Charlottenburg. Keinen Pfennig Geld in der Tasche, weder Kredit- noch Telefonkarte, keine Hausschlüssel, kein Ausweis - und 24 Stunden auf den Straßen Berlins auf sich allein gestellt. Eine Horror-Vorstellung. Für etwa 10.000 Obdachlose der Stadt tägliche Realität.
Ein "Crashkursus Obdachlos in Berlin", initiiert von der Obdachlosen-Zeitung "Strassenfeger", bietet jetzt Gelegenheit, das harte Leben auf der Straße am eigenen Leib zu erfahren. In Begleitung eines "echten" Obdachlosen kann der Teilnehmer Suppenküchen und "Läusepensionen" der Hauptstadt kennenlernen.
Der Kursus beginnt um acht Uhr morgens mit einem Frühstück in einer Notübernachtung. Danach gibt es ein neues Outfit aus den Kleiderspendenvorräten. Schlafsack oder Decken sind nicht vorgesehen, Kontakte zu Familie und Bekannten dürfen nicht aufgenommen werden. "Vorurteile und Meinungen zum Thema Obdachlosigkeit gibt es viele", sagt "Strassenfeger"-Redakteur Karsten Krampitz. "Aber wie es wirklich ist, kein Dach über dem Kopf zu haben und im Notfall schnorren zu müssen, weiß niemand, der das nicht selbst erlebt hat", fügt Gerald Denkler hinzu, der seit zwei Monaten obdachlos ist. Der Weg des 30jährigen gelernten Gebäudereinigers in die Obdachlosigkeit ist klassisch: Trennung von der Frau, Rausschmiß aus der gemeinsamen Wohnung. "Wenn man auf der Straße gelandet ist, ist es sehr schwierig, wieder eine Wohnung zu bekommen", so Denkler.
Er wird den Berliner Abgeordneten Benjamin Hoff (PDS), der sich als einer der ersten zum Crashkursus angemeldet hat, "auf Trebe" begleiten. Teilnahmegebühr: 180 Mark, ermäßigt 120 Mark. Anmeldung und Infos am Vertriebsbus gegenüber der Bahnhofsmission an der Jebensstra§e, Mo.-Fr., 9-20 Uhr; Sa., 9-19 Uhr, So., 11-18 Uhr. Wer den Kursus nicht machen will, kann spenden:
Konto-Nummer 76 35 xx xxx, Postbank Berlin, BLZ 10010010
13. März 1997, Berliner Morgenpost 1997
jW sprach mit Mit-Herausgeber Stefan Schneider
(Am heutigen Montag erscheint die erste bundesweite Obdachlosenzeitung. Stefan Schneider ist Vorsitzender von "Obdachlose machen mobil" e.V., einem der Herausgebervereine)
F: In der Bundesrepublik gibt es mittlerweile um die 40 Obdachlosenzeitungen. Jetzt endlich: "Die Strassenzeitung" - wurde auch Zeit, was?
Es gibt weniger Zeitungen von Obdachlosen, als man denkt, eine Handvoll vielleicht. Die meisten Blätter werden von Obdachlosen nur verkauft.
Für die Zeitungsmacher mit dem angeblich professionellen Anspruch sind und bleiben die Obdachlosen nur Statisten, denen, wenn überhaupt, nur die Rubrik "Verkäuferseiten" reserviert ist. Selbst beim Verkaufen werden sie von sogenannten Betreuern reglementiert und beaufsichtigt. Bei uns ist es - im Idealfall - genau umgekehrt: Obdachlose bestimmen, was Sache ist. Journalisten und Sozialarbeiter werden im Bedarfsfall von ihnen eingestellt - und eben auch gefeuert, wenn sie nichts taugen.
F: Der bislang von Ihnen herausgegebene "Strassenfeger" wird zum Jahresende eingestellt.
Den alten "Strassenfeger" gibt es schon lange nicht mehr. Seit einem Jahr erscheinen wir überregional, gemeinsam mit dem hessischen "Looser". Allerdings haben wir es nie geschafft, eine neue Identität zu finden. Wie auch? Mit diesem Doppelnamen. Looser/Strassenfeger war immer die Zeitung aus Berlin mit Artikeln aus dem Odenwald.
F: Warum bleibt es nicht dabei?
Inzwischen haben sich uns noch weitere Betroffenengruppen angeschlossen, aus Bremen, Tübingen, Essen und nicht zu vergessen Darmstadt. Alle wollen ihre eigenen Seiten haben, was ja auch okay ist. Nur sollte eine bundesweite Zeitung nicht aus der Summe von Lokalseiten bestehen. Es war an der Zeit, völlig umzudenken.
F: Warum nun aber der neue Name? Strassenfeger hätte es doch auch getan.
Unser unabhängiges Vertriebssystem gibt uns manche Freiheit. Wir verlieren keine Abos.
F: Ist dieses Vertriebssystem, wie Sie es nennen, nicht einfach nur die marktwirtschaftliche Variante des Bettelns?
