Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

1. Zusammenfassung
(Plausibilität der Untersuchungshypothese)

Möglichkeiten müssen (schon deshalb) ergriffen werden, damit man (überhaupt) weiß, daß sie existieren.

Ich nehme das Kapitel zum Anlaß, um vor allem in den Schlußbemerkungen auf verschiedenste aktuelle Entwicklungen des Problems - Abbau von Sozial- und Hilfeleistungen, Egalisierung des Hilfeangebots, Unterlaufen von Hilfestandards, Relativierung und Auflösung des Alleinvertretungsmonopols der Sozialen Arbeit, Etablierung von alternativen (Selbst-)Organisationsformen Wohnungsloser (z.B. Lobbyvereine, Zeitungs- Kunst- und Kulturprojekte), abnehmende gesellschaftliche Toleranz und zunehmende Gewalt und Gewaltbereitschaft gegenüber Wohnungslosen usw. - kritisch einzugehen und sie im Kontext von Subjektentwicklung zu diskutieren. Doch zunächst der Versuch einer Zusammenfassung:

Unter den Rahmenbedingungen der "Globalisierung", der offenen Grenzen, der deutschen und europärischen Einheit und des "Zusammenwachsens" (?) von Ost und West sowie der Hauptstadtentscheidung bringen die damit verbundenen und einsetzenden Verwertungsinteressen von Politik und Kapital Entwicklungen in Gang, die bereits an anderer Stelle stichwortartig benannt wurden: So beinhaltet der Zusammenbruch und die schrittweise Umgestaltung der realsozialistischen Gesellschaftsformation auch die (Neu-)Regelung der Wohnfrage und den Umgang mit der - auch in der ehemaligen DDR latent existenten - Obdachlosigkeit. Neben der ökonomischen Abwicklung und den einhergehenden sozialen Verwerfungen fernab von einer Angleichung in den Lebensstandards ist der Zusammenbruch dieses und anderer Wertesysteme ein weiterer Faktor für die explosionsartige Entstehung von Obdachlosigkeit in den neuen Bundesländern, die sich u.a. im Zustrom Wohnungsloser aus dem Ostteil der Stadt und den neuen Bundesländern in den Westteil der Stadt manifestiert. Die Verschärfung der Lage auf dem Arbeitsmarkt (Standort: Deutschland), die Lage auf dem Wohnungsmarkt, steigende Mietpreise, die Vernichtung von preiswertem Wohnraum, eine Verschiebung der Rechtsprechung usw. sind Hinweise auf weitere Konsequenzen dieser Umbruchsituation. Hinzu kommen laufende Diskussion über die Finanzierbarkeit des Sozialstaats, über saubere Innenstädte und den allgemeinen Mißbrauch von Sozialleistungen.

Im Zuge dieser Entwicklungen werden massive Veränderungen und neue Qualitäten in der Problemstruktur von Wohnungslosigkeit sichtbar, etwa dergestalt, daß drohender Wohnungsverlust und in der Folge dauerhafte Wohnungslosigkeit zu einem Risiko mit einem Allgemeinheitsgrad avanciert, mit dem schon lange nicht mehr nur ein marginaler Teil des bundesrepublikanischen Armutbevölkerung konfrontiert ist, sondern das immer weitere Kreise der in der Bundesrepublik lebenden Bevölkerung existentiell tangiert. Nichts weniger als die zukünftige Bedeutung des "Wohnens" überhaupt steht in den hochentwickelten Industrienationen zur Disposition, Wohnungslosigkeit stellt eine gesellschaftliche Bedrohung ersten Ranges dar, mit der neben den tatsächlich Betroffenen immer weitere Bevölkerungs- und Berufsgruppen direkt und indirekt, auf jeden Fall aber zwingend konfrontiert sind, angefangen von den unmittelbar von Wohnungsverlust Bedrohten über den in der praktischen Sozialarbeit für Wohnungslose Tätigen bis hin zur politischen Klasse.

