1996 - strassenfeger - Karsten Krampitz: "...daß es bald besser wird“ Im Gespräch mit Harald Juhnke
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Guten Tag.
Dies ist ein Dokument über uns selbst. Im Jahr 1996 gelang es tatsächlich dem strassenfeger-Redakteur Karsten Krampitz ein Interview mit Harld Juhnke zu führen. Es ist sogar digital erhalten. Wir drucken es an dieser Stelle gerne nach.
Stefan Schneider, 01.07.2007
„Ein als Hauptmann verkleideter Mensch führte gestern eine von Tegel kommende Abteilung Soldaten nach dem Köpenicker Rathaus, ließ den Bürgermeister verhaften, beraubte die Gemeindekasse und fuhr in einer Droschke davon.“, schrieb am 17. Oktober 1906 die Tägliche Rundschau. Mit dieser „Köpenickiade" sollte er schon kurz darauf berühmt werden - der Schuster Wilhelm Voigt. Das 90-jährige Jubiläum des Hauptmanns von Köpenick war jedoch nicht der einzige Anlaß, warum Karsten Krampitz sich für den Wohnungsloser mit Harald Juhnke traf, der am Maxim Gorki Theater die Hauptrolle in Carl Zuckmayers gleichnamigen Stück spielt.
sf: „Herr Juhnke, wie geht es Ihnen?"
Juhnke: „Mir geht es gut, privat und auch beruflich. Der Erfolg ist groß, unsere Vorstellungen sind immer ausverkauft. Was will man mehr? Das Stück ist wohl so`n richtiger Renner geworden. Wir spielen ja noch bis Ende nächsten Jahres.“
sf: „Obdachlose, die am Ku´damm »Sitzung halten« erzählen, daß Sie dort öfter mal einen Schein in den Hut werfen. Einmal soll es sogar ein Hunderter gewesen sein, wobei Sie angeblich gesagt haben: «Hier, kannst jetzt Feierabend machen!»“
Juhnke: „Also, ob das nun mit der Summe stimmt, weeß ick nich, aber wenn`s eben `n Alter war, wo man gesehen hat, der hat`n schweres Leben, da hab ich schon gegeben. Aber ob das ein Hunderter war, weiß ich nicht. Vielleicht waren es auch bloß zwanzig oder fünfzig.“
sf: „Wie kann es sein, daß im vergangenen Sommer die Bundesregierung das Sparpaket beinahe ungehindert durchsetzen konnte, und ganz Deutschland redete von Fußball und Juhnke?“
Juhnke: „Naja, das war wohl das Interessanteste. Die Leute wollten scheinbar nicht mit dem Sparpaket und so belästigt werden. Die ganze Politik hängt auch vielen zum Hals raus. Aber ich sehe das sehr positiv, glaube, daß es hierzulande doch schon bald anders aussehen wird. Daß der Staat wieder sozial denken kann, nicht überall sozial beschneiden wird. Ich meine, die Schulden sind jetzt da. Wer dafür verantwortlich ist, kann man im Einzelnen nicht sagen. Da müssen wir durch. Aber wir erwarten doch, daß es in fünf Jahren wieder aufwärts geht.“
sf: „Wir erwarten nichts mehr...“
Juhnke: „Nee, man darf nie aufgeben.“
sf: „Freunde und Kollegen von Ihnen sagen, Sie wären ein Genie, ob als Schauspieler oder als Lebenskünstler. Sie hätten die Gabe, aus dem Bodensatz des Lebens noch herrliche PR-Erfolge zu keltern. Was denken Sie von Ihrem Publikum, das Ihnen bisher alles verziehen hat und Sie deswegen vielleicht noch um so mehr liebt?“
Juhnke: „Beim Publikum ist das ja so: die Leute interessiert das Private gar nicht. Die wollen mich sehen, ob auf der Bühne, im Film oder im Fernsehen. Und wenn Juhnke da gut ist, sagen sie eben: «Naja, ist eben `n guter Schauspieler». Ob er aber ein Genie ist, das kann ick von mir selbst natürlich nicht sagen. Einige sind der Meinung - wie jetzt auch wieder die Presse - daß Juhnke eben der Größte ist, trotzdem er mal die Schwierigkeiten hatte. Aber diese Schwierigkeiten sind vielleicht auch dazu da, daß man besser wird. Wenn immer allet so glatt jehen würde, wär`s ja och Scheiße.“
