsformen.«
»Ich beobachte das nun seit etwa drei Jahren«, berichtet Brigitte Koch, die Leiterin der Berliner Bahnhofsmission. »Da stehen bei der Essensausgabe Leute in der Schlange, die passen nicht in das Klischee.« Dieses »neue Klientel« falle auf durch gemeinsame Eigenschaften: hoch gebildet, wohnungslos und psychisch krank.
Stefan Schneider, verantwortlicher Redakteur für das Berliner Obdachlosen-Magazin Straßenfeger, sah bereits um die Jahrtausendwende erste Anzeichen für das soziale Abdriften von Vertretern der Mittelschicht. »Ich höre zu, was diese Leute diskutieren, und erkenne eine hohe Kompetenz«, sagt er. Ein Obdachloser habe sich als Arzt zu erkennen gegeben, ein anderer als Jurastudent kurz vor dem Staatsexamen. Auch Schwester Maria Canisi-Kurz, die in der Stadtmission Beziehungsberatung anbietet, kennt das Phänomen. »In der Notaufnahme bin ich auch schon einem Jesuitenpater begegnet.«
Erst kamen junge Ostdeutsche, dann Künstler, nun Hochschulabsolventen
Unweit des Philosophen Ruder hat beim Essen in der Bahnhofsmission ein Mann von beachtlicher Körperfülle mit langen Haaren und wildem Bart Platz genommen. Er trägt ein schwarzes Netzhemd und sieht erschöpft aus. Immer wieder wird sein Körper von heftigem Husten geschüttelt, während seine Arme hilflos rudern. Über Ursachen und Umstände seines gegenwärtigen Lebensstils spricht er nicht. Umso mehr kann er sich für das Thema der chemischen Zusammensetzung von Genussmitteln begeistern. Der Mann, stellt sich im Gespräch heraus, hat Pharmazie studiert. Kann man als Akademiker nicht leichter einen Weg in Arbeit und Lohn zurückfinden? »Die Chefs haben doch nur Angst vor intelligenter Konkurrenz!«, antwortet er. Dann meint er: »Also, zu meiner Person möchte ich anmerken, ich bin nicht der Mann unter der Brücke, falls Sie verstehen, was ich meine.«
»Es kommt immer in Wellen«, sagt der Leiter der Stadtmission, Pfarrer Hans-Georg Filker. Nach der Wende seien es junge Leute aus dem Osten gewesen, die mit dem ungewohnten Mangel an staatlicher Fürsorge nicht klarkamen. Später, als in der Kultur der Rotstift regierte, stürzten die Künstler ab. Und nun die Akademiker. In Berlin, schätzt Filker, betrage ihr Anteil unter den Obdachlosen inzwischen an die 20 Prozent.
Ursachen gebe es viele, sagt er, die Streichung der Subventionen im öffentlichen Hauptstadtleben, zerbrechende Familien, die veränderte Lage auf dem Arbeitsmarkt. Dazu kommt das Milieu der Lebenskünstler, die es mit wenig Ehrgeiz und wenig Geld nach Berlin zieht und deren fragile Existenzen auf preiswertem Wohnraum und billigen Secondhand-Läden beruhen. »Die Metropole zieht Menschen mit gehobener Schulbildung an« ,sagt Filker, »deren Lebenstraum lässt sich in dieser Stadt häufig nicht verwirklichen, der Absturz ist programmiert.« Und natürlich gebe es auch in der Mittelschicht unauffällige Trinker, die ein Schicksalsschlag aus der Bahn und auf die Straße werfen könne.
Stefan Schneider, der Straßenfeger-Redakteur, hat noch eine weitere Gruppe ausgemacht: Studenten aus dem außereuropäischen Ausland. »Billigflieger machen die Einreise möglich, und wenn dann die finanzielle Unterstützung durch die Familie abreißt, landen diese Leute bei uns.«
»Mein Wohnungsschlüssel – ich kann das noch gar nicht fassen«
G. ist ein hoch gewachsen, die weißen Haare trägt er kurz geschnitten, die buschigen Augenbrauen sind gepflegt. Die Stadtmission hat ihm eine kleine Wohnung vermittelt, nachdem er wegen Erfrierungen im Krankenhaus behandelt werden musste – dass sich überhaupt jemand um ihn sorgte, rührte den Einsiedler so sehr, dass er das Angebot annahm. Nun fischt G. einen Packen ausländischer Zeitungen aus seiner Umhängetasche – er spricht Italienisch, Spanisch, Englisch und Französisch. Und dann präsentiert er, fast verschämt, seinen größten Schatz. »Mein Wohnungsschlüssel«, sagt er leise. »Ich kann das noch gar nicht so recht fassen.« Anfangs, berichtet er, sei er nachts zweimal aufgestanden und habe sich ins Bad gesetzt. Warum? »Ich dachte, das Bad ist vielleicht weg. Einfach weg. Also habe ich mich reingesetzt.«
29.05.2006 - Sarah Burmester - Fluch oder Freiheit
Fluch oder Freiheit
Eigentlich dürfte es in Deutschland keine Obdachlosigkeit geben. Es gibt sie aber doch.
