Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

3. Typisierung - Konsequenzen

 

In Wiederholung und Ergänzung der im Kapitel VIII Auswertung vorangestellten Zusammenfassungen seien nochmals die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung in Bezug auf die einzelnen Gruppen benannt:

Die Personen der Nähegruppe: Der Glaube an eine persönliche Integration in gesellschaftliche Normalverhältnisse ist nicht grundlegend erschüttert. Gesellschaftliche Realität - in ihrer jeweils individuell-spezifischen Konkretheit - stellt eine feste, und trotz aller Widersprüchlichkeit ungebrochene zentrale Bezugseinheit im System subjektiver Motivationen und Tätigkeiten dar, eine Realität, auf die hin sinnvolles Handeln möglich ist. Die Personen leben in einer Situation großer Nähe zur Hilfe für Wohnungslose, verfolgen aber in ihren Handlungen Perspektiven, die weit über den unmittelbaren Lebensvollzug innerhalb der Angebote und Institutionen hinausreichen. Von der Sozialarbeit und den Hilfeeinrichtungen wird erwartet, daß sie das realisieren helfen. Die Wohnungslosen glauben, daß sie es - wenn sie denn Unterstützung erhalten, es aus eigener Kraft schaffen könn(t)en.

Die Personen der Ambivalenzgruppe: Obdachlosigkeit wird als diffuse Situation erlebt, als Verquickung von unglücklichen (gesellschaftelichen) Umständen und eigenen Fehlern. Dem entspricht ein diffuses Verhalten gegenüber der Sozialarbeit und den Hilfeeinrichtungen. Sie werden in Anspruch genommen, aber so recht fehlt der Glaube und auch der Wille zu einer nachhaltigen Veränderung der eigenen Situation. Man kann einigermaßen Überleben so, aber letztlich fehlt eine klare eigene Perspektive. Vielleicht könnten Hilfeeinrichtungen hier Lösungen darstellen, zumindest aber ist man hier zeitweilig in seiner Obdachlosigkeit aufgehoben, indem man die Leistungen (Suppen, Tagesaufenthalt, Kleidung etc.) annimmt.

Die Personen der Distanzgruppe: Obdachlosigkeit ist der Ausdruck eines zerstörten, in die Brüche gegangenen Lebens. Gebrochene, verwundete Persönlichkeiten. Obdachlosigkeit als schleichende, zum Teil auch inszenierte Selbstzerstörung. Nur noch Restbestände an Selbstwert und Ehrgefühl erhalten am Leben. Eigene Perspektiven erscheinen in dieser sozialen Wüste wie eine Fata Morgana: Einige laufen dem Trugbild noch hinterher, andere lassen sich nicht mehr täuschen.

Das hier ungelöste Problem besteht darin, daß hiermit eine Gruppe beschrieben ist, die einer Hilfe am dringendsten bedarf und daß zugleich dieser Gruppe am allerwenigsten geholfen werden kann. Von Joachim RITZKOWSKI von der Berliner »AG Leben mit Obdachlosen&laqno; und auch von anderen in diesem Bereich arbeitenden Personen wird zunehmend artikuliert, daß gerade die Arbeit mit diesem Personenkreis letztlich oftmals nicht mehr sein kann als Sterbebegleitung.

Die Personen der Organisationsgruppe: Obdachlosigkeit heißt auch, daß bestimmte Vorstellungen von Leben nicht so realisiert werden konnten, wie es eigentlich geplant war. Zum Teil aufgrund äußerer Bedingungen, zum Teil durch eigenes Verschulden. Obdachlosigkeit zwingt zur Neuorientierung. Man kann aus dieser Situation etwas machen, indem man sich an Initiativen und Selbsthilfeprojekten in diesem Bereich beteiligt. Zumindest ist es lohnenwert, es immer wieder zu versuchen.

Zugleich werden diese Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen der Unterstützung auf allen Ebenen immer noch überlagert durch eine gesellschaftliche Wahrnehmung des Problems, die zu bezeichnen ist als "gesellschaftliche Konstruktion von Obdachlosigkeit":

"Während die Reportagen aus der Verbrecherwelt die potentielle Gefährdung des bürgerlichen Lebens durch die nächtlichen Elemente weniger darstellen als heraufbeschwören, zeigen die Berichte aus dem Leben der Obdachlosen die tendenzielle Brüchigkeit der städtischen Existenz: Obdachlosigkeit erscheint als drohende Möglichkeit im Leben, als Ereignis, das die doch nicht so sicheren Fundamente des Lebens, und der Stadt, erschüttern kann. Dieser Befund: Obdachlosigkeit als Signal eines tiefergreifenden Konflikts - Wie kann die Stadt die aus ihr herausbrechenden, sie bedrohenden Tendenzen niederhalten? macht das Thema Obdachlosigkeit zum politischen Instrument."
(SCHLÖR 1994, S. 158. Hervorhebungen im Original, der Verf.).

