Willy King, Aktenzeichen K18/07/41
Ein Obdachloser erfror in Berlin-Mitte. Seit Wochen versuchen Freunde zu erfahren, wie er starb und wo er beerdigt ist - sein Grab haben sie gefunden
BERLIN, im April. Willy King wurde begraben, wie er gestorben ist - allein und unbemerkt. In der Statistik wird er geführt als der dritte "Kältetote" des vergangenen Winters in Berlin. Willy King erfror vor dem Eingang zum Bahnhof Friedrichstraße mitten im Zentrum der Stadt. Ob jemand dem Todkranken in jener Nacht die Hilfe verweigerte, konnten Polizei und Staatsanwaltschaft nicht mehr klären. Das Sozialamt bezahlte seine Einäscherung und sorgte dafür, dass keiner seiner Freunde von der Beisetzung erfuhr. Willy King wurde im März auf einem anonymen Urnenfeld am Rande der Stadt bestattet - "normaler Auftrag ohne Trauerfeier", die kostengünstigste Variante.
Eine "unbekannte Passantin", vermerkt das Polizeiprotokoll, fand den erfrorenen Mann in den frühen Morgenstunden des 24. Januar auf der Treppe zur U-Bahn, direkt neben dem Bahnhof Friedrichstraße. In der Nacht war das Thermometer auf zehn Grad unter null gesunken. Die Frau benachrichtigte den Wachschutz. Der alarmierte Polizei und Rettungswagen. Der Tote wurde in die Gerichtsmedizin gebracht.
Er hatte einen Verkäuferausweis der Initiative "mob - Obdachlose machen mobil" in der Tasche, der ihn berechtigte, die "strassenzeitung" auf den Bahnhöfen der Stadt zu vertreiben. Die letzte Nummer, die Willy King noch in der Nacht, in der er erfror, verkaufte, trug den Titel "Schöner frieren".
Keine Auskunft für die Freunde
Die Pathologen stellten eine schwere Lungenentzündung fest, die der geschwächte, fiebernde Mann im Freien nicht hatte überleben können. Damit war das Todesermittlungsverfahren der Polizei abgeschlossen, der Fall für die Behörden erledigt. Der Rest war Routine: Das Sozialamt Tempelhof wurde für zuständig erklärt, das alle nicht aktenkundigen Sozialfälle mit Geburtsdaten zwischen dem 10. und 26. Juli bearbeitet.
Unter dem Aktenzeichen K18/07/41 ist dort mit der Rechnung des beauftragten Bestatters das Ende der Existenz des Wilhelm König, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, dokumentiert. Sein Leben passt auf ein paar Formblätter zwischen einen Aktendeckel. Willy King wurde 58 Jahre alt. Verwandte, denen man die Bestattungskosten hätte in Rechnung stellen können, ließen sich nicht finden.
Willy Kings Familie waren die Mitglieder der Obdachloseninitiative "mob". Sie liefen nach seinem Tod Polizeidienststellen und Sozialämter ab, um etwas über die Todesumstände ihres Zeitungsverkäufers zu erfahren und Auskunft über Ort und Tag der Beisetzung zu erfahren. Doch die Behörden wiesen ihr Anliegen mit einem einzigen Satz immer wieder zurück: Sie sind mit dem Verstorbenen nicht verwandt. Auskünfte erteilen wir nur nahen Angehörigen. Dabei hatte sich die Polizei am 24. Januar, als man Willy King fand, zuerst an Gerald Denkler gewandt, den Vorsitzenden der Initiative. Er sollte die Personalien des Verstorbenen bestätigen, baten ihn die Beamten.
"Plötzlich aber sollte uns Willy nichts mehr angehen. Wir fühlten uns ohnmächtig", sagt Karsten Krampitz, Redakteur der "strassenzeitung". Willy Kings Freunde begannen, eigene Nachforschungen anzustellen über die Todesumstände, Kings letzten Lebenstag und den Verbleib der Leiche.
Willys Begleiter Toni berichtete ihnen, wie er zusammen mit Willy an jenem eiskalten Januarsonntag unterwegs war. Am Abend hatten sie versucht, am Brandenburger Tor und Unter den Linden ihre Zeitungen zu verkaufen. Willy hatte sich am Vertriebsbus der Initiative in der Jebensstraße nahe dem Bahnhof Zoo am Nachmittag noch einige Zeitungsexemplare abgeholt. Er verkaufte die "strassenzeitung" meist vor dem "Forum Steglitz" in der Schlossstraße. Davon lebte er, King bekam keine Sozialhilfe. Und darauf, sagt Gerald Denkler von der Obdachloseninitiative, war Willy King sehr stolz.
