01.02.2003 - Kreuzberger Chronik -Hans W. Korfmann - Schach in der Wärmestube
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Es ist Mittwoch, kurz vor zwei, im gutgeheizten Vorraum der Heilig-Kreuz-Kirche werden Stullen gereicht mit Schinken, Wurst und Käse. Eine Frau geht um und füllt Kaffee in die leeren Tassen, Teller mit dampfender Suppe werden ausgeteilt. Die Stimmung ist gut, es wird gelacht und erzählt, man ißt und trinkt, es ist wie auf einem großen Kaffeekränzchen.
Aber Herbert ist der Gang in die Wärmestube schwergefallen. Für ihn ist es das unterste Ende der Leiter. Es ist noch gar nicht lange her, da saß er in Kneipen und Restaurants, hatte seinen Job, seine Frau, seinen Rhythmus … – Jetzt hat er nur noch eins: unendlich viel Zeit. Und dann kam der Tag, da reichte das Geld gerade noch für einen Kaffee zum Aufwärmen, zum Stück Kuchen und zum ausgiebigen Zeitunglesen. Die Kellnerin kannte ihn schon und wußte, daß er den halben Tag sitzen und lesen würde, sämtliche Stellenangebote. Kaum saß er, brachte sie ihm die Tageszeitungen. Aber irgendwann war auch dieses Geld knapp geworden. Und jetzt steht er zum ersten Mal in der Wärmestube, weil das Thermometer Minus 11 Grad zeigt, weil er keine Kohlen mehr hat, und weil sein Geld nicht mehr reicht für einen Platz im Café.
»Ist hier noch frei?« – »Jaja«, sagt der Mann, ein rüstiger Rentner, der am Tisch in der Ecke sitzt und die »Bäckerblume« liest. »Kannst auch ne Stulle haben. Ich hab grade ne Suppe gehabt.« – »Nein danke«, sagt Herbert, »ich wollte eigentlich nur nen Kaffee.« Später dann ißt er die Stullen doch, fünf Stück, hintereinander weg, ohne Pause.
»Hast wohl Hunger, wa?«, fragt ihn der mit der Pudelmütze und beugt sich über die Suppe, die man ihm gerade gebracht hat. Am Nebentisch leckt einer sogar den Teller sauber. »Sind Sie öfter hier?«, fragt Herbert nach den Stullen: »Nö, ich nehm das eigentlich nur in Anspruch, wenn ich’s wirklich brauche«, sagt der mit der Pudelmütze.
Wirklich zugeben, daß man es braucht, tut keiner hier. Sie tun, als säßen sie noch wie früher am Stammtisch oder in der Kantine, machen ihre Witze, philosophieren über Platon oder reden vom Krieg, sie lästern über Frauen oder Männer oder über den zu dünnen Kaffee, der gar nicht zu dünn ist. Sie sind gerade zwanzig oder schon sechzig, sie tragen Fellmützen, Kopftücher, Baseballcaps, Kapitänsmützen und mondäne Hüte, Lederjacken, Felljacken und Jacketts, sie kommen in Kniebundhosen mit Wanderschuhen oder in Pumps und Rüschenblusen. Sie sehen aus wie alle anderen, auf der Straße, am Imbiß, unterwegs zur Arbeit, im Kaufhaus. Aber jeder hier weiß, daß dort hinten die Kleiderausgabe ist. Und daß alles, was sie hier tragen, für andere wertlos geworden ist. Doch davon sprechen sie nicht.
Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die mittwochs in die Heilig-Kreuz-Kirche zum Kaffeeklatsch kommen. Aber sie fürchten, es zu werden. Deshalb klauen sie heimlich die Stullen und packen sie in ihre Rucksäcke und Plastiktüten. Als Proviant für später. Deshalb drängeln sie sich um den Suppentopf, als wäre da nicht genug für alle. Deshalb füttern sie heimlich den Hund unterm Tisch. Und deshalb beklagen sie sich, wenn der Teller des anderen voller ist als der eigene. Sie kommen immer wieder, jeden Mittwoch. Pünktlich. Einer von ihnen kommt immer um fünf Minuten vor Drei. Kurz, bevor geschlossen wird. Aber zu spät kommt er nie.
»Ich bin jeden Mittwoch hier!«, sagt der Alte mit der Bäckerblume zum Abschied und nickt Herbert zu. Dann nimmt er seine beiden Plastiktüten und die Schallplatte, »Träumereien II«. Und die Bäckerblume. »Sie haben ja noch ihre Wohnung, was? Seh ich Ihnen doch an. Das ist das Wichtigste. Daß man noch ein Dach überm Kopp hat!« Dann steht auch Herbert wieder draußen vor der Kirche, es ist noch ein bißchen kälter geworden. Und in seiner Wohnung, ahnt Herbert, ist es jetzt noch ein bißchen leerer.
