Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
2. Konsequenzen und Perspektiven
für die weitere TheoriebildungWenn drohende Wohnungsverlust und in der Folge dauerhafte Obdachlosigkeit zu einem Risiko mit einem Allgemeinheitsgrad avanciert, mit dem schon lange nicht mehr nur ein marginaler Teil der bundesrepublikanischen Armutsbevölkerung konfrontiert ist, sondern das immer weitere Kreise der in der Bundesrepublik lebenden Bevölkerung existentiell tangiert, muß anhand vorliegender Entwicklungen auch die Frage in das Zentrum wissenschaftlicher Untersuchungen gestellt werden, welcher gesellschaftliche Stellenwert dem Wohnen überhaupt zukommt. Zu den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und ihren Konsequenzen für die (zukünftige) soziale Arbeit liegen schon eine Reihe von Überlegungen vor: Im Szenario "High-tech braucht High-soz" des MITARBEITERTEAMS 1989 besteht die Aufgabe ambulanten Hilfe nahezu ausschließlich darin, in hochspezialisierter Arbeit den Wohnungslosen - ohne Perspektive auf Wohnraum - Kompetenzen zum Überleben in der Wohnungslosigkeit zu vermitteln.
High-tech braucht High-soz
25 Jahre Ambulante Hilfe e.V. im Rückblick 1978-2003*
"Wachstumsorientiertes Hilfesystem ür obdachlose Menschen"
In den vergangenen 25 Jahren hat sich das Stuttgarter System der ambulanten Nichtseßhaftenhilfe in verschiedenen Bereichen weiterentwickelt. Die Entwicklung war auf der einen Seite gekennzeichnet durch Spezialisierung entsprechend den Problemlagen (Wohnen, Arbeit, Beziehungen, Schulden, Sucht...) und andererseits durch zunehmende Zentralisierung.
Durch Neustrukturierung, Umorganisation und Umbenennung der Arbeitsbereiche war der Weg frei für ein dynamisches, am Wachstum der modernen Industriegesellschaft orientiertes Hilfesystem. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß jedoch angemerkt werden, daß sich das Wachstum nicht auf die Höhe der Zuwendungen für Sozialhilfeempfänger bezieht (hier ist seit 1985 ein Null-Wachstum zu verzeichnen), sondern auf die Anzahl der Personen, die mit der Verwaltung von Armut beschäftigt sind.
Beschützte Beratung
Obwohl auch nach zehn Jahren intensivsten Suchens kein Ersatzgebäude für die Zentrale Beratungsstelle in der Hohen Straße gefunden worden war, konnte doch in der Zwischenzeit der Umzug in neue Räumlichkeiten stattfinden. Das Amt fur Zivilschutz hatte einen großzügigen Mietvertrag für die acht Stockwerke umfassenden Schutzräume unter dem Stuttgarter Hauptbahnhof angeboten. Diese Lösung bietet den Vorteil, daß die freundliche Optik unserer Olympia-Landeshauptstadt nicht beeinträchtigt wird und die Beratungsgespräche in einer sicheren Atmosphäre stattfinden können. Diese neuen Räumlichkeiten bieten soviel Platz, daß in ihnen sämtliche Träger der Nichtseßhaftenhilfe zusammengefaßt werden konnten, ebenso die zuständige Sozialhilfedienststelle eine Spezialabteilung des Gesundheitsamtes (Entlausung, Aids-Selektion), sowie Versorgungseinrichtungen für die Hilfesuchenden (Duschen, Wäscherei, Schließfacher, WCs). Die Gesundheitsversorgung übernahm die Sanitäterausbildungsabteilung des Katastrophenschutzes.
Diese neue Zentrale Beratungsstelle nennt sich, um ihren neuen Anspruch besser zu verdeutlichen, Lokale Anlauf- und Beratungs- Einrichtung für Resozialisierungswillige, kurz: LABER.
Der Begriff "für Resozialisierungswillige" bezieht sich hierbei darauf, daß durch eine Neuauslegung der Mitwirkungspflicht nur noch diejenigen Hilfesuchenden Leistungen erhalten, die glaubhaft ihr Interesse bekunden, wieder ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden zu wollen. Dieses Interesse bekunden die Hilfesuchenden dadurch, daß sie beim ersten Kontakt mit dem Sozialarbeiter eine Freiwillige Einigung über Sozialpädagogische Sonderbehandlung zur Eingliederung ins Leben, kurz: FESSEL, unterschreiben.
