14.05.1998 - Berliner Morgenpost - Thorsten Funke: Redaktion mit Ratte, Hund und Filofax
"Ich heiße Erwin und verkaufe...": Zu Besuch bei Berliner Obdachlosenzeitungen
Von Thorsten Funke
Die S75 in Richtung Bahnhof Zoo rollt ein. Ein nagelneuer Zug, der ganze Stolz der BVG. Uwe, Verkäufer Nummer 020, greift seine Stofftasche mit 40 Exemplaren des Obdachlosenmagazins "Strassenfeger" und runzelt die Stirn. "Diese neuen Waggons taugen nichts", sagt er. In den großen Räumen kann man sich kaum bemerkbar machen.
Trotzdem stellt er sich ruhig in eine Ecke und wartet, bis die Türen schließen. Dann der Spruch, den jeder kennt: "Einen schönen guten Tag, und entschuldigen Sie die Störung." Beim zweiten Satz hören die Fahrgäste schon nicht mehr hin.
Uwe sucht Blickkontakt, meist findet er ihn nicht. Seine Brille wird am rechten Bügel nur mit Pflaster zusammengehalten und verschwindet fast unter den grauen Haarsträhnen. Sein Gesicht ist geschwollen, zwei tiefe Furchen marschieren von der Nase zu den Mundwinkeln. Sein Alter: 31. Seine Geschichte: Kinderheim, vom Vater rausgeworfen, Knast, obdachlos.
Jeder kennt das. Doch wie sieht es hinter den Kulissen der sozial engagierten Blätter aus? Besuch in der Redaktion des "Strassenfeger": In der Friedrichshainer Kopernikusstraße hocken 18 Leute, drei Hunde und eine Ratte auf 20 Quadratmetern und machen Zeitung. Uwe Spacek, der mit der Ratte, ist Schlußredakteur für die nächste Ausgabe. Er sucht noch Vorschläge für Artikel.
Redakteurin Jutta blättert in ihrem Filofax und verspricht "ein paar urst-interessante Geschichten". Jemand könnte ein Grundstück in Brandenburg für ein neues Obdachlosenprojekt auftun, ein anderer ist dagegen - warum uns Penner aus der Stadt rauskarren? Das wollen die da oben doch nur. Die Hunde bellen und werden ins Hinterzimmer gebracht. Die Ratte auf Spaceks Schulter wird unruhig. Spacek, der selbst nie obdachlos war und die Arbeit beim "Strassenfeger" "journalistisch interessant" findet, will für die Leute "ohne Dach über dem Leben" eine Lobby bilden.
"Wenn die hier zwölf Stunden am Tag unterwegs sind, um Zeitungen zu verkaufen", meint er, "ist das richtige Arbeitskraft - ein Potential, das von der Gesellschaft nicht genutzt wird." Die Auflage liegt zur Zeit bei gesunden 30 000 Exemplaren. Der Schlußredakteur bekommt 550 Mark. Geschrieben wird für 60 Pfennig die Zeile, nicht viel weniger als bei der "taz". Spacek: "Wenn die Zeitung authentisch ist, wird sie sich halten können." Die etablierte Presse, so findet Spacek, berichtet über Obdachlosigkeit nur im Winter. Also müssen die Themen an die Öffentlichkeit gebracht werden.
Als am 18. März 1994 mit der "mob" das erste Obdachlosenmagazin Berlins erschien, hieß es im Editorial: "Die Bedürfnisse und Lebensbedingungen von Obdachlosen werden öffentlich gemacht. Ursachen und Verantwortlichkeiten benannt und kritisiert, elementare (Menschen-)Rechte eingefordert." Neben der "mob" erschien noch im gleichen Jahr die "haz", von der spaltete sich bald die "Platte" ab. Die drei existieren heute nicht mehr.