"Willy ging es nicht gut an diesem Sonntag", sagt Karsten Krampitz, der am 24. Januar im Verkaufsbus saß. "Er sah fiebrig aus, krank, schien ein bisschen verwirrt, war irgendwie durch den Wind". Im Nachhinein, sagt Krampitz, "mache ich mir Vorwürfe, dass wir ihn so haben gehen lassen."
Toni und Willy, die beiden Zeitungsverkäufer, wurden noch ein paar Exemplare los an jenem Abend, und Willy lief mit ein paar Mark in der Tasche in Richtung Bahnhof Friedrichstraße. Er wollte sich, sagt Toni, eine Buttermilch kaufen. Er fühlte sich krank, schlug die Einladung auf eine Dose Bier aus. Er trank immer Buttermilch, wenn er krank war, sagt Karsten.
Willys Freunde vermuten, dass Willy, der stets auf Bahnhöfen übernachtete, von den Wachleuten des Bahnhofs Friedrichstraße vertrieben wurde und zu schwach war, um sich noch einen anderen Schlafplatz zu suchen. Sie meinen, die Beamten hätten angesichts Willys Gesundheitszustandes einen Notarzt, zumindest aber den "Kältebus" der Stadtmission rufen müssen, der jede Nacht Obdachlose in Notunterkünfte fährt. Gerald Denkler und Karsten Krampitz erstatteten Strafanzeige gegen Unbekannt wegen unterlassener Hilfeleistung.
Eine "tragische Geschichte" nennt Bahnsprecher Achim Stauß den Tod Willy Kings. Dann sagt er, dass der Tote "in einem Bereich gefunden wurde, der nicht zur Bahn gehört" - nämlich wenige Meter neben den Bahnhofseingang. Die Deutsche Bahn gehe davon aus, sagt Stauß, dass der Obdachlose den Bahnhof "von sich aus verlassen hat". Zwar gebe es im Dienstbuch des zuständigen Wachdienstes, der Bahnschutzgesellschaft (BGS), einen Eintrag, dass "eine Person, die sich vor den Schließfächern zum Schlafen niederlegen wollte, zwischen 2.30 Uhr und 2.40 Uhr des Bahnhofs verwiesen wurde", räumt Stauß ein. Aber in der Erinnerung der Wachmänner sei jener Mann "deutlich jünger gewesen" und also "nicht identisch" mit dem Toten. Die Personalien des Mannes, den man wegschickte, seien nicht dokumentiert worden.
Die Entscheidung der Wachleute
Der Umgang mit Obdachlosen auf den Bahnhöfen sei immer eine Gratwanderung, sagt einer der Wachleute. Eigentlich gelte Toleranz, sagt die Sicherheitsbeauftragte der Deutschen Bahn, Ellen Karau. Die Obdachlosen seien ein "ausgeprägtes menschliches und soziales Problem" und deshalb dürften sie sich, besonders im Winter, auf den Bahnhöfen aufhalten, "so lange sie sich unauffällig verhalten". Wer aber "zu einer Belästigung der Fahrgäste" werde oder die Bahnhofsordnung störe, werde des Bahnhofs verwiesen. Die Wachmänner entscheiden.
Mancher empfinde allein "den gewissen Eigengeruch, den Obdachlose so haben", als störend, sagt Frau Karau, für einen anderen sei erst bei "Betteln, Pöbeln oder Trinken" die Schmerzgrenze erreicht. Der Wachmann sagt, dass sich Fahrgäste allein vom Anblick Obdachloser belästigt fühlten.
Die Wohnungslosen werfen den Wachdiensten vor, weniger der Sicherheit auf den Bahnhöfen als einem besonderen Verständnis von "Sauberkeit" zu dienen, das "sichtbare Armut lediglich als ästhetisches Problem betrachtet", wie es Karsten Krampitz von der "strassenzeitung" erklärt.