Anzumerken ist noch, daß in diesem neuen Gebäude, dem Herzstück des Stuttgarter Hilfesystems, eine eigene Polizeiwache den Pfortendienst übernimmt.
Ein Eingreifen beim Auftreten "besonderer sozialer Schwierigkeiten" ist praktisch sofort gewährleistet. Sozialhilfedoppelbezug wird im Vorfeld durch Abgleich computergespeicherter Daten ausgeschaltet. Die Polizei hat gegenüber den früheren ZDLs erhebliche Vorteile. Daß sie mit der notwendigen Sensibilitat vorgeht, garantiert die neu eingeführte Polizei-lnterne Sozialpädagogische Supervision, kurz: PISS.
Betreutes Wohnen
Auch beim Kapitel Wohnen lassen sich erfreuliche Veränderungen vorweisen. Die Zurückhaltung von Bund und Land beim sozialen Wohnungsbau haben die freien Träger (AH, EVA, CV) als Chance genutzt, um im großen Rahmen selbst Wohnungen und Häuser anzumieten.
Die Vermieter sind froh, daß sie sich bei Schwierigkeiten nicht mehr an die Bewohner, sondern nur an die Träger als Hauptmieter wenden müssen. Dabei können sie sich darauf berufen, daß diese für alle Bewohner eine fünfjährige Nicht-Auffälligkeits-Garantie geben, wobei während der ersten drei Jahre zusätzlich ein uneingeschränktes Bewohnerumtauschrecht eingeräumt ist.
Dies macht es natürlich notwendig, daß von den Bewohnern ein umfassender Wohn-Betreuungsvertrag unterschrieben werden muß. Im begründeten Interesse aller Klienten beschreibt der Wohn-Betreuungsvertrag sämtliche Möglichkeiten des Probewohnens, versuchsweisen Umsetzens in betreute Wohngemeinschaften und Versetzens in teilstationäre und stationäre Einrichtungen.
Die Sozialarbeiter sind Tag und Nacht in Rufbereitschaft, ziehen die Miete ein und erfreuen die Bewohner durch regelmäßige, unangekündigte Haushaltsberatungsbesichtigungsbesuche.
Da trotz dieser umfassenden sozialpädagogischen Betreuung manche Klienten beim Wohnen überfordert sind, hat sich die Schaffung der Koordinationsstelle für Neue Alleinunterbringung - Stationäre und Teilstationäre, kurz: KNAST, bestens bewahrt.
Diese Koordinationsstelle ist eine Abteilung der frisch gegründeten Gesellschaft Neues Wohnen, in der zentral und mit trägerubergreifendem Zuschnitt alle Fragen der Wohnraumbeschaffung und -betreibung verwaltet werden.
Betreutes Arbeiten
Nachdem die Neue Arbeit GmbH & Co KG durch überstürzte Grundstückskäufe, Objekterwerbungen und Börsenspekulationen Ende der 90er Jahre in Konkurs ging, konnte nur noch eine Privatisierung die 2000 Arbeitsplätze retten.
Eine große Stuttgarter Automobilfirma zeigte sich recht großzügig bei der Übernahme und sicherte allen Angestellten eine Weiterbeschättigung zu. Durch den Übertritt in die Privatwirtschaft sind die Arbeitsplätze aufgewertet und somit ist eine Stigmatisierung der Belegschaft, wie in früheren Zeiten, ausgeschlossen. Die vollständige sozialpädagogische Betreuung am Arbeitsplatz bleibt komplett erhalten, da sämtliche Vorarbeiter und Meister über eine zeitgemäße sozialpädagogische Zusatzqualifikation verfügen. Da diese Sonderbetreuung bares Geld kostet, können die Löhne die Hälfte des Tariflohnes nicht übersteigen. Die Nachfolge der Neuen Arbeit nennt sich deswegen auch: Föderation Regulärer Arbeit Ohne Normalbezahlung, kurz: FRON und hat die Arbeiterkolonien des vorigen Jahrhunderts weitgehend ersetzt.
Betreute Freizeit
Die Zahl der Personen, die sich ohne Wohnung und Arbeit in der Innenstadt aufhalten, hat in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen. Die Folge war, daß zahlreiche Begegnungsstätten für diese Menschen entstanden.
Waren diese Treffs früher in erster Linie dazu da, Klienten vor den Unbilden der Witterung zu schützen (deshalb hießen sie früher auch Wärmestuben), so bieten heute die sozialpädagogisch qualifizierten Mitarbeiter zahlreiche Freizeitaktivitaten an, bei denen die Klienten lernen sollen, sinnvoll mit ihrer Freizeit und sich selbst umzugehen.
