Obdachlos in Warschau

Im Frühjahr 2004 besuchte eine Gruppe von Mitarbeitern/innen sozialer Projekte, die dem Warschauer Wohlfahrtsverband Mazowia angehören, den PARITÄTISCHEN Berlin und ausgewählte Projekte von Mitgliedsorganisationen, darunter auch mob - obdachlose machen mobil e.V. Im Hinblick auf den damals unmittelbar bevorstehenden und inzwischen vollzogenen Beitritt Polens zur Europäischen Union bat mob e.V. die Vertreterinnen von Mazowia, zeitnahe einen Besuch von Obdachlosen- und Armen-Projekten in Warschau zu organisieren. Anfang Juli 2004 war es dann soweit. Dr. Kerstin Herbst, Mitarbeiterin von mob – obdachlose machen mobil e.V., schildert ihre Eindrücke.

Alkohol häufigste Ursache

Durch das Menschengewimmel auf dem Warschauer Altmarkt schiebt sich ein sichtlich betrunkener schmutziger Mann, die Flasche in der Hand. In den Straßencafés bettelt er um Geld. Erfolglos, denn die Warschauer und Touristen schauen entweder weg oder vertreiben den Penner mit heftigen Worten.

Das Gesicht der offenen Obdachlosigkeit in Warschau ist männlich, zwischen 30 und 50 Jahre alt und meistens alkoholisiert. Der Alkohol, so sagten uns alle unsere Gesprächspartner/innen, sei in Polen die wichtigste Ursache dafür, dass Familien zerbrechen und Männer, Frauen und Kinder auf die Straße geraten. Während obdachlose Männer und Trebekids im Warschauer Zentrum beim Übernachten in Straßenbahnhäuschen oder auf den Bänken der innerstädtischen Parks oder beim Umkleiden hinter dem Müllcontainer am feinen Warschauer Kulturpalast zu beobachten waren, sahen wir obdachlose erwachsene Frauen allenfalls an den zahlreichen Warschauer Bahnhöfen.

Frauen ohne Lobby

Polnische Frauen werden vor allem dann obdachlos, wenn die Trennung von ihren prügelnden Männern nicht gelingt. Das Zentrum für Frauenrechte Warschau bestreitet vehement, dass polnische Männer prügeln, weil sie saufen. Sie prügelten vielmehr aus der weitverbreiteten Haltung heraus, dass ein Ehemann ein Gewohnheitsrecht besitzt, seine Frau für "unangemessenes" oder gesellschaftlich inakzeptables Verhalten zu bestrafen.

Polizei und Justiz stehen trotz moderner Gesetze zur Verfolgung „häuslicher Gewalt“ auf Seiten der Männer. Es gibt viel zu wenige Frauenhäuser. Die Obdachlosenasyle seien nicht frauengerecht, im Gegenteil: Häufig seien die Frauen dort Übergriffen männlicher Anstaltsleiter ausgesetzt (vgl. www.glow-boell.de/cgi-bin/ global/download/ftp/texte/Nowakowska.doc).

Besuche bei Projekten

Frauengerechte niedrigschwellige Hilfen sind ein Kooperationsthema der Zukunft. Diesmal besuchten wir hochschwellige Projekte: Der Verein Offene Türen betreibt unter anderem ein Jugend-Berufsbildungsprojekt für männliche Jugendliche von der Straße und aus Kinderheimen, das etwa 20 Jugendlichen in drei Jahren Schulabschlüsse und Berufsausbildungen vermittelt.

Das Obdachlosen-Therapiezentrum Legionowo bei Warschau (Träger: Hilfsorganisation Heiliger Franziskus) ermöglicht 40 alkoholkranken männlichen Obdachlosen im Alter von 23 und 65 Jahren eine sechsmonatige Therapie mit anschließender Vermittlung in den Arbeitsmarkt und – wenn möglich – in den Wohnungsmarkt.