Bilanz

Die Beantwortung der Frage, inwiefern durch die Vergegenwärtigung der Lebenslage und der Biografie im dialogischen, teilnehmenden Forschungsvorgehen und insbesondere bei den Interviewgesprächen langfristige Veränderungsprozesse zur bewußten Bewältigung und tätigen Veränderung der individuellen Situation befördert oder in Gang gebracht wurden, bleibt einer späteren Untersuchung (erneute Befragung der Untersuchungsgruppe) vorbehalten.

Auf der anderen Seite kann aber herausgestellt werden: Will Hilfe effektiv sein, müssen sich die Angebote, so sie denn vorhanden sind, sich stärker an den Bedürfnissen und Interessen der Wohnungslosen orientieren, muß ein konkretes Angebot in die Motivstruktur eingepaßt werden.

Als Voraussetzung dafür muß sozialarbeiterisches Handeln (Beratung, Betreuung und personales Angebot) neu überdacht bzw. stärker als bisher in Hinblick auf die Anforderungen, die von Seiten der Wohnungslosen gestellt werden, reflektiert werden. Ein Problem dabei ist, daß die Wohnungslosen selten genug in die glückliche Lage kommen, ihre Bedürfnisse und Interessen angstfrei, ausführlich, und im Kontext ihrer Lebenslage und Biografie ausbreiten, entfalten, darstellen, artikulieren, benennen und zu Gehör zu bringen.

Zu überlegen ist auch, in welchen Bereichen der konkreten Arbeit Wohnungslose stärker partizipieren können, welche ihnen übertragen, überantwortet, in Selbstverwaltung und Selbstbestimmung übergeben werden können - gegen Aufwandentschädigung, Honorarverträge, der Schaffung von Arbeitsstellen. Oder auch Einführung von (freiwilligen) Besuchervollversammlungen in Tagestreffs und Wärmestuben, die Möglichkeit, Demokratie und Mitbestimmung einüben und praktizieren zu können und in Verbindung damit die Förderung von Kompetenzen, die im Kontext der Entwicklung bzw. Wiederaneignung von Tätigkeiten mit Transfermöglichkeiten in anderen Lebenslagebereichen von Bedeutung sind.

Dies erfordert eine Bereitschaft von SozialarbeiterInnen, die Rahmenbedingungen entsprechend anders zu organisieren, Anstoß dafür zu geben und ggf. einen Mehraufwand von Arbeit einzugehen. Langfristig dürfte ein solcher Prozeß dazu führen, daß die SozialarbeiterInnen sich mehr auf ihren eigentlichen Arbeitsauftrag konzentrieren können und vom Image der Suppenausteiler, Stullenfabrikanten und Hausmeister Abstand nehmen können.

Daß es zu einer solchen Perspektive letztlich keine Alternative gibt, verdeutlich eine Aussage von ZINK:

"In allen seinen Bemühungen und Leistungen hat (...) die Institution über die Sicherung der Lebensbedingungen seiner Hilfsbedürftigkeit hinaus deren Persönlichkeit zu fördern - ihre Bestimmung also, selbst Anfänge zu setzen, für Mitmenschen einzigartig und unersetzlich zu sein und sich an der Vervollkommnung der Welt zu beteiligen. Zum Empfangsagenten gesellschaftlich formulierter Anspruchsleistungen depotenzierte er anderenfalls den der Hilfe bedürftigen Mitmenschen; zu bloßen Disponenten einer Einpassung Abgewichener in den Status Quo einer unvollkommenen Welt würden sonst seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter."
(ZINK 1991, 9.)

Die Notwendigkeit eines solchen Arbeitsansatzes wird auch von den Wohnungslosen selbst vereinzelt artikuliert: So sagt JENS:

"Das Bewußtsein, was ich doch... Ich meine, ich habe ein ganz anderes Bewußtsein, weil ich ganz andere Beziehungen gehabt habe und Erfahrungen gemacht habe. - Also, ich bin nicht aufgerüttelt worden, ich bin auch nicht angeküßt worden von jemandem, sondern ich habe mir persönlich irgendwo gesagt: Nein, so geht's nicht weiter."
(JENS)

Wenn diese Aussagen zutreffend sind, ergibt sich daraus eine völlig neue Positionsbestimmung für Soziale Arbeit. Wenn der Anstoß zu persönlichkeitsbildenden Veränderungen allein von den Subjekten getragen werden kann, können nicht länger Veränderungswünsche von Seiten der Sozialen Arbeit an die Klientel herangetragen werden, allein der Raum, in dem die Subjekte sich entwickeln können, kann von der Sozialarbeit mit organisiert und strukturiert werden. Damit ist Soziale Arbeit aber nichts anderes als Magd- oder Dienstleistungsarbeit am Subjekt und dessen Motiven.