Daß bei uns gebettelt wird, will ich gar nicht bestreiten. Ich selbst habe schon unser Blatt verkauft, wenn Sie so wollen: gebettelt. Und ich kann nur sagen, das ist Schwerstarbeit. Leider verkauft man mehr sich selbst dabei als die Zeitung.
F: Liegt das vielleicht am Inhalt?
Ich denke kaum. Die Themen der ersten Strassenzeitung reichen von Rosa Luxemburg bis Frank Zander. Das Problem ist doch ein anderes: Obdachlose sind für die bürgerliche Gesellschaft ein optisches Problem. Und als Strassenzeitung werden wir das auch bleiben - mitten in der City!
F: Was passiert mit dem Geld?
Die eine Mark verdient der Verkäufer. Die andere Mark geht an die gemeinnützigen Vereine. Damit finanzieren wir die Produktionskosten. Der Rest kommt wieder direkt Obdachlosen zugute, sei es als Artikelhonorare oder Mieten für Notübernachtungen und Wohnprojekte.
Interview: Karsten Krampitz
Quelle: junge Welt
Wenn Zoohause geräumt wird: Polizeieinsatz gegen Obdachlose
"Brauchste die Flasche noch? Und den Pappbecher? Und überhaupt, wie sieht das hier aus?" - Etwas verstört geistert Inge mit der Mülltüte durch die Menge der Sitzenden. "So dreckig kann man das doch nicht hinterlassen ..." - Sie hat Angst. Einen Moment zuvor gab der Bundesgrenzschutz die letzte Warnung durch. Dienstagmorgen, Berlin - Bahnhof Zoo, 1 Uhr 30: Es wird geräumt. Auch Inge mit ihrem Müllsack, den sie nicht aus der Hand gibt ...
Die Obdachlosenzeitung Straßenfeger und Jungdemokraten hatten geladen zur Sleep-In-Party am Bahnhof Zoo. "Es wird Zeit, daß wir der Öffentlichkeit zeigen, wie Berlin wirklich ist", lautete der gemeinsame Aufruf, dem über hundert Leute gefolgt sind. Darunter neben etlichen Arbeitslosen vom Aktionsbündnis etwa siebzig Unbehauste - Stricher, Junkies, Punks und Schnorrer. Viele konnten sich die Anfahrt sparen, der Bahnhof - Metropolenanschluß und "Stätte der Begegnung" (Bahn AG) - ist ihr Zoohause.
"Es ist eine verdammte Schweinerei, daß Menschen ohne Arbeit und ohne Wohnung auch noch von öffentlichen Räumen vertrieben werden", so Stefan Schneider vom Straßenfeger. Nach und nach ergreifen die Obdachlosen selbst das Wort und fordern ihr Recht auf Wohnraum ein, während der Zoo immer grüner wird.
Am Ende, nach nur anderthalb Stunden, ähnelte die Halle dem Tiergarten kurz nach der Love Parade. Nur war die Musik besser. Das Streikorchester der Humboldt-Uni spielte auf (Kammervariante), genauso Bettina Wegner und Igor, ein Straßenmusiker. Doch zur gemeinsamen Session sollte es nicht mehr kommen ...
Die Zahl der in Berlin gemeldeten Obdachlosen beläuft sich auf etwa 12.000. Im Senatsjargon ausgedrückt, versteht man darunter all jene Personen und Haushalte, für die sich die Bezirke zur Unterbringung verpflichtet fühlen. Nicht jedoch die, die aus verschiedenen Gründen eine nichtseßhafte Lebensweise führen, eben die "Ratten" (Landowsky). Statt in Männerwohnheimen und Läusepensionen schlafen sie auf Dachböden, in Kellern, Nachtbussen usw. Das eigens für diese Menschen eingerichtete Übernachtungsangebot gleicht einem Tropfen in einem mickrigen Tümpel: nicht mehr als 460 Betten in kirchlichen Notübernachtungen.
Der Segnungen dieser, von den Bezirksämtern bezahlten Nächstenliebe, kann nun weiß Gott nicht jeder teilhaftig werden. Neun von zehn Obdachlosen sind süchtig, oft sogar polytoxisch (Alkohol & Drogen). Doch in den meisten Einrichtungen herrscht Alkoholverbot, das glücklicherweise zunehmend liberal gehandhabt wird. Ein exzessiver Alkoholiker jedoch, der vielleicht auch noch Hundebesitzer ist, hat keine Chance auf Einlaß. Besonders für diese Personengruppe stellt die nächtliche Schließung der Bahnhöfe eine akute Lebensbedrohung dar. Daher auch die Forderung der Organisatoren nach selbstbestimmten Übernachtungsmöglichkeiten.
Doch mehr als die Programmatik zählt die Aktion, die bundesweit einmalig ist. Nie zuvor haben sich "Unbedachte", und dann auch noch in dieser Anzahl, derart auf einen Regelverstoß geeinigt. Gerade in der Räumung - die nicht ohne Festnahmen verlief, eine Scheibe ging zu Bruch, auch mußte ein Rettungswagen gerufen werden - zeigt sich der Erfolg. Erstmalig ist der BGS gewaltsam gegen Obdachlose vorgegangen, nicht, weil sie angeblich kriminell waren oder Schwarzfahrer, sondern in Folge einer gemeinsamen politischen Aktion. Von Scheitern kann also keine Rede sein, das war eine Premiere.
