09.02.2000 - Junge Welt - Karsten Krampitz: Wer schützt und vor dem Wachschutz?
Trauerfeier für Obdachlosen auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße
»Ich bin der Herr, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden. Jeremia, Kapitel 9, Vers 23.« Für einen Moment hält Pfarrer Grützmann inne. Er zeigt kaum Verwunderung über die Trauerfeier der etwas anderen Art. Gut fünfzig Leute sind gekommen: Obdachlose, Jungdemokraten, Sozialarbeiter und andere. Nicht zu vergessen der Bundesgrenzschutz. Eine halbe Hundertschaft sorgt diskret für Einkesselung, die üblichen Aufforderungen zum Verlassen des Geländes bleiben jedoch aus.
»Wir wollen suchen den Weg der Gerechtigkeit, die aus dem Herzen kommt, eben Barmherzigkeit«, sagt der Pfarrer der Sophiengemeinde Berlin-Mitte. Mit Barmherzigkeit spricht er diejenigen an, die nach gültigem Recht, aber nicht rechtens handeln - Polizei und private Sicherheitsfirmen.
Ohne Pathos und Gitarre singen die Liedermacher Bettina Wegner und Karsten Troyke »Eine Rose« für Willi. Wahrscheinlich hatte er einen anderen Namen, in der Szene aber kannte man ihn nur als Wilhelm King. In der Nacht vom 23. zum 24. Januar starb der 58jährige unweit des Bahnhofs Friedrichstraße an den Folgen einer Lungenentzündung. »Willi ist ganz jämmerlich verreckt«, heißt es in einem Flugblatt.
Die »strassenzeitung«, deren Verkäufer King war, aber auch der parteiunabhängige Jugendverband JungdemokratInnen/ Junge Linke (beide hatten zur Trauerfeier aufgerufen), werfen dem Sicherheitsdienst der Bahn AG unterlassene Hilfeleistung vor. So hätten die Wachschützer einen Rettungswagen oder zumindest den Kältebus der Stadtmission rufen müssen, dessen Fahrer die notwendigen Schritte eingeleitet hätte.
Einer der Redner, Freke Over (MdA/PDS), fordert gemeinsam mit den Veranstaltern »das Ende der Normalität der Vertreibung Obachloser und den Zugang für alle Menschen zu öffentlichen und halböffentlichen Räumen, unabhängig von Fahrkarte oder Kaufkraft!«
Noch immer wird soziale Armut als ein ästhetisches Problem begriffen, daher dienen die Wachdienste mehr der »Sauberkeit«, denn der Sicherheit. »Wer schützt uns vor dem Wachschutz?« fragt ein Transparent. Niemand. Grundrechte, wie das auf körperliche Unversehrtheit, werden mit Verweis auf das Hausrecht der Bahn AG mit Füßen getreten.
Der Tod von Willi King läßt aber auch ein anderes Problem deutlich werden: Wer wohnungslos ist, muß nicht unbedingt obdachlos sein. Willi King jedoch machte weder Gebrauch von der Notübernachtung der strassenzeitung noch von den Hilfsangeboten der Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Deren Auslastung beläuft sich derzeit auf maximal 80 Prozent, gleichwohl nur 814 Betten, beziehungsweise Isomatten vorhanden sind - das für offiziell 2 000 bis 4 000 Menschen, die nach Senatsschätzungen in Berlin auf der Straße leben. Warum also wird die Hilfe von vielen Betroffenen nicht angenommen.
Eine Diskussion dazu unter den Akteuren der Sozialfürsorge, die den Bedürfnissen und der Mitsprache der Obdachlosen Rechnung trägt, steht noch immer aus.
Karsten Krampitz
13.10.2000 - Freitag - Detlev Lücke: Bräute aus der Provinz
Am Samstagabend ist die U-Bahn voll. Man lässt das Auto zuhause stehen und rollt erwartungsfroh in die City. Im Bahnhof Turmstraße steigt eine Horde junger Mädchen ein. Eigentlich sind es junge Frauen. Aber sie benehmen sich wie durchgedrehte Backfische. Sie erinnern an Fußballfans in einer fremden Stadt: Gruppendruck, Stimmungsventile, Gegröhle, das nach Aufmerksamkeit der Einheimischen heischt. Die jungen Frauen tragen Brautschleier im Haar. Bräute aus der Provinz. Sie sprechen den hellen Dialekt aus Nordwestdeutschland, dessen Hochdeutsch immer leicht ins Blecherne changiert. Zwei von ihnen ziehen durch den Waggon und fangen an, die Leute um eine Mark anzugehen. Sie finden das außerordentlich lustig. Vielleicht wollen sie auch einmal auf der abgewandten Seite des Lebens wandeln, so wie sie da gut frisiert, gut gewaschen und gut angezogen aus Walsrode oder Osnabrück in die Hauptstadt gekommen sind. Die Passagiere reagieren abweisend. Zwei ältere Polinnen, die mir gegenübersitzen, behaupten: »Nje rasumejemy.« Wir verstehen nicht. Was vermutlich nicht stimmt.