Sie heißen, ganz unauffällig, »Evas Haltestelle«, »Kaffee Bankrott« oder »warmer Otto«. Sie nennen sich »Restaurant City-Station«, »Abendcafé« oder »Kiez Café«, und suggerieren mit diesen Namen ein Stück Normalität, sind scheinbar unauffällige Orte in der Stadtlandschaft, verteilt über die gesamte Metropole. Doch es sind die gut getarnten Schlupfwinkel für jene, bei denen es Zuhause, falls es das noch gibt, ungemütlich geworden ist. Und denen eine Stulle mit Schinken und Käse noch etwas bedeutet. Doch Sonntags, wenn andere in ihren warmen Stuben sitzen, und wenn in den echten Cafés und Kneipen Hochbetrieb herrscht, dann sind die Türen der meisten Wärmestuben geschlossen. Und Stullen für umsonst gibt es ohnehin nur selten in der Stadt.
15 Cent kostet der Kaffee in der Tagesstätte am Wassertor, einem von fünf Schlupfwinkeln in jenem Bezirk der Hauptstadt, in dem sich die Lebenswege der Armen statistisch am häufigsten kreuzen. Kreuzberg. Und eine der wenigen Adressen, die auch am Sonntag die Tür nicht verschließen. Frühstück gibt es in der Tagesstätte der Diakonie zwar keines, aber immerhin, es ist warm. Im Treppenhaus schließen zwei ihre Fahrräder mit einer Kette zusammen, auf den Gepäckträgern Isomatten und Rucksäcke, die Reinhold Messner Alpträume bescheren würden. Nicht alle, die hier sind, sind ganz unten auf der Leiter angekommen. Einige von ihnen sind noch unterwegs. »Ich halte es einfach nie lange irgendwo aus!«, sagt der Fahrradfahrer und schleift sein Gepäck die Stufen hinauf. »Egal, was ich anfange: Ich bekomme immer Ärger. Also bin ich auf Achse!«
Oben, im ersten Stock, scheint die Sonne durch die großen Fenster, die Tische sind auch hier, elf Uhr morgens, alle besetzt. Der Raum mit der Schreibtafel und der Pinwand mit dem Informationsmaterial und den bunten Papiergirlanden und den unsterblichen Plastiksonnenblumen, die in Ketten von der Decke herunterbaumeln, sieht aus wie ein Schulraum, der wenigstens zum Fasching etwas fröhlicher aussehen soll. Doch auch echte Blumen stehen am Fenster, einer dieser verstaubten deutschen Gummibäume, zwei große Philodendron, und um das Bücherregal ranken sich einige Lilien. Drinnen liegen dicke Wälzer und erzählen Geschichten von »Helden wie wir!« oder vom »Weg ins Leben«. »Lieb Vaterland, magst ruhig sein« von Mario Simmel, oder »Die Liebe ist nur ein Wort«. Die Botschaften dieser literarischen Werke verbreiten wenig Optimismus, doch es sind einige, die an diesem Sonntagmorgen schweigend in den vergilbten Seiten der Bibliothek blättern.
»Ich würde gern den Abfahrtslauf sehen!«, sagt ein Mann, der gerade hereingekommen ist und seinen Kaffee bezahlt. Denn den Kaffee zahlt man hier im voraus. Er deutet zum Fernseher. »Wann soll denn der sein?«, fragt der Kaffeeverkäufer. »Um Eins!« – »Da gibt’s kein Abfahrtslauf im Fernseher. Da gibt’s hier den Blauen Bock!«
Der Neue setzt sich schweigend neben die Schachspieler, auf ihren längst leeren Kaffeetassen leuchten Blumen in kitschigen Farben. Einer der Spieler hüllt sein Gesicht in dicke Rauchwolken, der andere hat die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, damit der Gegner nicht sehen kann, welche Figur er ins Visier nimmt. Sie überlegen nicht lange, sie kennen das Spiel und sie kennen den Gegner, und sie opfern ihre Bauern wie Napoleon die Soldaten in der Schlacht von Waterloo. Auf dem Spielfeld sind sie Könige. Es sieht schlecht aus um die Dame des Kettenrauchers. Dann springt sein Pferd dazwischen, und alles sieht wieder anders aus. Im Spiel.
