Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

2. Subjektivität und persönlicher Sinn von Wohnungslosen als Problem

Zur Entfaltung der Problematik von "Subjektivität und persönlichem Sinn" von Wohnungslosen mag es hilfreich sein, zunächst nochmals einen kurzen Blick auf das Phänomen "Wohnen" und seine gesellschaftliche und individuelle Bedeutung zu werfen:

"Wohnen" ist - auf den ersten Blick - etwas völlig Selbstverständliches: "ein Dach überm Kopf", die "eigenen vier Wände drumherum" und "eine Tür, die man hinter sich zu machen kann"; historisch erreichte Standards an Einrichtung (von Zentralheizung über Dusche und Innentoilette bis Herd und eigenem Flur) und Ausstattung (Strom-, Warmwasser-, Telefon- und Kabelanschluß; Waschmaschine, TV, Mikrowelle und Kühlschrank) werden unausgesprochen mitgedacht und als selbstverständlich vorausgesetzt. Damit ist zwar angedeutet, was in hochentwickelten (je nach Auffassung: Industrie-, Dienstleistungs-, Informations- bzw. Kommunikations- oder Erlebnis-) Gesellschaften im allgemeinen unter einer Wohnung zu verstehen ist - "wohnen" selbst ist damit nicht beschrieben.

Menschheitsgeschichtlich gesehen ist "wohnen" offenbar ein Grundbedürfnis - Menschen haben immer und zu allen Zeiten gewohnt -, untrennbar zur Natur des Menschen gehörend und zugleich auch Ausdruck des jeweils erreichten Stand(ard)s gesellschaftlicher Entwicklung in all ihren Widersprüchen - zwischen Hütte und gerade auch Palast (vgl. HENKE 1994). Was "wohnen" also konkret sein kann, ist von der entwickeltsten Form der Wohnung her zu betrachten und zugleich aus der historischen Gewordenheit zu erschließen - von daher hat die Selbstverständlichkeit, mit der in der Alltagsvorstellung "Wohnen" verstanden wird, hier ihre Berechtigung.

Damit ist, kurz gesagt, die (jeweils eigene und den Mindeststandards entsprechende) Wohnung Basis und Ausgangspunkt einer Vielzahl menschlicher Tätigkeiten und Beziehungen, angefangen von der unmittelbaren materiellen und psychischen Reproduktion (FLADE 1987) bis hin zur vollen Entfaltung gesellschaftlicher Partizipation des einzelnen Individuums (vgl. RÄUCHLE 1979). Daß also "wohnen" - im engeren Sinne der Verfügung über eine Wohnung - plausibel nur im Kontext des je gesellschaftlich erreichten Standards dessen, wie gewohnt wird, definiert werden kann, hat unmittelbar auch Konsequenzen für die Definition von Wohnungslosigkeit als Problem der Entwicklung von Subjektivität und persönblichem Sinn:

Dazu ein Zitat aus dem Jahr 1912 (!) , welches diesen Umstand besonders gut verdeutlicht:

"Wenn sich so viele auf der Landstraße herumtreiben, die keine Lust zur Arbeit mehr haben, so ist diesen durch die bestehenden Verhältnisse erst diese Unlust beigebracht worden. Stückweise wurde ihnen der Glaube zertrümmert, daß sie jemals noch eine Rolle in der menschlichen Gesellschaft spielen könnten. Die Entbehrungen, die ihnen das Landstraßenleben brachte, haben den Körper sowohl als auch den Geist zermürbt."
(Neue Zeit von 1912; Bd. 2, S. 452-453, zit. nach JOHN 1988, 304).

