01.12.2004 - unaufgefordert - Alexander Thobe: Hinterhof-Literaten

In Berlin werden jeden Monat über 80.000 Obdachlosenzeitungen verkauft. Ein Blick in die Redaktionen von »Stütze« und »Strassenfeger«.

»Meine Damen und Herren, bitte entschuldigen sie die Störung. Aber da ich zurzeit leider obdachlos bin und keine Lust habe, klauen zu gehen oder Ähnliches, verkaufe ich das Obdachlosenmagazin ›der Strassenfeger‹ …« Wem kommen diese Zeilen nicht bekannt vor? Jeder, der mit S- oder U-Bahn fährt, trifft täglich Verkäufer der drei Berliner Straßenzeitungen »motz«, »die Stütze« und »der Strassenfeger«. Und jedes Mal steht man vor der Entscheidung: kaufen oder nicht kaufen? Was passiert überhaupt mit dem Geld? Vielleicht sollte man besser an anderer Stelle spenden? Antworten auf diese Fragen geben Thomas Schepers und Uwe Kunz, Chefredakteure der Stütze. ->
Ihre Redaktionsräume sind in der Bastianstraße 21 am Gesundbrunnen. Im vorderen Teil befindet sich ein Internetcafé für Mittellose. »Bis vor einiger Zeit hatten wir hier auch noch eine Notübernachtung, aber wir haben beschlossen, uns mehr auf die Zeitung zu konzentrieren«, sagt Uwe Kunz. Grund für die Schließung der Notunterkunft war der hohe Drogenkonsum der Obdachlosen. »Wir haben überall Spritzen gefunden; im Treppenhaus und im Innenhof. Das war in einem Haus, in dem auch Kinder leben, nicht zu verantworten«, erzählt Kunz.

80 Cent verdient

Die Redaktion der Stütze besteht vorwiegend aus Freien Mitarbeitern. Viele Artikel verfassen Professoren, Autoren, Politiker oder andere Leute mit Erfahrung. Obdachlose schreiben in der Stütze gar nicht. »Wir möchten ein Heft machen, das die Leute auch wegen seines Inhalts kaufen und nicht nur aus Mitleid mit den Verkäufern – sonst hätten wir ja nur ein Titelblatt mit zwei oder drei Texten«, erklärt Uwe Kunz.
In den Händen der Obdachlosen liegt bei der Stütze der Verkauf. Dafür unterhalten die Berliner Obdachlosenzeitungen an mehreren Verkehrsknotenpunkten wie dem Alexanderplatz, dem Ostbahnhof oder dem Bahnhof Zoo kleine Verkaufsbusse. Dort werden die Zeitungen an die Verkäuferinnen und Verkäufer ausgeben. Wer verkaufen möchte, geht zu einer dieser Anlaufstellen und meldet sich an. 80 Cent verdienen die Verkäufer pro Exemplar. Das Geld steht ihnen zur freien Verfügung. Auf diese Weise verkauft die Stütze jeden Monat 20.000 Hefte. »Viele der Verkäufer sind gleich für mehrere der drei Obdachlosenzeitungen tätig«, sagt Kunz.
Die 40 Cent, für die die Zeitungen an die Verkäufer abgegeben werden, benötigt die Stütze fast vollständig für die Produktion. Werbung findet sich in Obdachlosenzeitungen kaum. »Viele Unternehmen denken noch, dass Straßenzeitungen auch einen sozial schwachen Leserkreis haben und sich Werbung dort nicht lohnt«, erzählt Schepers.
Den Zweck der Stütze sehen die beiden Redakteure vor allem darin, den Obdachlosen durch den Verkauf der Zeitung eine Aufgabe und Tagesstruktur zu geben. »Viele Obdachlose«, sagt Kunz, »sind auf Grund ihrer mangelnden Perspektiven nicht in der Lage, die staatlichen Hilfen, die ihnen zustehen, auch einzufordern.«
Das gleiche Ziel verfolgt der Verein mit dem Projekt »Transit«: In Zusammenarbeit mit dem Studentenwerk Berlin soll ein alter Plattenbau saniert werden. Dort werden 330 zeitlich begrenzte Wohnangebote, sowohl für Wohnungslose, als auch für andere Hilfsbedürftige geschaffen. Das Projekt richtet sich auch an Menschen aus Therapieeinrichtungen und Frauenhäusern, oder einfach an alle, die eine günstige Unterkunft für eine begrenzte Zeit suchen. »Wir wollen kein Ghetto für Obdachlose schaffen«, sagt Kunz. »In einem solchen Ghetto könnte keine Resozialisierung stattfinden.« Denn Transit soll die Obdachlosen wieder an ein Leben mit eigener Arbeit und geregeltem Tagesablauf heranführen. Es werden Werkstätten entstehen, in denen die Obdachlosen einfache Produkte herstellen, die sich zum Weiterverkauf eignen.