Was in jener Nacht, in der Willy King starb, wirklich geschah, kann niemand mehr eindeutig beantworten. Das Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung wurde eingestellt, weil "der Beweis, dass Personen die hilflose Lage des Obdachlosen erkannt haben, nicht erbracht werden konnte", formuliert ein Polizeisprecher. Wie viele Passanten an jenem Abend den hilflosen Mann sahen und wegschauten, weiß ohnehin niemand.
Am 10. Februar, nachdem Willy Kings Freunde wochenlang erfolglos versucht hatten, bei den Behörden etwas über die Todesumstände und einen Bestattungstermin in Erfahrung zu bringen, organisierten die Mitglieder von "mob e.V." auf dem Bahnhof Friedrichstraße eine Protestveranstaltung. Etwa 50 Menschen kamen zu der "öffentlichen Trauerfeier" für Willy King, umringt von beinahe ebenso vielen Beamten von Polizei und Wachschutz. Die Liedermacherin Bettina Wegner sang einen traurigen Song, Pfarrer Frank Grützmann aus der nahen Sophiengemeinde hielt eine kurze Andacht. Zwei Stunden später waren das Transparent und die Blumensträuße, die die Trauergemeinde zurückgelassen hatte, bereits abgeräumt.
Die Obachlosen wussten nicht nicht, dass die Leiche Willy Kings längst freigegeben und ein Bestattungsunternehmen in Berlin-Friedrichshagen beauftragt worden war - vom Sozialamt Tempelhof, bei dem die Freunde Kings unter anderem nachgefragt hatten.
"Wir geben generell keine Auskünfte über Sozialleistungsempfänger", sagt die Amtsleiterin Brigitte Weidner. "Diese Daten sind geschützt." Die Regelung sei auch im Interesse des Toten, sagt sie, "es könnte dem Verstorbenen ja durchaus unangenehm sein, wenn andere erfahren, dass er auf Sozialamtskosten bestattet wird". Wenn der Wunsch des Toten nach einer Beisetzung etwa mit Trauerfeier, Musik und Redner "erkennbar gewesen wäre", sagt Frau Weidner, hätte man das berücksichtigt und auch bezahlt. Aber leider habe man in der Hosentasche des Toten "kein Testament gefunden, in dem stand: Ich möchte im Beisein meiner Kumpel aus dem Obdachlosenheim beigesetzt werden".
Der Hinweis einer Beamtin
Als die Bestattungsfirma Feige in Friedrichshagen den Auftrag zur anonymen Urnenbestattung im Rahmen des gesetzlichen Sterbegeldes von 2 100 Mark erhielt, setzte Mitarbeiterin Sieglinde Adam sich ans Telefon und versuchte, Bekannte des Verstorbenen ausfindig zu machen. "Ein Mensch sollte nicht so ohne jede Anteilnahme unter die Erde gebracht werden", sagt sie. Doch wo beginnen in der Berliner Szene? Auch die Obdachlosen-Ärztin Jenny de la Torre konnte ihr nicht weiterhelfen. Schließlich wurde Willy King an einem Märzmorgen auf dem evangelischen Friedhof in Rahnsdorf beigesetzt. Sieglinde Adam fotografierte die Urne mit dem bunten Blumenschmuck, den sie für Willy King ausgewählt hatte.
Eine Woche lang war Willy Kings Beisetzung sogar namentlich im Schaukasten der Kirchengemeinde in Rahnsdorf angekündigt worden - in der Hoffnung, dass sich Bekannte fänden. "Es ist so traurig, wenn bei einer Bestattung kein Wort gesprochen wird und kein Mensch der Urne folgt", sagt Friedhofsverwalterin Christina Neuse. Aber leider kam zufällig niemand von Willy Kings Bekannten in dieser Woche in dem Dorf am Stadtrand vorbei.
Und wahrscheinlich hätten Willys Bekannte niemals erfahren, wo er begraben wurde, hätte nicht doch noch eine Mitarbeiterin einer Behörde einfach menschlich gehandelt und ihnen eine Auskunft gegeben. Jetzt, Wochen nach Willy Kings Tod, wissen sie endlich, wo sie sein Grab finden können. Im Friedhofsbuch ist sein Name eingetragen, in der Spalte, die dem 30 mal 30 Zentimeter großen Rasenstück für seine Urne zugeordnet ist: sie liegt in Reihe vier, Grab neun auf dem Feld für anonyme Bestattungen.