sf: „Ihre Traumrolle war wohl der Hauptmann von Köpenick. Gibt es da Parallelen zu Ihrem eigenen Leben?“
Juhnke: „Nee, überhaupt nicht. Ich war zwar auch mal im Knast, als junger Mann, wegen Alkohol am Steuer und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aber sonst habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Der wirkliche Hauptmann von Köpenick hat ja auch kaum was gemacht. Immer nur kleine Dinger und die haben ihn gleich für Jahre eingesperrt. Und draussen kriegte er dann keine Meldung, und ohne Meldung keine Arbeit. Und ohne Arbeit konnte er sich nicht anmelden... Also alles so Sachen, die heute immer noch so ähnlich sind.“
sf: „Nach dem Krieg sollen Sie große Erfolge nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Schwarzhändler gefeiert haben?“
Juhnke: „Da habe ich mir mein Geld für die Schauspielschule verdient. War aber kein großer Schwarzhandel, mal `ne Flasche Schnaps, die ich geschenkt bekommen und nicht selber gesoffen habe. Die hab ich dann teuer verkauft. Ich hab auch mal `nen alten Mantel getauscht, watt weeß ick, gegen `ne Jacke. War eben so `ne Zeit. Keener hatte ja watt.“
sf: „Wie denken Sie in diesem Zusammenhang über die zahllosen Obdachlosen in Berlin?“
Juhnke: „Das ist natürlich ein Riesenproblem. Da müßte man endlich mal anfangen, was zu tun. Ich meine, es gibt auch viele Leute, die obdachlos sein wollen, die sich zurückziehen von der bürgerlichen Gesellschaft. Da kenne ich auch ein paar, die wirklich was drauf haben, die gebildet sind, richtige Doktoren. Ich meine, es sind ja nun nicht alles haltlose Säufer. Aber die Sache ist doch die: Wenn es allen schlecht geht, geht es den Ärmsten natürlich am schlechtesten. Und das ist eben im Moment der Fall.“
sf: „Im letzten Jahr übernahmen Sie für`s Fernsehen die Hauptrolle in der Fallada-Verfilmung «Der Trinker». Welche Botschaft wollten Sie mit Ihrer Darstellung herüberbringen?“
Juhnke: „Ich wollte zeigen, daß es bei jedem gefährlich werden kann, der Alkohol trinkt, wenn er Schwierigkeiten im Leben hat. Daß er sich da zurück halten muß, sonst geht er drauf! Fallada selbst ist schließlich auch zum Schluß daran gestorben. Und es ist ja sein eigenes Leben, das er da in dem Roman erzählt.“
sf: „Haben Sie nicht Angst, durch die Art und Weise, wie Sie sonst in der Öffentlichkeit mit ihren Problemen umgehen oder umgegangen sind, vielen Alkoholikern einen Vorwand zu geben, weiterzutrinken?“
Juhnke: „Nein, weil ich immer gesagt habe, daß ich nicht trinken darf. Jeder Alkoholiker weiß aber, wie schwer es ist, davon wegzukommen. Heute müßte ich eigentlich ein Vorbild sein. Jetzt müßten die Leute sagen: «Kiek mal der Juhnke, watt der für Erfolge hat, wo er nich mehr säuft!» Versprechen kann man viel, aber sehen, das ist das Wichtigste! Ich arbeite wieder für Theater und Film, auch für`s Fernsehen, die Sylvestershow zum Beispiel. Und wenn jemand soviel dreht, kann er ja nicht saufen!“
sf: „Glaubt man den Presseberichten, dann ist Ihr nächster großer Traum, einmal den Professor Unrat im «Blauen Engel» zu spielen.“