Karsten Krampitz
"Strassenzeitung" - das erste bundesweite Obdachlosenmagazin
"Schönen guten Tag, ich verkaufe hier die aktuelle Egal was drin steht. Von jeder Egal was drin steht verdiene ich eine Mark, die andere Mark geht an die Projekte."
In Berlin mag dieser Spruch, in anderer Form freilich, aller Orten zu hören sein, ganz besonders in den U- und S-Bahnen. Seit 1994 die erste Obdachlosenzeitung ins Leben gerufen wurde, gehören die Blätter zum öffentlichen Bild. Nicht gerade akzeptiert, gleichwohl aber geduldet. In anderen Großstädten (Frankfurt am Main, Leipzig oder München usw.) sieht es da schon anders aus. Die Vertreibung aus der Stadtmitte durch Polizei und private Sicherheitsdienste ging an den Straßenmagazinen nicht spurlos vorüber. Beinahe alle Blätter beklagen Auflagenrückgänge.
Mit dem 28. Dezember erscheint nun das erste bundesweite Obdachlosenmagazin - die Strassenzeitung. Ganz oben auf dem Programm steht: verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Eigens dafür haben sich Betroffenengruppen aus Bremen, Tübingen und Essen zusammengeschlossen, gemeinsam mit dem hessischen "Looser" und dem Berliner "Strassenfeger". Die monatliche Auflage belöuft sich auf rund 60.000, hinzu kommt die Berliner Lokalausgabe mit 30.000. - Wenn man bedenkt, wie wenig davon ein einzelner Verkäufer am Tag loswird, so verrät die Auflagenhöhe einiges über die Verbreitung und die Anzahl der Mitstreiter.
Im Unterschied zu den meisten anderen Gazetten der Unbedachten, seien es "Asphalt" in Hannover oder "Biss" in München, hat die "Strassenzeitung" nicht viel mit den Wohlfahrtsverbänden zu tun. Als bekennendes Pennerblatt will man nicht nur inhaltlich eigene Wege gehen. Unter den Akteuren stellen Obdachlose und Leute, die früher auf der Straße gelebt haben, die überwiegende Mehrheit. - Und das auf allen Ebenen: in Redaktion und in der Geschäftsführung.
Der Neugründung ging ein Probejahr voraus, in dem Looser und Strassenfeger monatlich gemeinsame Ausgaben erstellten.
Bereits in der ersten überregionalen Ausgabe fanden sich - frei nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: "Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal!" - Interviews mit Inge Meysel und Inge Viett, der ehemaligen RAF-Aktivistin. Extreme, die keine Seltenheit blieben. So gesellten sich unter die Autoren der letzten Oktoberausgabe u.a. Hermann Kant, ehemaliger Prösident des DDR-Schriftstellerverbandes, und Wolfgang Rüddenklau, Oppositioneller aus der Umweltbibliothek Berlin-Prenzlauer Berg. Gerade in der Mischung mit den obdachlosen Autoren sieht Mitherausgeber Stefan Schneider "die Chance". Angenommen, alle regelmäßigen, nicht obdachlosen Schreiber würden donnerstags die Schreibwerkstatt aufsuchen, (ausgenommen natürlich Hermann Kant, da blieb es bei der Premiere), die Redaktion der Strassenzeitung käme auf etwa dreißig Jahre Knast und Psychiatrie. Genauso aber auch auf drei Promotionen und mindestens zwölf Buchveröffentlichungen. Ein Potential, das kein anderes Straßenmagazin vereint.
Verständlich, daß sich das neue Blatt bei den alten Sozialarbeiterpostillen nicht gerade großer Beliebtheit erfreut. "Die Straße" in Solingen klärte ihre Leser bereits auf: "Trittbrettfahrer und faule Eier". Birgit Müller-Clasen aus Hamburg, Chefredakteurin von "Hinz & Kunzt", befürchtet gar, anderen Zeitungen werde die Existenz abgesprochen. Am weitesten herausgewagt aber hat sich bislang "TrottWar" in Stuttgart. Während man dort gern auf Autoren der jetzigen "Strassenzeitung" zurückgriff, scheuten sich die Aktivisten nicht, im nahegelegenen Ulm die Polizei auf vermutlich illegale, weil ausländische Verkäufer des Looser/Strassenfeger zu hetzen.
In Sachen Presse von der Platte dürfte es im neuen Jahr spannend werden, besonders in Berlin, wo sich der Wettbewerb seit geraumer Zeit zuspitzt. Einstweilen knallten bei der "motz" schon mal die Sektkorken. Mit Einstellung des "Strassenfegers", heißt es in deren aktueller Ausgabe, sei man "das einzige existierende Berliner Straßenmagazin". - Wenn sich die Journalisten da mal nicht irren.
Karsten Krampitz