Die "Platte" stellte nach ständigen finanziellen Querelen Ende letzten Jahres ihr Erscheinen ein. Aus "mob" und "haz" wurde per Wortzusammenziehung die "motz", die sich nun mit dem "Strassenfeger", der sich wiederum im Oktober 1995 von der "Platte" abgespalten hatte, den offensichtlich sehr bewegten Markt teilt. Die Konkurrenz wird dabei zunehmend schärfer. Nachdem Otto Schickling, der umtriebige und integrative Vorsitzende des Vereins "motz co.", im März verstarb, ist von einer Zusammenlegung beider Zeitungen nicht mehr die Rede.
Christian Linde von der "motz" hält die Überlegung, eine Fusion könne den Markt für beide entspannen, sowieso für eine Milchmädchenrechnung. Für die "motz", deren Auflage innerhalb des letzten Jahres auf 20 000 gesunken ist (die Zeitung galt einmal als Marktführer in Berlin), liegt die Lösung in einer zunehmenden Professionalisierung. "Von einem zusammengewürfelten Etwas", so Linde, "entwickeln wir uns zu relativer Professionalität."
In zwei Jahren feiert die "motz" ihr fünfjähriges Bestehen. Bis dahin will Linde soweit sein, "daß man das Ding richtig Zeitung nennen kann." Kein leichtes Unterfangen: da viele Mitarbeiter und Verkäufer der Obdachlosenzeitungen drogenabhängig sind, ist die Produktion von vielen Unwägbarkeiten begleitet. Zur Zeit werden in Hamburg und München eigene "motz"-Korrespondenten installiert.
Auch der "Strassenfeger" hat große Pläne. Seit einiger Zeit läuft eine Kooperation mit dem Magazin "looser" aus dem Odenwald. Noch in diesem Jahr sollen beide als "Strassenzeitung" zusammenfinden. Der Titel wird gerade geschützt.
Die Verkäufer spüren den Druck. "Früher habe ich mehr verkauft", verrät Uwe bei der Einfahrt in den Bahnhof Zoo. Immerhin: Nach acht Stationen und ebenso vielen Waggons hat er sechs Zeitungen weniger in seiner Stofftasche. Nicht schlecht für einen verregneten Mittag.
© Berliner Morgenpost 1998, 14.05.98
01.04.1998 - Scheinschlag - Karsten Krampitz: Premiere am Bahnhof Zoo
Premiere am Bahnhof Zoo
"Brauchste die Flasche noch? Und den Pappbecher? Und überhaupt, wie sieht das hier aus?" - Etwas verstört geistert Inge mit der Mülltüte durch die Menge der Sitzenden. "So dreckig kann man das doch nicht hinterlassen ..." - Sie hat Angst. Einen Moment zuvor gab der Bundesgrenzschutz (BGS) die letzte Warnung durch. Dienstagmorgen, Bahnhof Zoo, 1 Uhr 30: Es wird geräumt. Auch Inge mit ihrem Müllsack, den sie nicht aus der Hand gibt ...
Die Obdachlosenzeitung "Strassenfeger" und Jungdemokraten hatten für die Nacht vom 9. zum 10. Februar zur Sleep-IN-Party am Bahnhof Zoo geladen. "Es wird Zeit, daß wir der Öffentlichkeit zeigen, wie Berlin wirklich ist", lautete der gemeinsame Aufruf, dem über hundert Leute gefolgt sind. Darunter neben etlichen Arbeitslosen vom Aktionsbündnis, etwa siebzig Unbehauste - Stricher, Junkies, Punks und Schnorrer. Viele konnten sich die Anfahrt sparen, der Bahnhof - Metropolenanschluß und "Stätte der Begegnung" (Bahn AG) - ist ihr Zoohause. "Es ist eine verdammte Schweinerei, daß Menschen ohne Arbeit und ohne Wohnung auch noch von öffentlichen Räumen vertrieben werden", so Stefan Schneider vom "Strassenfeger". Nach und nach ergreifen die Obdachlosen selbst das Wort und fordern ihr Recht auf Wohnraum ein, während der Zoo immer grüner wird.
Unterdessen wird Nahrhaftes rumgereicht: belegte Brote, Würstchen, Negerküsse, Kaffee und natürlich Bier. Das für Berliner Verhältnisse Innovative an dieser Besetzung: die Eier sind gekocht.