Juhnke: „Die Filmrechte dafür liegen leider in Amerika, und die bekommen wir nicht. Ich mache aber einen anderen Film, der ein ähnliches Problem behandelt wie Professor Unrat. Der Streifen wird jedoch nichts mit dem Blauen Engel zu tun haben. Die Handlung ist extra für mich geschrieben worden.“
sf: „Sind Sie eigentlich wählen gegangen?“
Juhnke: „Nein, ich bin nicht dazu gekommen. Habe mich auch nicht groß danach gedrängt, wußte auch nicht genau, wen ich wählen sollte.“
sf: „Als vielbeschäftigter Entertainer und momentan, als Hauptmann, bleibt da noch Freizeit, zum Beispiel, um ein Buch zu lesen?“
Juhnke: „Sicher, so viel Zeit muß sein. Man bekommt ja auch viele Bücher geschenkt, zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Und da mußte Dich auch mal ranmachen, die Dinger zu lesen. Das einzige, wozu ich kaum noch komme, ist ein Theaterbesuch. Wir sind zwar nicht jeden Tag hier im Maxim Gorki Theater, aber wenn man selbst spielt, kostet es schon Überwindung, sich ein anderes Stück anzuschauen.“
sf: „Schauspieler werden da aber verbilligt reingelassen.“
Juhnke: „Ich will nur nicht reingehen, das ist also was Anderes. Ich halte mich schon an meinem Stück fest und lasse mich nicht ablenken.“
sf: „Das letzte Buch, was Sie gelesen haben?“
Juhnke: „Das war «Hitlers willige Vollstrecker» von Goldhagen, einem jüdischen Autor. Viele Sachen darin sind interessant. So einen muß man einfach lesen! Natürlich stimmt nicht alles hundertprozentig, was er da schreibt. Aber, daß er aus seinem Umkreis so schreibt, ist selbstverständlich.“
sf: „Einen Großteil Ihrer Kindheit haben Sie in Frankfurt/Oder verbracht. Haben Sie heute noch Kontakte dahin?“
Juhnke: „In Frankfurt besaßen meine Eltern eine Bäckerei. In den Ferien fuhren wir immer zu ihnen. Und die Leute dort wissen das auch. Die kannten mich und meine Mutter, die dort aufgewachsen ist. Und neulich sprach mich auch der Maske an, der Boxer: «Ich weiß, daß Sie auch ein halber Frankfurter sind». Kontakte in die Stadt habe ich aber nicht mehr. Vor Jahren bin ich da umsonst im Kleisttheater aufgetreten, weil die kein Geld hatten. Und da war das Haus auch voll.“
sf: „Abschließend noch: Was wünschen Sie sich und Ihrem Publikum für die Zukunft?“
Juhnke: „Für die Zukunft wünsche ich mir, daß der Alkohol weit von mir entfernt bleibt. In dem halben Jahr, in dem ich jetzt nicht mehr trinke, habe ich festgestellt,daß es mir weitaus besser geht. Und für mein Publikum wünsche ich, daß es bald wieder besser wird in unserem Land, daß wir bald eine andere Konstellation haben und aus der Talsohle, in der wir jetzt sind, herauskommen.“
sf: „Harald Juhnke, vielen Dank für das Gespräch.“
Interview: Karsten Krampitz
18.07.1994 - Berliner Zeitung - Berliner Karrieren - hg: Die Gründungsgeschichte von mob
Vertriebsleiter Horst Heitrich (Anmerkuung: richtig hätte es hier heißen müssen: Horst Hädrich) und Redakteur Heiko-Andre Meyer von der Obdachiosenzeitung "mob" fürchten um ihre Jobs. Das Team hat sich mit dem Herausgeberverein "Berliner Initiative gegen Wohnungsnot" überworfen und kommt nicht mehr an das Bankkonto. Jetzt versuchen die "mob"-Leute das Projekt in Eigenregie weiter zu führen. Geplant ist, daß ein neuer Förderverein die Geschäfte übernimmt und damit die Herausgabe der Zeitung -- derzeit 18 000 Exemplare -- sichert. (...)