Willy Kings Freunde liefen Polizeidienststellen und Sozialämter ab, um zu erfahren, was geschehen war. Sie wurden überall abgewiesen.
Quelle: Berliner Zeitung, 14.04.2000, Blickpunkt, Seite 3
WAS MACHT EIGENTLICH ... die Obdachlosenzeitschrift "Motz?"
Mit Plakaten motzen
Das Motzen lieben die Berliner. Zieht man als zivilisierte Hamburgerin nach Berlin und will sich freundlich den neuen Nachbarn vorstellen, bellt die Frau von oben drüber: "Wenn ihr Party macht, fliegt ihr raus." Und auch der Urberliner aus dem Vorderhaus lässt sich nicht lumpen: "Wat, Erdjeschoss und Hinterhaus. Ick jeb euch ein Jahr, denn seid ihr depressiv!" Ja, herzlich willkommen!
Selbst die hiesige Obdachlosenzeitung ist nach der Lieblingsbeschäftigung der Hauptstädter benannt: Motz. Und Motz motzt. Heute ab 12 Uhr spielen die Motzis am Gendarmenmarkt Guerilla. Nein, keine Angst: Papier statt Waffen! Kommerzielle Plakatwände werden mit Suppenschüssel, Betten und Mänteln überklebt. Die sind aus Motz-Zeitungsseiten ausgeschnitten und sollen Berlinern zeigen, was Obdachlose brauchen. Ein Plakatwagen stoppt überall dort, wo der Berliner gewöhnlich nicht von den Heimatlosen gestört werden will: vor dem Reichstag, dem Brandenburger Tor und den Weihnachtsmärkten.
Sosehr die Berliner das Motzen lieben und laut einer US-amerikanischen Studie 5 Prozent ihrer Zeit damit verbringen, so knauserig sind sie bei den 40 Cent für das Obdachlosenheft. 1995 euphorisch mit 20.000 Exemplaren gestartet, werden die Straßenverkäufer jetzt gerade mal die Hälfte davon los.
Mit ihrer Aktion sucht die Motz nicht nur Käufer, auch Schreiberlinge werden gebraucht. Also los, Berliner: Auch schreibend kann man motzen! Bei den Nachbarn der Neuberlinerin liegt der Aufruf schon im Briefkasten.
KAF FOTO: MOTZ
»Auch Scheitern will gelernt sein«
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Karsten Krampitz über Obdachlosigkeit, Weihnachten und die soziale Lage in der Stadt
ND: Herr Krampitz, wie sind Sie als Schriftsteller und Journalist in die Berliner Obdachlosenszene geraten?
Karsten Krampitz: Als das grün-ökologische Netzwerk Arche in der Treptower Bekenntniskirche das Zeitliche segnete. Am Leben geblieben ist allein die Projektgruppe Obdachlosigkeit.
Das war vor 1990?
Nein, ’91 war das. Das alte Netzwerk war damals schon hirntot. Zu den Treffen kamen nur noch die, die nicht bei den Grünen oder der Grünen Liga untergekommen waren. Und ein paar Jüngere, die sich von den Veteranen immer die Frage gefallen lassen mussten: Wo seid ihr ’89 gewesen? Heute würde ich die Frage gerne an die Herrschaften zurückgeben, die Stasi-Akten sind ja inzwischen bekannt. Jedenfalls haben wir damals unser eigenes Projekt gegründet. Das Netzwerk Arche war so etwas wie der Organspender. Wir waren alle sehr erschrocken über diese neue Armut, und irgendwie lag unsere Idee auf der ursprünglichen Arche-Linie, den Menschen zu helfen, die die DDR verlassen wollten. Da war es nur recht und billig, im wiedervereinten Deutschland denen zu helfen, die im Westen nicht Fuß fassen konnten.
Was habt ihr gemacht?
Wir haben eine Wärmestube für Obdachlose aufgemacht – womit wir dann richtig auf die Schnauze gefallen sind.
Wieso das?
Sozialschwache sind per se keine besseren Menschen. Der erste Sprecher unserer Projektgruppe war ein Obdachloser, der dann mit über 1000 Mark durchgebrannt ist.
Die Leute haben das Projekt missbraucht?
Nein, sie haben unsere Dummheit nur ausgenutzt. Wir haben unser Lehrgeld gezahlt.