Die vorliegende Arbeit versucht ein langjähriges Defizit zu bedienen: Bislang existierte keine vergleichbare qualitative Studie zum Problem Wohnungslosigkeit ausgehend von der Perspektive Wohnungsloser für die Metropole Berlin. Zudem fällt die Forschungsarbeit in einen Zeitraum wichtiger und dramatischer Veränderungen und Verschiebungen innerhalb der Problemstruktur Wohnungslosigkeit im Kontext tiefgreifender sozialer und gesellschaftspolitischer Umgestaltungen seit der Deutschen Einheit: Prozesse, mit denen unmittelbar und mittelbar eine Reihe wichtiger Akteure im Bereich Wohnungslosigkeit (Träger, Einrichtungen, Vereine, Sozialpädagogen/ Sozialarbeiter) in ihrer praktischen Arbeit konfrontiert sind. Diese Prozesse konnten im Zeitraum der Untersuchung (nur) exemplarisch verfolgt und durch die Auswahl der Untersuchungsgruppe erfaßt, dargestellt, problematisiert und interpretiert werden. Dazu gehören die verstärkte Entstehung von Obdachlosigkeit in den neuen Bundesländern, der Zustrom Wohnungsloser aus dem Ost-Berlin und den neuen Bundesländern in den Westteil der Stadt bei gleichzeitiger Verschärfung der Lage auf dem innerstädtischen Wohnungsmarkt. Damit einher gehen auf Seiten der Wohnungslosen zunehmende Perspektivlosigkeit zur Wiedererlangung einer Wohnung, Verzweiflung, Resignation und in Folge dazu ein verstärkter Konkurrenzdruck unter den Wohnunglosen einerseits, vermehrte Übergriffe und feige Gewalttaten gegenüber Wohnungslosen andererseits. Dazu gehören auch Fragen der Akzeptanz gegenüber Lebenslagen und Lebensstilen bis hin zur offenen Gleichgültigkeit, neue Bündnispartner für Wohnungslose (Lobby- und Kulturarbeit) bis hin zu neuen Formen der Ausgrenzung (Zusammenhang von HIV-Infektion und Wohnungslosigkeit), neue Wege der Hilfe bis hin zur Unübersichtlichkeit der verschiedenen Angebote und Projekte, eine Infragestellung normativen Hilfehandelns bis hin zur Aufweichung erreichter Standards:

Konstatierbar sind Veränderungen in der Problemstruktur (Quantitative Zunahme von Wohnungslosigkeit, zunehmend jüngere Wohnungslose, zunehmend mehr Frauen, zunehmende Differenzierung der Problemlagen und der von den Wohnungslosen gewählten Umgangs- und Lösungsstrategien, Verschlechterung der Möglichkeiten zur Wiederbeschaffung einer Wohnung) bis hin zu einer neuen Qualität der Problems als gesellschaftlich verallgemeinertes Risiko von Wohnungslosigkeit.

Konstatierbar sind das Entstehen einer Vielzahl von Projekten sowie eine Differenzierung und Ausweitung der Angebote der Hilfe. Eine Reihe solcher Ansätze wurden erfaßt, in erster Linie und vornehmlich - aufgrund der Orientierung des Forschungsprojekts an den Wohnungslosen - Betroffenenselbstorganisationsformen in relativer Abhängigkeit zu den Angeboten (ambulanter) Einrichtungen für Wohnungslose: Containerbesetzung am Hegelplatz, Wohnprojekt Rhinstraße, Verein "Obdachlose helfen Obdachlosen", "Kongress der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen" 1991 in Uelzen, Theaterprojekt "Untergang" und Nachfolgeverein "Unter Druck. Kultur auf der Straße" usw. Gleichzeitig liegen zu diesen verschiedenen Initiativen und Projekten mit und von Wohnungslosen noch keine abschließenden Auswertungen vor, ist die Frage des Erfolgs und der Unumkehrbarkeit solcher Ansätze bislang noch weitgehend unentschieden. Die Erfassung dieser Entwicklungen durch das diese Arbeit anhand von konkret daran beteiligten Personen liefert hier einen ersten und wichtigen Beitrag zur Auswertung und Beurteilung.

Konstatierbar ist - korrespondierend zu diesen neuen Formen - ein weitgehendes Nebeneinander verschiedener Ansätze und Denkmodelle auf konzeptioneller und organisatorischer Ebene der Angebote für Wohnungslose mit unterschiedlichem Realisierungsgrad. Das als Krisenmaßnahme gedachte Modell der Notübernachtungen wird nun schon für den 6. Winter in Folge vorbereitet, bislang existiert kein übergreifendes Konzept für den Ausbau ambulanter Hilfen insbesondere für den Ostteil der Stadt, eine Arbeitsgemeinschaft Berliner Wärmestuben ist erst 1991 gegründet worden, die Einrichtung von Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit (Kölner Modell) wird bislang nur angedacht. Weitere Beispiele könnten aufgeführt werden. Gleichzeitig stellen die o.g. Entwickungen des Problems die institutionelle Hilfe vor völlig neue Herausforderungen. Diese müssen bewältigt werden mit - in Relation zur Zunahme der Wohnungslosen - knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen der Hilfeträger. Dazu kommt eine Situation auf dem Wohnungsmarkt, die eine fortschreitende Verschlechterung der Möglichkeiten zur Vermittlung und Wiederbeschaffung einer Wohnung für ausgegrenzte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen beinhaltet und so die bisherigen Ansätze der Hilf ad absurdum führt. Gefragt sind damit auch neue, innovative Lösungsansätze sowie Vernetzungen und Kooperationsformen bestehender Angebote mit dem Ziel einer größeren Effizienz und sozialpolitischen Wirksamkeit (Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit).