Zugleich wäre es verfehlt, "Wunderdinge" von einem subjektorientieren Arbeitsansatz zu erwarten. Vielmehr geht es zunächst um ein neues Denken und um eine neue Praxis in sehr banalen Fragen und Angelegeneheiten. Konkret könnte dies bedeuten:

a) Psychologisch argumentiert, darf das angestrebte Ziel des Hilfehandelns gegenüber dem Hilfesubjekt nicht in einzelne, zueinander in einem komplexen Bedingungsgefüge stehende Teilziele zerlegt werden, weil damit für das Hilfesubjekt der Bezug auf das Motiv zerfällt,

b) Anstehende oder möglich Beratungssituationen und Behördentermine sind oft von Unsicherheiten und Ängsten überlagert. Diese beziehen sich nicht nur auf ein mangelndes Wissen über Rechte, Bestimmungen und Paragraphen, sondern machen sich auch an der unbekannten Umgebung, den unbekannten Verfahren und den unbekannten Personen fest.

Aus diesem Angst- und Unsicherheitskontext resultiert, daß solche Situation und Termin entweder vermieden wären, oder daß Wohnungslose nach "schnellen Lösungen" suchen, um diese Situationen "hinter sich zu bringen": Abwimmeln lassen, vorschnelles Eingehen auf Angebote und Lösungen, die im nachhinein nicht akzeptiert werden.

Hilfreich kann hier sein, in vorbereitenden Gesprächen eine präzise Beschreibung der Örtlichkeiten, des Verfahrens, des Handelnden Gegenübers und seinen möglichen Interessen zu geben. In einer vertrauensvollen Situation mit dem Wohnungslosen über seine eigentlichen Interessen zu reden, ihn zu ermutigen, diese aufzuschreiben oder sich stichwortartig zu notieren. Mögliche Verläufe oder mögliche Reaktionen und Situationsabläufe zu antizipieren, und durchzusprechen.

c) Möglicherweise kann es hilfreich sein, diese Situation spielerisch vorwegzunehmen, wobei durchaus auch mehrere Personen einbezogen werden könnten. Zur Antizipation solcher Situation ist auch hilfreich, daß sich die Wohnungslosen in ihr Gegenüber hineindenken und hineinversetzen lernen.

d) Die bisweilen von Wohnungslosen praktizierte Praxis, sich bei Behörden- und Ämterbesuchen und -terminen gegenseitig zu begleiten, könnte im Rahmen unterstützender Arbeit durch Sozialpädagogen/ Sozialarbeitern in ambulanten Einrichtungen weiter entfaltet werden. Daraus könnte eine eigenständige, verantwortliche Tätigkeit entwickelt werden, wenn zum Beispiel Wohnungslose aus dem "inneren Kreises" einer Wärmestube anderen Besuchern der Einrichtung die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung gemeinsamer Behördengänge anbieten. Dabei muß von Anfang das erklärte Ziel sein, dem Unterstützten nicht etwa von seiner Verantwortung gegenüber der Inanspruchnahme von Dienstleistungen und Zahlungen durch Behörden und Institutionen zu entbinden, sondern ihn vielmehr in Hinblick auf diese Verantwortung zu qualifizieren.

Exkurs: Thesen zu Obdachlosigkeit und Armut

Bei den Kollegen vom "Herbstwind", dem Straßenmagazin für die Region Offenburg fand ich im Herbst 1997 folgendes Thesenpapier. Ich dokumentiere es an dieser Stelle, weil die darin genannten Aussagen deckungsgleich sind mit meiner Einschätzung der Situation und der daraus sich ergebenden Forderungen. Insbesondere die gleichberechtigte Mitwirkung Wohnungsloser und ehemals Wohnungsloser in allen Bereichen von Politik und sozialen Einrichtungen (dies würde auch ein Vetorecht bei Entscheidungen mit beinhalten) müßte in Hinblick auf eine Umgestaltung der Hilfeansätze unter einbezug der Fähigkeiten und Fertigkeiten von Wohnungslosen ein wichtiges Anliegen darstellen:

 

Thesenpapier zu Obdachlosigkeit und Armut

  1. Die Sozial-, Wirtschafts-, Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungspolitik ignorieren bzw. nehmen die weitere Verarmung bzw. Verelendung von vielen Gruppen (bis zu einem Drittel der Gesellschaft) billigend in Kauf.
  2. Die Lebenslagen von Wohnungslosen sind Ausdruck absoluter Armut. Und dies in einem reichen Land. Die sozialen Spannungen wachsen in Deutschland und in Europa.
  3. Wohnungslose haben einen Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und die Gewährung entsprechender sozialer Hilfen.
  4. Soziale, kulturelle, ökonomische oder politische Teilhabe von Wohnungslosen findet weder vor Ort noch im gesellschaftlichen Rahmen zureichend statt.
  5. Frauen, seelisch Kranke, Drogen- bzw. Aidskranke, Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Perspektiven gehören zu den besonders gefährdeten Gruppen auf der Straße.
  6. Kommunale Hilfen für Wohnungslose und sonstige Armutsgruppen sind vielfach weder niedrigschwellig erreichbar noch konzeptionell auf die Lebenssituation wohnungsloser bzw. armer Menschen ausgerichtet.
  7. Verbote, bürokratische Regelungen, unterbesetzte persönliche Dienste, mangelhafte Standards dominieren die ambulanten bzw. stationären Hilfen.
  8. Ansätze für die Verbesserung der Lebenssituation von wohnungslosen Menschen sind:
    • Niederschwelliger Zugang zu sozialen Institutionen, keine Abschiebung von Frauen, Paaren, Alten und Kranken...,
    • Konzeptionelle Offenheit von stationären und ambulanten Hilfen für Beteiligung und Mitbestimmung von Wohnungslosen,
    • Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen in professionellen Diensten, Übernahme von Angeboten und Einrichtungsteilen in Eigenverantwortung (z.B. Wärmestuben, Tagescafés, Streetwork, Straßenzeitung, Tag- und Nachtdienste etc.),
    • Weiterentwicklung sozialer und kultureller Angebote an Wohnungslose im Sinne von Lobbyarbeit und Vernetzung,
    • Aufbau von eigenen Organisationen und Wohnungslosen vor Ort und auf Bundesebene (Initiativen, eingetragene Vereine, Straßenzeitungen etc.),
    • Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für Wohnungslose.

In Fortsetzung der o.g. Forderungen an konkrete Soziale Arbeit mit Wohnungslosen können auf pragmatischer Ebene sicherlich eine Reihe von Kritierien formuliert werden, anhand derer überprüft werden könnte, ob die Arbeit dem Problem Wohnungslosigkeit gerecht wird.

Kriterien für Projekte

Projekte mit Obdachlosen zeichnen sich dadurch aus, daß sie ...

... den Versuch einer (neuen) Antwort auf ein exemplarisches Problem oder aktuelle Formen der Krise der Gesellschaft darstellen;

... gezielte, aufeinanderfolgende geplante Schritte auf das Ziel hin organisieren und dabei die Erfahrung der Planbarkeit beruflichen Handelns ermöglichen. Dabei unterliegt auch die Planung einem Prozeß permanenter Revision;

... die Interessen der wesentlichen Zielgruppe zunächst offenlegen, im Projektverlauf beachten und als Ziel - gegebenenfalls in modifizierter Form - durchsetzen helfen.

Soziale Arbeit setzt Parteinahme und Solidarität voraus. Gerade dies erfordert die nüchterne Analyse dessen, was unter bestimmten Bedingungen und Kräfteverhältnissen möglich und durchsetzbar ist, voraus. Naive Parteilichkeit und Solidarität ist ehrenwert, aber schadet oft mehr, als sie nützt.

Am Anfang des nächsten Kapitels steht ein kurzes Resümee der Arbeit. Daraus werden zum einen nächste Schritte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Problem Wohnungslosigkeit (Theoriebildung, Forschung) entwickelt. Zum anderen werden konkrete Überlegungen, Einschätzungen und Empfehlungen für den Bereich der Hilfe für Wohnungslose abgeleitet und begründet. Ich nehme das Kapitel zum Anlaß, um vor allem in den Schlußbemerkungen auf verschiedenste aktuelle Entwicklungen des Problems kritisch einzugehen und sie im Kontext von Subjektentwicklung zu diskutieren.

Weiter zum nächsten Kapitel IX Perspektiven (= Linear Lesen)

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97