Trotzdem gibt es immer noch das Nachtcafé »Landowsky«, die ehemalige »Arche«. Heute ist Weihnachten, was heißt das für Wohnungslose?
Die Ursachen der Obdachlosigkeit haben hierzulande eine sehr starke seelische Komponente. Oft genug sind Ehen zerstört und Karrieren gescheitert, der Suff tut dann das Übrige. Auch Scheitern will gelernt sein. Menschen, die bei uns auf der Straße leben, haben ihr Zuhause verloren, nicht nur ihre Wohnung. Zuhause heißt Familie. Von den Gästen im »Landowsky« hat jeder seine Steine am Hals, jeder seine eigene Tragödie erlebt und sich dabei oftmals nicht mit Ruhm bekleckert. Und Weihnachten ist ein Fest der Familie. Für viele ist Familie eben nur eine Erinnerung, und zwar keine schöne. Weihnachten steht für Depression.
Fangen die karitativen Angebote, ich denke da etwa an das Essen, das Frank Zander jedes Jahr schmeißt, diesen Missstand nicht ein bisschen auf?
Das ist okay, wenn die Leute sich bei dem Festessen im Estrel amüsieren. Ich mache aber Unterschiede: Bei Zander ist das eine korrekte Sache. Der blutet jedes Jahr mit so viel Geld, was er zubuttert, und niemand kauft eine CD mehr von ihm. Der freut sich, der begrüßt jeden mit Handschlag und muss dann auch noch singen. Was anderes ist es, wenn Obdachlose als Werbeträger für ...
... die Not missbraucht werden?
Sagen wir benutzt. Bei der Stadtmission habe ich diesen Eindruck: An den Zuständen wird nichts geändert – den Anspruch haben die auch gar nicht. Sie missionieren unter Obdachlosen und können eben in der Öffentlichkeit zeigen, was für gute Menschen sie doch sind im Auftrage des Herrn. Aber die würden den Teufel tun, irgendwelche politischen Forderungen zu stellen. Die Kirche muss sich einmischen, wie zu DDR-Zeiten.
Ist nicht die gesamte Gesellschaft gegenüber Obdachlosen abgestumpft?
Es ist wie mit der Arbeitslosigkeit. Die Gesellschaft der Bundesrepublik hat sich genauso an einen Sockel Obdachlosigkeit gewöhnt. Die Leute denken, so wie es immer Arbeitslose geben wird, wird es auch immer Obdachlose geben. Es gibt eine Übersättigung, für die man auch die Schuld in den eigenen Reihen suchen muss.
Was für eine Schuld?
In den 90er Jahren, als es noch eine bestimmte Sensibilität für dieses Thema gab, hätten die Obdachlosenzeitungen dazu beitragen können, dass ein gesellschaftlicher Diskurs in Gang gesetzt wird: Warum werden Menschen obdachlos? So etwas muss normalerweise nicht passieren. Stattdessen wurde nur auf die Betroffenheitsschiene gesetzt, als wären bei uns Obdachlose vom Hungertod bedroht. Man kann es doch nicht mehr ertragen...
Aber Sie waren doch selbst jahrelang Redakteur bei diversen Straßenzeitungen.
Nee, nee, ich habe versucht, etwas anderes zu machen. Eine traurige Wahrheit noch trauriger zu verkünden, und das bis zum Erbrechen, ist keine Kunst. Die Straßenzeitungen – aber das glaubt mir heute keiner mehr – waren ursprünglich als emanzipatorische und politische Projekte gedacht. Das Gegenteil ist eingetreten: Letzten Endes sind es Drückerkolonnen, so funktionieren die. Es gibt keine innerbetriebliche Demokratie, keine Transparenz. Jeder Arbeiter bei Siemens hat mehr demokratische Rechte als ein Verkäufer beim »Straßenfeger« oder bei der »Motz«.
Sie meinen, die Leute sollten in der U-Bahn, auf den Plätzen und vor den Supermärkten keine Zeitungen mehr kaufen, weil sie damit Drückerkolonnen finanzieren?
Die Verkäufer sind arme Kerle – aber sie sind auch Subunternehmer, da sie die Zeitungen vorher selber kaufen müssen. Besser man gibt ihnen das Geld so. In den Zeitungen steht ohnehin selten was Neues.
Was wäre denn früher die Alternative gewesen, um die Menschen dauerhaft für das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu sensibilisieren?