Einen Tisch weiter halten vier Männer Karten in den Händen, legen sie auf der Resopalplatte nach Farben und Figuren zurecht. Beim Rommé hat die Welt noch ihre Ordnung. Da verteilt sich das Glück gerechter als im Leben. »Das war meine einzigste Möglichkeit!«, ruft einer. »Wat jammerste denn immer so rum, Mann!« – »Dat is mir anjeborn!«, sagt der mit der einzigsten Möglichkeit.
Vierzig Männer sitzen an den Tischen der Tagesstätte am Wassertor. Frauen sind nur zwei darunter. Das Klima ist ein bißchen rauh hier. Zwei Skinheads sitzen in einer Ecke, Runenzeichen auf der Brust. Hier ist Platz für alle. Auch für die drei Afrikaner, die sich auf einen Kaffee getroffen haben. Sie sind eine Ausnahme, in der Regel spricht man Deutsch in den Wärmestuben. Vielleicht, weil die Fremden, bevor sie auf der Straße landen, wieder zurückgehen in die alte Heimat. Egal, wie mühselig das Leben dort auch ist. Aussichtsloser als hier ist es dort auch nicht.
Die Afrikaner sitzen, etwas abgesondert, am Ende eines Tisches und unterhalten sich angeregt. Neben ihnen sind die Kinder, mit kleinen Zöpfchen und Rastalocken, im Sonntagsstaat, ihre weißen Hemden strahlen, auch ihre großen Augen strahlen noch. Still sitzen sie auf ihren Stühlen, die Beine baumeln in der Luft, und lauschen auf jedes Wort, das die Väter sprechen. Sehen aus, als verstünden sie alles. Es sind schöne Kinder, ihre Augen sind voller Neugierde. Aber sie lachen nicht. Und sie stehen nicht ein einziges Mal auf, um zu spielen.
»Ich hab zwei Joker hier!«, lacht der Kartenspieler. »Das hilft Dir jetzt auch nichts mehr!« sagt der Mann neben ihm. »Hier ist Verlieren angesagt. Haste das immer noch nicht kapiert!«
Inzwischen hat sich noch jemand an den Tisch mit den Schachspielern gesetzt, die Glatze beginnt ein Gespräch. »Ich wollte eigentlich das Skirennen sehen«, sagt er. Und später: »Ich war mal deutscher Jugendmeister im Mehrkampf!« – »Schön!«, sagt der andere, und fügt hinzu: »Ich war mal ganz gut im Wasser, hundert Meter Kraul. Aber weeßte, jetzt stehts mir bis zum Hals!« Dann spricht der Glatzkopf von dem Geschäft und dem Umsatz, den er damit gemacht hat. »Ach weeßte!«, sagt da der andere. »Hier war doch jeder mal was! Oder gloobste, die wärn alle hier jeborn?«
»Schach!«, sagt der Schachspieler mit der Mütze. Zum zweiten Mal hat er den Gegner in die Enge getrieben. Der Neue kratzt sein kahles Haupt: »Jetzt biste matt!« Der Raucher sagt nichts. Dann zieht er den Turm über das gesamte Feld und bietet ebenfalls Schach. Wieder hat er einen Ausweg gefunden. Auf dem Spielfeld. »Darauf wär ich nicht gekommen!«, sagt die erstaunte Glatze. »Du mußt halt noch ne Menge lernen!«, sagt der Raucher.
So schnell ist eben keiner matt hier. Man kennt sich aus mit der Ausweglosigkeit. Im Aufspüren von Hintertürchen. Das hat man lernen müssen. Gleich ist es drei. Dann wird geschlossen. Dann machen sie sich wieder auf die Reise durch die Stadt. In irgendeine andere Wärmestube, eine, die offen hat an diesem Sonntagnachmittag, nach Friedrichshain vielleicht, nach Spandau, oder nach Lichtenberg. Irgendwohin eben, wo noch ein Türchen offensteht.
Fotos: Günter R. Herzel
Quelle: http://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2003/februar/reportage.html
19.09.2002 - tagesschau.de - Judith Nafziger: Obdachlose haben meist eine andere Wahl
Klaus Fahnert ist obdachlos. Tagein, tagaus sitzt er an der Oranienburger Straße in Berlin neben einem kleinen Kiosk auf einem Schemel. Ab und zu kehrt der rauschbärtige, kräftige Kerl den Bürgersteig, um sich etwas Essen und Trinken zu verdienen. Auch diesmal trägt er seine Mütze, an die er sich viele Anstecknadeln geheftet hat. Die mit dem Spruch "Stoppt Stoiber" sticht sofort ins Auge. Doch politisch ist Klaus nicht. "Eure Fürsten sind Abtrünnige und Tagesdiebe. Und euch zu wählen, ist mir ein Greuel", sagt er und fegt die Illusion weg, einen obdachlosen Menschen gefunden zu haben, der am 22. September wählen geht.