Am Ende, nach nur anderthalb Stunden, glich die Halle dem Tiergarten kurz nach der Love Parade. Nur war die Musik besser. Das Streikorchester der Humboldt-Uni spielte auf (Kammervariante), genauso Bettina Wegner und Igor, ein Straßenmusiker. Doch zur gemeinsamen Session sollte es nicht mehr kommen ...
Die Zahl der in Berlin gemeldeten Obdachlosen beläuft sich auf ca. 12000.
Im Senatsjargon ausgedrückt, versteht man darunter all jene Personen und Haushalte, für die sich die Bezirke zur Unterbringung verpflichtet fühlen. Nicht jedoch die, die aus verschiedenen Gründen eine nichtseßhafte Lebensweise führen, eben die "Ratten" (Landowsky). Statt in Männerwohnheimen und Läusepensionen schlafen sie auf Dachböden, in Kellern, Nachtbussen usw. Das eigens für diese Menschen eingerichtete Übernachtungsangebot gleicht einem Tropfen in einem mickrigen Tümpel: nicht mehr als 460 Betten in kirchlichen Notübernachtungen. Den Segnungen dieser von den Bezirksämtern bezahlten Nächstenliebe kann nun weiß Gott nicht jeder teilhaftig werden. Neun von zehn Obdachlosen sind süchtig, oft sogar polytoxisch (Alkohol & Drogen). Doch in den meisten Einrichtungen herrscht Alkoholverbot, das glücklicherweise zunehmend liberal gehandhabt wird. Ein exzessiver Alkoholiker jedoch, der vielleicht auch noch Hundebesitzer ist, hat keine Chance auf Einlaß.
Besonders für diese Personengruppe stellt die nächtliche Schließung der Bahnhöfe eine akute Lebensbedrohung dar. Daher auch die Forderung der Organisatoren nach selbstbestimmten Übernachtungsmöglichkeiten.
Doch mehr als die Programmatik zählt die Aktion, die bundesweit einmalig ist. Nie zuvor haben sich "Unbedachte", und dann auch noch in dieser Anzahl, derart auf einen Regelverstoß geeinigt. Gerade in der Räumung - die nicht ohne Festnahmen verlief, eine Scheibe ging zu Bruch, auch mußte ein Rettungswagen gerufen werden - zeigt sich der Erfolg. Erstmalig ist der BGS gewaltsam gegen Obdachlose vorgegangen, nicht weil sie angeblich kriminell waren oder Schwarzfahrer, sondern in Folge einer gemeinsamen politischen Kundgebung. Von Scheitern kann also keine Rede sein - das war Premiere.
Karsten Krampitz
Der Autor ist Mitarbeiter der Obdachlosenzeitung "Strassenfeger".
http://www.scheinschlag.de/archiv/1998/04_1998/texte/news04.html
06.06.1997 - Berliner Zeitung - Melanie Richter: Mein Geist wußte nie wohin
"Mein Geist wußte nie wohin"
Günter war obdachlos und schrieb Gedichte bis er sich das Leben nahm
06.06.1997
Lokales - Seite 16
"Günter, oft haben wir zusammengesessen, haben geredet, alles Mögliche versucht zu erklären und zu verstehen." So beginnt ein ungewöhnlicher Nachruf in der Obdachlosenzeitung Strassenfeger. Wie ein Brief darüber das Foto eines jungen Mannes. Günter ist tot. Er war 21 Jahre alt. Er hat in einer Neuköllner Wohngemeinschaft gelebt und manchmal für den Strassenfeger geschrieben auch Gedichte. Vor ein paar Wochen nahm sich Günter Tomberger das Leben. Er lag tot in der Dusche neben ihm ein Stromkabel.
Gregor trauert um ihn. Öffentlich. Vielleicht würde sonst kaum jemand vom Tod des 21jährigen Notiz nehmen. Warum der Österreicher Günter nicht mehr zu Hause, sondern lieber in Berlin leben wollte, weiß Gregor nicht. "Erst war Günter nicht so voller Depressionen. Aber es wurde schlimmer. Und wer will schon was wissen über das ganze Elend? Die meisten sehen doch weg." Das "ist ein Scheißgefühl", sagt Gregor.