Bankrott und Trödel

Ganz anders als bei der Stütze sieht es beim »Strassenfeger« aus. Im Hinterhaus der Prenzlauer Allee 87 tobt das Leben. Mehr als 30 Menschen tummeln sich unter dem Dach des »mob e.V.«. Es gibt das Café Bankrott, einen Trödel, Notübernachtungen für acht Männer und vier Frauen und die Redaktion des Strassenfegers. »Der Verein mob e.V. wurde 1994 von Obdachlosen als Selbsthilfeprojekt gegründet«, erzählt Mitarbeiterin Sonja. Ein Jahr später erschien dann die erste Ausgabe des Strassenfegers. Bis heute ist die Zeitung die Haupteinnahmequelle des Vereins. Die 40 Cent, für die auch mob e.V. jeden Monat über 40.000 Zeitungen an die obdachlosen Verkäufer weitergibt, decken nicht nur die Produktionskosten, sondern sichern zudem die Existenz des Cafés und der Notübernachtungen.
Im Café Bankrott werden Lebensmittelspenden für Obdachlose auch an andere sozial schwache Menschen verteilt. »Es kommen manchmal Rentner vorbei, um einige Lebensmittel mitzunehmen«, sagt Sonja. Außerdem wird jeden Mittag eine warme Mahlzeit zum Selbstkostenpreis angeboten. In den Notübernachtungen können Obdachlose acht Wochen für 1,50 Euro pro Nacht wohnen. »Wir versuchen, die Obdachlosen während der Zeit, in der sie hier wohnen, wieder in einer festen Bleibe unterzubringen, beispielsweise in betreuten Wohneinrichtungen«, ergänzt Sonja.

Keine Konkurrenz

Der Selbsthilfecharakter des Vereins hat sich bis heute gehalten. Viele der Mitarbeiter kennen Obdachlosigkeit oder andere soziale Notlagen aus eigener Erfahrung. Einige haben früher selbst die Hilfe des mob e.V. in Anspruch genommen und über eine Anstellung im Verein wieder in ein geordnetes Leben zurückgefunden. Anders als in der Stütze schreiben im Strassenfeger vorwiegend Leute aus dem Verein, zum Teil auch Obdachlose selbst. Der Inhalt der Zeitung konzentriert sich dadurch stärker auf soziale Probleme und Projekte für sozial Schwache.
Ob es zwischen den drei Berliner Straßenzeitungen denn keine Konkurrenz gibt? Sonja schüttelt den Kopf: »Das Verhältnis ist neutral.« Es gebe keine Zusammenarbeit, aber auch keinen Wettbewerb. Uwe Kunz von der Stütze ist gleicher Meinung. »Alle Straßenzeitungen in Berlin sind eigentlich aus einer einzigen hervorgegangen, der HAZ – Hunnis Allgemeine Zeitung«. Daraus gründeten sich nach und nach die anderen Projekte. Letztlich geht es bei allen um die gleichen Ziele: eine sinnvolle Beschäftigung, Geld verdienen und eine Resozialisierung in ein normales Leben.

Alexander Thobe
http://www.unaufgefordert.de/content/view/927/8/

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