Die Begegnungsstätten entwickeln sich zu einer Art Volkshochschule der Armen.
Um zu verdeutlichen, welch wichtige Bildungsarbeit dort betrieben wird, hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Angebot einer Begegnungsstätte:Kurs 1:
- "Überleben in der Großstadt - ein Survivaltraining für alle aktiven Outdoor-Klienten".
Kurs 2:
- "Enthaltsamkeit, Askese und Konsumverzicht als Möglichkeit der Selbsterfahrung".
Kurs 3:
- "Mundharmonikaspielen für Anfänger - Aus der Reihe: innovative Straßenmusik als Einstieg in die Selbständigkeit".
Wie diese kurze Übersicht zeigt, hat sich das Berufsbild des Sozialarbeiters aufgrund der fehlenden konkreten Hilfemöglichkeiten grundlegend gewandelt: Heute ist er Freizeitanimateur für Arme. Trotz dieser doch sehr positiv kreativen Entwicklung in den Nichtseßhaften-Freizeitcentern darf man nicht die Augen davor verschließen, daß immer wieder Klagen von Einzelhandelsgeschäften und Kaufhäusern eingehen, die sich über unsere Klienten beschweren. Ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, die freien Träger der Nichtseßhaftenhilfe haben sich Mitte der 90er Jahre, als Gegenleistung für die großzügige finanzielle Unterstützung der Nichtseßhaften-Freizeitcenter, gegenüber dem Stuttgarter Gemeinderat verpflichtet, das Stuttgarter Straßenbild sauberzuhalten. Die freien Träger vollbrachten eine innovative Meisterleistung: In Zusammenarbeit mit der Stadt Stuttgart haben sie eine mit (in den Landesfarben gelb-schwarz gestrichenen) Kleintransportern ausgestattete Mobile Interventionsgruppe für Nichtseßhafte-Notorisch-Auffäl!ige (kurz: MINNA) gebildet, welche die auffälligen Personen in der Innenstadt aufsammelt und "weiterer Beratung" zuführt.
Zusammenfassendes Betreuungskonzept
Es läßt sich festhalten, daß die Betreuung unserer Klienten gegenüber früheren Zeiten (vergleiche Jahresbericht 1988) wesentlich umfassender geworden ist. Das Betreuungsangebot läßt sich dennoch in wenigen Sätzen zusammenfassen: Kommt eine hilflose Person in Stuttgart an, wendet sie sich an die Zentrale Beratungsstelle LABER, unterschreibt dort einen pauschalen Betreuungsvertrag FESSEL und wird an die Gesellschatt Neues Wohnen KNAST vermittelt. Bei Arbeitsfähigkeit hat sie umgehend ihre Arbeitsstelle bei FRON anzutreten. Falls sie sich alledem widersetzt und sich unkontrolliert in der Stadt herumtreibt, wird sie "weiterer Beratung" mit MINNA zugeführt. Es versteht sich von selbst, daß all diese Betreuungsmaßnahmen einer wohlorganisierten Koordination bedürfen. Zu diesem Zweck treffen sich regelmaßig sämtliche mit einem Klienten befaßten Personen:
- der Beratungssozialarbeiter,
- der Wohnsozialarbeiter,
- der Freizeitsozialarbeiter,
- der Sozialamtssachbearbeiter,
- der zuständige Stuttgarter Schutzmann
- und je nach Bedarf noch weitere Personen (Suchtberatung, Gesundheitsamt, Psychologen usw.).
Bei diesen Besprechungen werden alle den Klienten betreffenden Fragen in seinem Sinne geklärt und besprochen. Anschließend an diese Besprechung haben alle beteiligten Personen die Möglichkeit, ihre dabei entstandenen Probleme durch eine Supervision aufzuarbeiten. Die durch die Zusammenarbeit der Sozialarbeiter untereinander entstehenden Probleme werden zusatzlich einmal pro Woche durch eine Arbeitsplatzsupervision aufgearbeitet. Schließlich darf auch nicht vergessen werden die Supervision der Supervisoren und die Supervision der Supervisoren, welche die Supervisoren supervisionieren..."