Bis vor zweieinhalb Jahren hatte Gregor noch einen gutbezahlten Job. Der 25jährige kommt aus einer Kleinstadt bei Stuttgart. "Ich hab· zwei Gesellenbriefe, bin Maurer und Zimmermann." Aber für "diesen Staat" will er nicht mehr arbeiten. Irgendwann landet Gregor in Berlin und lernt Günter kennen. Die beiden verkaufen den Strassenfeger und leben sonst vom Schnorren. Gregor braucht das Geld für Heroin und Schlaftabletten. "Günter war nie auf Droge. Aber den goldenen Schuß wollten wir uns zusammen setzen."
In der Nacht vor seinem Tod trinken sie zusammen Tee. Und reden über Träume. Manchmal habe sich Günter vorgestellt wie es sein könnte mit Enkeln auf dem Arm, eine Pfeife im Mund und den Blick auf die See gerichtet. Im Nachruf schreibt er: "Man wird nicht alt wegen der einfachen Tatsache, daß man eine bestimmte Anzahl von Jahren gelebt hat, sondern nur, wenn man sein eigenes Ideal aufgibt. Ich denke wir fanden kein Ideal." Als Gregor von dem Selbstmord erfährt, läuft er durch die Straßen, weint und singt von einem Freund, der alleine ging.
Im Innersten sei Günter verzweifelt und allein gewesen. In einem seiner Gedichte heißt es: Nur mein Geist wußte nie wohin, dieses Erkennen nahm mir jeglichen Sinn Zerrissen aus eigener Schuld kraftlos am Ende ohne Geduld Gregor glaubt: "Er nahm sich das Leben, weil er hier keinen Platz für sich gefunden hat."
Marina Richter
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1997/0606/lokales/0143/index.html
11.03.1997 - taz - Abenteuer Obdachlosigkeit: Jetzt bewerben!
Jetzt bewerben!
So säße er da, der arme Eberhard*, wenn, ja wenn er so leben müßte wie die über 10.000 Obdachlosen der Stadt. Zwar muß er nicht, aber jetzt darf er, kann er. Denn damit auch PolitikerInnen und andere "interessierte Menschen" endlich sachkundig mitreden können, lädt die Obdachlosenzeitung "strassenfeger" zum "Crashkurs Obdachlosigkeit". Für schlappe 180 Mark Solibeitrag (ermäßigt 120 Mark) bieten die "strassenfeger" nach einem Frühstück inclusive Kaffee und Zigaretten in einer Notübernachtung den garantierten Rauswurf auf die Straße. Frisch gestylt aus dem Kleiderfundus, aber ohne Geld, Ausweise, Schlüssel, Nahrung oder Kontakt zu Verwandten und Bekannten müssen sich die Probanden dann 24 Stunden durchs heimelige Berlin schlagen. Auch Decke oder Schlafsack sind - wie in der Realität - nicht vorgesehen. Aber keine Angst: Bekanntlich gibt es ja viele tolle Hilfsangebote für Wohnungslose. Wer die nicht findet, darf sich an die echten Obdachlosen wenden. Die kennen alle zum Überleben notwendigen Tricks. Abschließend wird ein Nachgespräch angeboten. Anmeldungen: heute am strassenfeger-Bus in der Jebenstraße hinterm Bahnhof Zoo oder an die Redaktion "strassenfeger", Kopernikusstraße 2, 10243 Berlin.
ga
Fotos: A. Schoelzel/P. Granser, Montage: taz Bemerkung: Foto-Text
TAZ-BERLIN Nr. 5175 vom 11.03.1997 Seite 24 Berlin 28 Zeilen
* gemeint ist hier Eberhard Diepgen, zum damaligen Zeitpunkt Regierender Bürgermeister von Berlin. Die Fotomontage, die nicht er erhalten ist, zeigt ihn als Bettler auf der Strasse.