Im Kontext einer S.T.E.R.N.- Studie zu Obdachlosen Jugendlichen in Prenzlauer Berg formuliere ich folgende (lexikalische) Definition der Lebenslage Wohnungsloser als Versuch einer zusammenfassenden Verallgemeinerung:

"Allgemein gesagt: Die Lebenslage Wohnungslosigkeit ist gekennzeichnet durch einen weitestgehenden Ausschluß von gesellschaftlicher Partizipation und einen Zerfall individueller Tätigkeiten. Der Alltag ist gekennzeichnet von der Sorge ums Überleben Tag für Tag in Verbindung mit subjektiv wahrgenommener Chancenlosigkeit und in der Regel objektiv fehlender Perspektiven. Kreative Überlebenstrategien gehen einher mit permanenter Unterforderung, die Lebenslage fördert eine Abhängigkeit von Versorgungs-, Hilfeangeboten und Ämtern bzw. Behörden sowie (aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen) eine latente Tendenz zur Kleinkriminalität (Mundraub, Diebstähle, Schwarzfahren). Soziale Beziehungen verarmen und sind in der Regel beschränkt auf (funktionale Kontakte zu) LeidgenossInnen und professionelle HelferInnen, sexuelle und partnerschaftliche Beziehungen sind nur stark eingeschränkt möglich oder finden als Prostitution oder im Armutszölibat statt. Biografisch erworbene Kompetenzen gehen verloren und Qualifikationen werden entwertet, Suchtproblematiken (oft als Verarbeitungs- oder Bewältigungsstrategie der Lebenssituation) entstehen oder potenzieren sich, körperliche Belastungen (Kälte, Witterung, ungenügende Ernährung, Drogen) führen auf Dauer zu massiven und z.T. bleibenden gesundheitlichen Schäden. Der dauerhafte Verbleib in solchen Strukturen findet als Folge häufig seinen Ausdruck in psychischen Auffälligkeiten, Sinn- und Motivationsverlust, Resignation, Lethargie oder individuellem Protest ("Scheiß-egal-Effekt"), ein Ausstieg bzw. eine nachhaltige Veränderung/Verbesserung aus derart belastenden Strukturen der Lebenslage wird umso schwieriger, je länger Wohnungslosigkeit andauert."
(SCHNEIDER in: S.T.E.R.N. 1996)

Deshalb sind Wohnungslose noch lange keine Opfer, sondern befinden sich in einer gesellschaftlich extrem ungünstigen Situation und daraus resultierenden extemen subjektiven Anforderungen. Konkret gesagt und versuchend, im oben geschilderten düsteren Szenario gesellschaftlicher Realität noch den letzten Rest bestehender Chancen zu beschreiben, will ich sagen:

Die Tatsache, Wohnungslos zu sein, entbindet keinen einzelnen der Betroffenen, sein Leben, seinen Alltag (weiterhin) selbst organisieren, bestimmen zu müssen. Im Gegenteil, die Gesamtentwicklung der Hilfen schaffen vor allem durch dem Ausbau ambulater und charitativer Hilfeangebote die Voraussetzung und Grundlage dazu, sich utilitaristischen Strukturen bedienen zu können und trotzdem auf sich selbst gestellt zu bleiben. Dennoch oder gerade deswegen sind die Wohnungslosen vor die Notwendigkeit gestellt, auf dieser Handlungsgrundlage Perspektiven erarbeiten zu müssen, wollen sie diese Situation aufrecht erhalten oder sogar zum (subjektiv) Besseren etwas ändern. Weniger denn je gibt es vorgefertigte Rezepte, Maßnahmen, Perspektiven, Lösungen, Aussichten, Leute, die einen bei der Hand nehmen. Nicht nur eine Veränderung der Situation, sondern auch das Überleben-müssen/wollen in der Wohnungslosigkeit ist eine Leistung, die jedem einzelnen abverlangt wird, eine Leistung, die eine zwar beschränkte, aber doch vorhandene relative Palette an Möglichkeiten bietet.