Eine zentrale Voraussetzung dafür ist ein subjektorientierter - und damit bedürfnisgerechter - Ansatz Sozialer Arbeit mit Wohnungslosen. In den o.g. Projekten und Initiativen ist eine Tendenz zur Entwicklung Sozialer Arbeit mit Wohnungslosen (und nicht für oder gegen sie) zu erkennen - bei gleichzeitiger Gefahr einer erneuten Individualisierung und Aufspaltung der Problems Wohnungslosigkeit. Dieser Gefahr kann mit einem Instrumentarium und Problemverständnis begegnet werden, das Wohnungslose als Subjekte gesellschaftlicher Tätigkeit in ihrer biografischen Gewordenheit nicht von den realen Bedingungen ihrer Lebenslage abkoppelt. Dazu liefern die empirischen Ergebnisse wichtige Beiträge. Nach dem lange Zeit in der Fachdiskussion vorherschenden Paradigma von Wohnungslosigkeit als Problem "strutureller Armut" rückt zunehmend - und ergänzend dazu - der einzelne wohnungslose Mensch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit und Wissenschaft. Dennoch wird bis in die jüngste Zeit das "Fehlen der Subjektperspektive" (TREUBERG 1990) beklagt. Der in dieser Arbeit gewählte methodische Zugriff auf die Untersuchungsgruppe mit den Mitteln der Feldforschung (qualitativer Ansatz) steht im Kontext des Entwicklung lebenslagebezogener Hilfen (Ambulante Angebote, Streetwork, Verortung im Gemeinwesen), und geht gleichzeitig darüber hinaus (Aufsuchende Forschung - Aufsuchende Sozialarbeit). Daraus können in Zukunft Erklärungsansätze entwickelt werden, die direkt für den Bereich praktischer Sozialarbeit aber auch indirekt als Beitrag für die Theoriebildung und Modellentwicklung von Sozialer Arbeit von Relevanz sind. Dies betrifft direkte kommunikative Prozesse zwischen Sozialarbeitern in Tätigkeitsbereichen offener Angebote, Betreuungs- und Beratungstätigkeit in Einrichtungen für Wohnungslose und aufsuchender Sozialarbeit (Streetwork), als auch die Schnittstelle zwischen Sozialarbeit und Selbstorganisationsformen Wohnungsloser (erkennbar ist hier ein Prozeß der Verschiebung von der Agent-Klient-Verhältnis zu einer intersubjektiven Symmetrie kooperativen Handelns.) Als zutreffend erwies sich hier die in der Forschungskonzeption vertretene Auffassung, daß

"das Wissen um die aktuelle Lebenslage Wohnungsloser, um den Prozeß, der in diese Lebenslage führte und das Wissen um die individuellen Formen der Bewältigung und Verarbeitung von Wohnungslosigkeit unabdingliche Voraussetzung für eine soziale Arbeit (ist), die sich in den letzten Jahren verstärkt an den Erfordernissen der Lebenslage Wohnungsloser orientiert."
(SCHNEIDER 1990a, Projektantrag).

Das Problem liegt in der Praxis der Wohnungslosenhilfe im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, d.h. konkret angesichts fundermentaler Sparzwänge einerseits und Vertreibungsstategien andererseits. Für die Wohnungslosen heißt das, am Flickenteppich von Suppe, Turnhalle und Söckchenspende wird munter weitergestrickt.Und auf der Ebene von Sozialarbeit für Wohnungslose an der Basis: Gute und power- volle Arbeit mit und für Wohnungslose zu machen, ist unter solchen Bedingungen kaum noch möglich - ein sozialpolitischer Kampf gegen Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit bleibt dabei auf der Strecke - die maßgeblichen Entscheidungen werden woanders getroffen, die entscheidenden Impulse gehen von anderen aus. (Gleichzeitig wird die Stellensituation auch immer mieser, daß vielen einfach gar nichts weiter bleibt, als Tag für Tag immer wieder Kröten zu schlucken - ich jedenfalls bin froh, daß ich wählen konnte).

Die Resonanz auf die Forschungsarbeit (aufgrund persönlicher Kontakte und einer vielzahl von Berichten im Rahmen von Tagungen und Veranstaltungen) bezieht sich schon jetzt auf die empirischen Kenntnisse aus der konkreten Feldarbeit (Wissen um das Klientel) und den daraus erwachsenen Kompetenzen. Erwartet und z.T. konkret angefragt werden in erster Linie auf Beiträge zur Erfassung und Diskussion der Problemdimension und in zweiter Linie Beiträge zur Entwicklung und Fortschreibung von Lösungsstrategien für die soziale Arbeit mit Wohnungslosen unter den gegebenen institutionellen, sozial- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen.

Eine Erfassung, Einschätzung und Bewertung der Forschungsarbeit, das sei an dieser Stelle noch einmal bemerkt, muß zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig noch vorläufig bleiben und hat den Stellenwert einer Zwischenbilanz. Eine abschließende Bewertung ist m.E. frühestens im Anschluß an die Auswertung eines geplanten Expertensymposions zur Diskussion der hier vorgelegten Ergebnisse und Intentionen möglich.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97