01.01.2001 - VorOrt - Hartmut Seefeld: Ein Dach über den Kopf (die Anfänge)
Von Hartmut Seefeld (aus: VorORT JAN 2001)
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Ein Dach über den Kopf In Selbsthilfe wollen Obdachlose ihr künftiges Zuhause sanieren
Laut und wichtig klappert Stefan Schneider mit Schlüsseln und Schlössern. Endlich hat der Vorsitzende des Obdachlosenvereins mob e.V., in Berlin vor allem wegen der Herausgabe des Magazins "Straßenzeitung" bekannt, auch die letzte knarzende Tür ins künftige Paradies geöffnet. Doch die Einblicke in das Hinterhaus der Oderberger Straße 12 sind zurzeit wenig anheimelnd. Schuttberge aus zersägten Dielen und abgerissenen Öfen, vermischt mit ausrangierten Büromöbeln und längst zerfledderten Inventar- und Einkaufslisten aus DDR-Zeiten, machen es schwierig, die Räume zu betreten. Schneider ist trotzdem stolz auf den umbauten Müllhaufen. "In drei Jahren sind das hier Wohnungen für Obdachlose", behauptet er, und wie er dabei so durch seine Brille blinzelt, spürt man: der meint das ernst.
Soziale Adern
"Wir bekommen immer mal wieder irgendwelche, in der Regel verlotterte und schwer verwertbare Immobilien angeboten, so nach dem Motto: für'n Obdachlosenprojekt ist der abgewrackte Rinderstall noch gut genug", erzählt Schneider, und man merkt, dass ihm solche Termine zuwider sind. Doch das Rendezvous mit einer gutsituierten Dame aus Spandau vor zwei Jahren ließ ihn innerlich jubeln. Ihr gehört die Oderberger Straße 12, und in Kenntnis eines Obdachlosenprojekts für selbstbestimmtes Wohnen im Odenwald nahm sie Kontakt zum Berliner mob e.V. auf, um auszuloten, ob hier Ähnliches möglich sei. Der 1994 gegründete Verein hat 24 eingetragene Mitglieder, zählt aber durch die drei Projekte "Straßenzeitung", Notübernachtung (in der Schliemannstraße 18) und Trödelmarkt rund 120 Aktivisten zu seinem näheren Umfeld. Die mob-Leute machten aus ihrer Begeisterung über das Angebot kein Hehl und gingen das Projekt sehr engagiert an.
Gute Nachbarschaft
Die Oderberger 12 besteht aus zwei Gebäuden: einem bewohnten Vorderhaus mit neun Wohnungen und einem Hinterhaus, das zu DDR-Zeiten Büros beherbergte, seit der Wende jedoch leer steht. Die mob-Pläne bestehen nun darin, beide Gebäude innerhalb von zwei Jahren zu sanieren und dabei im Hinterhaus acht Wohnungen für Obdachlose auszubauen. Eine weitere Wohnung ist im Dachgeschoss des Vorderhauses vorgesehen. Die angestammten Mieter sollen mit Hilfe des Bezirks für die Dauer der Sanierung mit Umsetzwohnungen versorgt werden. "Als unser Verein und die Hauseigentümerin zu einer Mieterversammlung einluden, zeigten sich die Bewohner entgegen unseren Erwartungen dem Vorhaben gegenüber ziemlich aufgeschlossen", berichtet mob-Vorsitzender Stefan Schneider. Mittlerweile sind erste Fakten geschaffen worden. Am 30. Dezember 1999 wurde der Erbpachtvertrag über eine Laufzeit von 50 Jahren abgeschlossen. Der jährliche Pachtzins nach Sanierung wird 36.000 DM betragen. Unter Federführung der Beratungsgesellschaft I.B.I.S. wurde fast zeitgleich der Förderantrag zur Selbsthilfe bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eingereicht, wo man sich dem Projekt gegenüber sehr aufgeschlossen zeigt. "Wir rechnen täglich damit, dass wir den positiven Förderbescheid erhalten", erklärt Schneider. Von den kalkulierten Baukosten in Höhe von 3,8 Millionen DM werden 85 Prozent als Fördermittel, je zur Hälfte als Zuschuss und Darlehen, durch das Land Berlin aufgebracht. Die restlichen 15 Prozent (600.000 DM) müssen durch den mob e.V und "seine" Obdachlosen in Eigenleistung erwirtschaftet werden.