D.h. zunehmend in den Blick gerät das Verhältnis von der Person und ihrer Lebenswelt, und den Möglichkeiten, die daraus erwachsen. Gefragt und gefordert ist die Fähigkeit, sein eigenes Leben, sein Zurechtkommen mit der Situation, aber auch perspektivische Momente zunehmend selbst und selbstbestimmt, allein oder mit anderen, zu gestalten - statt sich gestalten zu lassen und willenlos sich dem auszusetzen und auszuliefern, was auf einen zukommt. Die Alternative - auch und gerade für Wohnungslose - lautet:

 Lebe ich mein Leben?

 Oder lebt mein Leben mich?

Auf diese Forderung bezugnehmend ist für einen großen Teil der Wohnungslosen zu konstatieren, daß oft schon die Voraussetzungen für eine aktive Gestaltung des eigenen Lebens unzureichend und ungenügend entwickelt ist. Unbeachtet der Frage nach den Ursachen dieser Situation - (die sicher nicht in Konzepten defizitärer Persönlichkeitsstrukturen zu suchen sind) ist an offenem Problem zu präzisieren:

 Sinn?

 Bedürfnis?

 Verhältnis zu sich selbst?

D.h. vor - sicherlich objektiven Notwendigkeit zur - Selbstorganisation Wohnungsloser sind die Voraussetzungen für den Prozeß dieser Selbstorganisation überhaupt erst zu erarbeiten. Wohnungslosenarbeit wäre effektiv, wenn sie sich diesem Problem stellen würde. Die Versorgung mit "Süppchen & Söckchen" wird ohnehin durch verschiedenste Formen "neuer privater Wohltätgkeit" (HOLTMANNSPÖTTER) gewährleistet.

Exkurs - Dokumente von Wohnungslosen

Die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit dem "diskriminierten Phänomen" Wohnungslosigkeit ist, wie schon an anderer Stelle ausführlicher dargelegt - immer noch und auch trotz dieser Arbeit durch das fast vollständige "Fehlen der Subjektperspektive" (TREUBERG 1990, S. 252) gekennzeichnet. Wohnungslosigkeit, deren Ursachen und Folgen wurden in der Tradition Sozialer Arbeit und sozialwissenschaftlicher Forschung noch immer fremddefiniert. Das Vorhandensein autobiografischer Dokumente als eigenständige Ebene der Artikulation Wohnungsloser - auch und gerade in Hinblick auf die o.g. Fragestellung "Subjektivität und persönlicher Sinn von Wohnungslosen als Problem" wurde in der bisherigen Forschung nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Die Qualität der autobiografischen Dokumente besteht insbesondere in ihrer inhaltlichen Unabhängigkeit gegenüber Aussagen, die durch die Beteiligung Wohnungsloser an Forschungsvorhaben motiviert sind - auch gegenüber der Frageintention der hier vorgestellten Untersuchung. Die darin enthaltenen Aussagen gerade zum Problem langzeitiger Wohnungslosigkeit, deren Ursachen, Folgen und Verlaufsformen und ihre Bedeutung sind wissenschaftlich bislang nicht erschlossen.