(MITARBEITERTEAM 1989)
Die hier vorliegende ausführliche Dokumentation eines zukünftigen Szenarios darf in diesem Diskussionszusammenhang nicht als Satire oder Karikatur mißverstanden werden, vielmehr verweist der Text auf das Kernproblem der ausstehenden Theoriebildung:
- Der in dieser Arbeit vorgestellte allgemeine tätigkeitstheoretische Ansatz kann nicht einfach und ohne weiteres auf die Situation der Wohnungslosigkeit verlängert werden:
- noch ist immer nicht vollständig begriffen, was aus tätigkeitstheoretischer Sicht das Leben ohne Wohnung bedeutet,
- es kann auf der anderen Seite nicht angehen, gleichsam theoretisch blind praxisoritentierte Handlungs- und Qualifikationsangebote Wohnungslosen vermitteln zu wollen
- auch wenn genau diese Tendenzen sich in vielen Bereichen der Wohnungslosenhilfe bereits jetzt schon abzeichnen.
- Zugleich wirft das Szenario die Frage auf, wie der gesellschaftliche Spielraum für integrierende Maßnahmen in Zukunft zu beschreiben ist,
- und welche Funktion und Aufgabenstellung die Sozialarbeit in diesem Kontext einnehmen wird,
- und ob die Sozialarbeit damit letztlich nur ein latentes gesellschaftliches Konfliktpotential entschäfen hilft
- oder ob damit tatsächlich neue Formen gesellschaftlicher Tätigkeit im Armutsbereich im Entstehen sind.
Diese zuförderst theoretischen Fragezusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellen (und auch institutionalisierbaren) Handlungsmöglichkeiten sind letztlich nur interdisziplinär zu untersuchen, zugleich kommt der Pädagogik als Vermittlungs und Subjektwissenschaft eine nicht unbedeutende Rolle dabei zu, wenn es darum geht, die Lebenslage und die Überlebensstrategien wohnungsloser Menschen unter sich verändernden Umständen zu verstehen und zu verändern.
In verschiedenen Szenarios für die bundesrepublikanische Gesellschaft wird davon ausgegangen, daß sich zwischen der eigenen Wohnung und der Freiheit, auf der Straße zu schlafen, zahlreiche Zwischenformen des (zwangsgemeinschaftlichen) Wohnens auf Dauer etablieren werden (EVERS/ PICKERT 1991). Wie HACKELSBERGER 1990 ausführt, ist im globalen Maßstab ist Wohnen schon jetzt eine Sonderform. Damit wäre nicht Wohnungslosigkeit, sondern "Wohnen" als das Besondere eigentlich erklärungsbedürftig. Bezogen auf die hochentwickelten Industrienationen ist zu fragen:
- Wird "Wohnen" über kurz oder lang zu einem Privileg einer immer kleiner werdenden Minderheit derer, die sich den Luxusartikel Wohnung leisten kann oder gibt es eine gesellschaftliche Intervention für eine Politik mit der Zielsetzung, das in der europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung dahingehend zu verwirklichen, daß darin das Recht auf eine Wohnung überhaupt eingeschlossen ist, welches - jedem Bürger im Fall eintretender Obdachlosigkeit (einen Rechtsanspruch auf) eine eigene, einem Mindeststandard genügende Wohnung garantiert?
Obwohl diese Alternative über die Zukunft des Wohnens in den hochentwickelten Industriegesellschaften im Jahr 2000 und darüber hinaus noch nicht entscheidbar ist, deuten ernstzunehmende Hinweise darauf, daß sich die Waage schon bedrohlich zugunsten der ersteren Möglichkeit geneigt hat.
Deutlich wird auch, daß der Armutsansatz allein zur Erklärung der Verursachung von Wohnungslosigkeit nicht ausreicht, um das Phänomen zu verstehen. Notwendig ist vielmerh ein Erklärungsansatz, der darüberhinaus die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, Kultur, Ideologie, Schule, Beziehungen, Geschlechterverhältnisse, usw. kurz, alles Bereiche gesellschaftlichen Lebens umfaßt. Umgekehrt, von der Sichtweise der Wohnungslosen wäre es falsch, entsprechend dem Armutsansatz die Personen nur auf ihre Beziehung zur Arbeit und zum Bereich der Wohnens zu reduzieren. Erfaßt werden muß die Gesamtheit ihrer Tätigkeit in der biografischen Gewordenheit. Auch konkrete Lösungsmodelle zur Bewältigung der Wohnungslosigkeit werden nur auf dem Hintergrund umfassender gesellschaftlicher Umstände verständlich.
Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, daß in der theoretischen Diskussion um die gesellschaftlichen Wohn- und Lebensverhältsnisse an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend zunehmend auch Positionen geäußert werden, die geeignet sind, konventionelle Denkweisen zu unsere Existenzform in Frage zu stellen. Auffällig ist, daß dabei theoretisch Bezug genommen wird auf Lebensformen von gesellschaftlichen Außenseitern wie etwa Wohnungslose, Vaganten und Vagabunden, nomadischen Volksgruppen, dem "Fahrenden Volk" etc. In dem Maße, wie derartige Visionen einer zukünftigen Lebensweise diskutiert und etabliert werden, könnte dies auch Auswirkungen haben in Hinblick auf die Sichtweise und die Beurteilung der Situation Wohnungslosigkeit.
Ein internationales Kunstprojekt, an dem auch die Hochschule der Künste beteiligt war, hat sich exemplarisch mit dieser Vision beschäftigt. Ich dokumentiere hier den Argementationsgang:
Anemon 3 SMD
- die Wohnung der StadtnomadenAnemon 3 SMD ist Transportmittel und Wohnung in einem und besteht aus einer klauenförmigen Metallkapsel auf drei Rädern. Mit Computerausrüstung und mobilem Telefon hält sich der Stadtnomade mit der Umwelt in Verbindung während den Reisen von Stadt zu Stadt. Anemon ist sein einziger Wohnplatz und der elektronische Briefkasten seine einzige Anschrift. Der Stadtnomade ist mobil im wahrsten Sinne des Wortes.
Anemon repräsentiert einen alternativen Lebensstil, ein Leben wie das der Nomaden, doch für den modernen Menschen unserer Zeit angepaßt. Die Stadtnomaden leben außerhalb der gesellschaftlichen Kontrolle. Im toleranten Chaos der Stadt finden sie die Freiheit in verlassenen Gebäuden und auf ehemaligen Industriegeländen - Treffpunkte mit vielen Möglichkeiten. Hier kann sich Anemon richtig entfalten. Das schützende Zelt ist zum schlafen und arbeiten und unter einem transparenten Baldachin hat der Stadtnomade ein Wohnzimmer, seine private Zone, wo immer er auch lebt.
Die beiden Architekturstudenten, Jens Langert und Pia Cally Ahlgren haben das Design für Anemon während ihrem Austauschjahr an der HDK in Göteborg entwickelt - von Idee bis zum fertigen Prototyp in voller Größe. Ich besuchte sie in ihrem Anemon.
Wie sind sie auf die Idee gekommen und was wollen sie mit Anemon erreichen?
Anemon als Idee, ist ein Produkt der Großstadtgesellschaft und der Lebensbedingungen unter denen wir Westeuropäer leben. In unserer Gesellschaft finden wir eine zunehmende Konzentration der Innenstadt, große Wohnsiedlungen und verlassene Industriegeländer. Mit dieser Problematik hat sich das Vardeprojekt ausseinandergesetzt. Uns Innenarchitekten wurde die Aufgabe gegeben, für diese Plätze Alternativen zu finden.
Wir waren von diesen abenteuerlichen Geländen fasziniert und die Lebensanschauung der Nomaden hat uns auch inspiriert. Wir wollten den Stadteinwohnern zeigen, daß man auch anders leben und denken kann. Wir wollen, daß die Menschen mal richtig über ihr Leben heute nachdenken. In unserer Gesellschaft ist der materielle Konsum ein Maßstab für Geborgenheit und Status. Die Nomaden dagegen suchen die Geborgenheit in ihrem Inneren. Die moderne Kommunikationstechnologie und die mobilen Computer ermöglichen ein Leben mit großer persönlicher Freiheit und Beweglichkeit, ohne daß der Kontakt zur Umwelt verloren geht.
Wer will so leben wie ein Stadtnomade?
Menschen, die sich vom materiellen Konsum befreien wollen. Menschen, die für ihren Lebensunterhalt weniger ausgeben möchten und in ihrem Leben Beweglichkeit wünschen. Es könnte jedermann sein. Die Menschen entwickeln ein zunehmendes globales Bewustsein. Wir (die Menschen im westlichen Teil von Europa) lesen dieselben Zeitungen, sehen die ähnlichen Fernsehprogramme, wir reisen rund um die Erde und können uns auch mit weit entfernten Zielen einfach in Verbindung setzen. Die Frage der Nationalitat verliert mehr und mehr an Bedeutung. Viel wichtiger ist heute die Zugehörigkeit einer Gruppe. Der gemeinsame Lebensstil verbindet die verschiedenen Gruppen von Stadtnomaden.