Ich verstehe das Ganze auch nicht und blicke angestrengt in den Tunnel. »Aus dem Fenster sehen gilt nicht«, schreit mich im waggonfüllenden Diskant eine der Bräute an. Etwas humorlos antworte ich ihr: »Hier betteln jeden Tag Leute auf der U 9, die es bitter nötig haben. Sie tun das nicht ganz so ver gnügt wie ihr.« Eine Antwort der gefühlsmäßigen correctness, aber wahrscheinlich doch der falsche Ton gegenüber dieser geballten Harmlosigkeit. In der anderen Ecke spendiert ein Touristenehepaar eine Mark. Jubelndes Gekreische. Eine Sektflasche knallt auf. Die Mädchen haben Mutprobe und Wette gewonnen. Am Bahnhof Zoo entfernen sie sich laut schreiend in Richtung Hardenbergstraße.
Auf dem Bahnsteig schleicht jener schmale Typ herum, der sommers wie winters Sandalen ohne Strümpfe trägt. Er sucht wie immer Zigarettenkippen. Ein älterer Kerl schreit hinter den Sicherheitsleuten her, die durch die Wagen patrouillieren: »Fünf Meter höher sollten se de Mauer baun. Und denn oben Deckel druff.« - »Und du diesmal im Osten«, entgegnet ihm ein Altersgenosse. Der Blöker glotzt blöde.
Auf dem Fernbahnsteig erwarte ich die Ankunft des Interregio aus Oberstdorf. Er hat einige Verspätung. Am Kiosk erstehe ich einen Kaffee zu astronomischen Preisen. Am Nachbartisch steht ein Afrikaner, roter Jogginganzug, rotes Basecap. Plötzlich tauchen zwei Bundesgrenzschutzbeamte auf. Grüne Uniformen mit weißen Mützen. Die Mützen erinnern an die Kopfbedeckungen des KD (Kommandantendienstes), den Kettenhunden der Nationalen Volksarmee, wie sie dort selbstverständlich genannt wurden. Als der Autor Wiglaf Droste kürzlich die Feldjäger der Bundeswehr mit diesem ebenso historischen wie leider auch aktuellen Ausdruck bezeichnete, wurde er gerichtlich belangt. Die BGS-Leute bauen sich vor dem Schwarzen auf, verlangen seine Papiere. Er gibt ihnen eine Legitimation, die wie ein Zettel aussieht, mit seinem Passbild oben links. Der kleinere der Beamten, ein Typ wie Roland Koch, wenn er bei der Stasi gewesen wäre, glotzt auf das Papier, liest es immer wieder, als ob er noch unentwegt etwas Neues entdecken will. Natürlich gibt er das Dokument nicht zurück. Ein Déjà-vu-Erlebnis für mich. Als ich auf dem Bahnhof Salzwedel 1971 verhaftet wurde, stierte der Trapomann minutenlang in meinen Personalausweis, blätterte ihn hin und her, bevor er ihn wegsteckte. Vielleicht lernt man so was auf den Polizeischulen in aller Welt. Es ist erbärmlich. Der Afrikaner steht da wie ein Lamm Gottes, schafsgeduldig und in sein Schicksal ergeben. Einige Passanten bleiben stehen, denken wie ich naiv, sie könnten den Grenzschützer durch Beobachtung verunsichern. Der liest und knittert. Plötzlich klingelt im Jogginganzug des Afrikaners ein Handy. Er telefoniert. Lacht. Kann sich mitteilen. Das gefällt den Ordnungshütern überhaupt nicht. Sie führen ihn ab. Wollen nicht, dass sich Umstehende mit ihm über den fernen Kommunikationsgehilfen freuen.
Der Zug läuft ein. Der Sohn kommt von der Klassenfahrt aus Bayern zurück. Ich kaufe schnell noch einem Straßenverkäufer die neueste Obdachlosenzeitung ab, weil er mir leid tut, wie er da zum tausendsten Mal seine Bettellitanei herunterbetet. »Die zwei Mark hätte ich auch gut gebrauchen können«, meldet sich der Sohn dringlich in der Heimat zurück. »Dir geht es eigentlich ganz gut«, sage ich leise und erzähle ihm nichts von jenen Erlebnissen, die meine Wiedersehensfreude verunsichert haben.