Berliner Zeitung, Berliner Karrieren 18.07.1994, Seite 18 Kommentar: Im Grunde ist das die Gründungsgeschichte (oder -legende?) von mob - obdachlose machen mobil e.V.
Zugabe:
hier eines der unnachamlichen Gedichte von Heiko-André Meyer:
DER OBDACHLOSE
Verschämt sieht er die Stadt erwachen,
er wird nun aus durchweichten Sachen
sein Elendsbündel packen.
Der vor Kälte steife Nacken
hindert ihn beim Bücken.
Es schmerzt ihm der gesamte Rücken.
Er trinkt den Rest aus seiner Flasche,
dann durchsucht er seine Hosentasche
nach einem Zigarettenstummel
und verflucht den ganzen Rummel.
Bis Mittag hat er rumzulungern
und um nicht zu verhungern
geht´s dann in die Suppenküchen
zu den Wirsingkohlgerüchen.
Er ist seit Wochen auf den Platten,
jetzt beginnt er zu ermatten.
Die Papiere hat man ihm gestohlen,
er kann sich nicht mal seine Stütze holen.
Bei der Bitte nach ´nem Groschen
haben ihn ein paar Mann verdroschen.
Wie lang, ist die Frage,
erträgt er seine Lage.
Sein Mut, doch noch zu hoffen,
macht mich tief betroffen.
31.05.1995 - Berliner Zeitung - Viola Leipoldt: Vereinte Kräfte
Vereinte Kräfte
Die Berliner U- und S-Bahn-Nutzer sind wahrlich geplagt. Kaum eine Fahrt vergeht ohne "Haste mal 'ne Mark", mindestens einem Musikanten oder mindestens einer Obdachlosenzeitung. Besonders der letzteren kann man sich schwerlich entziehen - zu ernst ist das Problem, das dahinter steht. Doch wurden gleich drei Obdachlosenblätter in der Stadt angeboten: "Platte", "haz" und "mob". Konkurrenz belebt bei dieser Dreifaltigkeit ausnahmsweise nicht das Geschäft, denn bald übt man sich angesichts der Vielfalt in Ignoranz.
Das sahen wahrscheinlich auch die Macher von "haz" und "mob" ein, die sich jetzt zusammengeschlossen haben. Aus den beiden Blättern wird ab Juni die "moz". Für den gestreßten Leser ist also Entspannung angesagt - für zwei Mark gibt's jetzt gebündelt die Probleme von der Straße. Meist steht man solchen "two-in-one"-Produkten skeptisch gegenüber. Doch hier geht's schließlich nicht um zwei grundverschiedene Köpfe, die unter einen Hut gebracht werden müssen - im Gegenteil. Ziel aller war und bleibt Hilfe für Obdachlose, die mit vereinten Kräften sicherlich besser zu leisten ist. +++
Viola Leipoldt
Berliner Zeitung, 31.05.1995, Kultur - Seite 25
"mob" war, wie dieses Dokument zeigt, einer der "Väter" der motz, der anderen Strassenzeitung in Berlin. Die Zeitung mob - magazin wurde damit eingestellt, aber der Verein mob e.V. blieb - trotz der Gründung der motz - weiter bestehen und übernahm im Jahr 1997 die Aufgabe, Herausgeberverein für den inzwischen gegründeten "strassenfeger" zu werden.
1994.06.01 - Berliner LeseZeichen: Burga Kalinowski: Hotte hatte einen Traum (zur Entstehung von mob
01.06.1994 - Berliner LeseZeichen: Burga Kalinowski: Hotte hatte einen Traum (zur Entstehung von mob)
Burga Kalinowski
Hotte hat einen Traum
Sie haben eigene Theatergruppen.
