Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
3. Konsequenzen und Perspektiven
für die weitere ForschungDie Personen der Untersuchungsgruppe äußern sich in der Befragung zum Teil sehr differenziert und konkret zu ihren Perspektiven und Zielen. Auf den jeweiligen Einzelfall Bezug nehmend ist zu ermitteln, ob und wie diese artikulierten Perspektiven und Ziele erreicht wurden, bzw. unter welchen (Handlungs-)bedingungen die Personen eine Revision oder Modifikation bis hin zur grundlegenden Neuorientierung vollzogen oder vollziehen mußten.
Damit wird deutlich: Erst die Erforschung der Biografie in Verbindung mit einem tätigkeitstheoretischen Ansatz macht die Verursachung von Wohnungslosigkeit in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Bezüge möglich und erlaubt so das Herausarbeiten von Ansätzen und Stategien eines individuell angemessenen Hilfehandelns:
- "Wenn wir hier fordern, bewußt sinnverstehend, deutend an den gesellschaftlich vermittelten Strukturen des Alltags (der Biografie, ließe sich hier auch einsetzen, der Verfasser) anzusetzen, dann wirft das die Frage nach methodologisch abgesicherten methodischen Instrumenten auf, mit deren Hilfe eine hermeneutisch pragmatische Sozialpädagogik sich dem Alltag von Adressaten und Praktikern in aufklärerischer Absicht annähern kann..."
(JUNGBLUT/ SCHREIBER 1985)Entscheidend ist hier der formulierte Zusammenhang von Sinn und (Be-)Deutung als Bezugspunkt von Hermeneutik in den Sozialwissenschaften. Eine weitere These für den Bedeutungsüberschuß des gelebten Lebens (NIETHAMMER). Angemessene und daraus resultierende Konzepte wären demnach aber erst noch zu entwickeln, zu erforschen und zu überprüfen.
In polemischer Intention könnte dem entgegengesetzt werden: Alltagsleben und Lebenslagen als Theorie offenbar nur deswegen so heißgekocht, weil in ner entfremdeten Arbeitssituation so banale Sache wie Nachbarschaft, Kinobesuch und sowieso das alltägliche Freizeitleben und "das bißchen sexuelle dann dabei" plötzlich so ungemein wichtig werden. Oder das Frühstücksei. Wären die Produktionsverhältnisse und damit auch die Arbeitsverhältnisse andere, selbstbestimmte, würde man sich jedenfalls in dieser Weise einen Sch*** darum kehren.
Trotzdem ist es ein Ziel der Arbeit, erstmalig eine auf die Stadt Berlin bezogene qualitative wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Lebenslage Wohnungsloser zu leisten und damit zugleich auch einen Beitrag in die allgemeine Fachdiskussion einzubringen. Mit der besonderen Orientierung der Forschung an der Subjektivität und Biografie Wohnungsloser wird eine in der Fachdiskussion sich abzeichnende Entwicklung aufgegriffen und am Fall eines Projekts konkretisiert. Die Erkenntnisse und Ergebnisse können als direkte Anregungen in die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung um ein subjektorientiertes Problemverständnis und entsprechende weitergehende Forschungen eingehen. Mittelbar ergeben sich Anregungen einerseits zur generellen Ursachenforschung von Wohnungslosigkeit sowie andererseits dann zur konzeptionellen Entwicklung der Hilfen für Wohnungslose und ihrer Begründung, beides Bereiche, die im engsten inhaltlichen Zusammenhang mit dem zugrundegelegten Problemverständnis stehen.
Bezogen auf Berlin ist das Ziel benannt werden, die gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse als Beitrag zur Qualifizierung und Weiterentwicklung ambulanter sozialer Arbeit mit Wohnungslosen zu dokumentieren und den entsprechenden Einrichtungen zugänglich zu machen. Das gilt zunächst insbesondere für bestehende Einrichtungen.
Dennoch bestehen weiterhin eine ganze Reihe von Forschungsdefiziten: Exemplarisch seien benannt:
Abgesehen von einer österreichischen Studie über die Lebenssituation ehemaliger Obdachloser (WILK/ HEMEDINGER/ SUMMER/ ZOBERNIG 1985), die sich aber auf ehemals in Obdachlosenunterkünften untergebrachte Personen bezieht, und somit nur bedingt vergleichbar ist, liegen für den deutschsprachigen Raum kaum Untersuchungen vor, die sich auf ehemals Wohnungslose beziehen.
Überhaupt ist auch der Forschungsbereich, der sich auf die "Erfolgsbilanz" des Hilfesystems bezieht, nur marginal entwickelt, es existieren vereinzelt Untersuchungen (vgl. CONTY 1990, KAMMERER/ WESSEL 1990). Die Inhalte des Hilfehandelns werden gelegentlich dokumentiert (z.B. in den Jahresberichten der BERATUNGSSTELLE 1990), dem stehen Untersuchungen gegenüber, die die Diskrepanz der "Ziele des Helfers und Ziele des Klienten" (Herdege 1978 cit. nach HOLZGREFE 1990) belegen.
Auf der Hand läge eine Vernetzung von Hilfestrukturen und Selbsthilfeansätzen. Tatsächlich aber existieren Angebote nebeneinander her, ist eine Landkarte der Hilfeansätze nicht erstellt. Stattdessen existieren voneinander unabhängige Listen, die den Versuch repräsentieren, über die eigene Einrichtung hinaus weitere und ergänzende Angebote zu erfassen.