Wie sieht der Alltag der Stadtnomaden aus und wovon leben sie?
Vielleicht ernähren sie sich durch Saisonsarbeit und wollen die Freiheit haben, mitten im Monat aufbrechen zu können oder sie haben eine ganz normale Arbeit wie jeder, der beruflich auf seinem Computer Informationen empfangen und schicken kann. Sie können auch geographisch unabhängig sein. Vielleicht arbeiten sie im Bereich der modernen Technologie mit Mobiltelefon und Computer. Sie können auch durch ihren Databasis Arbeit finden und Informationen über Plätze mit guten Lebensbedingungen. Sie können Berichte und Erfahrungen von ehemaligen Bewohnern bekommen.
Zum Beispiel: Schöner Platz, zentral gelegen, etwas kühl und zugig, relativ sicher, selten frei.
Der Standard zwischen den verschiedenen Plätzen ist sehr unterschiedlich und u.a. davon abhängig, ob sanitäre Anlagen vorhanden sind. Wenn nicht, benutzt man die Waschsalons und Schwimmbader für die Wäsche und die persönliche Hygiene. Das Wasser für den Haushaltsbedarf wird in einem Wasserkanister aufbewahrt. Das Essen wird auf einem Spirituskocher zubereitet. Die durch Sonnenzellenpaneele wiederaufladbare Anemonbatterie sorgt für den Kühlschrank. Schlafen tut der Stadtnomade auf einer Luftmatratze oder in einem Liegestuhl in dem Zelt, das durch die eigene Körperwärme warmgehalten wird. Ein Wohnzimmer und einen Garten hat der Stadtnomade unter einem Baldachin aus transparentem Material. Die provisorische Einrichtung ist aus dem, was in der Umgebung zu finden ist, zusammengebaut. In einer Kapsel aus Metall sind Wertsachen sowie der moderne Computer und die kommunikationstechnische Ausrüstung sicher aufbewahrt. Die Baldachine von Anamon können miteinander verbunden werden und das wettergeschützte Zelt kann für viele Zwecke verwendet werden. Familienleben oder Wohngemeinschaft - die Stadtnomaden haben viele Möglichkeiten, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
Wird die Gesellschaft den Stadtnomaden akzeptieren?
Als erstes wollen wir feststellen, daß die Stadtnomaden keineswegs auf Kosten von Anderen leben. Sie ernähren sich von ihrer Arbeit und sie bezahlen ihre Versicherungen und Steuern. Die Stadtnomaden sind natürlich von der Gesellschaft abhängig, aber die Gesellschaft braucht auch bewegliche Menschen mit extremer Flexibilität. Historisch gesehen ist es öfters zum Streit zwischen den Nomaden und der seßhaften Bevölkerung gekommen und die letztere ist tatsächlich bedroht. Die meisten Gesellschaften sind der Ansicht, daß jeder von uns ein Teil des Systems ist. Zugespitzt kann man sagen, daß es Menschen gibt, die das morden mit dem Argument rechtfertigen, sie hätten nur einen Befehl ausgeführt. Wenn es soweit gekommen ist, hat der Mensch seine persöhnliche Verantwortung verloren. Menschen, die sich weigern, Befehle auszuführen, können von der Gesellschaft als drohend empfunden werden. Warum wurden ausgerechnet die Juden und Zigeuner, zwei Völker ohne eigentliche Heimat, von den Nazis so verfolgt? Ein Nomade hört auf seine innere Stimme. Ein Leben voller Schlendrian ist ihm fremd. Der Nomade macht seine eigenen Beobachtungen und verläßt sich auf seinen Instinkt.
Ist der Lebensstil der Stadtnomaden nur für gesunde, starke und mutige Menschen geeignet?
Heutzutage gibt es viele kräftige und gesunde Menschen, die ihr Leben wie im Schlaf leben. Die Menschen spielen die Rolle, die ihnen von der Gesellschaft vorgeschrieben wird. Wenn du dich für den Lebensstil der Stadtnomaden entscheidest, wird dein Mut und Selbstbewustsein größer sein als vorher. Die Nomaden haben keine Wahl, sie müssen ihren Herzen vertrauen. Da finden sie die Kraft für ein Leben in Freiheit
lnterview: Anna Jaktén
VARDENEWS NR 4; Seite 11
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Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97