Sie haben sogar eigene Zeitungen.
Eine eigene Wohnung haben sie nicht- die Obdachlosen.
Oder Wohnungslosen. Oder Penner.
Sie sind aus der Bahn geworfen. Sie haben die Kurve nicht gekriegt. Sie leben auf der Straße. Im Politjargon kommen sie bestenfalls als "sozial Schwache" vor, als Minderheiten am Rande der Gesellschaft. Eine "Minderheit", die Tag für Tag zunimmt. In Deutschland sind ca. eine Million Menschen frei von Wohnraum. In Deutschlands Hauptstadt gibt es etwa 40 000, die kein Zuhause haben. " Ich habe einen Traum... einen großen Traum: Ein Haus, wo ich leben kann, mit anderen zusammen. Wo wir sagen können. Das ist unser Leben. Wir wollen was ändern, für uns selber - wir selber! Verstehste?! " Hotte, seit 15 Jahren wohnungslos, hat diesen Traum aus dem Tresor der aussichtslosen Wünsche hervorgeholt. Ganz vorsichtig geht er damit um, eher skeptisch: naja, wird ja doch nichts. Wann hat man je davon gehört ...? Und trotzdem: "Wir fangen erst an. Kann sein, daß es 10 Jahre dauert. Aber der Punkt ist da, daß wir den Aufstand machen." Hoffnung, erst mal in die Welt gesetzt, ist schwer auszurotten. Und immer hat sie einen Namen. Und immer wird sie von der Wirklichkeit zurechtgestutzt. Und immer bringt sie Erstaunliches zuwege: Gemeinsames Handeln.
Am 18. 3 . 1994 kommt "Mob" zum erstenmal heraus, das Straßenmagazin für Obdachlose in Berlin. Im Editorial heißt es: " Die Bedürfnisse und Lebensbedingungen von Obdachlosen werden öffentlich gemacht. Ursachen und Verantwortlichkeiten benannt und kritisiert, elementare (Menschen-)Rechte eingefordert. "Ein Programm für Gerechtigkeit. Ein weißer Rabe am bunten Medienhimmel. "Mob" wird von BIN e.V. (Berliner Initiative gegen Wohnungsnot) herausgegeben. Drei feste Redakteure hat das Blatt und ein Heer von freien Mitarbeitern: Berlins Obdachlose. Sie sind die Macher von der Straße. Sie liefern den Stoff, sie bürgen für Authentizität, sie bringen ihre Zeitung an die LeserInnen. Sie arbeiten, sie sind beschäftigt, sie haben zu tun. Der Tag hat Struktur. Man braucht schon einen Terminkalender, hat Besprechungen und Verantwortung. Die schnelle Mark ist hart verdient. Der Tagesgewinn durchaus ein Erfolgserlebnis. "Mann, war ich heute gut! Was war bei dir? " Eckhardt ist in Stimmung. Störtebecker nicht. War alles ein bißchen dünne.
"Mußt an die Leute rangehen. Nicht nur rumstehen. " Störtebecker nickt, ja klar doch. Und jeder der Verkäufer versteht ihn. Das innere Kribbeln kennen sie. Das plötzliche Zögern, kurz bevor sie einen Fremden ansprechen. Das wütende und enttäuschte " Na, dann nicht ". Kaum einer von ihnen hat die Erfahrung und Wendigkeit von Heiko. Wie schnell streift man die vielen kalten Nächte, das verzweifelte, einsame Herumirren in fremden Straßen ab? Was soll man tun, wenn aus allen Winkeln Angst und Bitterkeit kriechen? Jeder Zeitungsverkauf ist ein kleiner innerer Sieg. "Mob" ist der Schrei gegen gesellschaftliche Ausgrenzung. "Mob" ist der Beleg für Phantasie und Intelligenz, für Geschäftssinn auch. Und vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, ist das Magazin für einige das Schlauchboot, mit dem sie über den Ozean von Ignoranz, Ungleichheit und Chancenlosigkeit an das andere Ufer gelangen.