Wenn Michael (Name geändert) lacht, dann wirkt er wie ein freundlicher, normaler Mittvierziger. Mit einer gepflegten Erscheinung, frisch rasiert, und einem charmanten kleinen Lachen nach den Worten. Bei ihm lauten diese Worte: “Und dann habe ich gekündigt.” Das war, als er bereits zwei
Nervenzusammenbrüche hinter sich hatte.
Heute ist Michael, 44 Jahre, ein freundlicher, frisch rasierter Obdachloser. Wenn er schmunzelt, lachen seine Augen. Er ist kein Penner – oder zumindest keiner, den man ob seiner äußeren Erscheinung oder seines Geruches so nennen würde. Er ist kein Extremfall, er schläft nicht unter Brücken, sondern in einem Obdachlosenheim in Berlin Pankow. Er gehört zu ihnen, den Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund aus dem sozialen Raster herausfallen weil sie nichts dagegen tun konnten oder wollten. Michael mochte seinen Beruf als Erzieher, zumindest anfangs. Doch irgendwann, so sagt er, wurde es anstrengend, diese „privilegierten Kinder zu betreuen, die eigentlich alles hatten und doch bei jedem Pups einen Riesenaufstand machten“. Dann die Zusammenbrüche. Er war in Psychotherapie, ein Jahr lang. Die hat ihm geholfen, war nur zu kurz, sagt er.
Es ging bergab, als seine Tochter auszog. Plötzlich war kein Grund mehr da, ordentlich zu sein, ein geregeltes Leben zu führen. Er ließ alles “sausen”, und tat nur, wozu er Lust hatte. Der Lebens-Mittelpunkt, seine Tochter, war weg, und das Gefühl der Leere hat Michael – erfolgreich – mit Alkohol und Haschisch betäubt. Anfangs genoss er die Freiheit, die er empfand. Nichts mehr tun müssen. Dann: Stillstand. Lähmung. Mehr Drogen. Doch selbst heute noch genießt er seine Freiheit von den üblichen zivilisatorischen Zwängen. Nur im Wohnheim ist seine Freiheit begrenzt, wenn er sich mit den anderen Bewohnern arrangieren muss. So schön es auch sein kann, immer jemanden zum Reden zu haben: Privatsphäre gibt es dort kaum. In den Etagenbetten des Wohnheims stapeln sich die Schicksale – Menschen, die eine oder mehrere falsche Entscheidungen gefällt haben, die sich verschuldet haben, oder die psychisch krank sind und nicht rechtzeitig oder falsch behandelt wurden.
Eigentlich, sagt Stefan Schneider, Vorsitzender des Vereins MOB – Obdachlose machen mobil e.V., eigentlich dürfte es Obdachlosigkeit in Deutschland gar nicht geben. Beratende und materielle Hilfe gebe es, nur erreiche sie die Betroffenen nicht oder nicht rechtzeitig. Stefan Schneider arbeitet seit Jahren mit Obdachlosen. Er weiß, dass Faktoren wie “Müdigkeit und Entmündigung” häufig eine Rolle spielen. Auch gibt es Menschen, die freiwillig in die Obdachlosigkeit gehen, wie der 55jährige Mann, der sich Anti nennt. Er hat mit 20 Jahren absichtlich die Sicherheiten der Zivilisation aufgegeben, ist als Landstreicher umhergezogen und hat ausschließlich bei Kirchen um Brot und Wasser gebeten. Wenn er von seiner Rolle als “Gesellschaftsbeobachter von außen” spricht, klingt er ein bisschen stolz, wie ein gealterter Athlet, der vor Jahrzehnten eine Goldmedaille gewonnen hat. Er ist froh, dass er immer sich selbst treu geblieben ist. Mittlerweile hat er eine Wohnung, und sagt, er habe Glück gehabt.
Nach seinem Kaffee mit Anti geht Michael wieder seiner Wege. In die Freiheit, die ihm so fehlte damals in seiner bürgerlichen Existenz. Die Freiheit, die damals hieß, nichts mehr tun zu müssen, nicht für den Arbeitgeber, nicht fürs Kind, für niemanden. Dabei hat er nur eine Person übersehen – sich selbst.
Sarah Burmester
Dieser Text entstand als Teil einer Bewerbung beim WDR. Die Autorin, in Berlin seit Dezember 2005, hat diesen Text im Mai 2006 zum Thema "Obdachlosigkeit" verfasst.