22 Berliner Obdachlose haben Wahlunterlagen beantragt
Bislang haben nach Angaben des Landeswahlleiters erst 22 Obdachlose in Berlin überhaupt ihren Antrag auf Aufnahme ins Wählerverzeichnis eingereicht. Das ist bei einer geschätzten Zahl von 2000 bis 4000, die ohne ein Dach überm Kopf in der Hauptstadt leben, eine verschwindend geringe Anzahl. Und ob diese kleine Schar ihre Briefwahlunterlagen abschickt oder gar den Weg in die Wahlkabinen wagt, um abzustimmen, ist mehr als fraglich.
Nur wenige wohnungslose Menschen wählen
Bei der Bundestagswahl 1998 hatten in Berlin lediglich knapp 30 Obdachlose ihre Stimme abgegeben. Auch bundesweit gab es nur einen geringen Anteil. Und so wird vermutlich auch bei dieser Wahl der Großteil der Stimmzettel von den geschätzten 860.000 Obdachlosen in Deutschland nicht in den Urnen landen. Die Wahlunterlagen werden bei den Behörden erst gar nicht abgeholt .
Viele haben "eine ausgeprägte Amtsangst"
Mit Behörden stünden die meisten Obdachlosen sowieso auf Kriegsfuß, sagt Rudi Petersdorff, der in der Notunterkunft der Helfer des Vereins "motz" in Berlin-Friedrichshain lebt und arbeitet. "Da gibt es eine ausgeprägte Amtsangst. Viele sind vielleicht gebrannte Kinder." Nach seinen Schätzungen gehen höchstens 10 Prozent der wohnungslosen Menschen zur Wahl.
Die Überlebensmechanismen auf der Straße zählen
Diese Meinung teilt auch Heiko-André Meyer, der manchmal für Obdachlosenzeitungen schreibt. "Ich denke, bei den meisten ist irgendein Zahn gezogen oder ein Rückgrat zerschmettert. Die wollen mit dem Staat nichts zu tun haben." Und für Politik interessierten sich diejenigen schon gar nicht, fügt Meyer hinzu, denn es gäbe schließlich Dinge, die viel wichtiger seien - die ganz normalen Überlebensmechanismen auf der Straße. "Wo übernachte ich die kommende Nacht oder wie komme ich an die nächste Flasche Bier ran?", das, so Meyer, sind die wirklich interessanten Themen. Und letztendlich sei es für den Obdachlosen egal, ob er den Stoiber oder den Schröder habe. Vom Prinzip her würde sich da nichts ändern. Auch er selbst wird sein Kreuzchen diesmal nicht machen. "Ich entscheide mich ungern zwischen zwei Übeln. Eine staatsbürgerliche Einstellung mag das nicht sein, aber es ist eine menschliche in meiner Situation", verteidigt Meyer seine Haltung.
Politiker fragen nicht, was sie tun können
Das sieht ein Kollege vom Berliner Nollendorfplatz anders. Der Verkäufer der Obdachlosenzeitung "motz" -Zeitungsverkäufer mit dem fränkischen Akzent ist einer der wenigen, der mit Verve seinen politischen Standpunkt klar und unmissverständlich verkündet. "Jede Stimme, die nicht abgegeben wird, geht automatisch an Stoiber. Und den wollen wir hier nicht. Deshalb gehe ich wählen." Damit spricht er das aus, was Klaus Fahnert in der Oranienburger Straße stumm an seiner Mütze zur Schau trägt. Warum Klaus den Sticker überhaupt trägt, wo er doch eigentlich unpolitisch ist, will er nicht verraten. Nur soviel: "Zu mir kommt doch kein Politiker auf die Oranienburger und fragt mich, was er tun könnte."
Judith Nafziger, tagesschau.de
Nachtrag:
Dieser Beitrag bedarf eines Kommentars. Der strassenfeger hatte sich, ebenso wie die motz dafür stark gemacht, dass wohnungslose Bürgerinnen und Bürger wählen dürfen und dass dafür ein Verfahren erarbeitet wird.