Knackpunkt und Chance
Für Schneider ist dies Knackpunkt und Chance zugleich. "Die uns zur Verfügung stehenden neun Wohnungen werden ganz normal an bisherige Obdachlose vermietet, eine betreute Wohnform, in welcher Art auch immer, ist hier nicht vorgesehen. Es sollen ganz normale Mieter werden, das ist der einfache Sinn des Unterfangens", erklärt der Vereinsvorsitzende. Die Gefahr, dass bei einer solchen Reintegration von Nichtsesshaften in geordnete gesellschaftliche Verhältnisse durchaus Rückschläge zu erwarten sind, will Schneider nicht leugnen. Die "Gefahr einer gewissen Verwahrlosung" müsse man in Betracht ziehen. Andererseits, und darin besteht auch einer der wichtigsten Ansätze dieses nicht ganz billigen Vorhabens, haben Leute, die zwei Jahre lang tägliche, regelmäßige Arbeit durchstehen, ausreichend Potenzial zur Wiedereingliederung bewiesen. 16 Interessenten haben sich bereits um das Projekt geschart, das im Frühjahr 2001 seinen Baubeginn erleben soll. "Wer hier mitarbeitet, ist auch erster Kandidat für eine Wohnung", betont Schneider. Aber die Anforderungen sind durchaus hart: "Kein Alkohol auf der Baustelle und aktives Arbeiten, Eckensteher schicken wir bald wieder weg".
Zum Einsatz kommen die Obdachlosen bei Abriss- und Entrümpelungsarbeiten, als Handlanger und zum Teil auch als Maurer. "Unter den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe sind einige mit einer abgeschlossenen Ausbildung in einem handwerklichen Beruf, die brennen regelrecht darauf, dass es endlich losgeht".
Hartmut Seefeld
aus: VorORT, Januar 2001
Quelle: http://www.bmp.de/vorort/0101/a18.shtml
Herausgeber: Mieterberatung Prenzlauer Berg, Gesellschaft für Sozialplanung mbH
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07.06.1999 - Frankfurter Rundschau - Das Haus im Odenwald (die Vorgeschichte)
Obdachlose schaffen sich Haus und Perspektiven
Ohne öffentliche Zuschüsse: Mitglieder eines Selbsthilfeverein im Odenwald mit beiden Beinen auf eigenem Boden
Von Martin Reimund
Nicht nur Wohnungen, auch Jobs für Arbeits- und Obdachlose sollen im "Haus Odenwald" im Sensbachtal (Odenwaldkreis) entstehen. Der Selbsthilfeförderverein "Arbeiten und Wohnen" hat das Haus ohne öffentliche Zuschüsse für 320 000 Mark gekauft und renoviert es nun auf eigene Faust. Die ersten Bewohner sind bereits eingezogen.
SENSBACHTAL. Gerd Kaske spürt endlich wieder festen Boden unter seinen Füßen. Als der Neunundreißigjährige aufgrund einer Erkrankung am Gehör seinen Job als KfZ-Mechaniker 1996 an den Nagel hängen mußte, bedeutete das für ihn den Einstieg in den Ausstieg. Eben noch mittendrin im Leben stand er plötzlich im Abseits - als Arbeitsloser mit Schwerbehindertenausweis. Nach drei Jahren ohne festen Job und ohne Geld vom Staat - nach seinen Erfahrungen mit den Behörden verzichtete Kaske auf Unterstützung - sieht er jetzt eine Chance zum Neuanfang: Zusammen mit anderen Arbeitslosen und früheren Obdachlosen arbeitet er seit Januar am Aufbau von "Haus Odenwald" und damit an einer neuen Existenz. "Es ist ein einzigartiges Projekt, weil es das einzige ist, das von einem Pennerverein selbst initiiert worden ist", sagt Werner Picker, Vorsitzender des Vereins mit Sitz in Michelstadt zu den Plänen, die aus dem 1995 gestarteten Aufruf " Bauen für Obdachlose" hervorgegangen sind. In seiner Straßenzeitung Looser warb der Selbsthilfeförderverein für die Aktion, bat um Spenden und hielt die Leser auf dem Laufenden über das Projekt, aus dem ursprünglich eine Holzhaussiedlung von und für Obdachlose werden sollte. Durch Spenden und die Überschüsse aus dem Zeitungsverkauf sammelten sich auf dem Spendenkonto fast 250 000 Mark an. Doch die Suche nach geeignetem Bauland für die Holzhaussiedlung verlief im Sande. Als sich die Möglichkeit zum Erwerb der Immobilie im Sensbachtal bot, entschloß sich der Verein, Nägel mit Köpfen zu machen. Für 320 000 Mark griff er zu. Mit seinen mehr als 500 Quadratmetern Nutzfläche bietet das Haus genug Platz für Wohnungen, Werkstätten, Ateliers, Fremdenzimmer und eine Notunterkunft für Obdachlose.