Wir haben Ende der 90er probiert, fantasievolle Aktionen zu machen – das Adlon zu besetzen oder gegen die Vertreibung aus der Stadtmitte zu protestieren. Ich erinnere auch an die Bettelakademie, wo wir Betteldiplome für Politiker und Journalisten ausgestellt haben. Das war nicht nur lustig, sondern half auch, die Leute zu erreichen. Wenn du die Gedanken veränderst, veränderst du die Welt.
Die Welt ist klein. In der Stadt leben auch immer mehr Obdachlose aus Osteuropa.
Ich habe ein Problem mit solchen Gegenüberstellungen. Es gibt Obdachlose mit deutschem Pass, die können nicht ein Wort Deutsch sprechen, etwa Russlanddeutsche. Dann gibt es welche, die können perfekt Deutsch sprechen und sind aus Polen. Auf jeden Fall suchen immer mehr Menschen aus Osteuropa die Notübernachtungen in Berlin auf. Oft genug kommt es zu Schlägereien mit den Einheimischen. Auf diesen Konflikt müssen wir reagieren, allein schon, weil das erst der Anfang ist.
2008 steht vor der Tür. Was wäre Ihrer Meinung nach erforderlich, damit die Nöte der 10 000 Wohnungslosen ernsthaft angepackt werden könnten?
Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn die Zahl der Wohnungslosen steigt. Die Wohnungslosen sind die Menschen, die bei den Sozialämtern gemeldet sind, zu deren Unterbringung die Kommune verpflichtet ist. Wir im »Landowsky« kümmern uns dagegen um die Obdachlosen, also um jene, die auf der Straße leben, die nicht registriert sind. Die Politik sollte sich fragen, warum holen die armen Schweine ihre Stütze nicht ab? Warum wollen die in kein Wohnheim oder in keine betreute Wohngemeinschaft? Offenbar gibt es für die Betroffenen zu viele Barrieren.
Was denn für Hindernisse, kann nicht jeder einfach aufs Amt gehen?
Es müsste in den Sozialämtern eine Extra-Anlaufstelle, einen speziellen Sachbearbeiter für Obdachlose geben, mit dem Ziel, diese in das soziale Netz zurückzubringen. Jemand, der drei Jahre Platte gemacht hat, der so lange in der S-Bahn schwarzgefahren ist, dass er ein halbes Jahr in den Knast muss, der körperlich und seelisch am Ende ist, auf diesen Menschen muss man anders eingehen als etwa auf eine alleinstehende Mutter oder einen verarmten Rentner.
Kommt Klaus-Rüdiger Landowsky, der Namensgeber Ihres Nachtcafés, Sie hin und wieder mal besuchen?
Er ist uns immer willkommen. Aber der liebe Gott geht ja auch nicht in die Kirche.
Interview: Martin Kröger
25.05.2007 - Tagesspiegel - Thomas Loy: Miriam Mittler, geb. 1977 "Ich geh' mir jetzt eine Schwalbe kaufen"
Bin kein hartnäckiger Wadenbeißer / bin kein Freischwimmer, ich bin Bademeister. / Ja, schau mir das Geschehen vom Beckenrand an / bis ich, sagen wir mal, zu checken anfang …
Das ist das Lied „Endlich Nichtschwimmer“ vom Hiphopper „Dendemann“. Andere Lieder von ihm: „Kommt Zeit dreht Rad“, „Saldo Mortale“. Verqueres Gedankengut, schön verreimt, aberwitzig. Zum Dendemann-Konzert nach Frankfurt wollten sie fahren. Miriam war Fan, also war Alex es auch. Miriam sagte, in welche Bar sie gingen, zu welchem Konzert. Alex ging mit, weil er Miriam liebte.
An einem sonnigen Nachmittag küssten sie sich im Garten auf dem Hinterhof ihres Hauses. Miriam las nebenher Kleinanzeigen und beendete das Liebesspiel: „Ich geh’ mir jetzt eine Schwalbe kaufen.“ Sie brauchte immer mal wieder eine Schwalbe, weil die DDR-Roller so gerne geklaut werden in Prenzlauer Berg. Eine entwendete angeblich ihr Ex-Freund, nachdem er mit ihrer besten Freundin durchgebrannt war. Wochenlang haben sie den Roller gesucht.