Angebot nach Lebenslagen

Das Obdachlosen-Wohnhaus Haus Bethanien der Gemeinschaft Brot des Lebens ist eines von sieben Häusern der Gemeinschaft in Warschau. Etwa 240 Obdachlose können hier einen Ort zum Leben finden. Das Angebot ist nach Lebenslagen und Bedürfnissen differenziert und umfasst je eine Notübernachtung für Frauen, ein Hospiz für alte und kranke Obdachlose und Krankenhausentlassene, ein Mutter-Kind-Haus mit angeschlossener Montessori-Kita, ein Haus für junge Männer und Frauen in der Berufsausbildung usw.

Daneben suchen Mitarbeiter/innen von Brot des Lebens auch offen Obdachlose auf Warschauer Bahnhöfen und in Lauben auf und bieten ihnen Verpflegung, Beratung und persönlichen Kontakt an. Im Warschauer Umland betreibt Brot des Lebens eine Näherei und eine Tischlerei. Dort werden Berufskurse für Erwerbslose und Obdachlose angeboten, die vom EU-Programm PHARE gefördert werden. Darüber hinaus vergibt die Gemeinschaft Stipendien für arme Kinder.

Ungenaue Zahlen

In Warschau existiert keine Statistik über die Zahl der Obdachlosen. Ob das als Mangel empfunden werden muss, sei dahingestellt; schließlich ist die in Berlin kursierende Zahl von „2000 bis 4000 auf der Straße lebenden Menschen“ ja auch schon 15 Jahre alt. Die Zuwendungsliste 2004 der Warschauer Stadtverwaltung weist aus, dass in Nachtasylen und betreuten Häusern 1.050 Plätze für Männer und 990 Plätze für Frauen (davon 540 in einem einzigen Heim für alleinstehende Mütter) gefördert werden. Hinzukommen etwa 400 Krankenbetten, 85 Entgiftungsplätze, fünf medizinische Ambulanzen, neun Küchen, die 3.300 Mahlzeiten am Tag ausgeben, die zentrale Lebensmittel-Sammelstelle Food Bank, sechs Beratungsstellen, vier Bäder und zehn Kleiderkammern.

Hauptstadt mit Anziehungskraft

Das erscheint viel für eine Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern. Die polnische Hauptstadt ist – neben Poznan – die wirtschaftsstärkste Stadt in Polen. Die Stadtverwaltung spricht von einer Arbeitslosenquote von lediglich 1,9 Prozent.

Die polnische Provinz und das flache Land müssen mit Erwerbslosenquoten von 30 Prozent und einer schnellen Verarmung der Bevölkerung fertig werden. Arbeitslosenhilfe wird meist nur für sechs Monate gezahlt, Sozialhilfe gibt es nicht. Warschau – nunmehr Hauptstadt eines EU-Landes – hat eine große Anziehung für viele der 38 Millionen Polen und natürlich auch für viele Migranten/innen.

Staatliche Förderung begrenzt

Allerdings hat die Warschauer Stadtverwaltung im sozialen Bereich kein Geld zu verschenken. Die Zuwendungen werden halbjährlich ausgeschrieben und decken nur einen geringen Teil der tatsächlichen Kosten. Deshalb sind viele Warschauer Projekte der Obdachlosenhilfe – auch die von uns besuchten – international vernetzt, um EU-Mittel oder private Spenden einzuwerben. Die Philosophie der Projekte, so unterschiedlich die Zielgruppen auch sind, besteht darin, die Obdachlosen in einer überschaubaren Zeit in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen zu einem Dach über dem Kopf zu verhelfen.

Bei der schulischen und beruflichen Qualifizierung erbringen sie Leistungen, die in der Bundesrepublik Sache der Arbeitsagenturen und der Jugendämter sind, in Polen aber nur punktuell von freien Trägern angeboten werden. Der Glaube an Nüchternheit, eine gute Schulbildung und die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes ist groß, ein Optimismus, der uns Deutsche ein wenig staunen lässt.

Unsere GesprächspartnerInnen waren froh, dass Polen nun Mitglied der EU ist. Der Stolz, wieder zu Europa zu gehören, erleichtert das Gespräch – auch über die zweifellos vorhandenen kulturellen Differenzen in der Betrachtung von Armut und Obdachlosigkeit – und ermöglicht unkomplizierte Kooperationen.

Kontakt:
Dr. Kerstin Herbst
mob – obdachlose machen mobil e.V.
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http://www.paritaet-berlin.de/artikel/artikel.php?artikel=1700 

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