Inzwischen gibt es eine Stichtagsregelung und der Landeswahlleiter gibt zu jeder Wahl Richtlinien für wohnungslose Bürger heraus, um ihnen die Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen. Genaueres ist beispielsweise hier zu finden:
Berliner Wahlen 2006 auch für wohnungslose Menschen
Der hier im Beitrag genannte Heiko-André Meyer schreibt übrigens nicht nur manchmal für Obdachlosenzeitungen, er war auch kurzzeitig im Gründungsjahr 1994 des Vereins mob - obdachlose machen mobil e.V. einer der Vorsitzenden.
Wenige Wochen später trat Heiko-André Meyer von diesem Amt zurück, weil es damals erhebliche Bedenken dagegen gab, dass ein Bürger ohne festen Wohnsitz in den Vorstand eines Vereins gewählt und in das Vereinsregister eingetragen werden kann. In der weiteren Geschichte des Vereins gab es dann tatsächlich Vorsitzende, die wohnungslos waren, allerdings hatten sie eine konkrete Meldeadresse im Ausweis vermerkt und konnten auch bei Vereinsregister angemeldet werden (eingetragener Verein, kurz: e.V.).
stefan schneider, 18.11.2006
13./14.07.2002 - Märkische Allgemeine Zeitung - Melanie Katzenberger - Blätterwald auf Asphalt
Robert Schwarz ist ein höflicher Mensch. „Die Dame?", spricht er die Passantinnen in der Brandenburger Straße in Potsdam an, „die Dame, darf ich Ihnen auch mal die Obdachlosenzeitung für Berlin und Brandenburg mitgeben?"
Robert Schwarz verkauft „Die Stütze", die jüngste der drei Berliner Straßenzeitungen. Viele Obdachlose bieten alle drei Blätter feil: die motz, den Strassenfeger und die Stütze. Doch Robert Schwarz findet, „man sollte einem Verein treu bleiben."
Der „Stütze - Aufbruch von unten e.V." wurde vor zwei Jahren gegründet. Ein halbes Jahr später ging die erste Zeitungsausgabe in Druck. Nach einem weiteren Jahr eröffnete der Verein eine Notunterkunft mit sieben Betten in einem ehemaligen Ladengeschäft im Wedding. Dort, in einer ruhigen Kopfsteinpflasterstraße mit türkischer Bäckerei und Tabakladen, ist auch die Redaktion untergebracht. Vereinsgründer und Chefredakteur Uwe Spacek sitzt im Vorraum. Er trägt Jeans und Karohemd, Brille und Bart, das rotblonde Haar hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Zwei Jahre vollkommener Selbstausbeutung" liegen hinter ihm, sagt er. Doch zum Leben reicht es immer noch nicht. Der 42-jährige bekommt Arbeitslosengeld. Um sich ein paar Euro dazu zu verdienen, zieht er regelmäßig mit einem Stapel von Stützen im Arm los. „Ich bin wahrscheinlich der einzige Redakteur, der seine Zeitung selbst verkauft." Es klingt nicht bitter, eher amüsiert.
Uwe Spacek will kein klassisches Obdachlosenblatt machen, sich nicht auf die Berichterstattung rund um die Wohnungsnot beschränken. „Wir sind ein soziales Magazin, das Themenvielfalt aufweist", sagt er.
Recht auf Faulheit unter der Lupe
In der aktuellen Ausgabe geht es um Lust, Liebe und Sexualität. Anlass ist der Christopher-Street-Day und die Love-Parade. Auch das Recht auf Faulheit oder den Zusammenhang von Umweltsünden und Armut haben die Stütze-Macher schon beleuchtet. Es gibt feste Rubriken, sie heißen O-Ton, Leidkultur und Ratgeber. Das Layout ist abwechslungsreich, die Vielzahl von Schriftarten und Gestaltungselementen wirkt jedoch etwas unruhig.
Gemacht wird die Stütze von drei Redakteuren, zehn festen Autoren und zwei Fotografen. Auch Verkäufer kommen in der Stütze regelmäßig zu Wort. „Viele wollen nicht nur die Zeitung verkaufen, sie wollen sich einbringen", sagt Uwe Spacek in seiner unaufgeregten Art. Man fragt sich nicht, warum er sich für Arme und Obdachlose engagiert, es passt zu ihm. Seine Kindheit hat Uwe Spacek zum Teil im Ausland verbracht, unter anderem in Tansania. Sein Vater war beim Rundfunk, Abteilung Außenpolitik. Als er zehn war, kehrte er mit seinen Eltern in die DDR zurück. Er sagt: „Ich habe an den Sozialismus geglaubt." Heute kämpft er für die, die durch das soziale Netz gefallen sind. Angefangen hat Uwe Spacek bei der PDS-nahen Berliner Linken Wochenzeitung, später hat er ein Journalistik-Fernstudium begonnen und als Redakteur beim „Strassenfeger" gearbeitet. Doch es gab Streit, er verließ das Blatt und machte sich selbständig.