09.05.2000 - taz - Wladimir Kaminer: Kriminelle Aktivitäten an der U-Bahn Schönhausser Allee (über Strassenzeitungsverkäufer)
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KRIMINELLE AKTIVITÄTEN AN DER U-BAHN SCHÖNHAUSER ALLEE
Am U-Bahnhof Schönhauser Allee versammeln sich ständig verdächtige Personen. Sie sehen so aus, als ob sie gerade eine Straftat planen würden oder bereits eine begangen hätten und nun auf der Flucht seien. Sie laufen nervös hin und her, schauen ständig auf die Uhr und rauchen wirklich pausenlos. Viele sehen auch selbstmordverdächtig aus. Sie stehen am Rand des Bahnsteigs und beobachten aufmerksam die unter tödlichem Strom stehende Schiene.
Zum Glück kommt alle fünf Minuten ein Zug und entführt dieses scheinbar kriminelle Publikum von der Schönhauser Allee weg - ins Grüne: in Richtung Ruhleben. Dort brau-chen sie nichts zu befürchten.
Auf diese Weise wird immer wieder eine beruhigende Bahnsteigökologie hergestellt. Ich benutze jeden Tag diese Linie und muss leider feststellen, dass diese harmonische Be-ziehung zwischen den Zügen und den Kriminellen nicht immer funktioniert. Manche stei-gen in den Zug gar nicht ein, und manche steigen aus dem Zug nie aus.Wie kann man sonst die Tatsache erklären, das ich drei Tage hintereinander zu den verschiedensten Tageszeiten jedesmal mit denselben vier Typen zusammen in einem Abteil hin und zu-rück fuhr?
Das Ganze sah aus wie eine dreitägige Theatervorstellung an der Volksbühne. Du kannst in die Kantine gehen, ein Bier trinken oder gar am nächsten Tag zurück kommen - die Schauspieler sind immer noch da.
Genau so war es auch im Zug. Den einen kenne ich bereits eine Weile - ein ganz harm-loser. Das ist der Typ, der immer die Stationen nachplappert und "Zurückbleiben" ruft. Der Arme hat sich irgendwann einmal eingebildet, er sei ein ehrenamtlicher BVG-Mitarbeiter, und muss nun den Passagieren helfen, indem er die unverständlichen An-sagen, die vom Band kommen, wiederholt. Manchmal kommentiert er auch auf unkon-ventionelle Weise den einen oder anderen Namen der jeweiligen U-Bahn-Station.
Mein zweiter ständiger Begleiter ist ein betrunkener Türke in einem schicken Ledermantel, der alle verspotten will.
Und dann noch ein kleines Mädchen mit einem riesengroßen Hund, das ständig mit der Leine um sich schlägt und "Sitz!" schreit.
Schließlich gibt es noch den Obdachlosenzeitungverkäufer Martin, der besonders viel Wert darauf legt, das alle seinen Namen wissen. "Ich bin der Martin", fängt er immer an, wenn ein neuer Fahrgast einsteigt, als ob das an der Sache irgendetwas ändern würde.
Manchmal denke ich, das Quartett arbeitet zusammen. Es ist ein klassisches Team. Nur, worauf sie hinaus wollen, ist bis jetzt noch unklar.
Der Türke verspottet alles und jeden, der Martin sammelt Geld, das Mädchen passt dar-auf auf, das sich keiner im Abteil bewegt, und der Verrückte informiert uns über den ak-tuellen Stand der Reiseroute. Sie sind ganz deutlich ein Team.
Manchmal improvisieren sie urplötzlich eine kleine Auseinandersetzung. Neulich nahm z.B. der Türke den Martin aufs Korn. Jedesmal, wenn der Zeitungsverkäufer zu reden anfing, wurde der Mann im Ledermantel laut und hänselte in seine Richtung. "Halts Maul!", hustete schließlich das kleine Mädchen mit dem Hund den Türken an. "Meinst du, der macht es aus Spaß? Guck dir den Mann an, er hungert. Und du Arschloch hast kein Gewissen." Der Türke stand auf und ging zu dem Martin hin. "Wie viel haste von dem Zeug?", fragte er ihn. "Fünfundzwanzig Stück", antwortete Martin. Der Türke holte 50 Mark aus der Hosentasche und kaufte ihm den ganzen Stapel ab. Danach drehte er sich um und sagte laut: "Guten Tag, ich bin der Mehmet, und nun kriegt jeder eine Zei-tung umsonst!" Zum Glück musste ich gerade aussteigen.
in taz-Berlin: S.21 * Kolumne taz Nr. 6137 vom 9.5.2000 Seite 19 Berlin 123 Zeilen Kommentar WLADIMIR KAMINER © Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
11.11.1999 - Tagesspiegel - Tobias Arbinger: Belästigung oder nicht?