Die blaß-gelbe Fassade an der Durchgangsstraße im Ortsteil Hebstahl ist nicht unbedingt das schönste Gebäude am Ort - zumindest noch nicht. Aber dafür entschädigt die idyllische Umgebung zwischen Beerfelden (Odenwaldkreis) und Eberbach am Neckar, ungefähr 30 Kilometer von Heidelberg entfernt. Um aus "Haus Odenwald" ein Schmuckstück zu machen, müssen die neuen Bewohner noch viel Zeit und Geld investieren - noch sieht vieles nach einer Baustelle aus. Ein Bankkredit über 300 000 Mark half dem Verein, das Gebäude, das vier Jahre lang leer gestanden hatte, zumindest wieder bewohnbar zu machen und mit einer neuen Heizung, Leitungen für Strom und Wasser und einem Bad auszustatten. Um das Geld hat der Verein, der zur Hälfte aus ehemaligen Obdachlosen und Arbeitslosen besteht, hart gekämpft: "Es hat vier Jahre gedauert, um bei unserer Hausbank einen guten Ruf aufzubauen", erklärt Picker, der in seinem Leben nicht nur drei Jahre als Obdachloser unterwegs war, sondern davor als Geschäftsmann auch die Spielregeln der Wirtschaft lernte. Erfahrungen, die er heute gut gebrauchen kann, um die Vereinsgeschäfte am Laufen zu halten, das "Haus Odenwald" auf eine solide wirtschaftliche Basis zu stellen und nebenbei noch die Zeitung zu führen, die inzwischen mit einer Berliner Obdachlosenzeitung zur einzigen bundesweiten "Straßenzeitung" (Auflage: 50 000) verschmolzen ist. "Ich habe noch nie so wenig verdient, aber ich hatte auch noch nie so viel Freude an meiner Arbeit", bekennt Picker. Wenn das "Haus Odenwald" fertig ist, sollen neben den vier bis sechs Wohnungen eine Autowerkstatt, eine Möbelaufbereitung, ein Fahrradverleih und eine Töpferei entstehen, die von den Bewohnern - einer arbeitslosen Erzieherin, einem trockenen Alkoholiker, Kaske, Picker und vielleicht auch weiteren Interessenten - betrieben werden. Der Verein will das Haus zu seinem zweiten wirtschaftlichen Standbein neben der Zeitung ausbauen und den Odenwälder Fremdenverkehr um eine für Arme bezahlbare Variante bereichern. Seminare, Tagungen und Erwachsenenbildung sollen zum Angebot gehören. Fachleute - Therapeuten und Sozialarbeiter des Vereins Basis e.V. in Essen - haben mit am Konzept für das "Haus Odenwald" gefeilt. An einigen Stellen blitzt bereits etwas von dem durch, was sich die Macher zum Ziel gesetzt haben: Etwa in der farbenfrohen Küche im ersten Stock, die vor allem durch ihre unkonventionelle aber deshalb nicht minder geschmackvolle Machart besticht: "Alles selber gemacht", erklärt Gerd Kaske mit dem Stolz eines Mannes, der nach schwierigen Jahren endlich wieder ein festes Ziel im Auge hat. Rund 30 Quadratmeter Wohnraum steht jedem der vorerst vier Bewohner - zur Verfügung. Keiner von ihnen wohnt kostenlos, jeder zahlt rund 300 Mark Miete aus eigener Tasche. Der Verein braucht das Geld - die Renovierung des Gebäudes hat schon viel gekostet und wird noch einiges verschlingen, denn Arbeiten wie Stromleitungen legen oder eine Heizung installieren können die Mitglieder nicht selbst erledigen. "Um weiterarbeiten zu können, sind wir auf Spenden angewiesen", sagt Gabi Lermann, Redaktionsmitglied der "Straßenzeitung". Klärungsbedürftig war das Verhältnis der Neubürger zu den Einheimischen des kleinen Dorfes. "Die hatten Angst, daß da unkalkulierbare Penner neben ihnen einziehen", so Picker. Kaske berichtet, "daß einige ganz schön in Panik geraten" seien. Doch die Irritationen seien inzwischen aus dem Weg geräumt, das Verhältnis einwandfrei - nach einem Tag der Offenen Tür, den viele Familien genutzt hätten, um sich einmal im "Haus Odenwald" umzusehen. "Das war ganz hervorragend, uns wurde sogar ein Trecker angeboten, wenn wir mal einen bräuchten", so Picker.