Der „Strassenfeger" existiert seit 1995, hieß zwischenzeitlich Straßenzeitung und wird vom Verein „Mob - Obdachlose machen mobil e.V." herausgegeben. Gemacht wird das Blatt von Zivildienstleistenden, ehrenamtlichen Helfern und Leuten, die „Arbeit statt Strafe", „Arbeit statt Sozialhilfe" oder „gemeinnützige zusätzliche Arbeit" leisten. Auch die Verkäufer selbst liefern regelmäßig Beiträge.
In der Redaktion an der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg ist es laut und staubig, das Haus wird saniert. Die Strassenfeger-Leute bereiten den Umzug in ihr neues Domizil an der Prenzlauer Allee vor. Dort sollen die einzelnen Mob-Projekte – das Kaffee Bankrott, die Redaktion und ein Trödelmarkt – unter einem Dach vereint werden.
Der Mob-Vorsitzende ist im Urlaub. Deshalb schmeißt Kerstin Herbst den Laden. Die 43-Jährige ist über die Kommunalpolitik zum Strassenfeger gekommen. Sie sitzt für die Grünen in der Pankower Bezirksverordnetenversammlung, hörte dort von mob e.V. und begann sich zu engagieren – ehrenamtlich.
Im Frühjahr ist ihr dann auch noch „die Redaktionsarbeit zugefallen", weil die dreiköpfige Redaktionscrew das Blatt verlassen hat. Der Grund: Unstimmigkeiten, es ging um Honorare. Kerstin Herbst – kurze Haare, schwere Lederjacke, Zigarette in der Hand – ist eine resolute Frau. Sie fühlt sich wohl in der Rolle der Macherin. Der Szenenjargon à la „Cash auf die Kralle", „Staatsknete", „wenn die Technik abschmiert" geht ihr leicht über die Lippen. Über sich selbst spricht sie nicht gern. Auch über die ständigen Querelen bei den Straßenzeitungen nicht. Nur so viel: „Das sind ja alles linke Projekte und keiner ist so gut darin, sich zu zerstreiten, wie linke Gruppen."
Kerstin Herbst leitet die allwöchentliche Redaktionssitzung im benachbarten Prenzelberg-Straßencafé mit Blick auf Abrisshäuser neben schmucken, frisch sanierten Fassaden. Sie bespricht die eben gedruckte Ausgabe, plant die neue. Um alternative Gastronomie soll es gehen. Auch der Strassenfeger will sich nicht allein aufs Soziale verlegen. Der Grund: „Unsere Leserschaft ist heterogen." Außerdem: „Immer nur zu schreiben, wie schlecht es den Armen geht, das ist zu platt", sagt Kerstin Herbst. Auch der Strassenfeger hat feste Rubriken. Dazu gehört das Promi-Interview – zuletzt mit Dieter Thomas Heck, der Sozialhilferatgeber und die Schnittstelle, in der ein rauschebärtiger Mann namens Wolfgang Sabbath das Weltgeschehen kommentiert. Ein Standard ist auch die Berichterstattung über die Sanierung des eigenen Hauses. Das ist dem Verein geschenkt worden. Später sollen dort wieder die alten Mieter und Obdachlose einziehen. Der Strassenfeger hat originelle Bildideen und gute Fotos. In fast jeder Ausgabe gelingt eine Hinguckerseite.
Die Stärke der motz, der dritten im Bunde, ist eine ansprechende Optik nicht, vielmehr versprüht sie einen eher Spröden Charme. Auch die Texte sind zwar faktenreich, aber meist recht trocken. Das gilt vor allem für die „Profi"-Ausgabe., die im Wechsel mit der Obdachlosenausgabe erscheint, in der ausschließlich Verkäufer zu Wort kommen. Während Stütze und Straßenfeger mit ehrenamtlicher Arbeit und über geförderte Stellen entstehen, bezahlt der motz & Co e.V. einen festen Redakteur. Das Geld dafür stammt aus dem vereinseigenen Unternehmen mit Umzugsfirma, Trödel und Antiquariat, in dem etwa 20 Menschen arbeiten. Gründungsmitglied und Chefredakteur Christian Linde versteht sich als Chronisten in Sachen Armut und Obdachlosigkeit. Er kritisiert, dass sich die Tageszeitungen des Themas nicht in gebührendem Maße annehmen. Auch den anderen Straßenzeitungen wirft er das vor. „Die berichten über alles, nur nicht über die Wohnungsnotfallproblematik." Das hält er für verwerflich, weil sie alle doch ursprünglich mit genau diesem Anspruch angetreten sind. Wer sich eine Obdachlosenzeitung kauft, der will darin auch etwas zum Sujet finden, davon ist er überzeugt.