Zu ihrem 30. Geburtstag wollte Alex ihr eine neue Schwalbe schenken. Eine alte natürlich. So alt wie Miriam sollte sie sein, Baujahr 1977.
Fiel alles aus. Das mit der Schwalbe. Das Dendemann-Konzert. Das gemeinsame Kinderkriegen und Altwerden. Miriam brach neben ihm zusammen, im Schuhladen, wo sie ein paar Tage in der Woche arbeitete.
Alex zeigt das Ladentagebuch. Da steht drin, welcher Kunde noch nicht bezahlt hat, wer was geliehen hat und wie viel Pfand er bekommt, sollte er es je zurückbringen. Verkauft werden Second-Hand-Schuhe und -Kleider. Als Miriam anfing im Laden, toppte sie gleich den Tagesumsatzrekord. Sie konnte Leuten, die nur mal gucken wollten, die Kaufhemmung wegzaubern. Ihre Waffe war ihr Lachen. Das ist auf einem Foto zu sehen, das Alex zwischen die Kleider gehängt hat. Miriam im Auto in Spanien, mit Kopftuch und klobiger Brille für Weitsichtige, die sie am Strand gefunden hatte.
Sie liebte es, die Ordnung der Welt zu verrücken, gewichtigen Dingen ihren Ernst zu nehmen. Ein wenig scheute sie wohl auch vor der Last, einmal das zu werden, was sie sich insgeheim wünschte: Mutter von Kindern in einem Haus mit Garten. Alex war überrascht, als sie ihm den Wunsch gestand.
Weil sie der besten Freundin, mit der ihr Ex durchgebrannt war, aus Rache ein Morgenpost- Abo untergeschoben hatte, musste Miriam gemeinnützige Arbeit leisten, bei „Mob e.V.“, dem Zentrum für Obdachlose. Sie fing in der Küche an, wechselte aber bald in die Redaktion des hauseigenen Radiosenders und der Zeitschrift „Straßenfeger“. In einem Text über Novalis schrieb sie:
Die Helden meiner hoffentlich noch anhaltenden Jugend starben alle viel zu früh: Zuerst hing da Sid Vicious an der Wand. Den tauschte ich in der Hippiephase mit Jim Morisson aus, der seinen 30. Geburtstag auch nie gefeiert hat. Um etwas positiver zu werden, habe ich mir mit fünfzehn Jahren dann Kurt Cobain an die Wand gepinnt. Oder vielmehr Kurt Kokain … Dass er auch so früh sterben würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht wissen.
Dass Leben und Sterben zusammengehören, wusste Miriam wahrscheinlich besser als ihre Plakathelden. Mit 26 bekam sie ihren ersten Herzinfarkt. Es dauerte lange, bis sie ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Ärzte rätselten, untersuchten, fanden Reste eines Blutgerinsels und rätselten weiter. Miriam fing an mit Yoga, ernährte sich gesund und beschloss, sich nicht mehr aufzuregen, aber das gelang ihr nicht so gut.
Sie konnte sich maßlos über die BVG-Kontrolleure ärgern. Die meckerten rum, weil auf ihrem Arbeitslosenticket ein Foto fehlte. Sie schimpfte auf die Leute vom bankrotten Goya-Club, die ihr Kellnerhonorar schuldeten. Sie konnte ausrasten, sagt Alex. Auch er bekam das zu spüren. Ihre Gefühle platzten hinaus, die positiven wie die negativen.
Sie hat mal studiert, sagt Alex. Was, weiß er nicht. Er hat nie danach gefragt. Aufgewachsen sei sie in Rodgau bei Frankfurt, als Nesthäkchen mit zwei älteren Schwestern. Ihr Vater wollte ihr helfen, sich zu etablieren, mit festem Job und einer Eigentumswohnung. Aber Miriam konnte sich zu nichts entschließen. Sie blieb in ihrer Hinterhofbehausung. Eine gut bezahlte Arbeit in einer Computerfirma ließ sie sausen.
Fünf Tage lang lag sie im Koma, dann wurde Miriam 30 Jahre alt. An ihrem Geburtstag ließen die Ärzte sie in Ruhe. Keine Untersuchungen. Zwei Tage später haben sie die Maschinen abgeschaltet. Thomas Loy
aus: Tagesspiegel, 25.05.2007, Nachrufe
http://www.tagesspiegel.de/nachrufe/archiv/25.05.2007/3285162.asp