Das Spenkonto des Selbsthilfeförderverein "Arbeiten und Wohnen": Kontonummer 300 *** bei der Volksbank Odenwald (BLZ: 508 6** ** ), Kennwort: Hebstahl
© Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 06.06.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 07.06.1999
Richtung Wannsee und zurück
Vor 30 Jahren hat OKW den Zug verpasst. Heute passiert ihm das nicht mehr
Züge sind die Konstante in OKWs Leben |
S-Bahnhof Berlin-Schöneberg. Um neun nach neun Uhr beginnt OKW seine Tour. Dann fährt der Zug nach Wannsee ein, dann gehört die Linie S1 ihm – jeden Tag, auch samstags und sonntags. Um neun nach neun wird der Zug nach Wannsee zu so etwas wie OKWs Arbeitsplatz. Einen Arbeitsvertrag und festen Stundenlohn hat er nicht. Er verkauft die »motz«.
Morgens halb acht geht OKW aus dem Haus Weserstraße 36 in Berlin-Friedrichshain. Dort befinden sich die »motz«-Redaktion und die Notunterkunft, in der er seit ein paar Wochen abgestiegen ist, wobei »Abstieg« es recht gut trifft – ein Freund hat ihn vor die Tür gesetzt. Es ist nicht das erste Mal, dass er keine eigene Bleibe hat: Einmal hat er drei Jahre am Stück auf der Straße gelebt. Schlafen musste er in Bahnhöfen oder auf Dachböden, das will er jetzt nicht mehr. Aus dieser Zeit stammt übrigens auch sein Spitzname: OKW steht nicht für »Oberkommando der Wehrmacht«, sondern für »Ostkreuz-Wolfgang«. Er war damals einer der ersten, die in Berlin Obdachlosenzeitungen verkauften, und zwar am Bahnhof Ostkreuz. Der Name OKW gefällt ihm besser als einfach nur Wolfgang, sogar besser als sein Familienname. Auf diesen Namen kann er stolz sein: Er macht ihn zur Institution.
Um neun nach neun hat er auf dem Bahnsteig bei »Kings« schon seinen Kaffee getrunken. Und eine Zigarette geraucht. Rauchen ist sein einziges Laster; von Alkohol und Drogen lässt er die Finger. Bei »Kings« hält er sich immer ein paar Minuten auf: Mit den Verkäuferinnen versteht er sich. Sie palavern übers Wetter und auch schon mal über Politik, darüber, dass alles teurer geworden ist und es für kleine Leute wie sie immer enger wird. Irgendwann hat OKW ihnen wohl auch erzählt, wie sein Leben gelaufen ist: 1960 kam er in Leipzig zur Welt, im Frauengefängnis, wo seine hochschwangere Mutter wegen versuchter Republikflucht einsaß. So lautet seine Version der Geschichte. Vielleicht kennt er keine andere, vielleicht ist es diejenige, die am wenigsten schmerzt, vielleicht kommt sie einfach nur gut an – dass die deutsche-deutsche Grenze 1960 noch offenstand, fällt sowieso kaum jemandem auf. Und für den Fortgang seines Lebens spielt es ja auch keine Rolle: Den Vater hat er nie kennen gelernt. Im Alter von sechs Monaten brachte man ihn zur Uroma nach Bernburg und, als er sechs geworden war, in verschiedene Kinderheime. Mit fünfzehn durfte er »im Rahmen der Familienzusammenführung« zur Mutter nach Westberlin, die einen Tag vor dem Mauerbau »doch noch abgehauen« war. Sie steckte ihn, weil sie mit ihm nicht zurechtkam, nach einem halben Jahr wieder ins Heim. Seit 30 Jahren haben sie keinen Kontakt mehr. So wollen sie es beide.