Der 39-Jährige sitzt in einem Straßencafé am Marheinekeplatz in Kreuzberg, unweit der motz-Redaktion, komplett in Schwarz gekleidet, Silberringe an den Fingern. Er trinkt Mineralwasser und erzählt. Christian Linde ist eloquent, man hört ihm gerne zu, das weiß er. Er sagt Dinge wie, „von einem Grundmotiv auf eine allgemeine gesellschaftliche Ebene abstrahierend" oder „phänomenologisch dafür ist ...". Dass die erste Straßenzeitung zwei Jahre nach Gründung des Obdachlosentheaters „Die Ratten" entstand, findet er bemerkenswert, zeige es doch wieder einmal, dass „in der Kunst erstmals auftritt, was später gesellschaftliche Relevanz erlangt." Er hat Kommunikationswissenschaften und Publizistik studiert, deshalb interessiere er sich für so etwas, sagt er.
Konkurrenz der Blätter nützt den Obdachlosen
Die Standardfragen nach Auflage und Verkauf findet er langweilig, was bisher über die motz geschrieben wurde auch. Das hat er schon am Telefon gesagt. Ob sich der gebürtige Kreuzberger wirklich überlegen fühlt – wer weiß. Zumindest tut er so.
Die starke Konkurrenz, den steten Kampf auf dem Asphalt um Kunden, versuchen alle Beteiligten positiv zu sehen. Für die Qualität der Blätter sei sie nur gut, sagt Kerstin Herbst. Auch für die Verkäufer ist sie von Vorteil. „Die können sich aussuchen, was sie verkaufen wollen." Und sie diktieren die Preise. Inzwischen gehen zwei Drittel des Erlöses an sie, früher war es nur die Hälfte. Und dann sind da noch die sozialen Projekte – Notunterkünfte, Tagescafés – die hinter jeder Zeitung stehen, erinnert Uwe Spacek. Und je mehr es davon gibt, desto besser.
Robert Schwarz wohnt seit drei Monaten in der Notunterkunft der „Stütze" und verkauft die Zeitung – eigentlich in der Berliner S-Bahn. Doch dort treten sich inzwischen Zeitungsverkäufer, Musiker und Schnorrer auf die Füße, deshalb will er sein Glück in Zukunft auch öfter in Potsdam versuchen. Vor dem Stern-Center, hat er gehört, soll es besonders gut laufen.
Melanie Katzenberger
Veröffentlicht in: Märkische Allgemeine Zeitung, 13./14. Juli 20022001 - ddp - Sarah-Mai Dang: Wir lieben uns nach wie vor nicht
"Wir lieben uns nach wie vor nicht"
Die Berliner Straßenzeitungen haben sich an die Konkurrenz untereinander gewöhnt
-- Von ddp-Korrespondentin Sarah-Mai Dang --
Die U-Bahn-Tür öffnet sich und ein Mann in verschlissener Lederjacke steigt ein. Unter dem Arm trägt er einen Packen Zeitungen, die er verkaufen will, Straßenzeitungen. Ab und an findet der Mann einen Abnehmer. Manche Fahrgäste sind genervt, denn er ist bereits der dritte Verkäufer, der sein Magazin loswerden möchte. Drei Straßenzeitungen gibt es derzeit in Berlin: die "motz", die "straz" und die "Stütze". Alle drei sind aus verschiedenen Zeitungsgründungen und -auflösungen hervorgegangen. Die Historie ist kompliziert.
Am Anfang gab es "Haz" und "Mob". Aus der "Haz" ging die "Platte" hervor. Der Rest "Haz" schloss sich mit der "Mob" zur "motz" zusammen. Ein Teil der "motz" ging später zum "Straßenfeger", der sich aus der "Platte" löste. Der "Straßenfeger" fusionierte mit dem "Looser", hervorgegangen aus dem "Wohungsloser", zur "Straßenzeitung". Heute heißt sie "straz". Die "Platte" ging ein. Dann wurde die "motz-life" gegründet, die im Wechsel mit der "motz" erscheint. Teile der "Straßenzeitung" und der "motz" gründeten die "Stütze". Alle drei Magazine erscheinen vierzehntägig an verschiedenen Wochentagen und kosten 1,20 Euro.