Nicht nur Hotte hat einen Traum.
Das Verkäufertreffen beginnt um 10.00 Uhr. Wer zu spät kommt, muß stehen. Etwa 20 Verkäufer sind da. Auf der Liste stehen 140. Eine schöne unrealistische Zahl. Hotte leitet den Vertrieb, und manchmal hängt es ihm zum Hals heraus. "Mob" hat eine Auflage von 50 000 Stück. Zwei Mark kostet die Zeitung, eine Mark behält der Verkäufer, die andere fließt zurück zur Finanzierung der Kosten. Bei den ersten drei Ausgaben ist die Redaktion aufjeweils rund 15.000 Zeitungen sitzengeblieben. Makulatur. Produktionskosten werden nicht gedeckt, und von Gewinn kann überhaupt nicht die Rede sein. Diskussion. Im Verkauf muß sich etwas ändern. Sofort. Heiko bietet eine Verkaufsschulung an. Eckhardt will im Offenen Kanal einen Beitrag senden. Wolfgang entwickelt eine PR-Strategie mit Promis (Weizsäcker auf der Titelseite, mindestens). Udo will endlich geklärt haben, ob sie wieder auf den S-Bahnhöfen verkaufen können. Der Brief an die Bahnbosse ist geschrieben. Abwarten. Nach zwei Stunden Debatte tritt der allgemeine Sitzungszustand ein, wo alles gesagt und die Hälfte noch unklar ist. Egal, bei der Nummer 4 muß die Sache besser laufen. Woanders geht es doch auch. Das strahlende Beispiel aus dem Norden beweist es: "Hinz und Kunz" in Hamburg. 140 000 Auflage- 140 000 verkauft. Was die können, können wir auch. In München hat sich BISS etabliert, in Hannover die "Hiobsbotschaften". Man kauft sich die Einblicke. Soziale Anteilnahme ist in Mode - und so schön einfach. Kostet auch nicht viel. Die originäre Kunde aus der Randwelt hat Konjunktur. Chance und Gefahr in einem für die Macher und ihre Absichten. Vera Rosigkeit, "Mob"-Redakteurin: " Die Gefahr, vereinnahmt zu werden, ist da Das Alibi für die Gesellschaft, nach dem Motto. jetzt haben die sogar 'ne Zeitung Und das eigentliche Problem, Wohnungslosigkeit, geht unter. In diese Richtung wollen wir Druck machen. Die Zeitung nutzen - eben immer draufzeigen. Und natürlich sind wir auch ein Anlaufpunkt für Wohnungslose. Ich hätte nie gedacht, welche Wirkung diese Zeitungsarbeit auf die Leute hat. Also, heute morgen war hier die Hölle los, weil die neue Ausgabe, die vierte Nummer, zu spät kam. Das ist stressig, aber macht eben auch Spaß."
Am 2. Juni 1994 kam die vierte Nummer von "Mob" heraus. Schon am Erscheinungstag rechnete Hotte 935,00 DM ab.