Schräger Vogel
Der Zug neun nach neun ist ein sogenannter Vierer. Das heißt, er fährt mit vier Waggons – andere fahren nur mit drei. Also muss OKW in diesem hier erst nach vier Stationen wieder raus und auf den Zug zurück warten – das ist effektiv. Stets beginnt er am »Kopf«, im ersten Wagen. Um sich dann von Station zu Station in den nächsten vorzuarbeiten. 15 Zeitungen trägt er bei sich, mehr nicht. Mehr wird er sowieso nicht los. Für 40 Cent pro Exemplar hat er sie der Redaktion abgekauft, für 1,20 Euro darf er sie wieder verkaufen. Zwölf Euro kann er Gewinn machen, wenn er es schafft, alle Zeitungen loszuwerden.
Nachdem sich der Bahnsteig geleert hat, schließen sich die S-Bahntüren. OKW wartet dann, bis sich alle neu zugestiegenen Fahrgäste gesetzt haben. Sobald der Zug angefahren ist und der Fahrer seine Ansage beendet hat, tritt er in die Mitte und macht seine eigene Ansage. Es ist immer derselbe Spruch, den er in leicht schleppendem Tempo vorträgt, damit man ihn gut versteht: »Guten Tag. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich verkaufe das Straßenmagazin ›motz‹. Wir wären dankbar, wenn Sie uns mit einer Spende helfen würden, weitere Unterkünfte für Obdachlose einzurichten.« Noch während er spricht, nimmt er die vertraute Szenerie wahr: Leute, die zur Arbeit fahren, in eine Bank oder eine Arztpraxis, die unterwegs zur Uni sind, zum Einkaufen oder zu einer Freundin. Die in Büchern oder in Zeitungen lesen, Laptops auf den Knien halten, die Ohren zugestöpstelt haben, sich schlafend stellen, aus den Fenstern starren. Die bemüht sind, nicht aufzuschauen, seinem Blick nicht zu begegnen.
Zeit, sich in Bewegung zu setzen. Er geht den Mittelgang entlang, beugt sich mal nach rechts, mal nach links, hält Abstand, fragt leise: »Hier vielleicht?« Auch andere haben ihre Sprüche; OKW kennt sie auswendig: »Kann nicht lesen« oder »Kein Kleingeld«. Die meisten tun so, als sei er Luft. OKW weiß: Das ist er nicht. Sie fürchten, dass er, der »schräge Vogel«, sie persönlich ansprechen könnte. Weil er sie stört oder gar aufstört. Weil er sie emotional erpresst. Weil sie mit ihrem Gewissen ringen. Weil es ihnen peinlich ist, wenn sie nicht in die Tasche greifen. Weil er ihnen peinlich ist. Das tut ihm leid, das will er nicht.
S-Bahnhof Friedenau. Er ist am Ende des ersten Waggons angelangt. Herrscht Gedränge am Ausstieg, muss er sich sputen, den zweiten Wagen zu erreichen und noch schnell hineinzuspringen. Wieder sagt er seinen Spruch auf. OKW ist es nicht peinlich, dass er stört. Er ist sich auch selbst nicht peinlich. Warum auch? Er belästigt niemandem mit einem unangenehmen Geruch, ist sauber gewaschen und angezogen. Darauf hält er sich etwas zugute: Nicht jeder in seiner Situation schafft das. Und anders als manche seiner »Kollegen« glaubt er nicht, jemand sei ihm etwas schuldig. Vor 30 Jahren hatte auch er seine Chance: Er hätte Einzelhandelskaufmann werden können. Die Lehre bei »Bolle« schmiss er – aus »Doofheit«.