Grund der wechselnden Titel sind persönliche Streitigkeiten der Mitarbeiter und interne Meinungsverschiedenheiten zum Konzept. Nachdem sich die gröbsten Auseinandersetzungen und Vorwürfe gelegt haben, begrüßen die Macher inzwischen nach außen hin die Konkurrenz. Wenn die "Stütze" und die "straz" eingingen, würden sowieso wieder neue Projekte geschaffen, meint "motz"-Geschäftsführer Bernd Braun. Außerdem sei Konkurrenz wichtig für die Qualitätssicherung. Die Zeitung muss gut sein, damit sie Abnehmer findet und somit auch für die Verkäufer als Einnahmequelle interessant wird.
Ähnlich sieht das auch "straz"-Herausgeber Stefan Schneider. Zwar hätten sich die unterschiedlichen Charaktere nicht zusammenraufen können, um eine gemeinsame Zeitung zu machen, doch würden die Projekte auch voneinander lernen. Ebenso denkt sein Konkurrent und ehemaliger Kollege, "Stütze"-Gründer Uwe Spacek. Nach gescheiterten Fusionsgespräche von "motz" und "Straßenfeger" vor etwa drei Jahren sieht auch er keine Möglichkeit für eine gemeinsame Zeitung. "Wir lieben uns nach wie vor nicht", sagt Spacek. Doch gebe es Kooperationen wie Unterschriftenaktionen, zum Beispiel gegen die Vertreibung Obdachloser aus den Bahnhöfen. Sicher wäre auch ein gemeinsames Vertriebssystem sinnvoll, um Geld und Kräfte zu bündeln, doch dies sei momentan nicht machbar.
Eine Zukunft für eine gemeinsamen Zeitung sieht auch Braun nicht. Außerdem sei Berlin groß genug für drei Straßenmagazine. Die beiden Stadtmagazine "Zitty" und "tip" fusionierten ja auch nicht, nur weil sie ähnlich arbeiteten. Außerdem unterschieden sich die Projekte auch zu sehr in ihrem Konzept. So pflege die "Stütze" beispielsweise ein viel engeres Verhältnis zu ihren Verkäufern und probiere ihnen in ihrem Blatt ein "zu Hause" zu geben, meint Braun. Dagegen werde bei der "motz" - genauso wie bei der "straz" - das Private strikt von dem Geschäftlichen getrennt. Während Braun denkt, dass sich die Verkäufer sowieso nicht für den Inhalt der Zeitungen interessieren, legt Spacek besonders Wert darauf, dass sie sich in der "Stütze" wiederfinden.
Die drei Straßenzeitungen dienen suchtkranken und obdachlosen Menschen nicht nur als Einnahmequelle. Durch den selbstständigen Verkauf bekommen sie auch ein stärkeres Selbstvertrauen. Zudem nehmen sie weniger Drogen, um die Zeitungen besser präsentieren zu können. Ferner sollen die Berichte auf soziale Probleme aufmerksam machen. Die Magazine fungieren ebenso als Sprachrohr der Bedürftigen. Hinter den Zeitungen stehen auch noch weitere Projekte, bei denen auch feste Arbeitsplätze entstanden. So bieten die Vereine "motz & Co", "mob - obdachlose machen mobil" und "Stütze - Aufbruch von unten" noch teilweise Selbsthilfekonzepte wie Notübernachtung, Treffpunkte, Trödelhandel, Transporte, Bauprojekte und Kulturveranstaltungen.
Die Zeitungen sind essentiell wichtig für die Vereine. Sie bekommen mittels Anzeigen dadurch Aufträge und Spenden für ihre anderen Projekt wovon sie wiederum ihre Magazine finanzieren. Staatliche Förderungen erhalten die Vereine nicht. Daher werde es die "motz" auf jeden Fall weiter geben, versichert Braun., der bei einer Auflage von etwa 28.000 auch keinen Grund zur Beunruhigung hat. Auch Spacek ist bei seiner "Stütze" zuversichtlich. Die Auflage am Anfang von 7000 habe sich mittlerweile auf etwa 15.000 erhöht. Diese Anzahl sei aber auch nötig, um ihr Projekt zu finanzieren. Schneider gibt sich ganz pragmatisch. Die "straz" - mit einer Auflage um die 15.000 - würde solange gemacht, wie sie gebraucht werde. Und wenn die anderen Vereinsprojekte vollkommen selbständig geworden sind, brauche man die Zeitung nicht mehr.