20./21.05.2006 - Märkische Allgemeine - Andrea Müller: Auf geht's
Olaf Müller verkauft alle vier Wochen in König Wusterhausen die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger"
ANDREA MÜLLER
KÖNIGS WUSTERHAUSEN
Die Tour geht genau nach Fahrplan. 9.30 Uhr ist für Olaf Müller in Königs Wusterhausen Start. "Auf geht's", sagt er. In rund drei Stunden will er hier 47 "Straßenfeger" verkaufen, die Zeitung der Obdachlosen. Dann geht sein Zug zurück nach Berlin. Von dort fährt er mit der S-Bahn wieder nach Hause nach Hohen Neuendorf bei Oranienburg.
Der Verkauf des "Straßenfegers" ist Olaf Müllers Arbeit. Jeden Tag - außer an den Wochenenden - macht er sich auf den Weg. Mal führt ihn sein Weg weiter weg, mal muss er nur ein paar Minuten fahren. Die weitesten Touren führen ihn bis nach Weißwasser und Bad Muskau. "Da geht es früh um viere los und abends um elfe bin ich wieder zu Hause", sagt der 53-Jährige. Früher, aber das ist inzwischen über zehn Jahre her, war er Braumeister. Erst verlor Olaf Müller, der in Wildau geboren ist und in Königs Wusterhausen aufwuchs, seine Arbeit, dann konnte er die Miete nicht mehr bezahlen. "Da fliegste gleich aus der Wohnung raus", sagt Müller. Zuschüsse habe es damals gleich nach der Wende noch nicht gegeben. So landete der Braumeister, der sein Leben lang immer genauestens seine Aufgaben erfüllte, in einem Bauwagen. "Aber jetzt habe ich wieder eine Wohnung", ist er zufrieden.Die Miete dafür muss der Hartz-IV-Empfänger nicht bezahlen. Zu dem Geld darf er 160 Euro im Monat dazu verdienen. "Das sind genau 80 Euro pro Ausgabe des 'Straßenfegers'", erklärt Olaf Müller. Er selbst kauft 500 Zeitungen. Pro Zehnerpackung bekommt er eine gratis dazu. Die kann er dann verkaufen. 1,20 Euro kostet das Exemplar in Brandenburg. In den Außenbereichen nimmt er 1,30 Euro. Für Stammkunden, die Olaf Müller "Abonnenten" nennt, hat er aber ein besonderes Angebot. "Fünf Stück für zwei Euro", sagt er. Die MAZ in der Königs-Wusterhausener Bahnhofstraße gehört dazu.
Königs Wusterhausen hat der Zeitungsverkäufer in zwei Touren aufgeteilt. Eine - so auch die von gestern - führt über die Bahnhofstraße, dann zur Sabelus-Apotheke, von dort zum Kirchplatz, um die Ecke zu den Bestattungshäusern Kernbach und Rauf, Versicherungsvertretungen, der Volkssolidarität-Bürgerhilfe und schließlich hinaus zur Volkshochschule und der Landkreisverwaltung im Schulweg.
"Sie schon wieder", hört Olaf Müller am Berliner Berg. Eine Zeitung wird er aber trotzdem los. "Mehr können wir nicht nehmen, sonst landen wir noch da, wo Sie sind", erklärt sich der Abnehmer. Olaf Müller reagiert nicht weiter auf solche Sätze. Er ist sie gewöhnt. "Ich bin froh, wenn die Leute überhaupt welche abnehmen", sagt er. 50 Prozent von denen, die er bei einer Tour aufsucht seien "Wackelkandidaten". Mal nehmen sie Zeitungen ab, mal nicht. Eine, die immer eine kauft, ist Liane Schloddarick bei Digital Druck in der Bahnhofstraße. Auch andere haben die 1,20 Euro schon bereit liegen, um sie Olaf Müller in die Hand zu drücken, wenn er kommt. Auf Körbe antwortet er mit einem freundlichen "Bye, bye und grüß die Heimat..." Er muss es gestern sehr oft sagen. Selbst da, wo er sonst mehr Glück hat, sieht es dünne aus. In der Landkreisverwaltung wird er gerade zwei "Straßenfeger" los. In der VHS geht er ganz leer aus. Bevor er bei der Volkssolidarität klingelt spricht Olaf Müller von den "Fünf Richtigen", die gleich kommen. Leider ist die Chefin nicht im Hause, so dass beinahe aus dem "Lottogewinn" ein großer Reinfall geworden wäre. In der Konsum-Fleischerei am Schlossplatz verkauft Olaf Müller auch eine Zeitung und wechselt die bisher verdienten Euros in Scheine. "Wir freuen uns doch über das Kleingeld", meint Fleischerin Erika Jopp.
Inzwischen ist es 12.30 Uhr. Die Füße von Olaf Müller sind müde. Jeder Schritt fällt ihm schwer. Und wie oft musste er an diesem Vormittag schon umsonst Treppen hinauf steigen. Im "Schleusenstübchen" freut er sich auf eine Verschnaufpause. Zum Schluss ist noch das Fontane-Center dran, seine Außenstelle. Fünf Stück wird er hier immer los. Dann ist Pumpe. Alle Zeitungen sind verkauft.