Sternstunden
Kurz vor dem Bahnhof winkt ihn eine Frau heran und möchte eine Zeitung. Die erste des Tages, na bitte. Das mit den Zeitungen, sagt die Frau, finde sie achtbar, das wolle sie anerkennen. Leuten dagegen, die auf dem Ku’damm rumlungern und behaupten, sie hätten Hunger, traue sie nicht übern Weg. Ein Gespräch bahnt sich an, ganz nach seinem Geschmack: Solche Gespräche sind Sternstunden, auch wenn sie nur Sekunden dauern. Er kann mit Insiderwissen glänzen, auch mal derjenige sein, der gibt. Klar, pflichtet OKW ihr bei, hungern müsse wirklich niemand. In Berlin gäbe es hundert Umsonst-Stellen, wo sich Arme sattessen, waschen und Klamotten holen könnten.
Feuerbachstraße, dritter Waggon. Für OKW ein verlorener: Eine Gruppe Schüler sitzt drin. Seinen Spruch kann er sich schenken: Kinder sind laut und toben rum, er würde zu niemandem durchdringen. Dafür entdeckt er zwei alte Bekannte, die ihm öfter mal eine Zeitung abkaufen. Auf der S1 hat er viele alte Bekannte, er nennt sie »Stammkunden«. Manche fragen schon mal, »Wie geht’s?« Diese beiden werden ihm heute allerdings keine Zeitung abnehmen. Er hat ihnen schon letzte Woche ein Exemplar verkauft – die »motz« erscheint nur vierzehntägig.
Rathaus Steglitz: Spurt zum letzten Wagen. Jäh hält OKW inne, bremst. Jemand von der Sicherheitsfirma, die für die BVG arbeitet, ist eingestiegen. Da ist es besser, er bleibt draußen. Der Sicherheitsmann müsste einschreiten, wenn OKW versuchen würde, in seiner Gegenwart tätig zu werden. OKW ist überzeugt, dass es eine stille Übereinkunft zwischen den »Sicherheitsnadeln« und ihnen, den Verkäufern der Straßenzeitungen, gibt: Solange sie ihren Job nicht unmittelbar unter deren wachsamen Augen ausüben, drücken sie diese einfach zu. Dafür müssen OKW und seine »Kollegen« ihre Augen umso offener halten.
Mit dem »Vierer« nach Wannsee hat OKW Pech gehabt. Eigentlich hatte er bis Botanischer Garten mitfahren wollen, nun muss er schon in Steglitz umsteigen. Der Zug zurück Richtung Oranienburg ist ein »Dreier«. Er wird bis Bahnhof Schöneberg weitere zwei Zeitungen verkaufen. 3,60 Euro hat er verdient, als er sich wieder bei »Kings« einfindet. Kaffee leistet er sich nicht mehr, doch eine Zigarette raucht er. Nein, teilt er der Verkäuferin mit, »das Geschäft« laufe heute nicht. Manchmal, wenn Messen in der Stadt sind, wird er alle Exemplare in nur zwanzig Minuten los. In der Regel ist er aber zwei bis drei Stunden unterwegs. Heute, weiß er, ist so ein Tag. Immerhin hat er schon Kost und Logis verdient, für die er in der Weserstraße 3,50 Euro zu zahlen hat. Dann tritt OKW seine Kippe aus. Der Zug Richtung Wannsee fährt ein.
Zugvögel
Sie ziehen zur Sonne, dorthin, wo es warm ist. Wir stellen Menschen vor, die es wie sie halten, oder irgendwie mit ihnen verwandt sind.
Quelle: Neues Deutschland, 05.12.2007
»... bis ich alles auf die Reihe bekommen habe«
Durch den Verkauf eines Straßenmagazins verdienen sich Obdachlose einige Euro hinzu. Ein Gespräch mit Marcus Zywietz und Olli
Interview: Frank BrunnerHerr Zywietz, wie viele Exemplare des Strassenfeger haben die Verkäufer heute schon bei Ihnen abgeholt?