Berichte, Notizen und Aufzeichnungen (auto-)biografischen Charakters[1] bis hin zu vollständigen (auto-)biografischen Darstellungen Wohnungsloser oder zeitweilig Wohnungsloser haben durchaus eine Tradition in der Geschichte des Problems Wohnungslosigkeit. VILLON 1985 UND 1993, oder der im "Liber vagatorum" um 1509/11 erwähnte Hans von Straßburg, vgl. BOEHNKE/ JOHANNESMEIER 1987, dort insbesondere der Aufsatz von JÜTTE 1987, S. 117 - 127), wobei Autoren wie JOHN 1988, KIEBEL 1991 oder AYASS 1992 zurecht auf die defizitäre Materialsituation hinweisen. AYASS charakterisiert die Quellenlage dahingehend, "daß die Überlieferung über die 'Ränder' der Gesellschaft sich in erster Linie in den Aktenbeständen des 'Zentrums', in Fürsorge- und Strafakten, in den Akten der Anstalten und Gefängnisse finden läßt" (AYASS 1992, S. 22). Oder KIEBEL exemplarisch in seiner historischen Aufarbeitung zum 100jährigen Bestehen der Erlacher Höhe : "Der 'Alltag von Heimatlosen' war nicht festgehalten, wenn doch - dann hatten sich die Kolonisten beschwert" (KIEBEL 1991, S. 11). Bezogen auf das ausgehende 19. Jahrhundert stellt BERGMANN im Vorwort zu OSTWALDS 1900 erstmalig veröffentlichten autobiografischen Roman "Vagabunden" fest, "daß es unter den Landstreichern nicht wenige gab, die ihre Erlebnisse im Tagebuch aufzeichneten." (BERGMANN 1980, S. 5). Gleichzeitig markiert OSTWALDS autobiografischer Roman - er wird nach dem Erfolg dieses Romans professioneller Schriftsteller[2] - exemplarisch die Grenzlinie zu literarischen Bearbeitungen des Themas, ohne daß die biografische Affinität der Autoren zu diesem Sujet bestreitbar wäre, so beispielsweise bei GORKI 1984 und GORKI 1988, HAMSUN 1969 und HAMSUN 1975, HESSE 1982, JOBST 1960, JOBST 1961 und JOBST 1963, KRAUSSER 1992, LEE 1973, LONDON 1983, MALOT 1980, NAGEL 1987, ORWELL 1978 sowie ROTH 1976. Eine zweite Linie der Abgrenzung autobiografischer Dokumente ist gegenüber der unter dem Stichwort "Selbstversuche" subsumierbaren Literaturgattung zu ziehen. Zu nennen wären hier beispielsweise KLÄGER 1908, RÜGHEIMER 1931, WALLRAFF 1975, HOLZACH 1982, BÖNING 1986, EUE 1989. Zudem gibt es auch eine Reihe von "Selbstversuchen, die vorrangig aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse heraus motiviert waren. Die Ergebnisse sind nicht minder lesenswert, zum Beispiel die Beiträge von HENKE/ ROHRMANN 1981 und HENKE/ ROHRMANN 1984, SPOTT 1990 sowie HENKE/ HENKE 1992 und HENKE/ HENKE 1993).

Die jüngste Konjunktur autobiografischer Dokumente Wohnungsloser ist auf dem Hintergrund der konzeptionellen Weiterentwicklung des Hilfesystems durch ambulanten Angebote, der zunehmende Subjektorientierung (BRAUN/ GEKELER/ WETZEL 1989) im (sozial-)wissenschaftlichen Problemverständnis und den damit einhergehenden Veränderungen im Verhältnis der Akteure sozialer Arbeit zu den "Klienten" zu verstehen, Entwicklungen, die für diese Artikulationsform Wohnungsloser überhaupt erst Räume eröffneten. Die allgemein konstatierte Verschärfung der "Wohnmisere" (HACKELSBERGER 1990) nährt zudem ein gesellschaftliches Interesse an jedweder Art von medienhafter Verarbeitung und führt schlimmstenfalls zur "populärkulturellen Verwertung sozialen Elends" (HENKE 1990). Im Unterschied dazu sollten stattdessen gerade die biografischen Dokumente zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen des "Wohnungslos-bleibens" herangezogen werden.

In einer ersten Einteilung bezogen auf ihre Entstehung und Veröffentlichung kann die hier zur Rede stehende Dokumentengattung autobiografischer Zeugnisse Wohnungsloser drei Gruppen zugeordnet werden:

Wie sehr zur Beantwortung von Fragestellungen nach den Innenperspektiven und dem daraus erwachsenen Handlungspotential die Untersuchung autobiografischer Dokumente von Nutzen sein kann, zeigt exemplarisch eine Veröffentlichung unter dem Titel "Lebensgeschichte als Appell. Autobiografische Schriften der 'kleinen Leute' und Außenseiter." von Klaus BERGMANN 1991, eine Arbeit, die aber leider nicht Dokumente von Wohnungslosen berücksichtigt.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97