Obdachlosenzeitung beschuldigt BVG der Verleumdung
Das Hickhack zwischen der BVG und der Obdachlosenzeitung "Motz" um die Frage, wo der Verkauf des Blattes erlaubt sein soll, geht weiter. In der aktuellen Ausgabe der Motz heißt es, die BVG betreibe eine "Verleumdungskampagne" gegen die Zeitung, von deren Erlös pro Stück 1.50 Mark an die wohnungslosen Verkäufer gehen.
In einem Brief an Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) hatte der Vorstandsvorsitzende der BVG, Rüdiger vorm Walde, am 22. September geschrieben, der eingetragene Verein "Motz & Co." entbehre der Gemeinnützigkeit. Er strebe diese aus Gewinninteressen auch nicht an, vermutete vorm Walde. Für die BVG ist die Gemeinnützigkeit jedoch Voraussetzung, um dem Verkauf an bestimmten Stellen zuzustimmen. Der Verein und die BVG wollen sich demnächst zu einem Gespräch treffen.
Motz & Co.-Vorstandsmitglied Helmut Gispert sagte, der Verein sei rückwirkend zum 1. 1. 99 als gemeinnützig anerkannt worden, nachdem er "drei Jahre dafür gekämpft" habe. Gispert sieht nun den Ruf der Straßenzeitung und damit den Bestand einer Notunterkunft in der Tieckstraße in Gefahr, die ausschließlich mit Spenden finanziert werde. Von den 50 Pfennig, die der Verein pro Exemplar einnehme, "können wir keinen Gewinn erzielen", sagte er. BVG-Sprecherin Barbara Mansfield sagte, sie habe den Verein Mitte Oktober ohne Erfolg gebeten, ihr eine Kopie des Anerkennungs-Bescheides zu schicken.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist die Frage, ob die BVG den Verkauf von Obdachlosenzeitungen in ihren Bahnhöfen und Zügen billigen sollte. Mit dem Konkurrenzblatt, der "Straßenzeitung" des als gemeinnützig anerkannten Vereins "Mob", hatten BVG, Bahn AG und die S-Bahn Berlin GmbH vor wenigen Wochen einen Vertrag unterzeichnet, wonach diese Obdachlosenzeitung ausschließlich an Zugängen und Übergängen von 65 U-, S- und Fernbahnhöfen verkauft werden darf. Nach Auffassung der Unternehmen verstößt der Vertrieb in den Fahrzeugen und auf den Bahnsteigen gegen die Beförderungsbedingungen des Verkehrsverbundes. Innoffiziell werden Motz-Verkäufer bei der BVG nach Angaben des Vereins in der Regel jedoch weiter geduldet. Auf S-Bahn-Terrain werden sie vom Wachpersonal aus den Zügen verwiesen. Die Bundestagsmitglieder Rüdiger Veit (SPD), Petra Pau (PDS) und Stadtentwicklungssenator Strieder sprachen sich dafür aus, den Verkauf der Motz in Zügen und auf Bahnhöfen weiter zu tolerieren. In seiner Antwort an Strieder schrieb der BVG-Vorstandsvorsitzende hingegen, der soziale Ansatz der Projekte sei zwar "unbestritten", viele Fahrgäste fühlten sich von den Verkäufern in der U-Bahn jedoch bedrängt. Das "Ausgeliefertsein" habe "negative Auswirkungen auf das subjektive Sicherheitsempfinden" der Fahrgäste. Der Verkauf "auf Bahnsteigen und in Bussen und Bahnen" sei "nicht akzeptabel und auch nicht notwendig". Der soziale Zweck könne auch anders erreicht werden. Im Brief des Stadtentwicklungssenators heißt es, er fühle sich durch Motzverkäufer in der U-Bahn "weder belästigt noch bedroht".
Durch einen mit dem von "Mob" vergleichbaren Vertrag würden "die Verkäufer ihrer Verkaufsstellen beraubt" fürchtet Motz-Vorstandsmitglied Gispert. "Der Erlös für die Leute würde mit Sicherheit gewaltig heruntergehen". Bei der "Straßenzeitung" heißt es allerdings, die Umsätze seien trotz des Vertrages gleich geblieben.