Die Freude hält sich in Grenzen - sie können rechnen. 30.000 DM brauchen sie, um wenigstens bis zum 31. August zu kommen. Wenn nicht, dann ist Ende Juli Schluß. Das war's dann. Aus der Traum? Hotte wirkt merkwürdig ruhig. Bei Heiko schlägt alles auf den Magen. Wolfgang guckt nur noch traurig. Die Redakteure telefonieren und verhandeln um Anzeigen. Alle Verkäufer rennen sich die Hacken ab. Hinter actions hämmert es: unddannunddannunddann? Sprüche wie "Krempelt mal die Ärmel hoch" oder Verweise auf markterobemde Risikobereitschaft wirken nur noch zynisch. Andere Berliner Blätter für und von Obdachlosen machen ähnliche Erfahrungen. In kurzer Zeit hat sich in Deutschlands Hauptstadt eine Mini-Presselandschaft entwickelt: Außer "Mob" gibt es "HAZ", "Platte" und "Zeitdruck". Bei allen Querelen, die Konkurrenz auf einem begrenzten Terrain bei nicht rosiger Verkaufslage mit sich bringt- sie sitzen in einem Boot. Überleben ist auch eine Frage der Solidarität. In jeder Hinsicht. "Mob"-Verkäufer stellen ein Ost-West-Gefälle fest: Die Stände am Kudamm und vor der FU waren ein freundlicher Reinfall, der Verkauf in der Wilmersdorfer Straße katastrophal, vor der Humboldt-Uni Unter den Linden lief es dagegen relativ gut, und beim Pressefest des ND kam Freude auf. Eine kleine Freude - für eine stabile Existenzgrundlage reicht es nicht. Doch welche Bank gibt ihnen schon Kredite? Habenichtsen, Außenseitern - einer Minderheit.
Und Hotte hat einen Traum ...
Gedichte von der Pennerstreet
Irgendwann wird er sagen:
"Ich bin ein Penner im Seidenanzug " An diesem Tag geht er in gedecktem Grau. Das Hemd paßt im Ton zum Anzug, die Krawattennadel glänzt dezent, der Füllfederhalter steckt griffbereit in der Brusttasche. Der Stuhl wird mir zurecht gestellt. Ich werde zum Kaffee eingeladen. Aufmerksam gibt er Feuer, rückt den Aschenbecher herüber. Rituale wie im Hilton. Wir sind in einem Biergarten am Alex. Heiko Andre Meyer gibt ein Interview. Er bietet mir das kollegiale Du an. Dann holt er einen Packen Papier aus dem Aktenkoffer. Die Gedichte. Ja, ich darf sie lesen. Na klar. Aber lieber trägt er sie vor.
deshalb fällt es uns so schwer
dem Chaos zu entrinnen
uns auf das Menschsein zu besinnen.
Der harte Kampf ums Überleben
hat Verformung pur ergeben
inzwischen sind wir Außenseiter
und wissen irgendwie nicht weiter.
(aus "Appell")
Heiko André Meyer ist Obdachloser, einer von vielen in Berlin, in Deutschland. Seit neun Jahren ist sein Leben aus der Balance. Er erzählt seine Geschichte. Sie ist banal - sie ist dramatisch.
1946 in Hannover geboren. Die Mutter ist Hausfrau, den Vater, einen englischen Offizier, kennt er nicht. Der Mann, den seine Mutter dann heiratet, ist Alkoholiker. Es war keine schöne Kindheit. Heiko M. hat heute noch Angst davor, hilflos zu sein.
Schulabschluß 1960, Lehre als Einzelhandelskaufmann bei einem Juwelier: Glitzer, Glanz und große Welt. "Irgendwann war ich 24 Jahre alt und wollte leben, schick, so mit Flair. Da habe ich in der Werbung gearbeitet, als Handelsvertreter. Und hatte jede Menge Geld " Er reist durch Europa, bis er keinen Pfennig mehr hat. Wieder in Deutschland, lernt er seine zweite Frau kennen. Es ist die große Liebe. Und alles geht gut.
Was dann passiert, zerstört die Balance seines Lebens für immer. Es ist die alte Geschichte. Die Frau brennt mit dem besten Freund durch. "Als nun alles kaputt war, wollte ich nur eins: Vergessen. Bis heute habe ich diese Trennung nicht verarbeitet. Was ich aufgebaut hatte, war plötzlich ohne Wert. Für die es war - die waren nicht mehr da. Ich habe dann gespielt. Verluste waren mir egal. Ich wollte sie. Alles sollte weg Erst das, dann ich. " Er läuft Amok gegen sich selbst. Der Abstieg geht rasend schnell. Aus dem Spiel der Verzweiflung ist längst Spielsucht geworden. Die höhlt ihn aus. Er nimmt Tabletten und überlebt sie.