Ich sitze hier seit neun Uhr morgens, also insgesamt sieben Stunden, und bisher waren es etwa 550 Zeitungen, die ich für 40 Cent pro Stück an die Straßenverkäufer abgegeben habe. Eigentlich sind das relativ wenig. Gestern beispielsweise waren wir ausverkauft.
Olli, wie viele Zeitungen werden Sie pro Tag los?
Ich verkaufe nur zehn bis zwölf Stück für jeweils 1,20 Euro – das heißt, ich verdiene pro Zeitung 80 Cent.
Warum können Sie nicht mehr Zeitungen loswerden?
In den U- oder S-Bahnen könnte ich sicher mehr verkaufen, Aber es liegt mir nicht so, da reinzugehen und einen flotten Spruch aufzusagen. Ich verkaufe lieber auf der Straße.
Haben Sie einen festen Platz?
Früher stand ich hier am Bahnhof Zoo. Doch seit da die Fernzüge nicht mehr halten, kommen kaum noch Touristen, und daher lohnt es sich in dieser Gegend nicht mehr. Jetzt bin ich immer am Bahnhof Friedrichstraße.
Und wo bleiben Sie nachts?
Mal hier, mal dort. Früher war ich manchmal in der Notunterkunft der Stadtmission in der Lehrter Straße. Da ist es mir allerdings oft unheimlich gewesen, weil dort sehr viele Menschen in einem Raum übernachten. Einmal hat mich ein Typ die ganze Nacht angestarrt. Wie soll man da schlafen? Etwas besser ist es in der Franklinstraße. Dort gibt es Drei- und Vierbettzimmer. Manchmal bleibe ich auch bei Freunden.
Herr Zywietz, was sind das für Menschen, die den Strassenfeger verkaufen?
Die meisten Verkäufer sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Für einige ist das schon ein richtiger Job. Einer kommt zum Beispiel regelmäßig Montag bis Samstag immer morgens Punkt halb neun, nimmt jedes Mal 15 Zeitungen mit und verkauft die auch. Leider ist es jedoch auch so, daß sehr viele unserer Verkäufer Suchtprobleme haben. Die sagen sich oft: »Wenn ich zehn Zeitungen verkaufe, kann ich damit meine Drogen finanzieren, die mir helfen, die Nacht vernünftig zu überstehen«. Es sind auch Leute dabei, die buchstäblich ohne Obdach sind und draußen pennen, unter freiem Himmel.
Woran erkennen Sie, ob jemand wohnungslos ist?
Man sieht, ob jemand keine Bleibe hat. An den Klamotten beispielsweise. Aber auch wenn jemand mit einer riesigen Tasche und einem Schlafsack auftaucht, kann man eins und eins zusammenzählen.
Olli, wie begegnen Ihnen die Leute beim Zeitungsverkauf?
Sehr unterschiedlich. Manche geben etwas Trinkgeld, andere übersehen mich und gehen einfach weiter.
Herr Zywietz, welche Erfahrungen haben Sie mit den Käufern des Strassenfeger gemacht?
Ich kann Ollis Eindruck nur bestätigen. Bei manchen Straßenverkäufern läuft es ganz gut. Die haben ihre Stammplätze vor Einkaufszentren und holen bei mir täglich 30 Zeitungen ab. Andererseits reagieren viele Leute auch genervt und schauen schon gar nicht mehr hoch, wenn ein Obdachloser das Blatt anbietet. Viele Verkäufer müssen auch erst mal zwei, drei Bier trinken, damit sie locker werden und sich trauen, andere Menschen anzusprechen.
Olli, was glauben Sie, wie lange Sie noch auf der Straße Zeitungen verkaufen?
Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls so lange, bis ich alles auf die Reihe bekommen habe.
Was heißt »auf die Reihe bekommen«?
Na ja, bis ich eine eigene Wohnung und vielleicht irgendwann eine richtige Arbeit habe.
Marcus Zywietz sitzt zwei – bis dreimal pro Woche in einem kleinen Wohnanhänger hinter dem Berliner Bahnhof Zoo. Der 37jährige verteilt dort das Obdachlosenmagazin Strassenfeger an die Straßenverkäufer. Olli lebt seit sieben Jahren vom Verkauf des Blattes.