Zu untersuchen wären auch die Schwierigkeiten, über die Teilnahme an der bestehenden Praxis Sozialer Arbeit einen eigenständigen persönlichen Bezug zu den Betroffenen herzustellen und auf dieser Grundlage intersubjektive Handlungsräume zu erfahren und zu gestalten. Als Forschungsaufgabe formuliert:
- Es sollte möglich sein, Betroffene in die studentische Ausbildung miteinzubeziehen - auch und insbesondere bei der Heranführung der Studenten an das Praxisfeld Wohnungslosigkeit
- Dabei geht es nicht nur um Abwechselung, sondern um das Ernstnehmen der Betroffenen und ihrer Erfahrung, Vermittlung ihrer Sichtweise und ihrer Erfahrungen an die StudentInnen
- Daraus folgt als Aufgabe eine besondere Verantwortung der Dozenten, diesen Erfahrungsraum kontrolliert, d.h. unter Abschätzung der Kenntnisse und Fähigkeiten beider Gruppen zu organisieren.
Ganz offensichtlich und über das genannte Beispiel hinaus ist es offenbar notwendig, das Bewußtsein über die potentielle Allgemeinheit des Risikos der Wohnungslosigkeit gesellschaftlich zu vermitteln und zu verbreiten. Auch dies ist ein klassisches Forschungsderivat.
Zu untersuchen wären sicherlich auch noch folgende Aspekte und Fragestellungen
Nicht außer acht zu lassen sind darüber hinaus die "großen" Fragestellungen, die sich, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, mit den grundsätzlichen Perspektiven zukünftiger Lebensweisen auseinander setzen. Anhand der nachstend dokumentierten Thesen von Barbara TIETZE, Dozentin an der Hochschule der Künste in Berlin, wäre es lohnenswert, zu untersuchen, inwieweit die Lebensrealität Wohnungsloser mit all seinen Zwängen, Einschränkungen, Unwägbarkeiten usw. tendentiell auch Elemente einer grundsätzlich neuen Perspektive enthält:
Abschließend sei zu den Perspektiven der Forschung vermerkt, daß auch die gesellschaftliche Wahrnehnehmung von Wohnungslosigkeit - als Resultat von welchen Prozessen bitte - im Wandel begriffen ist. Das nachstehende Dokument ist geeignet, in provokativer Schärfe zu verdeutlichen, daß aufgeklärte Überheblichkeit durchaus ein Mittel zur Gewährleistung und Aufrechterhaltung sozialer Ungerechtigkeiten darstellen kann. Im Rahmen dieser Arbeit wird diese Frage nicht abschließen zu beantworten sein, ich will lediglich darauf hinweisen:
SIND SIE SOZIAL VERANLAGT?
1. Sie bemerken einen Bettler in Ihrer Lieblingsfußgängerzone. Wie verhalten Sie sich?a) Ich nehme mir etwas Kleingeld aus seinem Hut und freue mich neben dem Klingenbeutel in der Kirche eine lukrative zweite Einnahmequelle erschlossen zu haben.
b) Ich mache den Bettler freundlichst auf diverse Rechtschreibfehler auf seiner Bettelpappe aufmerksam.
c) da er trotz Nachfrage nicht in der Lage ist, eine entsprechende Spendenquittung auszustellen, setze ich meinen Weg unverrichteter Dinge fort.2. An Ihre Haustüre klopft ein ärmlich wirkender Mann, der sich als Martin St. (Name ist der Redaktion bekannt) ausgibt und bittet um eine Spende.
a) Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß seine Bemühungen mit entsprechender Beleuchtung (Laterne/ Kürbis) bestimmt erfolgversprechender wären.
b) Ich singe ihm ein lustiges Liedchen und schließe sanft die Türe.
c) Spontan zerreiße ich seinen Mantel und nehme eine Hälfte an mich. Geteiltes Leid ist halbes Leid!3. Vor der Ausgabestelle einer "Armenspeisung" hat sich eine lange Schlange gebildet:
a) Als Bürger der ehemaligen DDR stelle ich mich automatisch hinten an.
b) Ich frage mich ernsthaft, ob die Mehrzahl von "ARME" wirklich "ARMEN" ist und wie das dann wohl schmecken mag.
c) Ich lege dem letzten in der Reihe meine Hände auf die Schulter und fordere alle Anwesenden zu einer lustigen Polonaise auf.4. In Ihrer Nachbarschaft hat sich ein dubioses Pärchen mit einem Säugling in einem alten Stall niedergelassen, über dem es nächtens immer verdächtig hell ist.
a) Da Ihnen das Szenario irgendwie bekannt vorkommt, informieren Sie die örtliche Presse und sichern sich die Filmrechte!
b) Um das Vertrauen der Familie zu gewinnen, geben Sie sich als "Waise aus dem Morgenland" aus und überreichen als Willkommen-Geschenk einen Beutel mit alten Wencke Myrrhe Platten.
c) Sie erklären dem sichtlich enttäuschten Hausherren, daß die Volkszählung bereits 1984 abgehalten worden ist.5. Sie geraten in eine Gruppe von Obdachlosen und fühlen sich genötigt, etwas zu unternehmen.
a) Sie fordern nachdrücklich alle Anwesenden auf, doch endlich nach Hause zu gehen.
b) Sie spendieren eine Flasche Jägermeister, da Sie sich ziemlich sicher sind, daß die gerade anrückenden "Herren in Grün" wohl eher beabsichtigen, PLATZVERWEISE auszustellen, als Platzhirsche zu stellen.
c) Sie regen eine Diskussion über die Vorzüge des ehemaligen DDR-Regimes an, da unter Honnecker niemand alleine "Platte-Machte", sondern alle gemeinsam "Platten-Bauten".Auswertung des Psychotests
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97