Das Bild auf seinem Personalausweis zeigt einen gutaussehenden, strahlenden Mann. Heiko M. legt auch heute noch Wert auf Erscheinung und Etikette. Das verbindet ihn mit dem Heiko M. von früher. Es ist Eitelkeit - aber mehr noch seine Formel gegen Ich-Verlust. Bestimmt ist es das Ticket für einen Stehplatz in der Welt des Scheins. Er spricht über die Ambivalenz seiner Situation: ein Stück im Niemandsland der Selbstbehauptung, ein Stück auf der Pennerstreet, ein Stück im Minenfeld enttäuschter Erwartungen. " Wenn ich so laufe und meine Zeitung verkaufe ... manche fragen mich dann: Sie sind obdachlos? Und kommen ins Grübeln. Sie sehen den Penner - und vielleicht sehen sie sich selbst in ihm. Das ist der Spiegeleffekt. Der wird aber meistens verdrängt. Ja, die MOB. Das ist ganz, ganz wichtig Ich bin hier wie jeder andere einer, der ein Stück Anerkennung braucht. Bei MOB bau ich was mit. Da öffnet sich was, emotional. Ich kümmere mich. Das ist Bestätigung. Übrigens, hier im Osten, ist mir so aufgefallen, haben die Leute mehr Zusammenhalt. Ich habe hier mehr Menschen getroffen, wo ich offen sein kann. Das ist ein Phänomen. Hat wohl was mit euch zu tun, wie ihr gelebt habt. "
bringt nur den Brutalen weiter
So viele sind voller Trauer
hinter ihrer Seelenmauer
Auf dem Rücken aller Schwachen
sieht man sie Karriere machen
Fairneß ist nur noch ein Wort
heute herrscht der Seelenmord
(aus "Chaos 2")
Schreiben als Notwehr. Im Grunde habe er das schon immer gemacht, in extremen Situationen. Oder für Geld für irgendwelche Leute irgendwelche Verse. Was er jetzt schreibt, ist etwas anderes - er lebt in diesen Grenzbereichen. Irgendwo findet er da auch einen Platz. In einer Kneipe, "dadrüben in der Markthalle", oder auf einer Bank, den Aktenkoffer auf den Knien. Neulich war er in einer Punkkneipe. Dort fiel er auf, im feinen Tuch und schreibend. Das war eine bewußte Provokation. Irgendwann kamen sie dann, und er hat ihnen seine Gedichte vorgelesen. " Das suche ich mir. " Damit tritt er aus seiner Deckung heraus - ungeschützt.
Schreiben als Balancierstange beim Drahtseilakt Leben - Wünschelrute für Verständnis und Hoffnung. "Ich habe mich getarnt und mache es noch. Aber jetzt schreibe ich darüber. Wenn ich sehe, da sitzt einer und kann nicht mehr - dann sehe ich mich. Der Spiegeleffekt . .. hab ich schon gesagt. Man muß es nur begreifen: Das ist mein Leben. Ich weiß, ich werde nie mehr so was wie früher machen. Ich werde weiter schreiben. Mich interessiert, daß ich was zu sagen habe. Das ist mein bester Fund. Wünsche? Vielleicht ein Zimmer mit Tisch zum Schreiben. Ja, und leben."
"Was hast du in deiner Tasche?"
"Jede Menge Schreibpapier, paar Zeitungen, Medikamente. Was schon?! Ich bin eben ein Penner - im Seidenanzug " Sagt er. Und lächelt dazu.
Das sieht so traurig aus.
aus: Berliner LeseZeichen. Literaturzeitung. 2. Jahrgang, Heft 6/7, Juni/Juli 1994. Das Thema: anders, abseits, ausgegrenzt. Berlin: Edition Luisenstadt 1994, S. 32 - 36.